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Full text of "Medizinische Jahrbücher"

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No. 


Boston 
Medical  Library 

Association, 


ig    BOYLSTON     PLACE. 


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HEDIBil  JAHBBÜB 


HERAUSGEGEBEN 


TOH  DIB 


K.  K.   GESELLSCHAFT  DER  ÄRZTE. 


REDIGIRT 


TOK 


PROF.  E.  ALBERT,  PBOFrltrKUNQRAT  uid  PROF.  E.  LUDWIG. 


1887. 
(leMFilf«,  ILJahrfuf.) 
(DEB  GANZEN  REIHE  88.  JAHRGANG.) 


Mit  83  Abbfldnngen  und  80  Tafeln. 


WIEN,  1887. 

ALFRED  HOLDER, 

K.  K.  HOF-  UND  UNIVBRSITÄTS-BÜCHHÄNDLBB, 


BOTBI1ITHVKM8TBA8U  1». 


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CATALOGUED, 
R.  F.  D. 

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Allo  Unolitc  vorboluilton. 


Inhalt. 


Seite 
I.  Üeber  D&-    und  Regeneration   von  Nervenfasern.    Von  Br.  Lothar 

Frankl  v.  Hochwart ^  .    ,    .    .      1 

IL  Die  psendosystematischen  Degenerationen  des  Rückenmarkes  in  Folge 
von  chronischer  Leptomeningitis.  Anatomisch-pathologisch-klinische 
Studie  von  Dr.  Alexander  Borgherini,  Docenten  an  der  Uni- 
versität zn  Padna.  Mit  5  Abbildungen 21 

m.  Ueber  Dilatation  des  rechten  Vorhofes  und  ihren  Nachweis.  Von  Pro- 
fessor Schrötter.  Mit  1  Abbildung 51 

lY.  Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung 

der  Gehörknöchelchen.  Von  Dr.  G.  Gradenigo  aus  Padua  ....    61 
y.  Drei  Ohinesen-Gehime.  Anatomische  Mittheilung  von  Prof.  Dr.  Moriz 

Benedikt 121 

YI.  üeber  oongenitale  Herzmyome.  Von  Dr.  AlexanderKolisko^  Assi- 
stenten am  pathologisch-anatomischen  Institute  in  Wien.  Mit  1  Tafel  135 
VII.  Bemerkungen  zur  Ehrlich*schen  Nervenfärbung.  Von  Dr.  J.  Pal  .    .  159 
VIII.  Ueber  den  therapeutischen  Werth  der  Salzwasserinftision  beim  Ver- 
blutungstode.    Von  Dr.  Carl  Maydl,   Privatdocent  der  Chirurgie 

in  Wien 165 

IX.  Ueber  Lupus  des  Kehlkopfes ,  des  harten  und  weichen  (raumens  und 
des  Pharynx.  Von  Dr.  Michael  Grossmann  in  Wien.  Mit  2  Tafeln  185 

X.  Bartholinische  Dräsen  mit  doppelten  Ausfähmngsgängen.    Von  Prof. 
Eduard  Lang  in  Innsbruck.  Mit  1  Tafel 199 

XI.  Ueber  das  Verhalten  der  fluchtigen  Fettsäuren  im  Harn  des  gesunden 
und  kranken  Menschen.  Von  Dr.  Freih.  y.  Rokitansky   ....  205 

XIL  Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung 
der  Gehörknöchelchen.  Von  Dr.  G.  Gradenigo  aus  Padua.  11.  Abth. 

mit  5  Tafehi 219 

Xm.  Zur  Frage  der  Blutung  nach  Tonsillotomie.  Von  Dr.  Otto  Zucker- 

kandl,  Operationszögling  an  Prof.  Albert's  Klinik.  Mit  1  Taf.    .    .  309 

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IV 


Inhalt. 


XIV. 


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XV. 

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XXIX. 

Seite 
Üeber  das    ätiologische  Verhältniss  des  Erysipels   zar  Phlegmone. 
Von  Dr.  M.  Hajek,  Secnndararzt  l.  Classe   des  Budolfb-Spltales. 

Mit  3  Tafeln 327 

Znr  Frage  der  Znckerbildong  in  der  Leber.  Von  Dr.  M.  A  b  el  e s  .   .  383 
Üeber  einige  seltene  Moskelvarietäten.  Von  Oberarzt  Dr.  H  er m ann 

Hinterstoisser.  Mit  4  Tafeln 407 

Oasnistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  Von  Dr.  Ludwig 
Wich,  k.  1l.  Begimentsarzt  im  Wiener  Invalidenhause.  Mit  6  Tafeln  423 
lieber  Harnsäure   im  Blute   und   einigen  Oi^ganen   und   Geweben. 

Von  Dr.  M.  Abeles 479 

üeber   die   wechselseitigen   Beziehungen   zwischen   den   centralen 
ürsprungsgebieten  der  Augenmuskelnerven.  Von  Dr.  Julius  Nu ss- 
bäum,  Secnndararzt  am  k.  k.  allgem.  Erankenhause  zu  Wien     .  487 
Zur  Frage  der  Bachitis  der  Neugeborenen.  Von  Dr.  FelixSchwarz, 
em.   Operateur   der  Kliniken   der   Herren  Hofräthe  Billroth   und 

Breisky.  Mit  2  Tafeln 495 

Zur  Eenntniss  der   Strophantin  Wirkung.   Von  Dr.  H.  Pasch  kis 

und  Dr.  Th.  Zerner  jun.  Mit  3  Holzschnitten 513 

Das  Eiweiss   der  Kibitzeier   als  Nährboden   für  Mikroorganismen. 
Von  Dottore  Domenico  Dal  Pozzo  aus  Fagnza  (Italien)     .    .  523 
üeber  die- Abhängigkeit  der  Speichelsecretion  vom  Blutdrucke.  Von 

Th.  Zerner  jun 530 

üeber  Jejunostomie  oder  die  Anlage  einer  Emährungsfistel  bei 
radical  inoperabler  Pylorusenge.  Von  Dr.  CarlMaydl,  Privat- 
docent  für  Ohirui^ie,    chirurgischer   Abtheilungsvorstand  an   der 

PolikHnik  in  Wien 539 

Notiz  zur  Nervenfärbung.  Von  Dr.  J.  Pal 589 

üeber  zwei  gesonderte  Nervenbiindel  in  der  grauen  Axe  des  mensch- 
lichen Bfickenmarkes.  Von  Dr.  J.  Pal.  Mit  3  Illustrationen  .    .    .  592 
Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Kemvermehrung.   Von  Stud.  med. 

Josef  Emil  Berggrün.  Mit  1  Tafel 597 

Das  Verhalten  des  Veratrins  gegen  Schimmelpilzwaohsthum.  Von  Dr. 
Arnold  Paltauf,  Assistent  am  ger.-med.  Institute  zu  Wien  .   .  609 
üeber  die  Tuberculose  der  Brustdrüse.  Von  Dr.  LudwigPiskaöek, 
gew.  Operateur  an  Prof.  Albert's,  z.  Z.  Assistent  an  Hofr.  Breisky 's 
Klinik  in  Wien.  Mit  4  Tafeln 613 


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►H^ 


Ueber  De-  uiid\weneFaäea  pvl  Nervenfasern . 

Br.  Lothar  FranETr.  Hoehwart. 

(Aus  dsfn  iDstitflt  flr  allism.  und  exparim.  Pstkolofle  in  Wisn.) 

(Am  14.  December  1886  von  der  Redaction  übernommen.) 


Degeneration  nach  Dorchschneidung  peripherer  Nerven. 

Untersucht  man  den  in  Osmiumsänre  gefärbten  Nerven  des 
peripheren  Ischiadicusstnmpfes  des  Kaninchens  oder  Hundes  etwa 
am  3.  bis  4.  Tage  nach  der  Durchschneidung,  so  kann  man  an 
den  einzelnen  Fasern  bereits  auffallende  Veränderungen  wahr- 
nehmen. In  Kürze  ausgedrückt  dürfte  sich  diese  Veränderung 
dahin  resumiren,  dass  die  Substanz  der  Nervenfaser  innerhalb 
der  Schwann'schen  Scheide  zerklüftet  ist.*) 

Es  zerklüftet  sich  sowohl  der  Markmantel,  ich  meine  jene 
Zone,  welche  von  den  doppelten  Contouren  begrenzt  ist,  als  auch 
der  innerhalb  dieser  Zonen  gelegene  Abschnitt. 

Es  lässt  sich  beiläufig  bemerkt  aus  der  Literatur  dieses 
Gebietes  nicht  leicht  entnehmen,  wie  jener  innere,  von  dem  Mark- 
mantel umhüllte,  cylindrische  Theil  des  Nerven  genannt  wird. 
Max  Schnitze  hat  ihn  Axency linder  genannt.  Es  ist  aber  offen- 
kundig,   dass  er  dem  Primitivbande  Remak's  nicht  entspricht. 

Das  durch  Alkohol  darstellbare  Primitivband  Remakes  ist 
von  viel  kleinerem  Durchmesser  als  jener  Cylinder,   welcher  von 


*)  Die  Degenerationsphänomene    sind   in   letzterer  Zeit   namentlich   von 

Ran  vi  er  (Le^ns  snr  l'histologie  da  Systeme  nervenx)  nnd  S.  Mayer,  Ueber 

Vorgänge  der  Degeneration  nnd  Begeneration  im  unversehrten  peripheren  Nerven, 

Separatabdr.,  Prag,  Tempsky  1881,  geschildert  worden.  Daselbst  auch  Literatur. 

3red.  Jahrbücher.  1887.  1       (1) 


1 


2  Frankl  y.  Hochwart. 

der  durch  Osmium^)  dunkel  gefärbten  Zone  umhüllt  wird.  Da 
ich  keine  neue  Nomenclatur  einfuhren  kann,  will  ich  jenen  Cy- 
linder  unter  HinweiB  auf  diese  Inconsequenzen  den  Axencylinder 
oder  auch  „axialer  Cylinder"  nennen  und  es  anderen  bewährteren 
Kräften  überlassen,  die  Nomenclatur  richtigzustellen. . 

Die  Zerklüftung  der  Nervenfaser^)  ist  unter  den  oben 
erwähnten  Bedingungen  eine  so  mannigfaltige,  dass  es  schwer 
fällt,  alle  die  Bildungen  mit  Worten  zu  schildern,  welche  inner- 
halb der  Mantelzone  auftreten.  Ob  alle  die  Bilder  auch  in  tIto 
vorhanden  waren,  ist  allerdings  noch  fraglich ;  denn  es  unterliegt 
jetzt  keinem  Zweifel  mehr,  dass  der  Inhalt  auch  der  normalen 
Nervenfaser  beim  Absterben  in  gewissen  Reagentien  mannigfache 
Veränderungen  durchmacht.  Ich  hielt  es  daher  für  nicht  gerecht- 
fertigt, alle  die  bizarren  Formen  durch  Wort  oder  Bild  des  Ge- 
naueren wiederzugeben.  Das  Wesen  der  Sache  besteht  in  der 
schon  angedeuteten  Zerklüftung.  Aber  die  Zerklüftungsfelder  sind 
von  verschiedener  Grösse.  Zuweilen  sieht  der  Nerv  so  aus,  als 
wenn  innerhalb  einer  Scheide  eine  Reihe  cylindrischer  Stücke 
aneinander  gereiht  lägen.  An  der  Grenze  eines  solchen  Stückes 
kommt  manchesmal  das  bekannte  Manchettenbild  zur  Ansicht. 

Die  einzelnen  Stücke  sind  stellenweise  in  der  Osmiumsäure 
sa  dunkel  gefärbt,  als  würden  sie  nur  aus  Mark  bestehen,  oder 
(vielleicht  richtiger  ausgedrückt)  als  würden  sie  so  von  Fett  durch- 
setzt sein,  wie  der  Markmantel  des  normalen  Nerven.  Andere 
Stücke  zeigen  wieder  eine  dunklere  Randzone  und  ein  weniger 
dunkleres  Innenstück,  also  gleichsam  kurze  von  Mark  umsäumte 
Nervenstttcke.  An  anderen  Stellen  wieder  sind  diese  Stücke  im 
Innern  mit  bizarren  Zeichnungen  versehen,  oder  so  zerklüftet, 
dass  dunklere  rundliche  oder  unregelmässig  begrenzte  Massen  in 
etwas  hellerer  Umgebung  liegen.  Wollte  man  die  durch  Osmium 
total  dunkel   gewordenen  Zerklüftungsproducte   im  Nerven  eben- 

')  Die  meiaten  meiner  Untersuchungen  sind  an  mit  Osmium  und  Picro- 
carmin  gefärbten  Nerven  angestellt.  BeEtlglicb  der  Details  dieser  Methode  siehe 
die  DarsteUnng  Ranvier's  1.  c. 

')  Von  einer  Reihe  älterer  Autoren  (Schiff,  Archiv  f.  physiol.  Heilk. 
1852;  Erb,  Arch.  f.  klin.  Medic.  1869,  V.,  pag.  42  etc.)  wurde  Persistens  des 
Axencylinders  angenommen.  Das  Zugrundegehen  desselben  nahmen  u.  A.  Neu- 
mann,  (Arch.  d.  Heük.  1868)  und  Beneke  (Virchow's  Arch.,  Bd.  55,  1872)  an. 

(2) 


Uelxer  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  3 

sowohl  wie  jene,  welche  nur  dunkle  Ränder  haben,  schon  als 
Maiiballen  bezeichnen,  so  hätten  wir  kleinere  Markballen  inner- 
halb grösserer  Markballen  vor  uns.  Ich  \n\l  trotz  dieser  Incon- 
Sequenzen  den  Augdruck  Markballen  mit  Rücksiebt  auf  die  Ge- 
schichte  unseres  Faches  beibehalten  und  sagen:  der  Inhalt  der 
Nervenfaser  zerklüftet  sich  zu  Markballen. 

Doch  kann  ich  es  nicht  unterlassen,  nochmals  zu  betonen, 
dass  die  Ballen  dieses  Stadiums  nicht  aus  Mark  allein  bestehen. 
Die  Ballen  sind  vielmehr  Trümmer  der  innerhalb  der  Schwann'schen 
Scheide  befindlichen  markhaltigen  Nervenfaser. 

Schon  in  den  hier  geschilderten  Stadien  sieht  man  da,  wo 
sich  die  Markballen  von  einander  entfernen,  zwischen  denselben 
eine  ungefärbte  Zwiscfaenlage.  Es  liegt  nahe,  diese  Zwischen- 
stücke als  die  Wand  des  Schlauches  zu  deuten,  in  welchem  die 
Markballen  liegen.  Vergleicht  man  hingegen  die  hier  geschilderte 
Phase  mit  einer  späteren,  so  vrird  uns  die  Vermuthung  nahe  gelegt, 
dass  die  erwähnten  Zwischenstücke  als  junges  Gewebe,  als  Proto- 
plasma aufzufassen  seien. 

Damit  ist  natürlich  die  Abstammung  desselben  aus  der 
Scheide  nicht  ausgeschlossen.  Da  indessen  über  die  Genesis  dieser 
Stücke  gestritten  werden  kann  und  thatsächlich  gestritten  wird, 
und  ich  keinen  Anhaltspunkt  finde,  die  Frage  zu  lösen,  will  ich 
sie  auch  nicht  weiter  discutiren.  ^) 

In  einer  weiteren  Phase  erscheinen  kleine,  durch  Osmium 
dunkel  farbbare  Kugeln,  die  innerhalb  einer  Faser  aneinander 
gereiht  sind.  Behandelt  man  solche  Fasern  mit  Alkohol  und 
Aether,  so  tritt  in  denselben  noch  ein  Netz  auf.  Bald  verlieren 
die  oben  erwähnten  Kugeln  die  Eigenschaft,  sich  durch  Osmium 
zu  schwärzen.  Die  Faser  ist  mit  einer  gelblichen ,  krümmligen 
Masse  erfüllt.  Hie  und  da  nur  erhalten  sich  die  sogenannten 
Markkngeln  und  persistiren  unverändert  durch  lange  Zeit. 

Zu  gleicher  Zeit  mit  der  Veränderung  des  Faserinhaltes  ge- 
winnt die  ehemalige  Nervenfaser  die  Eigenschaft,  sich  mit  Garmin 


^)  Dass  der  gesammte  Inhalt  sich  zu  einer  protoplasmatischen  Masse  nm- 
S«8talte,  wnrde  von  Nenmann  behauptet.  Ranvier  ist  der  Ansicht,  dass  eine 
Wachemog  des  schon  in  der  Faser  ursprünglich  vorhandenen  Protoplasmas  vor 
ach  gehe. 

!•      (8) 


4  Frankl  v.  Hochwart. 

za  färben.  *Wir  sehen  dann  nach  der  Osmium-Caiminbehandlang 
zumeist  rothe  spindelförmige  Elemente  von  bestimmter  Breite, 
die  mit  gelblichen  Körnchen,  den  Residuen  der  sogenannten  Mark- 
ballen, mehr  oder  minder  dicht  besät  sind.  Es  sind  dies  Form- 
elemente, die  von  embryonalen  Nervenfasern  einer  gewissen 
höheren  Stufe  meist  nicht  mehr  zu  unterscheiden  sind.  Nur  hie  und 
da  eingestreute  Markballen  erinnern  an  die  Herkunft  der  Gebilde. 

Durch  diese  Beobachtungen  scheint  mir  der  Gang  der  Er- 
eignisse in  den  grossen  Zügen  wenigstens  klar  zu  liegen.  Aus 
dem  markhaltigen  Nerven  wird  ein  dem  embryonalen  Nerven 
analoges  Gebilde.  Die  Phase,  in  welcher  die  degenerirten  Nerven 
anfangen  sich  in  Carmin  zu  färben,  bietet  uns  nur  ein  Merkmal 
für  die  vollzogene  Umgestaltung.  Dem  Wesen  nach  beginnt  die 
Rückkehr  auf  den  embrvonalen  Zustand  vielleicht  früher,  vielleicht 
unmittelbar  nach  der  Durchschneidung.  Ausser  der  Färbbarkeit 
in  Cannin  zeigen  die  degenerirten  Fasern  noch  ein  anderes  Merk- 
mal, welches  ihre  Rückkehr  auf  den  embryonalen  Zustand  an- 
deutet :  Ich  meine  den  Reichthum  der  Fasern  an  Kernen. 

Woher  nun  diese  neuen  Kerne  kommen,  ist  eine  alte  Streit- 
frage. Nach  einigen  Autoren  (Ranvier,  Leegard*)  etc.)  sollen 
sie  durch  Kemtheilung  entstehen,  nach  anderen  sollen  sie  von 
weissen  Blutkörperchen  abstammen,  die  zu  Kernen  werden  (Kory- 
butt*).  Nach  der  Angabc  von  S.  Mayer  bilden  sie  sich  frei 
aus  der  degenerirten  Masse. 

Die  Abstammung  aus  farblosen  Blutkörpern  wird  heute  wohl 
nicht  mehr  ernstlich  in  Erwägung  gezogen.  Es  bleibt  nur  die 
Alternative  zwischen  der  Ansicht  Ran  vi  er  und  jener  von  S. 
Mayer.  Für  die  letztere  spricht  der —  übrigens  schon  Ran  vi  er 
bekannte  —  Umstand,  dass  die  Kerne  nicht  so  nebeneinander  liegen, 
wie  sie  wenigstens  stellenweise  liegen  müssten,  wenn  sie  durch 
Theilung  entstanden  wären. 

Für  Ranvier  spricht  andererseits  die  jetzt  dominirende 
Ansicht,  dass  die  Kerne  nur  aus  Kernen  entstehen. 

^)  lieber  die  EntartuDgsreaction.  Arbeiten  a.  d.  med.-klin.  Institate  der 
Ludwigs-Universität.  I.  Band,  1.  Heft.  Leipzig  1884. 

*)  Korybutt-Daskiewicz,  Ueber  Degeneration  und  Regeneration  der 
markhaltigen  Nerven.  Inaug.-Diss.  Strassburg,  ref.  im  Centralbl.  f.  die  medicin. 
Wiss.  1878. 
(4) 


Ueber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  5 

Die  jetzt  dominirende  Ansicht  ist  aber  noch  durchaus  nicht 
als  für  alle  Fälle  giltig  erwiesen.  Und  es  scheint  mir,  dass  es 
der  Logik  in  der  Wissenschaft  nicht  entspricht ,  den  Specialfall, 
ohne  jeden  Anhaltspunkt ,  ja  selbst  gegen  solche  Anhaltspunkte 
im  Sinne  einer  herrschenden  Lehre  zu  deuten. 

Der  eine  Anhaltspunkt,  der  hier  vorliegt,  ist  durch  die  schon 
erwähnten  Lagerungsverhältnisse  der  Kerne  gegeben,  und  der 
spricht  eben  gegen  die  herrschende  Lehre. 

Doch  fallt  es  mir  selbstverständlich  nicht  ein,  auszuschliessen, 
dass  sich  hier  die  Kerne  ebensowohl  durch  Theilung  vermehren, 
als  auch  ans  dem  Protoplasma  irei  bilden.  Die  Kemtheilungs- 
figuren,  welche  Ran  vi  er  u.  A.  gesehen  haben,  die  ich  übrigens 
zu  constatiren  nicht  vermochte,  mögen  im  Sinne  dieser  Alter- 
native sprechen. 

Die  Rückkehr  der  Nervenfaser  auf  den  embryonalen  Zustand 
legt  uns  die  Vermnthung  nahe,  den  Degenerationsprocess  als  einen 
entzündlichen  aufzufassen. 

Für  diese  Auffassung  spricht  wohl  auch  das  Vorkommen 
von  Fettkömchenzellen,  die  im  Beginne  der  Degeneration  in  mehr 
oder  minder  grosser  Zahl  auftreten.  Es  sind  dies  grosse,  mit  einem 
Kern  versehene  Zellen,  die  in  ihrem  Innern  mit  Osmium  farbbare 
BaUen  tragen. 

Ueber  die  Abstammung  dieser  Zellen  zu  discutiren,  halte 
ich  nach  air  dem,  was  über  die  Herkunft  der  Eiterzellen  bereits 
geschrieben  worden  ist,  für  wenig  lohnend.  Ich  signalisire  nur 
das  Vorkommen  der  Zellen  als  unterstützendes  Moment  für  die 
Auffassung  des  Processes. 

Die  durch  Degeneration  oder,  wie  ich  lieber  sagen  möchte, 
durch  Rückbildung  entstandenen  Fasern  sind  schmäler  als  die 
markhalügen  Fasern  im  Durchschnitte  gefunden  werden,  aber  sie 
sinken  zunächst  —  ich  meine  nach  der  ersten  Metamorphose  — 
kaum  unter  die  Breite  der  schmälsten  markhaltigen  Fasern  herab. 
Im  Verlaufe  des  Processes  scheint  aber  an  einzelnen  Faseni  noch 
eine  weitere  rückgängige  Metamorphose  stattzufinden.  Es  treten 
nämlich  neben  den  bisher  genannten  embryonalen  Fasern  auch  so 
schmale  Fasern  auf,  dass  wir  sie,  der  gebräuchlichen  Nomenclatur 
folgend,  als  Fibrillen  bezeichnen  müssen,  die,  wie  schon  Leegar d 

(5) 


6  Franklv.  Hochwart. 

vermuthungsweise  ausgesprochen  hat,  als  Abkömmling  oder  Nerven- 
fasern betrachtet  werden  könnten. 

Die  meisten  der  durch  die  Degeneration  entstandenen  Fasern 
sind  durch  die  Körnung  charakterisirt  und  unterscheiden  sich  von 
dem  fibrillären  Bindegewebe  durch  grössere  Breite  und 
schärfere  Contouren.  Jedoch  bekommt  man  hie  und  da  die  eben 
beschriebenen  Formelemente  im  Zusammenhang  mit  feinen  Fi- 
brillen zu  Gesicht.  Eingestreute  Markkügelchen  sprechen  aber 
dafür,  dass  auch  diese  feineren  Fibrillen  aus  markhaltigen  Nerven 
stammen. 

Wenngleich  dieses  Argument  kein  absolut  zwingendes  ist,  denn 
die  Markkügelchen  könnten  ja  in  die  weichen  Fasern  von  aussen 
hineingerathen,  so  ist  doch  die  Möglichkeit,  dass  auch  fibrilläres  Ge- 
webe aus  Nervenfasern  entstehen  könne,  nicht  ausser  Acht  zu  lassen. 

Nach  Verlauf  von  20  Tagen  besteht  dev  periphere  Stumpf 
nur  mehr  aus  embryonalen  Fasern  (das  sind  kernhaltige,  granu- 
lirte  Sti-änge  einer  gewissen  Breite)  und  einer  grossen  Menge  von 
Fibrillen,  die  man  nach  den  jetzigen  Gepflogenheiten  unter  den 
Begriff  des  Bindegewebes  subsumiren  sollte.  Ich  ziehe  es  aber  vor, 
alle  diese  Gebilde  vorerst  keiner  bestimmten  Gewebsart  zuzurechnen. 
Ich  will  nur  constatiren,  dass  die  Nerven  auf  Formationen  herab- 
sinken, die  wir  ohne  Eenntniss  der  Abstammung  nicht  in  allen 
Fällen  mit  Sicherheit  als  Nervengewebe  ansprechen  dürften.  —  Und 
selbst  Autoren,  welche  fUr  die  specifische  Natur  der  bei  der  Degene- 
ration entstehenden  Gebilde  eintreten,  gestehen  zu,  dass  sie  häufig 
nicht  im  Stande  sind,  bestimmte  differential-diagnostische  Anhalts- 
punkte zu  geben.  So  sagt  S.  Mayer  ^):  „Es  liegt  eine  Schwierig- 
keit darin,  im  Einzelfall  zu  entscheiden,  ob  wir  es  mit  dem 
letzten  Reste  einer  degenerirten,  markhaltigen  Faser,  einer  mark- 
losen Nervenfaser  oder  einem  faserigen  Elemente  des  nicht  ner- 
vösen Zwischengewebes  (Bindegewebes)  zu  thun  haben."  Auch 
Neu  mann  ^)  äussert  sich  dahin,  dass  die  Unterscheidung  zwischen 
den  beschriebenen  Gebilden  und  gewissen  Elementen  des  Binde- 


*)  S.  Mayer,  Ueber  Degeneration  und  Regeneration  im  unversehrteu 
peripheren  Nervensystem.  Separatabdr.  a.  d.  Zeitschr.  f.  Heilk.  Prag  1881. 

^)  Ueber  Degeneration  nnd  Regeneration  zerquetschter  Nerven.  Archiv  f. 
mikr.  Anatomie.  XVII F,  pag.  302. 

(6) 


lieber  De-  und  Begeneration  von  Nervenfasern.  7 

gewebes  „eine  schwere^  sei.  Auch  er  konnte  keine  sicheren  An- 
haltspunkte zur  Sonderung  derselben  geben. 

Ob  auch  im  centralen  Stumpfe  eines  durchschnittenen 
Nerven  Degeneration  stattfindet,  ist  noch  strittig.  Gossy  und 
Dejerine^)  behaupten,  dass  die  Fasern  des  centralen  Stumpfes 
intact  bleiben.  Nach  Ranvier  gehen  sie  wohl  Veränderungen  * 
ein,  die  aber  mit  denen  im  peripheren  nicht  identisch  sind.  Es 
findet  nach  ihm  Zerstörung  des  Markes  und  Schwellen  desAxen- 
cylinders  ohne  Degeneration  des  letzteren  statt. 

Andere  Beobachter  behaupten,  dass  die  Degeneration  am 
centralen  Stumpfe  der  am  peripheren  Stumpfe  analog  sei.  — 
Doch  soll  der  Process  nur  auf  eine  kurze  Nervenstrecke  beschränkt 
bleiben.  Engelmann  gibt  den  ersten  Schnürring  als  Grenze  an, 
bis  zu  der  die  Degeneration  fortschreitet.  Aehnliche  Angaben  haben 
Korybntt,  Rumpf*),  Tizzoni')  u.  A.  gemacht.  Leegard 
stimmt  mit  den  yorhergenannten  liberein,  gibt  aber  an,  dass  die 
nächsten  3  oberen  Segmente  auch  pathologisch  und  zwar  in  einer 
für  den  centralen  Stumpf  charakteristischen  Weise  verändert  seien. 
Im  Folgenden  will  ich  nun  die  Veränderungen  auf  Grund 
meiner  Beobachtungen  schildern. 

Im  nntersten  Stück  des  centralen  Stumpfes  sehe  ich  immer 
Degenerationserscheinungen,  die  mit  jenen  im  peripheren  Theile 
völlig  identisch  sind :  Bildung  von  Markballen,  Kernvermehrung, 
Entwicklung  embryonaler  Stränge.  Der  1.  Schnürring  kann  häufig 
die  Grenze  der  Veränderungen  sein.  Die  Markballenbildung  kann 
aber  auch  unter  demselben  sistirt  sein  oder  ihn  überschreiten.  In 
einzelnen  Fasern  steigt  sie  —  namentlich  bei  jungen  Thieren  — 
mehrere  Centimeter  weit  hinauf. 

Wohl  kommen  auch,  wie  S.  Mayer  nachgewiesen  hat,  in 
jeden  normalen  Nerven  einzelne  degenerirte  Fasern  vor.  Doch 
sind  diese,  wie  ich  mich  durch  meine  Untersuchungen  überzeugt 
habe,  relativ  selten;  der  Befand  degenerirter  Nervenfasern  in 
höheren  Theilen  des   centralen  Stumpfes  ist  hingegen  so  häufig, 


')  Arch.  de  physiol.  norm,  et  path.  1875,  VH,  pag.  567. 

•)  Üntersuchnngen  ans    dem  physio].  Institut  der  Universität  Heidelberg. 

\m,  pag.  307. 

')  Centralbl.  f.  d.  medic.  Wiss.  1878,  Nr.  13- 

(7) 


8  Frankl  v.  Hochwart. 

dass  man  wohl  annehmeu  rauss,  dass  sie  erst  durch  das  Trauma 
erzengt  sind  und  nicht  schon  früher  bestanden  haben.  Oberhalb 
der  Markballenzone  kann  die  Faser  normal  erscheinen ;  viel 
häufiger  befindet  sie  sich  aber  in  einem  eigenthümlich  veränderten 
Zustand.  Das  Mark  ist  fein  krümelig  geworden;  es  nimmt  nach 
der  Osmiumbehandlung  einen  graulichweissen  Farbenton  an.  Nach 
der  Osmium-Carminbehandlung  zeigt  sich  ein  breites  rothes  Band, 
das  an  das  in  Alkohol  entstehende  Remak'scbe  Axenband  er- 
innert, aber  nur  etwas  breiter  als  dieses  in  der  Regel  erscheint. 

Beschreibungen  dieser  Veränderungen  liegen  von  Rumpf, 
Korybutt  und  L  e  e  g  a  r  d  vor.  Der  Zustand  scheint  demjenigen  zu 
entsprechen,  welchen  die  pathologischen  Anatomen  mit  dem  Namen 
,, einfache  Atrophie"  bezeichnen.  ^)  Diese  Art  der  Verändernn^s: 
erstreckt  sich  über  mehrere  Segmente  oberhalb  der  Markballen- 
zone; dann  ecst  folgen  normale  Theile. 

Im  ganzen  unteren  Abschnitt  des  centralen  Stumpfes  sowohl 
in  der  Region  der  erkrankten,  als  auch  in  der  der  normalen 
Fasern  kommt  es  überdies  zur  Wucherung  des  zwischen  den 
markhaltigen  Elementen  liegenden  Zwischengewebes.  In  diesem 
Zwischengewebe  liegen  %•  ohl  schon  de  norma  embryonale  Fasern 
(S.  Mayer).  Diese  sind  aber  nach  Setzung  des  Traumas  be- 
deutend vermehrt.  Der  Umstand  nun,  dass  viele  neue  embryonale 
Elemente  auch  in  jenen  Regionen  entstehen,  wo  sehr  wenig  oder 
gar  keine  markhaltigen  Fasern  zu  Grunde  gehen ,  beweist ,  dass 
bei  der  Entzündung  nicht  die  markhaltigen  Nervenfasern  allein 
das  Substrat  fllr  die  Jugendformen  sind  (wie  dies  einige  Autoren 
annahmen),  sondern  dass  solche  Foimen  auch  anderweitig  ent- 
stehen können.  ^) 

Regeneration  durchschnittener  Nerven. 

Fontana  war  der  erste,  welcher  erkannte,  dass  durch- 
schnittene Nerven  wieder  zusammenheilen.  Dass  an  Stelle  der  zu 


^)  Vergl.  Birch-Hirschfeld,  Patholog.  Anatomie.  II,  pag.  284.  Leip- 
zig 1885. 

^)  In  der  Literatur  finde  ich  ausser  bei  Lee  gar  d  nur  noch  eine  dies- 
bezügliche Bemerkung,  u.  zw.  in  Virchow's  Geschwulstlehre  (in,  pag.  284):  ^Am 
Amputationsneuromen  erstreckt  sich  die  Neubildung  von  Nervenfasern  weit  über 
die  Schnittenden  der  Nerven  in  die  Stamme". 

(8) 


lieber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  9 

Grunde  gegangenen  Elemente  im  peripheren  Stumpfe  neue  Fasern 
auftreten,  wird  von  allen  Seiten  anerkannt.  Aber  über  die  Art 
der  Abstammong  sind  die  Meinungen  noeb  äusseret  divergent. 
Ich  will  vorerst  in  Etlrze  die  versehiedenen  Ansichten  mittheilen. 

Waller*),  der  erste  Autor,  der  sich  mit  der  Erforschung  der 
histologischen  Vorgänge  bei  der  Regeneration  der  Nerven  inten- 
sirer  befasste,  stellte  sich  vor,  dass  die  Axencylinder  der  Fasern 
des  centralen  Stumpfes  in  den  peripheren,  der  eine  passive  Rolle 
spielt,  hinüberwachsen  und  dort  das  Substrat  der  Neubildung 
werden.  Brueb*)  und  in  neuerer  Zeit  Ran  vi  er  haben  sich 
dieser  Anschaanng  angeschlossen. 

Eine  überwiegende  Anzahl  von  Forschern  haben  jedoch  dem 
peripheren  Stumpfe  selbst  die  Fähigkeit  zugesprochen,  neue 
Nervenelemente  zu  bilden.  Fast  alle  daselbst  vorfindlichen  Gewebs- 
arten  sind  als  Substrat  der  Neubildung  betrachtet  worden.  So 
wurde  vielfach  die  Meinung  vertreten,  dass  durch  Auswachsen 
der  Kerne  neue  Fasern  entstünden.  Bertolet")  und  Beneke*) 
sahen  die  Kerne  des  Neurilemms  als  die  eigentliche  Bildungsstätte 
der  jungen  Formen  an ,  H  j  e  1 1  ß)  schrieb  den  Kernen  des  Peri- 
neuriums diese  Aufgabe  zu;  eine  ähnliche  Ansicht  war  von 
Weissmann»),  Förster')  und  Virchow®)  in  Bezug  auf  das 
Neurom  geäussert  worden.  Korybutt*)  behauptete,  dass  beim 
Frosch  aus  den  sogenannten  Plasmazellen  Fasern  würden.  Bako- 
wieckii«)    beschreibt    die  Entstehung    der    neuen    Fasern   aus 

*)  Waller,  Snr  la  reprodnction  des  nerfe  etc.    Mttller*8  Archiv  f.  klin. 
Medidn.  1869,  V,  pag.  42. 

')  Zeitschr.  f.  Zoologie.  1855,  VI,  pag.  135. 

^  Bertolet-Mitchell,    Neurotomy.    The  Amer.  Jonni.  of  the  medic. 
■eienees  1876. 

*)  Yirchow's  Archiv,  Bd.  55. 

')  ÄTif  Gnmd  von  Borchschneidangs versuchen.  Ueber  die  Regeneration  d. 
Kwren.  Yirchow's  Archiv,  1860,  XIX,  pag.  352. 

*)  Ueber  Nervennenbildnng  in  einem  Nenrom.  Zeitschr.  f.  ration.  Pathol. 
3.  Reihe,  1859,  YH,  pag.  259. 

^)  Handbuch  d.  allg.  path.  Anatomie.    2.  Aufl.    Leipzig  1865,  pag.  346. 

*)  CeUolarpathologie. 

*)  Archiv  f.  mikrosk.  Anatomie.  XY. 

'^)  Znr  Frage  vom  Yerwachsen  peripherer  Nerven.     Archiv  fttr  mikrosk. 
Autonie  XHI,  pag.  420. 

(•) 


10  Frankl  v.  Hochwart. 

spindelförmigen  Elementen,  ohne  über  die  Herkunft  der  letzteren 
sich  zu  äussern.  Laveran^)  und  Hertz')  hielten  ausgewanderte 
Blutkörperchen  flir  die  Bildungsstätte  der  neuen  Fasern. 

Mehrere  Autoren  sprachen  sich  dahin  aus,  dass  das  Material 
der  Regeneration  in  den  Resten  der  zu  Grunde  gegangenen  Fasern 
des  peripheren  Stumpfes  zu  suchen  sei.  Nach  der  Ansicht  der  meisten 
Beobachter  soll  das  lebende  Material,  welches  vom  zertrümmerten 
Axencylinder  und  Mark  übrig  geblieben  ist,  zum  Neuaufbau  der 
Faser  verwendet  werden :  Remak^),  Eichhorst^),  Neumann, 
Stricker ß),  Leegard  nach  Versuchen  am  durchschnittenen  and 
gequetschten  Nerven ,  S.  Mayer  bei  Neubildung  am  normalen 
Nerven,  Korybutt  bisweilen  an  Fröschen,  die  gehungert  hatten 
und  wieder  unter  günstige  Nahrungsbedingungen  gesetzt  wurden. 
Einzelne  Autoren,  welche  der  Meinung  waren,  dass  der  Axen- 
cylinder während  der  Degeneration  sich  unversehrt  erhalte,  nahmen 
nur  Neubildung  des  Markes  an  (Schiff»),  Erb 7).  Nach  Auf- 
recht^) entstehen  bei  der  subacuten  Spinalparalyse  in  den  zer- 
störten peripheren  Nerven  neue  Gebilde  aus  den  Nervenkemen. 

Um  nun  die  Resultate  meiner  einschlägigen  Beobachtungen 
mitzutheilen,  knüpfe  ich  meine  Darstellung  an  jenen  Punkt  an, 
wo  ich  auseinandersetzte,  dass  die  Fasern  im  degenerii-ten  peri- 
pheren Stumpf  auf  den  embryonalen  Zustand  zurückkehren.  Die 
vollkommene  Aehnlichkeit  dieser  neuen  Gebilde  mit  den  Strängen, 
die  bei  Embryonen  einer  bestimmten  Grösse  vorkommen,  legt 
schon  an  und  für  sich  die  Vermuthung  nahe,  dass  aus  ihnen  neue 
Fasern  entstehen  können.  Eine  nähere  Untersuchung  embryonaler 

')  Beclierches  experimentales  snr  la  r^g6n.  de  nerfs  etc.  Jonm.  de  Tanat. 
et  physiol.  1868. 

^)  üeber  Degeneration  n.  Regeneration  durchschnittener  Nerven.  Virchow's 
Archiv  1869,  Bd.  46,  pag.  257. 

^)  üeber  Wiederherstellong  von  Nervenfasern.  Virchow's  Archiv  1862, 
Band  23. 

*)  Ueber  Nervendegeneration  nnd  Regeneration.  Virchow's  Archiv  1874, 
Bd.  59,  pag.  1. 

*)  Vorlesungen  über  allg.  n.  experim.  Pathol.  1883,  32  n.  33.  Vorles. 

*)  Archiv  des  Vereines  fär  gemein schaftl.  Arbeiten,  n,  pag.  411. 

')  1.  c. 

*^)  Die  Ergebnisse  eines  Falles  von  snbacuter  Spinalparalyse.  Deutsche! 
Archiv  f.  klin.  Medicin.  1878,  Bd.  22,  pag.  33. 

(10) 


Ueber  De-  und  Begeneration  von  Nervenfasern.  11 

Nerren  (des  HtihnchenB  and  des  Meerschweinchens)  hat  mich  in 
die  Lage  Tersetzt,  weitere  Beweise  anfznbringen.  Ich  bemtihte 
mich  nämlich  an  diesen  Objecten  die  Criterien  der  jugendlichen 
Fasern  kennen  zn  lernen.  Nengebildetes  Mark  erkennt  man  an 
den  frischen  Fasern  sowie  anch  an  Osmiumpräparaten  an  der  Schmal- 
heit des  Markmantels  oder  des  Marksanmes ;  nach  Osmiombehand- 
lug  fallt  das  eigenthtimliche  mattgraae  Colorit  auf,  das  sich 
leicht  von  der  grünlichgelben  Färbung  degenerirter  Fasern  unter- 
seheidet.  Ausserdem  erscheinen  die  jungen  Fasern  nicht  gleich- 
massig  tingirt,  sondern  wie  mit  grauen  Pünktchen  übersäet.  Eine 
fernere  Eigenschaft  der  jugendlichen  Faser  ist  ihre  Schmalheit. 
Dass  dies  wirklich  ein  Griterium  der  Jugendform  ist,  geht  daraus 
hervor,  dass  wir  in  den  cerebrospinalen  Nerven  der  Embryonen 
nur  schmale  Fasern  finden,  bei  ausgewachsenen  Tbieren  meist 
breite,  dass  femer  der  Sympathicus,  den  wir  als  einen  Nerven 
auf  niederer  Ehitwicklungsstufe  zu  betrachten  haben ,  zeitlebens 
wenig  breite  aber  ziemlich  viel  schmale  Fasern  führt. 

Bezüglich  der  Entstehung  des  Markes  kann  sich  die  Histo^ 
logie  aUerdings  nur  in  Hypothesen  bewegen.    Es  scheint,  als  ob 
das  Mark  aus  einer  Differenzirung  des  Protoplasmas  hervorginge. 
leh  habe   nach   der  Osmium-Carminfärbung  Fasern  gesehen ,   in 
deoen  auf  eine  Strecke  hin  nur  gleichmässige  Böthung  wahrnehmbar 
war,  weiterhin  folgten  blasse,  weissliche  Strecken,    dann  traten 
einzelne  mattgraue  Punkte  auf;  diese  wurden  immer  dichter,  bis 
endlieh  am  Ende  ein  vollkommenen  grauer  Markmantel  erschien. ') 
Ich  glaube  also  die  Hypothese  aufstellen  zu  dürfen,  dass  die  em- 
bryonale Faser  durch  Umgestaltung    einer  mantelförmigen  Rand- 
lone  zu  einer  markhaltigen  Faser  wird.  Der  centrale  Best  dürfte 
ab  Axency linder  (Max  Schnitze)  persistiren. 

Mit  Hilfe  der  so  gewonnenen  Erfahrungen  können  wir  nun 
<huran  gehen,  die  Bilder  in  der  degenerirten  Faser  zu  deuten,  die 
in  der  Entwicklung  begriffenen  Gebilde  von  denen  in  der  regressiven 
Metamorphose  befindlichen  zu  unterscheiden. 

Es  ist  leicht  mit  Bücksicht  auf  diese  Erkenntnisse  nach- 
n&weisen,   dass  die  embryonalen  Stränge,  welche  aus  den  alten 

0  In  äbnliclier  Weise  steUfc  sich  KöUiker  die  Entwicklung  des  Markes 
«&  if^  Kerrenelementen  der  Batrachierlarven  vor.  Zeit  sehr.  f.  wiss.  Zool.  XLlH. 

(11) 


12  Frankl  v.  Hochwart. 

Fasern  hervorgegangen  sind,  wieder  der  Sitz  der  Neubildung: 
sind;  denn  nicht  selten  tragen  solche  Stränge  noch  Reste  von 
degenerirtem  Mark  in  Form  von  Ballen  oder  Kugeln  in  sich, 
während  zu  gleicher  Zeit  wieder  neues  Mark  auftritt.  Diese  Ballen 
sind  bisweilen  noch  —  den  Kugeln  eines  Rosenkranzes  gleich  — 
aneinandergereiht,  bisweilen  jedoch  auf  kleine  Haufen  zusammen- 
gedrängt (Regenerationsgarnituren  S.  M  a  y  e  r's).  Wohl  kommen  An- 
sammlungen von  Mark  auch  bei  der  Nervenneubildung  im  embryo- 
nalen Zustande  vor.  Man  hat  es  dann  mit  relativ  kleinen  Mark- 
kligelchen  zu  thun,  welche  um  die  Kerne  herumliegen ;  sie  erscheinen 
ferner  nie  in  grösserer  Menge  neben-  oder  hintereinander  ^)  und 
sind   daher  leicht  von   den  Degenerationsproducten   zu  scheiden. 

Nicht  immer  erfolgt  die  Regeneration  gleichmässig  über  die 
ganze  Faserlänge;  weiter  herangebildete  Stücke  wechseln  mit 
solchen  ab,  die  auf  tieferer  Stufe  stehen  (Schaltstücke  Mayer^s). 
Hier  und  da  scheinen  mehrere  Fasern  in  einem  embr}'onalen 
Strang  zu  entstehen. 

Nachdem  wir  die  Neubildung  von  Nerven  aus  den  degene- 
rirten  Fasern  als  erwiesen  hinstellen,  entsteht  aber  die  Frage: 
Ist  der  beschriebene  Modus  der  einzige  Weg,  auf  dem  neue  Fasern 
entstehen  können  oder  können  sich  noch  andere  Gewebsforma- 
tionen  am  Aufbau  des  jungen  Gewebes  betheiligen?  Durch  die 
Untersuchungen  S.  Mayer's  haben  wir  erst  einen  näheren  Ein- 
blick in  das  Nervenzwischengewebe  erhalten.  Wir  wissen  jetzt, 
dass  sich  zwischen  den  vollkommen  ausgebildeten  Fasern  immer 
noch  Jugendformen  finden,  die  sich  wieder  im  Laufe  des  Lebens 
wahrscheinlich  höher  organisiren  können.  Es  ist  nun  denkbar,  dass 
bei  einem  entzündlichen  Reize  eine  grosse  Anzahl  dieser  schon 
vorhandenen  embrvonalen  Elemente  sich  weiter  entwickelt. 

Aber  wir  müssen  noch  der  Vermuthung  Raum  geben,  dass 
auch  nieder  organisirte  Formelemente  bei  dem  Regenerationsacte 
betheiligt  seien.  Einer  der  Autoren,  der  sich  mit  der  Regeneration 
der  Nerven  beschäftigte,  Hjelt,  hat  den  Kernen  des  Zwischen- 


')  Auf  diese  Formationen  liat  in  neuerer  Zeit  Vignal  (Arcb.  de  phys. 
norm,  et  pathol.  1883)  liingewiesen.  Eigenthümliche  Markballenbildung  anderer 
Art,  die  ich  in  embryonalen  Fasern  beobachtete,  werden  znm  Schlüsse  dieser 
Abhandlung  znr  Sprache  kommen. 

(12) 


Ueber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  13 

gewebe8  allein  die  Aufgabe  zugewiesen,  nene  Fasern  zu  bilden. 
Bei  anderen  Processen  ist  diese  Art  der  Neubildung  wiederholt 
behauptet  worden.  So  fdr  die  Entstehung  von  Nervenfasern  in 
Nenromen  (Virchow  u.  A.  s.  pag.  9),  femer  bei  der  Neubildung 
TOD  Nerven  bei  Sommerfröschen  (Korybutt). 

Da  man  in  neuerer  Zeit  die  so  augenfällige  und  leicht  zu 
beweisende  Bildung  neuer  Fasern  aus  den  Besten  der  alten  er- 
kannt hat,  ging  man  über  die  ältere  Anschauung  hinweg,  ohne 
ZQ  fragen,  ob  nicht  beide  Meinungen  nebeneinander  bestehen 
können.  Leegar d  ist  der  einzige,  der  vorübergehend  der  letzt- 
genannten Yermuthung  Raum  gibt. 

Den  directen  unumstösslichen  Beweis  haben  die  vorher  ge- 
nannten Autoren  allerdings  nicht  erbracht.  Niemand  hat  das  Aus- 
wachsen der  Kerne  und  das  Verschmelzen  derselben  unter  dem 
Mikroskop  beobachtet.  Aber  der  Vergleich  mit  den  embryonalen 
Formen  erlaubt  es  uns,  die  Betheiligu^g  des  nieder  organisirten 
Zwischengewebes  am  Eegenerationsact  mit  einer  gewissen  Wahr- 
scheinlichkeit zu  vermuthen. 

Es  gibt  ein  Stadium  beim  Embryo,  wo  bei  dem  Zerzupfen 
von  mit  Osminm-Garmin  behandelten  Nerven  fast  nur  Kerne, 
respective  Gebilde  erscheinen,  in  welchen  der  Kern  an  Masse  so 
prävalirt,  dass  die  Protoplasmazone  um  denselben  kaum  merklich 
ist.  Einzelne  sind  mit  zwei,  andere  mit  einem  Fortsatze  ausge- 
stattet; viele  scheinen  ohne  Ausläufer  zu  sein.  Bei  Embryonen 
höherer  Stufe  werden  durch  das  Zerzupfen  Kerne  mit  langen 
feinen  Fäden  isolirt;  bisweilen  sind  die  Fäden  doppelseitig,  an 
einigen  sieht  man  in  der  einen  Richtung  eine  kurze  Spitze,  in 
der  anderen  einen  langen  Ausläufer.  Es  macht  hie  und  da  den 
Eindruck ,  als  würden  solche  '  fadentragende  Kerne  zusammen- 
bangen. —  Bei  noch  höher  entwickelten  Embryonen  sieht  man 
endlich  kernhaltige  Stränge  (Platten  der  Autoren)  von  ziemlicher 
Breite,  die  leicht  gekörnt  erscheinen.  In  diesen  beginnt  dann  auf 
die  schon  geschilderte  Weise  die  Markanlage. 

Es  scheint  mir  daher  die  Vermuthung  gestattet,  dass  so  wie 
beim  Embryo  aus  nieder  organisirten  Material  kernhaltige  Platten 
entstehen,  auch  bei  der  Regeneration  diese  kernerfüllten  Lager 
ein  Substrat  der  Neubildung  sein  können. 

'13) 


14  Frankl  y.  Hochwart. 

Eb  mögen  nur  noch  wenige  Worte  über  die  Waller- 
R  a  n  V  i  e  r'sche  Theorie  der  Nervenregeneration  hier  Platz  finden. 
Diese  lautete  dabin,  dass  vom  centralen  Stnmpf  die  Axencylinder 
in  den  peripheren  Stnmpf  hinüberwachsen.  Zwei  Gründe  fuhrt 
Ranvier  zur  Stütze  seiner  Behauptung  an:  1.  dass  man  die 
Regeneration  centralwärts  früher  auftreten  sieht  als  in  der  Peri- 
pherie; 2.  die  Aussage  der  Embryologen,  dass  beim  Embryo  das 
Wachsthum   der  Nerven   vom  Centrum    zur  Peripherie   schreitet 

Gegen  den  ersten  Grund  spricht,  wie  schon  £.  Neumann 
hervorhebt,  der  Umstand,  dass  die  Regeneration  in  verschiedenen 
Stücken  einer  Faser  nicht  continuirlich  vor  sich  geht,  sondern 
sprungweise.  Wir  sehen  oft  im  peripheren  Stumpfe  auch  voll- 
kommen entwickelte  (d.  h.  mit  deutlichen  Doppelcontoaren  und 
Axencylinder  versehene)  Segmente  solche  folgen,  die  noch  im  em- 
bryonalen Zustande  verharren,  d.  h.  einen  protoplasmatischen  Strang 
darstellen.  Diesem  folgt  dann  häufig  ein  vollausgebildetes  Segment. 
Bei  einem  stetigem  Hinüberwachsen  wäre  ein  solcher  Vorgang 
wohl  schwer  denkbar.  Was  das  zweite  Argument  betrifft,  so  ist 
die  auf  den  Embryo  bezügliche  Prämisse  noch  nicht  völlig  fest- 
gestellt. 

Soviel  steht  jedenfalls  fest,  dass  die  Ranvier'sche  Lehre 
nicht  genügend  bewiesen  ist. 

Andererseits  muss  man  aber  sagen,  dass  zahlreiche  Gründe 
dafür  sprechen,  dass  die  Elemente  des  peripheren  Stumpfes  sich 
activ  am  Neuaufbau  des  Nerven  betheiligen.  Was  bei  der  Dege- 
neration zurückbleibt,  das  sind  ja  nicht  leere  Hülsen,  ^vie  dies 
mehrfach  angenommen  wurde,  das  sind  embryonale  Stränge,  die 
mit  Protoplasma  erfüllt  sind,  und  wir  konnten  mit  grosser  Wahr- 
scheinlichkeit nachweisen^  dass  sich  um  diese  Stränge  ein  Mark- 
mantel bildet.  Es  liegt  also  kein  Grund  vor,  uns  der  so  complicirten 
Hypothese  des  Hinüberwachsens  der  Axencylinder  anzuschliessen. 
Wenn  wir  uns  noch  erinnern,  dass  auch  nieder  organisirte  Elemente 
wahrscheinlich  das  Substrat  der  Nervenneubildung  sein  können,  so 
liegt  es  viel  näher  dem  peripheren  Stumpfe  eine  active  Rolle 
zuzuweisen.  Und  wir  sehen,  wenn  wir  die  Literatur  überblicken, 
dass  sich  die  meisten  Autoren  dieser  letzteren  Ansicht  zuwenden. 


(14) 


üeber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  [5 

üntenuohimgeii  an  peripheren,  nnverwachsen  gebliebenen 

NerYenstttmpfen. 

leh  habe,  um  über  diese  oben  erwähnte  Frage  in's  Klare 
za  kommen,  an  7  Kaninchen  aus  peripheren  Nerven  (Vagus  und 
Hjpogloesns)  Stücke  von  2—3  Ctm.  Länge  excidirt  oder  den 
Nerven  sammt  den  centralen  Wurzeln  ausgerissen.  Die  Unter- 
soehung  erfolgte  40 — 120  Tage  nach  der  Operation.  Es  zeigte  sich 
dami,  falls  nicht  zu  lauge  Zeit  nach  der  Operation  verstrichen 
war,  an  Stelle  der  früheren  Nervenfasern  nur  embryonales  Gewebe. 
Während  sonst  die  meisten  Fasern  nur  bis  zu  einer  gewissen 
Stufe  absinken,  um  dann  nach  Vereinigung  mit  dem  centralen 
Stücke  sich  rasch  zu  erheben,  finden  wir  hier  die  Rückkehr  auf 
einen  viel  früheren  Status.  Nebst  den  breiten  kernhaltigen  Platten 
sind  hier  viele  Kerne  mit  langen  Fibrillen  und  Kerne  mit  feinen 
Spitzen.  Wir  sehen  eine  Menge  von  Gebilden,  deren  Beziehungen 
zum  Nervensystem  wohl  durch  Uebergangsformen  nachweisbar  sind, 
die  aber  ebenso  zum  jungen  Bindegewebe  gerechnet  werden 
können.  Wir  könnten  diesen  Formencomplex  als  einen  neutralen 
Gewebsboden^)  bezeichnen. 

Nach  mehreren  Monaten  sah  ich  in  solchen  Stümpfen  m  a  r  k- 
haltige  Nervenfasern  auftreten.  Dieses  letztgenannte  Phä< 
nomen  wurde  schon  im  Jahre  1859  von  Phillipeaux  und 
Vulpian*)  beobachtet  und  als  eine  vom  Centralnervensystem 
unabhängige  Regeneration  gedeutet.  In  letzterer  Zeit  hat  jedoch 
Vul  p  i  a  n  auf  Grund  neuer  Versuche  diese  Auffassung  aufgegeben. ') 
Er  stellt  nnn  die  Ansicht  auf,  dass  die  feinen  Anastomosen  der 
Nervenstämme  nach  Monaten  genügend  erstarken,  um  den  peri- 
pheren Stumpf  wieder  vom  Centralnervensystem  abhängig  zu 
machen. 

Degeneration  und  Regeneration  unversehrter  Nerven. 

Die  merkwürdige  Thatsache,  dass  in  unversehrten  peripheren 
Nerven  ünmerfort  Fasern  degeneriren  und  regeneriren,   wurde  in 


*)  Dieser  Ansdmck  wurde  zum  ersten  Male  von  Deiters  gebraucht. 
*)  Note  enr  des  ezperiences  eet.  Gompt.  reod.  1859,  15. 
*)  Arcb.  de  Physiologie,  1874. 

(lö) 


16  Frankl  v.  Hoohwart. 

ihrem  vollen  Umfange  erst  von  S.  Mayer  erkannt.^)  Wenn  ich 
anch  in  der  Auffassung  der  Vorgänge   in  manchen  Stücken  von 
den  Ansichten  Mayer's  differire,    so  muss  ich  doch  sämmtliche 
Thatsachen,  die  dieser  Autor  beschrieben  hat,  bestätigen.  Es  ist 
kein  Zweifel  darüber,    dass   man   bisweilen  in  den  peripheren 
Nerven   junger   oder  erwachsener  Thiere  Fasern  mit  den  deut- 
lichen Zeichen  der  Degeneration  vorfindet.  Ich  habe  solche  beim 
Frosch,  beim  Kaninchen  und  bei  der  Ratte  (nie  beim  Hunde)  ge- 
sehen. Es  ist  auch  kein  Zweifel  darüber,  dass  zwischen  den  aas- 
gebildeten Nervenfasern  sich  immer  jugendliehe  Formen  in  ziemlich 
bedeutender  Anzahl  finden.    Auch  die  Auffassung,  dass  die  soge- 
nannten marklosen  (unverzweigten)  Fasern  des  Sympathicus  nur 
Durchgangsformen  seien,   dürfte  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich 
haben. 

S.  Mayer  gibt  an,  dass  sich  aus  dem  Material  der  alten 
Faser  die  neue  entwickelt;  eine  Ansicht,  die  in  Bezug  auf  die 
durchschnittenen  Nerven  schon  von  Neu  mann,  Stricker  U.A. 
geäussert  worden  ist. 

Ich  habe  nun  ebenfalls  nach  Durchsicht  vieler  Präparate 
normaler  Nerven  nach  und  nach  alle  Bilder  getroffen,  welche 
diese  Art  der  Neubildung  beweisen.  Aber  ich  muss  im  Gegen- 
satz zu  Mayer  die  Betheiligung  des  Zwischengewebes  auch  ftlr 
diesen  Process  für  wahrscheinlich  halten.  Ueberall,  wo  man  im 
Zwischengewebe  zahlreiche  Jugendformen  findet,  sieht  man  alle 
jene  Gebilde,  die  mich  zu  der  Aussage  veranlasst  haben,  dass 
aus  den  Kernen  des  Zwischengewebes,  respective  den  Gebilden 
mit  prävalenter  Eemmasse,  neue  Fasern  werden.  Dass  es  häufig 
Zwischenformen  zwischen  Bindegewebe  und  Nervenfaseni  gibt, 
gesteht  8.  Mayer  selbst  zu.  Er  meint  aber,  dass  diese  frag- 
lichen Fasern  weder  Bindegewebe,  noch  Nervenfasern  seien.  2) 

Er  gibt  also  zu,  dass  man  diese  Gebilde,  wenn  sie  ausser 
allem  Zusammenhang  betrachtet  würden,  für  Bindegewebe  ansehen 

')  Ueber  die  Geschichte  der  Entdeckung  und  die  Arbeiten  der  Vorgänger 
(Luschka,  Leydig),  femer  die  Kuhnt's,  Korybutt's,  Rumpfs,  Wit- 
k 0 w s k y's  und  R e na u t's,  s.  d.  Originalabhandlung  M a y e r's. 

^)  Mayer   stipulirt   einen  Unterschied   zwischen    diesen  Derivaten   des 
Nervengewebes  und  den    embryonalen  Formen;    ich   kann    denselben    nicht   als 
durchgreifend  anerkennen, 
d«) 


Ueber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  [7 

konnte.  Allerdings  hat  Mayer  in  seiner  Polemik  gegen  die 
Bindegewebstheorie  damit  Recht,  wenn  er  sagt,  dass  sie  sich 
weit  vom  fibrillären  ausgebildeten  Bindegewebe  unterscheiden; 
aber  wenn  man  Jogendfonnen  des  Bindegewebes  mit  solchen  vom 
Nerven  vergleicht,  findet  man  häufig  genug  gleichartige  Bilder.  Eine 
jnnge  Nervenfaser  lässt  sich  eben  nicht  von  einer  jungen  Binde- 
gewebsfaser unterscheiden.  Eine  isolirte,  marklose  Nervenfaser 
liest  sich,  losgelöst  von  ihrer  Umgebung,  nicht  als  solche 
agnoBciren. 

Hit  Recbt  erkennen  die  Histologen  nur  dann  eine  Nerven- 
endigung für  erwiesen  an ,  wenn  man  die  betreffende  marklose 
Nervenfaser  bis  zu  einer  markhaltigen  verfolgen  kann  und  so 
aus  dem  Ursprung  des  Gebildes  einen  Schluss  auf  die  Natur 
desselben  zieht. 

Wenn  S.  Mayer  diese  faserigen,  kerntragenden  Elemente 
desshalb  für  das  Nervengewebe  in  Anspruch  nimmt,  weil  er  mit 
Sicherheit  nachweist,  dass  sie  vom  Nervengewebe  stammen,  so 
scheint  er  mir  über  die  Grenzen  der  morphologischen  Betrachtung 
so  Gunsten  der  speculativen  Richtung  hinauszugehen.  Sobald  ich 
Elemente  aus  Nerven  hervorgehen  sehe,  die  der  Bindegewebsform 
analog  sind,  muss  ich,  so  lange  scharfe  Gegenbeweise  fehlen,  die 
Möglichkeit  offen  lassen :  Es  kann  Bindegewebe  aus  Nerven  ent- 
stehen. S.  May er's  Schluss  —  aus  Nervenfasern  kann  kein  Binde- 
gewebe entstehen  —  entspringt  eben  der  noch  unerwiesenen  Annahme 
von  der  vollkommen  gesonderten  Stellung  der  Nervenfaser  in  der 
Gewebsreibe.  Ich  muss  hingegen  einerseits  die  Möglichkeit  aner- 
kennen, dass  unter  normalen  Verhältnissen  bindegewebige  Fasern 
(d.  b.  solche,  die  man,  wenn  man  sie  im  Bindegewebe  fände,  auch 
zam  Bindegewebe  rechnen  würde)  aus  Nerven  entstehen ,  und 
andererseits  auch  für  wahrscheinlich  halten,  dass  sich  aus  Binde- 
gewebselementen   im  Nervenstrang   neue  Fasern   bilden  können. 

Uebergangsbilder,  welche  mich  zu  dem  voranstehenden  Satze 
führten,  beobachtete  ich  an  normalen  Nerven  vom  Säugethier  und 
vom  Frosche. 

Wiederholt  habe  ich  an  mehreren  Stellen  dieser  Abhandlung 
meiner   Stadien   am  embryonalen  Nerven    gedacht,    in- 

Med.  Jahrbücher,  1887.  2     (i?) 


18  Frankl  v.  Hochwart. 

soweit  sie  für  die  Lehre  von  der  Neubildung  wichtig  waren. 
Hier  möge  noch  eine  eigenthümliche  Beobachtung  Platz  finden. 
Bei  Untersuchung  der  Nerven  von  Meerschweinchen-  und  Htihner- 
embryonen  habe  ich  häufig  Fasern  mit  Markballenbildung,  also 
dem  Zeichen  der  Degeneration,  gefunden.  Im  Anfang  hielt  ich 
es  für  möglich,  dass  ich  es  mit  Artefacten  durch  Einfluss  des 
Osmiums  zu  thun  hatte.  Indessen  habe  ich  die  genannten  Bilder 
auch  bei  Zerzupfen  in  VaVo  Kochsalzlösung  gesehen.  Uebrigens 
studirte  ich  die  Osminmeinwirkung  direct  unter  dem  Mikroskop 
und  fand,  dass  durch  dieses  Reagens  wohl  ein  Zerfall  des  Markes 
in  cylindrische  Bröckeln  stattfinden  kann,  dass  sich  aber  nie  die 
fttr  die  Degeneration  charakteristischen  Ballen  finden.  Es  frsLgt 
sich  nun,  ob  wir  es  in  der  That  mit  Rückbildung  oder  mit  einer 
eigenthttmlichen  abnormen  Entwicklung  zu  thun  haben.  Zu  Gunsten 
der  Annahme  einer  Degeneration  sprechen  folgende  Momente: 

1.  Ich  habe  diese  Markballen  um  so  häufiger  gefunden,  je 
weiter  der  Embryo  ausgebildet  war :  also  zu  einer  Zeit,  wo  schon 
in  den  meisten  peripheren  Fasern  das  Mark  entwickelt  war. 

2.  Alle  Eigenthümlichkeiten  der  Fasern,  wie  sie  nach 
Traumen  zu  sehen  sind,  konnte  ich  ab  und  zu  auch  da  finden. 
Ich  sah  Fasern  im  ersten  Stadium  der  Degeneration,  wo  nur  die 
bekannten  schwarzen  Kugeln  auftreten;  ich  beobachtete  die  Um- 
wandlung in  grünlichgelbe  Massen  und  den  Uebergang  in  Proto- 
plasma. 

Sohlussbemerkungen. 

(Betrachtungen  über  die  Stellung  der  Nervenfaser 

in  der  Gewebsreihe.) 

Ich  habe  im  Laufe  der  Arbeit  wiederholt  darauf  hingewiesen, 
dass  zwischen  den  Jugendformen  des  Nervengewebes  und  gewissen 
Bindegewebsformen  kein  durchgreifender  Unterschied  besteht. 

Ich  will  nun  hier  die  Angaben  einiger  Autoren  citiren,  die 
daftir  sprechen,  dass  die  Stellung  des  Nervengewebes  in  der 
Gewebsreihe  keine  so  scharf  begrenzte  ist ,  wie  dies  im  Allge- 
meinen  angenommen   wird.    Der  Beweis   daftir,    dass    Binde- 

(18) 


Ueber  De-  und  Regeneration  von  Nervenfasern.  \  9 

gewebsfaserD    von   den  Nervenelementen  histogenetisch 
nicht  völlig  geschieden  sind,  wurde  zuerst  von  Förster,  Weiss- 
mann und  Yirchow  anNeuromen  gefuhrt,  indem  diese  Autoren 
das  Entstehen  junger  Nervenfasern   aus  Bindegewebskörperehen 
behaupteten.      Hjelt    plaidirte    in    begeistertem   Anschluss    an 
V  i  r  e  h  o  w  auch  für  diesen  Entyricklungsmodus  bei  Nervenregene- 
lation  nach  Durchschneidung ,   ohne .  dass  er  mit  dieser  Ansicht 
durchgedrungen  wäre.     Auch  die  schon  erwähnte  Forderung  der 
Histologen,    bei    Nachweis   von   Nervenendigungen   die  Abkunft 
der   marklosen    Faser   von    einer    markhaltigen    zu    constatiren, 
spricht  fiir  eine  Vorahnung   der   hier  vertretenen  Ansicht.     Für 
die    markhaltigen    Fasern    des    Bückenmarkes    ist    es    von 
Fromann  und  N.  Weiss  (letzterer  unter  Stricker's  Leitung)  i) 
sehr  wahrscheinlich  gemacht  worden,  dass  sie  bei  der  Tabes  die 
Entwicklungsstätte  des  Bindegewebes  sein  dürften. 

Und  wären  nicht  so  zahlreiche  Uebergangsfonnen  zwischen 
Bindegewebsfasern  und  jungen. Nervenelementen,  so  hätte  ja  der 
Streit,  ob  die  Remak'schen  Fasern  bindegewebig  oder  nervös 
seien,  nicht  so  viele  Jahre  hindurch  wogen  können.  Es  hatten 
Termnthlich  beide  Parteien  Recht ;  man  hat  es  mit  Elementen  zu 
thnn,  die  aus  Bindegewebe  entstehen,  zu  Bindegewebe  werden, 
oft  theils  bindegewebig,  theils  nervös  sind.  Vielleicht  wird  sich 
der  Neurogliastreit  einmal  ähnlich  entscheiden. 

Für  die  zelligen  Elemente  der  grauen  Substanz 
hat  schon  Deiters^)  Uebergangsformen  von  Bindegewebselementen 
za  Nervenzellen  beobachtet;  von  ihm  stammt  die  Hypothese  von 
der  Existenz  eines  „neutralen  Gewebsbodens"  —  eines  Bodens, 
ans  dem  verschiedene  Gewebsarten  sich  entwickeln  können. 
Stricker  und  Unger^)  haben  in  einer  speciell  darauf  ge- 
richteten Arbeit  die  Angaben  Deiters'  bestätigt  und  erweitert. 
Auch  fär  den  stetigen  Zusammenhang  zwischen  Muskel-  und 
Nervengewebe  liegen  Angaben  vor.  Die  Thatsache,  dass  die 
Nervenfaser  bei  ihrer  Endigung  continuirlich  in  die  Muskelsubstanz 


<)  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie.  1879.  Daselbst  auch  Literatur. 
*)  Untersnchnngen  über  Gehirn  nnd  Rückenmark  etc.  Brannschweig  1865. 
*)  Berichte  d.  k.  k.  Akademie  zu  Wien.  1879. 

2*   (W) 


20       Franklv.  Hochwart.  üeb.  De«  a.  Regeneration  v.  Nervenfasern. 

tibergeht,  ist  jetzt  fast  allgemein  anerkannt  (6  e  r  1  a  c  h  i),  M  a  r  g  6  ^), 
Stricker»),  Wolff*),  Gessler»)  n.  A.) 

Caberla")  hat  den  Nachweis  geliefert,  dass  Muskel-  und 
Nervenendigung  aus  demselben  Bildungsmaterial  entsteht;  wir 
haben  also  auch  für  diese  beiden,  in  ihrer  Ausbildang  so 
differenten  Gewebsformen  einen  neutralen  Gewebsboden.  Hierher 
gehört  auch  die  Bemerkung  Billroth's^),  dass  man  gewisse 
spindelförmige  Elemente  in  Neubildungen  nicht  mit  Sicherheit 
in  eine  bestimmte  Gewebsgruppe  (Nerven  oder  Muskeln)  einreihen 
könnte.  Brücke  führt  aus,  dass  man  in  einem  gewissen  Stadinm 
der  Entwicklung  der  Nerven  „täuschend  den  Anblick  hat,  als 
ob  man  es  mit  Zügen  von  glatter  Muskulatur  zu  thun  hätte.  ^ 
(Vorlesungen  11.  Wien.  Braumüller.) 

Dass  Nerven  am  peripheren  Ende  continuirlich  in  Zellen 
übergehen  können,  ist  eine  allgemein  anerkannte  Thatsache.  Auf 
die  Bedeutung,  welche  diese  Thatsache  für  die  Erkenntnisse  in 
der  Gewebspathologie  haben  könnte,  hat  bereits  Virchow  hin- 
gewiesen. 

Die  Lehre  Virchow's,  dass  im  Bindegewebe  „eine  ewige 
Vorrathskammer**  flir  alle  möglichen  Gewebsformationen  liege, 
wird  in  der  neueren  Zeit  selbst  in  der  pathologischen  Histologie 
zu  wenig  beachtet.  In  die  Lehre  vom  normalen  Nervengewebe 
ist  sie  nie  eingedrungen.  Die  monographischen  Darstellungen  des 
peripheren  Nervensystems  selbst  der  hervorragendsten  Kenner 
dieses  Zweiges  —  ich  verweise  hier  nur  auf  Ranvier,  Axel 
Key  undRetzius,  Neumann  und  S.Mayer  —  haben  diese 
Virchow'sche  Richtung  gänzlich  ausser  Acht  gelassen. 

^)  Arch.  f.  mikroskop.  Anat.  Bd.  XIII. 

')  üeber  die  Endigangen  der  Nerven  in  der  quergestreiften  Mnskel- 
snbstanz.  Pest  1862. 

3)  1.  c. 

*)  Archiv  f.  mikroskop.  Anat.  Bd.  19,  pag.  33  i. 

')  Die  motorisclie  Endplatte.  Leipzig  1885. 

^)  Arch.  f.  mikroskop.  Anat.  Bd.  XI,  pag.  442. 

')  Die  aUg.  cliimrg.  Pathologie.  11.  Anfl.,  bearb.  v.  Win  i  warl  er. 
Berlin  1883,  pag.  825. 

•m^ 


(80) 


II. 

Die  psendosystematiscben  Degenerationen  des 
Bflckenmaikes  in  Folge  Ton  chronischer  Lepto- 

meningitis. 

Auatoxnisch-pathologiflch-klmisclie  Studie  vou 

Br.  Alexander  Borgherlni, 

Docenten  an  der  Universität  zn  Padna. 
(Am.  23.  Docember  1886  von  der  Redaction  Übernommen.) 


Seitdem  Kahler  und  Pick^)  ihre  Beobachtungen  über 
primäre,  combinirte  Systemerkrankungen  des  Rückenmarkes  ver- 
öffentlicht haben,  wurde  von  den  pathologischen  Anatomen  und 
den  Klinikern  die  Aufmerksamkeit  wiederholt  auf  die  Thatsache 
gelenkt,  dass  das  Rückenmark  in  zwei  oder  mehreren  seiner  Faser- 
svsteme  gleichzeitig  oder  nach  und  nach  erkranken  könne. 

Wir  werden  später  sehen,  nach  welcher  Methode  und  auf 
Grund  welcher  Kriterien  die  Pathologen,  seit  Kahler  und  Pick 
die  Frage  der  Histo-Pathologie  des  Rückenmarkes  behandelt 
haben ;  für  jetzt  sei  nur  hervorgehoben ,  dass  nicht  alle  Forscher 
über  das  Wesen  der  combinirten  systematischen  Degenerationen 
einig  sind  und  dass  die  Meinungen  gleichsam  mehr  scholastisch 
als  wissenschaftlich,  man  möchte  sagen,  je  nach  der  Nationalität 
der  verschiedenen  Autoren,  auseinander  weichen. 


^)  Archiv  f.  Psycli.  B.  VIIF,  2.  Heft. 

(1) 


22  Borghcrini. 

Der  Fall  von  Kahler  und  Pick,  der  bis  heute  als  einer 
der  reinsten  gilt,  zeigte  unter  der  Form  von  Sklerose  eine  be- 
trächtliche und  diffuse  Veränderung  in  den  Hintersträngen,  den 
Vorder-  und  Seitensträngen;  in  den  letzteren  war  sie  ausschliess- 
lich auf  die  Kleinhirn-  und  Pyramidenbahnen  beschränkt,  in  den 
Vordersträngen  auf  die  Pyramiden-Vorderstrangbahn.  Es  waren 
demnach  an  diesem  Rückenmark  sämmtliche  lange  Riickenmarks- 
bahnen  von  dem  sklerotischen  Process  ergriffen,  indem  nur  die 
sogenannten  kurzen  Bahnen  verschont  blieben;  die  Hüllen  des 
Rückenmarkes  boten  ein  vollkommen  normales  Aussehen  dar. 

Noch  vor  den  zwei  genannten  Autoren  hatte  schon  Fried- 
reich einen,  diesem  eben  erwähnten,  in  mancher  Beziehung  ähn- 
lichen Fall  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt,  an  welchem 
Schultze')  die  histologische  Untersuchung  angestellt  hatte ;  weil 
hierbei  beträchtliche  entzündliche  Läsionen  älteren  Datums  an  den 
weichen  Meningen  constatirt  wurden,  so  schloss  man,  dass  die 
primär  in  den  Hintersträngen  aufgetretenen  krankhaften  Verände- 
rungen von  hier  aus  auf  die  Pia  mater  übergegangen  wären  und 
erst  durch  diese  unter  der  Form  von  peripherer  Sklerose  sich  den 
Seiten-  und  Vordersti-ängen  mitgetheilt  hätten. 

Diese  von  Friedreich  beschriebene  Läsion  war,  seiner 
Auffassung  nach,  pseudosystematischer  Natur,  denn  wenn  auch  die 
Bilateralität  und  die  scheinbare  Symmetrie  des  Processes  zur 
Annahme  eines  primären,  systematisch  localisirten  Processes  ver- 
leiten konnten,  so  waren  es  hingegen  andere  Argumente,  welche 
zur  Evidenz  darlegten,  dass  die  combinirten  Alterationen  der 
Seiten-  und  Vorderstränge  einem  secandären  und  meningealen 
Vorgange  ihre  Entstehung  verdankten. 

Im  Grunde  genommen,  waren  also  die  Ergebnisse  beider 
Arbeiten,  von  denen  wir  oben  berichtet  haben,  verschieden,  ja 
sie  standen  geradezu  im  Gegensatze  zu  einander,  indem  die 
ältere  Arbeit,  jene  Fried r  ei ch's  und  Schultze's,  die  Läsionen 
und  mit  diesen  die  klinischen  Thatsachen  auf  Grund  der  ge- 
wohnten pathologischen  Anschauungen  zu  erklären  suchte,  während 
die  neuere  (Kahler  und  Pick)  ein  neues  pathologisches  Princip 

>)  Virchow's  Archiv,  Bd.  70,  pag.  140. 

12) 


Die  psendoBystematisdieii  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.        23 

schuf,  oder  besser  gesagt:  eine  bis  damals  nieht  gekannte  Com- 
bination  von  krankhaften  Processen,  d.  i.  die  Möglichkeit  einer 
primären  systematiscben  und  combinirten  Degeneration  in  ver- 
schiedenen Rückenmarkssträngen. 

Von  jener  Zeit  an  bis  zu  dem  heutigen  Tage  zeigten 
Bamentlicb  die  Autoren,  welche  sieb  in  Deutschland  mit  diesem 
Gegenstande  beschäftigten,  eine  besondere  Vorliebe  für  die  An- 
sichten K  a  h  1  e  r's  und  P  i  c  k's.  Einige  Forscher,  wie  W  e  s  t  p  h  a  1  *), 
Strümpell*),  Sioli^),  Babesiu*),  Vierordt*^),  denen  sich 
die  Franzosen  Prevost*^) und Reymond')  anschliessen,  sprachen 
stets,  wenn  auch  nicht  immer  mit  Begründung,  von  primären, 
combinirten  und  systematischen  Degenerationen  des  Rückenmarkes, 
während  andererseits  Vulpian^),  Debove  und  Gombauld^), 
Damaschino^®),  D^jerine"),  Behier^^)  u.  A.  immer  und 
überall  in  ähnlichen  Fällen  neben  dem  spinalen  Processe  auch 
eine  meningeale  Läsion  hervorhoben,  von  welcher  sie  den  Ursprung 
des  Processes  in  den  Seiten-  und  Vordersträngen,  der  als  p send o- 
systematische  Degeneration  bezeichnet  wurde,  ableiteten. 
Hier  dürfte  auch  der  Fall  von  J.  Wolff  eingereiht  werden,  den 
er  als  strangformige  Degeneration  der  Hinterstränge  mit  gleich- 
zeitigen meningo  -  myelitischen  Herden  beschreibt,  i«)  Die  ein- 
schlägigen   Publicationen   von   Raymond    und    Tenneson^*), 


')  Archiv  f.  Psych.  Bd.  VIII,  2.  H.  —  IX,  X,  XV,  XVJ. 

«)  Archiv  f.  Psych.  Bd.  X,  XI,  XII,  XVII. 

*)  Archiv  f.  Psych.  Bd.  XI. 

*)  Virchow's  Arch.  Bd.  LXXVI. 

-)  Archiv  f.  Psych.  Bd.  XIV. 

*)  Archives  de  physiol.  norm,  et  pathologique.  1877. 

^)  Archives  de  physiol.  norm,  et  pathologique.  1879. 

^  Archives  de  physiol.  norm,  et  pathologique,  1869,  et  Maladies  de  Systeme 
■erveox.  Paris  1879. 

^)  Archives  de  physiol.  norm,  et  pathologique.  1879. 
»^)  Gaasette  des  Höpitaux.  1883. 

")  Arch.  de  phys.  norm.  et.  path.  1884. 

^»)  Thöse  de  Paris  1885. 

»=)  Arch.  f.  Psych.  XII. 

**)  Arch.  de  physiol.  norm,  et  path.  1886. 

(3) 


24  Borgherini. 

Grasset^)  und  Erlitzky  und  Rybalkin*)  sind  mir  erst 
nach  Abscblnss  dieser  Arbeit  zugekommen,  konnten  demnach  hier 
nicht  weiter  in  Berücksichtigung  gezogen  werden. 

Ich  will  jedoch  gleich  bemerken,  dass  der  Gegensatz  der 
Meinungen  nur  auf  histopathologischem  Gebiete  existirt ,  während 
in  klinischer  Hinsicht  die  von  Westphal  zuerst  und  später  von 
Strümpell  so  scharf  gezeichnete  und  discutirte  Krankheitsform 
nie  anders  beschrieben  und  von  Niemandem  in  abweichender 
Weise  interpretirt  wurde. 

Wir  werden  auf  die  von  den  verschiedenen  Autoren  zum 
Ausdruck  gebrachten  Meinungen  und  auf  die  Symptomatologie  des 
fraglichen  Processes  noch  zurückkommen ;  da  wir  Gelegenheit  gehabt 
haben,  einige  Fälle  von  Erkrankungen  des  Rückenmarkes,  die 
mehr  oder  weniger  mit  dem  hier  behandelten  Gegenstand  zusammen- 
hängen, genau  anatomisch  zu  untersuchen,  so  wollen  wnr  vorerst 
auf  die  Beschreibung  derselben  eingehen. 

Von  den  klinischen  Erscheinungen  können  wir  nur  derjenigen 
Erwähnung  thun,  die  sich  auf  den  ersten  Fall  beziehen ,  da  von 
den  anderen  Fällen  die  Krankheitsgeschichte  gänzlich  fehlt.  3) 

I.  FaU. 

Schmigotz  Marie,  43  Jahre  alt.  starb  am  10.  April  1885 
unter  den  Symptomen  einer  schweren  Spinalläsion  im  Wiener 
Versorgungshause.  Das  Präparat,  sowie  die  auf  den  Verlauf  der 
Krankheit  bezüglichen  Notizen  verdanken  wir  der  Liebenswtlrdig- 
keit  des  dortigen  ersten  Hausarztes,  Herrn  Dr.  Lud.  Pfleger. 
Drei  Jahre  vorher  war  sie  in  einer  Fabrik  angestellt  gewesen, 
wo  sie,  ihrer  Beschäftigung  gemäss,  durch  lange  Zeit  während 
des  Tages  die  unteren  Extremitäten  zum  Stampfen  des  Arbeits- 
materiales  gebrauchen  musste.  Zu  jener  Zeit  bekam  sie  Schmerzen 

')  Arch.  de  Neurol.  Bd.  XI  u.  XII. 

'*)  Arch    f.  Psych.  Bd.  XVII. 

^)  Vorliegende  Arbeit  wurde  im  Laboratorium  des  Professors  Ober- 
steiner in  Wien  begonnen ,  woselbst  ich  den  Fall  I  untersuchte.  Ich  fühle 
mich  verpflichtet,  dem  hochgeehrten  Professor  hier  meinen  aufrichtigsten  Dank 
auszusprechen  für  die  Winke,  die  er  mir  bei  der  histologischen  Untersuchung 
gegeben,  und  für  den  freundlichen  Beistand,  den  er  mir  auch  in  dem  Aufisnehen 
der  so  reichen  einschlägigen  Literatur  gewährt  hat. 

(4) 


Die  paeudoQystematischeii  Degenerationen  des  Rackenmarkes  etc.         25 

Vi  den  unteren  Extremitäten  nnd  bemerkte,  dass  ihr  Gang  schwer- 
fiUbger  wnrde;  die  Schmerzen  nahmen  dann  alsbald  einen 
kndnirenden  Charakter  an  nnd  reichten  bis  znm  Kreuzbein  hinanf. 
Ifaeh  Äblanf  eines  Jahres ,  während  welches  der  geschilderte  Zn- 
stand fortdanerte,  traten  ernstere  Beschwerden  hinzu:  Urinlassen 
erschwert«  Gehen  unmöglich;  die  unteren  Extremitäten  wurden 
Ton  Contractnren  befallen,  namentlich  an  der  Muskulatur  um 
die  Kniee  nnd  nm  das  linke  Sprunggelenk;  Reflexe  gesteigert. 
Zuletzt  trat  eine  beträchtliche  Abmagerung,  namentlich  an  den 
Beinen,  auf  nnd  den  Schluss  der  traurigen  Scene  bildete  eine 
Cystitis  mit  nachfolgender  Pyelitis. 

Bei  der  Nekroskopie  fand  man  neben  den  Läsionen  im  uro- 
poetischen  Apparate  eine  hochgradige,  nicht  auf  die  Hirnhäute 
abergreifende  Läsion  der  inneren  Rückenmarkhäute,  die  an  dem 
Dorsaltheile  mehr  ausgesprochen  war,  und  eine  gleichfalls  beträcht- 
fiche  Veränderung  des  Rückenmarkes,  vorwaltend  in  seinem  Dorsal- 
theile, w^o  es  eine  weniger  consistente  Beschaffenheit  und  ein 
fibröses  Aussehen  darbot. 

Mikroskopische  Untersuchung.  Pia  mater.  Ihre 
beiden  Schichten  erscheinen  sehr  yerdickt,  aber  mehr  die  innere 
circoläre,  als  die  äussere  längsgefaserte.  Die  Gefäs^e  in  der 
leteteren  Schichte  zeigen  beträchtlich  verdickte  Wandungen  und 
sind  mit  Blutkörperchen  dicht  erfüllt.  Die  sehr  dicke  tiefere 
Schichte  ist  an  ihrer  inneren  Fläche  durch  eine  bedeutende  Ver- 
dickung der  sogenannten  submeningealen  Schichte  verstärk 
(Fromm an n's  Rindenschichte),  welche  normal  aus  zartem  Binde- 
gewebe von  feinem  granulärem  Aussehen  auf  dem  Querschnitte 
besteht  und  meist  eine  nicht  sehr  bedeutende  Dicke  aufweist.  ^)  In 
unserem  Falle  ist  die  Rindenschichte,  namentlich  an  den  mehr 
veränderten  Stellen  des  Rückenmarkes,  hochgradig  verdickt,  sie 
bildet  dort  eine  zusammenhängende  Masse;  verbreitert  dringt  sie 
aach  in  die  normalen  Spalten,  Gefässe  und  Sepimente  begleitend, 
welche  die  Pia  in  das  Innere  des  Rückenmarkes,  gleichfalls  ver- 
dickt, hineinsendet. 

^)  Untersrachnngen  über  d.  norm.  n.  pathol.  Anatomie  des  Rückenmarkes. 
—  Frommann.  Jena  1864. 

(5) 


26  Borgherini. 

Die  histologischen  Alteratioiieii  beginnen  an  der  Mednlla. 
oblongata;  weiter  cerebralwärts  ist  nichts  Pathologisches  zu 
sehen. 

Die  Mednlla  oblongata  zeigt  in  ihrem  caadalen  Theile^ 
den  Seitensträngen  entsprechend,  zwei  massig  sklerosirte  Stellen  ^ 
welche  in  ihren,  der  Peripherie  näher  liegenden  Partien  fein 
granulirt  erscheinen.  Der  sklerosirende  Process  setzt  sich  in  die 
Tiefe  eine  kürze  Strecke  fort,  nimmt  jedoch  von  aussen  nach 
innen  an  Intensität  ab,  so  dass  der  innere  Abschnitt  der  Seiten- 
stränge nur  noch  von  einem  fibrillären  Netze  mit  dazwischen 
liegenden  normalen  Fasern  dargestellt  erscheint. 

An  deu  Hintersträngen  sind  ähnliche  sklerosirte  Stellen 
vorhanden;  die  Sklerose  beschränkt  sich  mehr  auf  den  dorsalen 
Antheil  der  Hinterstränge  und  ist  dort  durch  compactes,  fein  granu- 
lirtes  Bindegewebe  charakterisirt. 

An  dem  Reste  des  Rückenmarksumfanges  bemerkt  man 
Randsklerosc ,  welche  weiter  cerebralwärts  auch  die  Pyramiden 
in  sich  begreift,  sie  ist  jedoch  hier  nur  auf  einen  dtinnen 
peripheren  Theil  beschränkt,  wo  die  von  der  Pia  herrührenden 
Sepimente  sehr  verdickt  erscheinen  und  von  Einbiegungen  der 
Rindenschicht  und  den  verdickten  Gefassen  begleitet  sind. 

In  dem  sklerosirten  Gewebe  der  Seitenstränge  sind  umso- 
mehr  erhaltene  Nervenfasern  zu  erkennen,  je  weniger  intensiv 
die  Verändeioing  ist  (Weigert'sche  Hämatoxylinfärbung) ;  ferner 
sieht  man  zahlreiche  Keraelemente  und  Amyloidkörperchen  (Alaun- 
hämatoxylinfarbung). 

Obere  Cervicalgegend  (Fig.  1):  Beträchtliche  Ver- 
dickung der  Pia  und  Rindenschicht;  Seitenstränge,  in  ihrer 
hinteren  Hälfte  an  der  Peripherie  in  ein  feinkörniges  Gewebe  um- 
gewandelt, das  eine  Strecke  weit  in  die  Masse  des  Stranges 
hinein  vordringt,  gegen  die  Mitte  hin  wie  mit  Fransen  endend, 
die  oflFenbar  durch  das  Vorwärtsschreiten  des  sklerotischen  Pro- 
cesses  gegen  das  Centrum  zu  gebildet  wurden.  In  den  sklerotischen 
Theilen  sind  noch  Markfasem  erhalten,  deren  Zahl  nach  Innen 
hin  zunimmt.  Längs  der  Septa  in  den  Seitensträugen  und  be- 
sonders dort,  wo  ein  Blutgefäss  eindringt,  vertieft  sich  die  Sklerose 
mehr;  die  interstitiellen  Blutgefässe  sind  gleichfalls  verdickt. 

(6) 


Die  psendosystematischen  Degenerationen  des  Rfickenmarkes  etc.         27 

In  den  Hintersträngen  erscheint  der  GolVsche  Strang  voll- 
ständig verändert;  der  Bnr dach'sche  Strang  indessen  ist  nament- 
lich in  seinen  lateralen  Partien  intact.  An  den  übrigen  Theilen 
des  Sftckenmarksqnerschnittes  ist  nnr  ein  sklerotischer  peripherer 
RiDg  vorhanden,  den  man  auch  in  der  Fissura  longitudinalis 
anterior  zn  sehen  bekommt;  Ganglienzellen,  dem  Aussehen  nach 
normal;  zahlreiche  Kemelemente  überall  in  den  sklerosirten 
Partien  disseminirt,  namentlich  um  die  Gefässe  herum;  zahl- 
reiche Amyloidkörperchen. 

Halsanscliwellnng  des  Rückenmarkes  (Fig.  2), 
Alteration  bedeutend.  Der  ganze  Umfang  des  Rückenmarkes  ist, 
die  Begrenzung  der  vorderen  Längsspalte  mit  inbegriflfen,  sklerosirt ; 
der  Process  reicht  hier  mehr  in  die  Tiefe.  In  den  Grundbündeln 
der  Yorderstränge  nnd  in  den  gesammten  Seitensträngen  sind 
ebenfalls,  wenn  auch  nicht  überall ,  in  gleichem  Masse  die  näm- 
lichen Veränderungen  vorhanden. 

In  der  hinteren  Hälfte  der  Seitenstränge  zieht  sich  die 
Läsion  mehr  in  der  Tiefe  als  vorne ;  sie  ergreift  jedoch  in  ihrer 
stärksten  Ausbildung  nicht  den  ganzen  Umfang  der  PyS,  indem 
die  vollständige  Sklerosirung  circa  bis  zur  Mitte  der  Dicke  des 
bezüglichen  Stranges  reicht.  Auch  hier  besteht  die  schon  oben 
angegebene  Graduirung  des  Processes. 

Die  Hinterstränge  sind  ganz  und  gleichmäss  sklerosirt  und 
die  Alteration  ergreift  auch  den  hinteren  Rand  der  Hinter- 
hömer.  Kerne  und  Amyloidkörperchen  wie  oben;  Ganglienzellen 
dem  Aussehen  nach  normal;  Centralcanal  mit  Zellen  erftillt; 
Nervenwurzeln  an  ihrer  Austrittsstelle  aus  dem  Marke  atrophisch. 
Ein  Längsschnitt  an  dieser  Stelle  zeigt  das  sklerotische  Gewebe 
von  deutlich  faseriger  Beschaffenheit,  während  es  auf  den  Quer- 
schnitt granulirt  erscheint. 

Gegend  der  fünftenDorsalwurzel  (Fig. 3):  Läsionen 
noch  mehr  ausgesprochen.  Die  Hinterstränge  sind  ganz  in  eine 
gleichförmige  Masse  von  Bindegewebe  umgewandelt,  die  Seiten- 
stränge gleichfalls  von  dem  Processe  tief  ergriflfen ;  das  sklerosirte 
Gewebe  reicht  bis  oder  fast  bis  an  die  graue  Substanz ;  dasselbe 
gilt  auch  von  dem  Yorderstränge.  Jedenfalls  erscheint  die  Läsion 
iB  den  kurzen  Bahnen  des  Vorderseitenstranges  (Grundbündel  des 

(7) 


28  Borgherini. 

Vorderstranges  und  Seitenstrangreste  weniger  vorgeschritten),  man 
beobachtet  nämlich  hier  einen  minder  hochgradigen,  gleichförmig: 
diffusen  Process  mit  noch  vielen  intacten  Nervenfasern. 

Die  beiden  Hinterhömer  der  grauen  Substanz  sind  ebenfalls 
sklerotisch  verändert  und  von  fibrösem  Aussehen ;  Die  Zellen  der 
Clarke'schen  Säulen  erscheinen  mit  wenigen  Ausnahmen  un- 
verändert: Nervenfasern  sind  dort  in  geringer  Anzahl  vorhanden. 

Lumbargegend  (Fig.  4.) :  Die  Alteration  ist  viel  weniger 
ausgesprochen.  Die  Hinterstränge  sind  vollständig  ergriffen,  aus- 
genommen den   vorderen  Winkel  neben  der  grauen  Commissar. 

Partielle  sklerosirende  Veränderung  der  hinteren  Hälfte  der 
Seitenstränge  in  Form  eines  schmalen  Dreiecks,  welches  von  dem 
Rande  des  Seitenstranges  zur  Mitte  reicht.  Von  den  Hinterhömem 
ist  dieses  Dreieck  durch  normale  Marksubstanz  getrennt. 

Die  Intensität  des  sklerosirenden  Processes  nimmt  auch  hier 
von  der  Peripherie  gegen  das  Centrum  zu  ab.  Ausserdem  am 
Umfange  des  Rückenmarkes  Randsklerose.  Die  Nervenwurzeln  an 
ihrer  Austrittsstelle  aus  dem  Rückenmark  atrophisch. 

Conus  medullaris  (Fig.  5):  Rindenschicht  dicker  als 
anderwärts;  Atrophie  der  aus  dem  Conus  austretenden  Wurzeln; 
vollständige  Sklerose  der  Hinterstränge;  an  den  Seitensträngen 
schwache  Randsklerose,  links  jedoch  etwas  mehr  markirt.  Im 
hinteren  Theite  der  Seitenstränge  reicht  die  Degeneration  etwas 
mehr  in's  Innere  hinein.    Hinterhörner  leicht  verändert. 

Spinalganglien:  Starke  Vermehrung  des  Bindegewebes ; 
die  Nervenzellen  sind  aber  noch  ziemlich  gut  erhalten. 

Vordere  Wurzeln  (6.  Dorsal-,  3.  Lumbarwurzel):  Blut- 
gefässe mit  verdickten  Wandungen;  reich  an  Kernen,  mit  vielen 
atrophischen  und  varicösen  Fasern;  viele  Elemente  jedoch  noch 
intact. 

Hintere  Wurzeln  beiläufig  wie  die  vordem,  nur  mehr 
atrophische  Fasern  führend,  die  Blutgefässe  mehr  verändert. 

II.  Fall. 

Bei  der  Beschreibung  dieses  Falles  und  der  nachfolgenden 
werden  wir  uns  kürzer  fassen. 

Sections-Diagnose:  Meningitis  spinalis  chronica. 

(8) 


Die  peeiido^ystematisclieii  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         29 

Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab:  Weiche 
Meningen  bedeutend  verdickt ;  Blutgefässe  mit  sehr  dicken  Wan- 
dungen; Rindenschicht  beträchtlich  entwickelt,  insbesondere  an 
der  unteren  Cervical-  und  Lumbargegend.  Die  Sepimente  der  Pia 
sind  verdickt. 

Unterer  Abschnitt  des  Cervicalmarkes:  Rein 
periphere  Sklerose  an  den  Seitensträngen,  die  auf  der  einen  Seite 
besser  markirt  ist  als  auf  der  anderen.  An  der  mehr  erkrankten 
Seite  sind  die  normalen  Sepimente  der  Pia  auch  verdickt,  und 
sie  werden  von  Fortsetzungen  der  ebenfalls  verdickten  Rinden- 
schicht begleitet;  es  besteht  die  im  früheren  Falle  beschriebene 
Abflchwächung  des  Processes  von  der  Peripherie  gegen  die  Mitte 
ZQ.  Sammtliche  fibrilläre  Balken,  die  von  der  Pia  aus  quer  das 
Rückenmark  durchziehen,  sind  sehr  verdickt.  In  den  Hintersträngen 
sind  die  GolFschen  und  die  Bu.rdach'schen  Stränge  erkrankt, 
jedoch  nicht  in  beträchtlicher  Weise;  es  blieben  nämlich  verschont 
der  hintere  Rand,  der  laterale  Rand  und  die  Spitze  neben  der 
grauen  Commissur. 

Ganglienzellen  normal;  die  graue  Substanz  erscheint  über- 
haupt unveiÄndert;  Kerne  reichlich  im  sclerosirten  Gewebe  zer- 
streut: namentlich  um  die  Gefasse  herum. 

Oberer    Abschnitt    des    Lendenmarkes:    Innere 

Hirnhäute  überall  verdickt,  insbesondere  die  Pia  in  ihrer  tieferen 

Schichte;    Rindenschicht   ebenfalls  verdickt.     Unter   ihr  bemerkt 

man  den  peripheren  Theil  des  Rückenmarkes  namentlich  in  den 

I^V  von  verdickten  Sepimenten  quer  durchzogen.  In  der  hinteren 

Hälfte  der  Seitenstränge  beobachtet  man   eine  sclerosirte  Partie, 

die  von  der  Peripherie  gegen  die  Mitte  vordringt ;  sie  ist  von  un- 

regdmässiger,  zackiger  Form,  compact,   gegen  den  Rand  zu  von 

gnuralirtena  Aussehen ;  sie  wird  gegen  innen  zu  allmälig  weniger 

dicht,  und  immer  mehr  von  normalen  Bündeln  durchsetzt.   Diese 

sclerosirte  Partie  entspricht  jenem  Gebiete,   welches  von  den  KS 

önd  den  PyS  occupirt  wird. 

An  den  Hintersträngen  begegnet  man  ähnlichen  Verhält- 
nissen;  beide  Bestandtheile  sind  degenerirt,  mit  Ausnahme  des 
tiefsten  Abschnittes  neben  der  hinteren  Gonunissur. 

(10 


30  Borgherini. 

Die  HintersträDge  weisen  aach  sonst  neben  den  Hinter - 
hörnern,  femer  in  der  Medianlinie  und  an  ihrem  peripheren  Bande 
sehr  viele  normale  Fasern  auf.  Die  hinteren  Wurzeln  erseheinen 
an  ihrer  Eintrittsstelle  zum  grossen  Theile  degenerirt.  Die  Ganglien- 
zellen sehen  normal  aus;  der  Centralcanal  ist  durch  Anhäufang 
von  Zellen  verschlossen ;    die  Arterien  sind  stark   und  verdickt. 

m.  FaU. 

Die  klinische  Diagnose  lautete:  Tabes  dorsalis 
incipiens.  Die  Person  starb  an  einer  intercurrenten  acuten 
Krankheit. 

Untere  Dorsalgegend:  Innere  Meningen  sehr  verdickt ; 
desgleichen  die  Rindenschicht.  Von  der  Pia  gehen  zahlreiche  sehr 
dicke  Sepimente  ab,  die  zur  grauen  Substanz  hinziehen,  und  von 
sklerosirten  Gefässen  begleitet  werden.  In  den  Seitensträngen, 
hintere  Hälfte,  ist  ein  sklerotischer  Abschnitt  vorhanden,  der  von 
der  Peripherie  gegen  die  Mitte  vordringt;  auf  der  einen  Seite 
tiefer  hineinreicht  als  auf  der  anderen.  Diese  sklerotische  Partie 
ist  an  der  Peripherie  mehr  compact,  wo  sie  das  Aussehen  eines 
feinkörnigen  Gewebes  hat.  Gegen  die  Mitte  zu  endigt  sie  in 
Strahlen,  die  sich  in  dem  gesunden  Gewebe  verlieren. 

In  den  Hintersträngen  sind  verändert :  die  Wurzeln ,  die 
Wurzelzone  und  der  G  o  1  l'sche  Strang.  Der  mediane  und  hintere 
periphere  Rand  der  Stränge,  ferner  ein  Theil  des  äusseren  Randes, 
welcher  an  das  Hinterhom  grenzt,  sowie  der  Winkel  neben  der 
hinteren  Gommissur  sind  unverändert  geblieben.  Der  Centralcanal 
ist  verschlossen.  Arterien  mit  dicken  Wandungen.  Ganglienelemente 
der  Vorderhörner  und  der  Clark e'schen  Säule  von  normalem 
Aussehen. 

Obere  Dorsalgegend.  Meningen  wie  oben.  Die  Rand- 
degeneration erscheint  beträchtlicher,  es  breitet  sieh  das  sclerosirte 
Gewebe  Über  das  ganze  Rückenmark  aus,  derart,  dass  auch  der 
Pyramidenvorderstrang  ergriffen  ist.  In  den  Seitensträngen  tritt 
die  Alteration  noch  mehr  hervor  und  greift  mehr  in  die  Tiefe  ein ; 
die  Charaktere  jedoch  sind  dieselben  wie  oben ;  das  Gleiche  gilt 
auch  ftir  die  Hinterstränge;  Ganglienzellen  normal. 

(10) 


IMe  psendosystematisclien  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         3X 

Gegend  der  Halsanschwellnng:  ScleroBe  der  Seiten- 
stränge  weniger  ausgeprägt,  nnd  über  die  Begrenzung  derselben 
luich  den  Vordersträngen  hin  ausgebreitet.  Aach  an  der  nicht 
flderosirten  Partie  des  Rtickenmarksrandes  ist  Verdickung  der 
normalen  Sepimente  und  abnorme  Bindegewebswucherung  be- 
meifcbar. 

In  den  Hintersträngen  ist  die  Degeneration  der  Wurzelzone 
starker  markirt. 

IV.  Fall. 

Klinische  Diagnose:  Amyotrophische  Lateral- 
selerose. 

Obere  Lendengegend:  Auch  hier  besteht  eine  beden- 
tende  Alteration  der  Pia  mater  und  ihrer  Gefässe ;  Rindenschicht 
stark  entwickelt.  Die  Septa  sehr  verdickt.  Erhebliche  Selerose  in 
den  Hintersträngen,  in  der  hinteren  Hälfte  der  Seitenstränge, 
sowie  in  dem  PyV;  aber  auch  an  den  übrigen  Partien  des 
Rtlekemnarkes  ist  eine  Randsclerose  erkennbar.  Der  der  grauen 
Äxe  anliegende  Abschnitt  der  weissen  Substanz  ist  gut  erhalten 
nnd  normal.  Die  Läsion  in  den  beiden  Hintersträngen  ist  fast 
gleichförmig,  jederseits  in  Gestalt  eines  Dreieckes,  das  an  seinen 
drei  Seiten  durch  gut  erhaltene  Fasern  umgrenzt  wird. 

In  der  hinteren  Hälfte  der  Seitenstränge  ist  die  Alteration 
beiderseits  von  gleicher  Ansdehnnng.  Sie  beginnt  intensiv  an  der 
Peripherie  nnd  erstreckt  sich  gegen  die  Mitte  hin,  allmälig  an 
Intensität  abnehmend.  In  den  Vordersträngen  sind  namentlich  deren 
Kanten  gegen  die  Fissura  longitudinalis  zu  verändert.  Gentral- 
eanal  verwachsen. 

Untere  Halsgegend:  Pia  und  Rindenschicht  wie  oben. 
Usion  stärker  markirt  als  in  den  unteren  Abschnitten  des  Rücken- 
markes; in  Form  eines  Ringes  umfasst  sie  den  ganzen  Umfang 
des  Rückenmarkes.  In  der  hinteren  Hälfte  der  Vorderstränge  und 
in  den  Hintersträngen  besteht  eine  hochgradige  Selerose,  die  sich 
mit  den  oben  angegebenen  Charakteren  sehr  weit  bis  nahe  an 
die  graue  Substanz  erstreckt ,  an  der  Grenze  derselben  jedoch 
eine  normale  Partie  freilässt.  —  Graue  Substanz  von  normalem 

Aussehen. 

(11) 


32  Borgherini. 

ObereHalsgegend:  Die  Alteration  der  einzelnen  Rücken- 
marksbflndel  ist  hier  viel  weniger  deutlich ;  man  bemerkt  die  Bil- 
dung von  interstitiellem  Oewebe  vorwiegend  in  den  Hintersträngen ; 
aber  auch  an  den  Rändern  der  Seiten-  und  Yorderstränge.  Central- 
canal  frei;  Nervenzellen  normal. 

V.  FaU. 

Wir  fuhren  hier  noch  diesen  Fall  an,  behufs  Vergleich  mit 
dem  vorhergehenden. 

Klinische  Diagnose:  Tabes  dorsalis. 

Untere  Dorsalgegend:  Spinalwurzeln  atrophisch.  Trian- 
guläre Sklerose  der  Hinterstränge.  Pia  bedeutend  verdickt,  des- 
gleichen die  Rindenschicht  und  die  Septa.  Gentralcanal  verschlossen. 
Ganglienzellen  normal. 

Obere  Dorsalgegend  bietet  beiläufig  dasselbe  Bild. 
Clark  e'sche  Säulen  normal.  Septa,  Rindenschicht  und  Pia  verdickt. 

Untere  Halsgegend:  Der  ganze  Umfang  des  Rücken- 
marks ist  verändert ;  aber  am  stärksten  markirt  ist  die  Läsion  in 
den  Hintersträngen. 

Mittlere  Halsgegend:  Dieselbe  Alteration  an  den  Hinter- 
strängen. In  der  hinteren  Hälfte  der  Seitenstränge  bemerkt  man 
eine  stärkere  Läsion  als  in  anderen  Höhen.  Hier  ist  zu  sehen« 
wie  die  Rindenschicht  stark  entwickelt  ist. 

Wir  haben  also  bei  den  ersten  vier  beschriebenen  Fällen, 
die  auch  zur  Grundlage  unserer  weiteren  Auseinandersetzungen 
dienen  sollen  (während  das  5.  Beispiel  nur  des  Vergleiches  wegen 
herbeigezogen  wurde),  geftmden,  dass  das  Rückenmark  an  einer 
Sklerose  erkrankt  ist,  welche  viele  seiner  Fasersysteme  gleich- 
zeitig ergriffen  hat;  nämlich  die  Pyramidenbahnen,  die  Kleinhirn- 
seitenstrangbahn  und  die  GolTschen  Stränge,  mit  einem  Worte, 
alle  langen  Rtickenmarksbahnen.^) 

*)  Wir  werden  auch  in  der  Folge  fortfahren  ,  die  G  o  1  Tschen  Stränge 
nnter  die  langen  Bahnen  einzureihen,  und  zwar  auf  Grund  einer  Anschauung, 
die  von  der  Physiologie  acceptirt  ist,  wenn  wir  auch  wohl  wissen,  dass  man 
heute  an  der  systematischen  Natur  dieser  Stränge  zu  zweifeln  beginnt.  —  Die 
meisten  Autoren  nehmen  aber  doch  die  Existenz  von  systematischen  Fasern  in 
denselben  an,  die  von  den  hinteren  Wurzeln  herrühren. 


Die  paeudosyst^matischen  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         33 

Es  soll  aber  hier  gleich  bemerkt  werden,  dass  nicht  nnr 
diese  langen  Bahnen,  sondern  auch  gleichzeitig,  wenn  auch  nicht 
in  80  hohem  Grade ,  die  übrigen  FaserbUndel ,  nämlich  die  soge- 
nannten knrzen  Bahnen  erkrankt  waren. 

Und  nun  entsteht  die  Frage:  Bilden  denn  die  angeführten 
Fälle  ebenso  viele  Beispiele  von  degenerativen,  combinirten,  syste- 
matischen und  protopathischen  Vorgängen  im  RUckenmarke,  wie 
sie  von  Kahler  und  Pick  zuerst  beschrieben  wurden?  Wir 
wollen  hier  gar  nicht  sofort  behaupten,  dass  sie  mit  jenen,  nament- 
lich von  Westphal  vorgebrachten  Fällen  volle  Uebereinstimmung 
darbieten,  da  wir,  wenn  wir  ohne  weiters  die  von  diesem  Autor 
vertretene  Ansicht  acceptiren  wollten,  unsere  Frage  auch  bejahend 
beantworten  müssten. 

Der  Fall  von  Kahler  und  Pick,  der  nunmehr  allgemein 
als  Repräsentant  einer  classischen  Form  der  combinirten,  syste- 
matischen, primären  Degenerationen  gilt,  ist  vor  allem  dadurch 
gekennzeichnet ,  dass  der  pathologische  Process  strenge  auf  die 
langen  Spinalbahnen  beschränkt  bleibt;  und  ferner  durch  den 
Umstand,  dass  die  inneren  Häute  des  Rückenmarks  gar  nicht  an 
der  Alteration  participiren.  Es  scheint,  dass  der  Process  in  den 
verschiedenen  erkrankten  Partien  nahezu  gleichzeitig  aufgetreten 
ist  In  unseren  Fällen  aber  verhält  sich  die  Sache  anders.  In  dem 
ersten  Falle  fanden  wir  eine  beträchtliche  Alteration  der  Pia  und 
(eine  noch  stärker  ausgeprägte)  der  Rindenschicht,  welch  letztere 
die  charakteristischen  Zeichen  einer  neoproductiven  Entzündung 
anfvreist.  Das  Rückenmark  zeigt  an  seinem  ganzen  Umfange  die 
Sparen  eines  chronischen  interstitiellen  Processes ;  und  wenn  dieser 
vornehmlich  in  den  langen  Bahnen  zum  Ausdruck  gelangt,  so  ist 
er  doch  deutlich  genug  auch  in  den  kurzen  Bahnen  zu  sehen. 
Betrachtet  man  den  Vorgang  in  den  Seitensträngen  etwas  näher, 
so  hat  er  einen  ganz  anderen  Charakter  als  bei  den  typischen 
systematischen  Degenerationen.  An  jedem  der  oben  beschriebenen 
Bückenmarksquerschnitte  konnten  wir  allerdings  in  der  hinteren 
Hälfte  der  Seitenstränge  die  Existenz  eines  sklerosirenden  Processes 
nachweisen,  der  aber  von  der  Peripherie  gegen  die  Mitte  zu  all- 
malig  an  Intensität  abnahm.  Der  Process  erstreckte  sich  also 
nicht  auf  das  ganze  von   dem   speciellen  Fasersysteme  des  PyS 

Ved.  Jahrbücher.  1887.  3     (is) 


34  Borgherini. 

gebildete  Gebiet  des  Seitenstranges  und  endete  naeb  der  Mitte 
bin  mit  einer  Anzabl  von  strabligen  Fransen,  die  der  normalen 
Vertbeilnng  der  zablreicben  bindegewebigen  Septa  entsprecbend 
verliefen;  die  Degeneration  zeigte  sich  endlich  proportional  der 
Schwere  des  meningealen  Processes  mehr  oder  minder  hochgradig 
and  tiefeindringend  derart,  dass  z.  B.  im  Dorsalabschnitte  des 
Rückenmarkes  die  beiden  Processe  am  intensivsten  waren. 

Wie  in  dem  ersten  Falle,  so  haben  wir,  mit  wenigen  gra- 
duellen Variationen,  dieselben  Veränderungen  auch  bei  den  andern 
Fällen  angetroffen.  Diese  anatomisch-pathologischen  Alterationen 
berechtigen  uns,  gemäss  der  bei  ähnlichen  Fällen  von  Vulpian, 
D^jerine,  Behier  u.  A.  gegebenen  Beschreibung  zu  der  An- 
nahme, dass  sowohl  in  unseren  Fällen,  als  auch  in  denjenigen 
der  letztgenannten  Autoren,  es  sich  vielmehr  um  secundäre  menin- 
geale  Formen,  als  um  primäre  combinirte  Degenerationen  handelte. 
Im  Gegensatze  zu  jenen  Autoren  halten  wir  aber  den  in  den 
Hintersträngen  sich  abwickelnden  Process  für  primär. 

Für  Letzteres  sprechen  mehrere  Umstände ;  die  den  Meningen 
anliegenden  Partien  der  Hinterstränge  sind  häufig  reicher  an  nor- 
malen erhaltenen  Nervenfasern,  als  die  inneren  Abschnitte;  die 
sonst  bei  degenerativen  Processen  in  den  Hintersträngen  bevor- 
zugten Theile  scheinen  auch  hier  mehr  erkrankt ;  die  Sklerose  ist 
im  Allgemeinen  gleichmässiger  über  die  Hinterstränge  verbreitet, 
als  an  anderen  Theilen  des  Querschnittes.  Dies  alles  lässt  uns 
supponiren,  dass  der  Process  in  den  Hintersträngen  thatsächlich 
primären  Ursprungs  sei  und  nicht  hervorgerufen  durch  dieselbe 
pathogenetische  Ursache,  die  wir  flir  die  Alteration  in  den  Seiten- 
strängen hervorgehoben  haben.  Die  primäre  Veränderung  der 
Hinterstränge  hätte  dann  zur  meningealen  Erkrankung  geführt. 

Mit  welcher  Leichtigkeit  dies  geschehen  kann,  geht  aus  dem 
Umstände  hervor,  dass  schon  anatomisch  zwischen  Hintersträngen 
und  Meningen  innigere  bindegewebige  Beziehungen  existiren,  als 
zwischen  anderen  Theilen  des  Rückenmarkes,  die  Seitenstränge 
mit  inbegriffen  (Fromann).  In  der  That  finden  sich  auch  bei 
unseren  Fällen  die  mächtigeren  Läsionen  der  Pia  über  den 
Hintersträngen,  und  auch  bei  dem  Falle  V.,  der  einer  reinen  Tabes 
sehr  nahe  steht,  war  die  meningeale  Läsion  ziemlich  bedeutend; 

(U) 


Die  psendoeystenuktiaclien  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         35 

doeh  hatte  sie  zn  bemerkenswerthen  myelitischen  Läsionen  nicht 
geführt,  wohl  aber  zur  Hyperplasie  der  Bindenschicht  nnd  der  von 
der  Pia  stammenden  Septa.  Später  werden  wir  noch  ttber  diese 
Frage  eingebender  zu  sprechen  haben. 

Der  bei  den  angegebenen  Fällen  zur  Entwicklung  gekommene 
Proc^s  wäre  also  unseres  Erachtens  als  eine  Form  primärer, 
systematischer  Degeneration  der  Hinterstränge  und  secnndärer 
chronischer  Meningitis  mit  pseudosystematischer  Scierose  an  den 
Seiten-  und  Yordersträngen  aufzufassen.  Dieser  Process,  welcher 
in  mehrfacher  Hinsicht  denjenigen  in  den  Fällen  von  Friedreich 
und  Schnitze,  von  Vulpian,  Deboye  und  Gombault, 
Damaschino  nnd  Behier  etc.  entspricht,  präsentirt  sich  hier 
aber  in  gewisser  Beziehung  unter  so  eigenartigen  Charakteren, 
dass  ein  näheres  Eingehen  berechtigt  erscheinen  dürfte. 

Einen  Process.  der  nicht  „  systematisch  **  ist,  weil  er  sich  in 
seinem  Auftreten  und  in  seiner  Verbreitung  nicht  an  die  einzelnen 
bekannten  „Systeme"  des  Btickenmarksquerschnittes  hält,  wird 
man  auch  nicbt,  im  strengen  Sinne  des  Wortes,  mit  dem  Namen 
gpsendosystematisch"  bezeichnen  können.  Wir  befinden  uns  vor 
Degenerationsvorgängen,  welche,  abgesehen  von  den  Hintersträngen, 
durch  Processe  bedingt  wurden,  die  in  den  Btickenmarkshüllen 
begannen  und  sich  von  der  Peripherie  aus  nach  und  nach  gegen 
die  Mitte  hin  ausbreiteten,  im  ganzen  Rtickenmarke  Spuren  ihrer 
Entwicklung  zurücklassend.  Am  besten  wird  es  sein  derlei  Formen 
mitPerimyelitis  zu  bezeichnen,  weil  wir  bei  ihnen  vor  allem 
die  Meninx  and  die  Rindenschichte,  und  dann  erst  secundär  den 
ganzen  Umfang  des  Rückenmarkes  in  mehr  oder  weniger  tiefen 
Schichten  lädirt  sehen. 

Es  mnss  noch  eines  interessanten  Umstandes  Erwähnung 
getban  werden.  In  manchen  Rückenmarken  treten  die  Alterationen 
der  Hüllen  wenig  deutlich  hervor,  wogegen  sich  die  Rindenschicht 
sehr  verdickt  und  beträchtlich  lädirt  zeigt,  und  es  scheint  dann, 
th  ob  letztere  die  Ausgangsstelle  des  peripheren  Processes  bilden 
würde. 

Auf  Gnind  dieser  Beobachtung  scheinen  uns  eben  die  Be- 
sehreibungen ,  die  von  Westphal,  Strümpell,  Babesiu 
Sioli  u.  A.  gegeben  wurden,  nicht  vollständig,  denn  dort,  wo 

3  *     (15) 


36  Borgherini. 

die  genannten  Autoren  jedwede  Alteration  der  weichen  Meningen 
in  Abrede  stellen,  wird  doch  über  den  Znstand  des  Bindegewebes 
unterhalb  der  Pia  (Rindenschicht)  kein  Wort  gesprochen,  einer 
Schichte,  welche  unserer  Meinung  nach,  eine  wichtige  Rolle 
bei  der  Erzeugung  der  fraglichen  Processe  zugeschrieben  wer- 
den darf. 

Ich  möchte  mich  femer  der  Anschauung  hinneigen,  dass  die 
von  den  obenerwähnten  Autoren  beschriebenen  Fälle,  die  uns  als 
die  reinsten  erscheinen,  da  sie  nämlich  an  keine  meningeale 
Läsion  gebunden  sind ,  doch  bezüglich  der  Veränderungen  im 
Riickenmarke,  eine  unzweifelhafte  und  ziemlich  bedeutende  Affinität 
zu  den  unserigen  und  zu  den  von  den  französischen  Autoren  unter 
dem  Namen  pseudosystematisch  beschriebenen  Fällen  aufweisen, 
was  den  Gedanken  entstehen  lässt,  ob  nicht  alle  oder  min- 
destens ein  Theil  jener  Fälle  zu  den  unserigen  mitzurechnen 
wären,  und  ob  nicht  bei  ihnen  ebenfalls  die  Läsion  von  einem 
in  der  Rindenschicht  zur  Entwicklung  gekommenen  Processe  ihren 
Ausgangspunkt  genommen  haben  könnte. 

Eine  Erwägung  gibt  es,  die  im  ersten  Momente  unserer 
Ansicht  als  falsch  erscheinen  lassen  würde.  Die  bei  den  Formen 
von  systematischer,  combinirter  primärer  Degeneration  beschrie- 
benen Alterationen  sollen  ihren  hauptsächlichsten  Sitz  in 
den  langen  Spinalbahnen  haben,  mit  fast  vollständiger  Schonung 
der  kurzen  Bahnen.  In  unseren  Fällen  hingegen  sind  auch  diese 
letzteren  ergriffen,  jedoch  nur  dort  deutlich  wo  das  Rückenmark 
von  dem  Processe  am  schwersten  betroffen  erscheint,  während 
die  Alteration  der  kurzen  Bahnen  an  weniger  veränderten  Stellen 
des  Rückenmarkes  nur  wenig  oder  auch  gar  nicht  angedeutet 
erscheint,  so  dass  hier  das  Rückenmark  scheinbar  das  Bild  der 
systematischen  Degeneration  darbietet ;  andererseits  wird  auch  bei 
einigen  von  Westphal  und  Strümpell  u.  A.  beschriebenen 
Fällen  von  einer  Alteration  um  das  ganze  Rückenmark  herum 
(Randdegeneration)  gesprochen,  wie  es  gerade  bei  unseren  Bei- 
spielen der  Fall  ist ;  und  um  noch  besser  die  Aehnlichkeit  zwischen 
den  einen  und  den  anderen  erscheinen  zu  lassen,  stimmen  die 
Alterationen  auch  bezüglich  ihres  Sitzes  mit  einander  überein. 
Ein  Unterschied  wäre  demnach  mehr  scheinbar  als  reell. 

(16) 


Die  pseudosystematisclieii  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         37 

Dieses  Ueberwiegen  der  Läsion  in  den  langen  Bahnen  würde 
aber  für  uns  seinen  besonderen  Grund  nicht  in  der  primären 
D^neration  der  Nervenfasern,  als  vielmehr  einerseits  in  ana- 
tomischen ,  andererseits  in  physiopathologischen  Verhältnissen 
haben,  nnd  gerade  dieselben  könnten  eben  so  gut  auch  zur  Er- 
klärung der  Pathogenese  des  Processes  in  jenen  Fällen  dienen, 
bei  welchen  die  primäre  Form  angenommen  wurde.  Wenn  man 
an  die  Art  des  Auftretens  der  Alterationen  bei  den  auf  experi- 
menteUem  Wege  erzeugten  Degenerationen  denkt,  so  fällt  es  so- 
fort auf,  dass  letztere  nicht  partiell  nur  an  einzelnen  Stellen  des 
Querschnittes  der  betreffenden  Bahn,  sondern  in  der  ganzen  Aus- 
dehnung (Dicke)  des  ergriffenen  Systems  vorhanden  sind ;  anfangs 
wohl  hier  und  da  disseminirt,  breiten  sie  sich  aber  bald  gleich- 
massig über  das  ganze  Bündel  aus,  ohne  dessen  Grenzen  zu  über- 
schreiten. An  unseren  Degenerationen  ist  nun  nichts  von  dem  zu 
beobachten.  Die  Destruction  schreitet,  wie  wiederholt  hervorgehoben 
wurde,  von  der  Peripherie  gegen  das  Centrum  vor  und  alle  die  an 
anderer  Stelle  schon  angegebenen  Besonderheiten  des  sclerotischen 
Processes  weisen  auf  die  interstitielle  Natur  desselben  hin.  Wenn 
nim  die  Pyramidenbahnen  zu  den  am  tiefsten  ergriffenen  Theilen 
gehören,  so  rührt  dies  eben  zunächst  schon  von  der  anatomischen 
Thatsache  her,  wonach  sie  nämlich  reichlicher  mit  interstitiellem 
Bindegewebe  und  mit  von  der  Pia  hineinkommenden  Sepimenten 
versehen  sind.  Mit  dem  ist  es  aber  nicht  abgethan.  Da  der  Pro- 
cess  zur  Atrophie  zahlreicher  Nervenfasern  geführt  hat,  liegt  der 
(bedanke  nahe,  dass,  wenn  sie  an  einem  Punkte  ihres  Verlaufes 
im  Rückenmarke  zerstört  sind,  sie  auch,  soweit  es  sich  um  lange 
Bahnen  handelt,  secundär  und  systematisch  werden  degeneriren 
müssen.  Man  nehme  was  immer  für  einen  Abschnitt  des  Rücken- 
markes, in  welchem  solche  Fasern  durch  den  Process  zerstört 
worden  sind;  man  wird  sicher  finden,  dass  überall,  unterhalb 
oder  oberhalb  desselben,  ausser  den  der  besprochenen  Sklerose 
eigenen  Veränderungen,  noch  die.  Zeichen  der  secundär en  auf- 
oder  absteigenden  Degeneration  nachzuweisen  sind,  wie  dies  ja 
auch  gar  nicht  anders  zu  erwarten  ist. 

Und    darin,    dass    die   Consequenzen    der  jeden    einzelnen 
ftUckenmarksquerschnitt    treffenden     Schädignng    sich    summiren? 

(17) 


38  Borgberini. 

finden  wir  auch  die  Erklärung  der  Thatsache,  dass  der  in  Rede 
Btebende  Process  zum  Unterschiede  von  den  systematischen^ 
secundären,  aus  Herderkrankungen  des  Rttckenmarkcs  oder  des 
Gehirnes  hervorgehenden  Degenerationen  in  den  Pyramidenbahnen 
von  oben  nach  unten  (caudalwärts)  und  in  den  Kleinhimbahnen  in 
umgekehrter  Richtung  an  Intensität  zunimmt.  Damit  fällt  aber, 
wenigstens  für  unsere  Fälle,  die  Nothwendigkeit  weg,  die  Arga- 
mentation StrümpelFs  zu  acceptiren,  welcher  aus  dem  Um- 
stände, dass  die  Degeneration  der  PyS  vom  Gehirn  caudalwärts 
zunimmt,  eine  secundäre  Degeneration  zurückweisen  und  einen 
primären  Process  annehmen  zu  müssen  meint. 

Wenn  wir  femer  fragen,  warum  bei  vorhandener  Perimyelitis 
die  kurzen  Spinalbahnen  weniger  intensiv  ergriffen  werden,  so 
müssen  wir  den  Grund  dafür  in  den  zwei  oben  angegebenen 
Factoren,  im  negativen  Sinne  genommen,  sehen,  nämlich,  die 
geringe  Quantität  von  Bindegewebe  in  denselben  und  das  Fehlen 
von  secundären  auf-  und  absteigenden,  den  Process  begleitenden 
Degenerationen.  Nach  den  Untersuchungen  Schiefferdeckers 
ist  es  allgemein  bekannt,  dass  die  systematische  Degeneration  nur 
die  Pyramiden-  und  KS-Bahnen  und  die  GolTschen  Stränge 
befällt,  nicht  aber  andere  Theile  des  Rückenmarkes  (von  den 
durch  Gowers  in  der  letzten  Zeit  eingehend  beschriebenen 
Faserzügen  im  Vorderseitenstrang  abgesehen);  diesen  Umstand 
erklärt  der  genannte  Autor  dadurch,  dass  jene  Bahnen  mit  ihren 
trophischen  Centren  nur  an  einem  ihrer  Enden  zusammenhängen, 
so  dass  bei  was  immer  für  einer  Läsion  jener  Abschnitt  der 
Faser,  der  von  dem  trophischen  Centrum  abgetrennt  bleibt, 
degeneriren  müsse;  die  anderen  Rückenmarksbündel  würden  in- 
dessen an  beiden  Enden  mit  trophischen  Centren  in  Verbindung 
stehen. 

Westphal  spricht  bei  der  Erforschung  der  Pathogenese 
der  von  ihm  als  combinirte  primäre  Erkrankung  der  Rückenmarks- 
stränge beschriebenen  Erankheitsform  die  Meinung  aus,  dass  die 
Pyramiden-  und  KS-Bahnen  gemeinsame  trophische  Centren  in  der 
grauen  Rückenmarkssubstanz  haben  dürften  und  dass  die  primär 
in  diesen  trophischen  Centren  auftretende  Alteration  sich  dann 
auch  gleichzeitig  den  beiden  genannten  Systemen  mittheile.  Diese 


Die  pfiendosystematiBchen  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         39 

Hypothese  erscheint  heute  nicht  mehr  acceptirbar,  weil  gegen- 
wärtig die  Physiologie  die  Tendenz  hat,  die  verschiedenen 
trophischen  Centren  in  verschiedene  Abtheilungen  unterzubringen, 
und  annimmt,  dass  die  Centren  fiir  die  Pyramidenfasern  in  der 
Orosshimrinde  und  diejenigen  für  die  KS.  in  den  Clark e'schen 
Siuden  ihren  Sitz  haben.  Aber  wenn  man  auch  jene  Meinung 
annehmen  wollte,  erübrigt  noch  immer  die  Frage,  warum  denn 
die  Degeneration  der  genannten  zwei  Fasersysterae  in  ganz  ent- 
gegengesetzter Weise  erfolgt,  nämlich :  abnehmend  von  oben  nach 
unten  in  den  Pyramidenbahnen  und  umgekehrt  in  den  KS. 

Kahler  und  Pick  hingegen  nehmen  bei  Erklärung  der 
Pathogenese  eine  andere  Hypothese  an.  Die  Degeneration  soll 
Dämlich  durch  eine  gewisse  congenitale  Prädisposition  bedingt 
sein,  in  Folge  welcher  bei  einer  incompleten  Entwicklung  der 
langen  Systeme  dieselben  leichter  zur  Erkrankung  incliniren 
würden.  Bemerkt  sei  noch,  dass  nach  Flechsig  die  Bündel 
der  Hinterstränge,  der  Pyramidenbahnen  und  der  KS  es  sind, 
welche  zu  allerletzt  bei  dem  menschlichen  Embryo  zur  Ausbildung; 
kommen.  ^) 

EJs  mnss  jedoch  mit  Strümpell  gefragt  werden,  wieso 
denn  ein  Rückenmark  bis  zu  einem  späten  Alter  normal  functio- 
niren  könne,  wenn  es  doch  nicht  vollkommen  entwickelt  ist, 
ond  wie  es  erst,  wie  in  dem  von  Strümpell  selbst  ange- 
führten FaUe,  nach  60  Jahren  erkranken  könne ;  desgleichen  fragt 
es  sich,  warum  nicht  alle  Fasern  eines  gegebenen  Systems, 
sondern  nur  ein  Theil  derselben,  und  diese  nicht  in  gleichförmig 
diffuser  Weise  degenerirt  erscheinen. 

Die  Läsion  der  Hinterstränge,  die  in  dem  ersten  Falle  beide 
Bestandtheile ,  mit  Ausnahme  eines  kleinen  Streifens  neben  der 
grauen  Commissur ,  vollkommen  und  in  den  übrigen  Fällen  nur 
oder  vorwiegend  die  GoU'schen  Stränge  ergriffen  hat^  differirt 
imserer  Meinung  nach  in  nichts  von  den  auf  Tabes  zurück- 
zufahrenden Läsionen.  Dort  beobachtet  man  eine  Degeneration, 
die  den  Strang  inselförmig  attaquirt  und  zunächst  die  umgebenden 


^)  Flechsig,    Die  Leitnngsbalmeii   im   Gehirn   und   Eückenmark    des 
Menschen  anf  Gnmd  entwicidangsgeschichtlicher  Untersuchungen.  Leipzig  1876. 

(19) 


40  Borgherini. 

Bündel  intact  lässt;  dabei  beginnt  sie  immer  an  gewissen  beson- 
deren Stellen  und  ergreift  dann  allmälig  die  übrigen  Theile. 

Vulpian^)    hat  die  Beziehungen   zwischen  diesen  Formen 
von  Tabes  und  der  chronischen  Leptomeningitis  studirt  und  her- 
vorgehoben, dass  die  Tabes  zur  Entstehung  von  Meningitis,  auch 
per  Distanz,   Anlass  geben  könne,  nämlich  dann  auch,  wenn 
das  degenerirte  Bündel   sich  nicht  unmittelbar  peripher  befindet, 
sondern  von  der  Meninx  durch  eine  Schichte   von  gesundem  Ge- 
webe getrennt  liegt,  wie  dies  bei  nicht  vorgeschrittenen  Processen 
der  Fall  ist.    Etwas  Aehnliches  haben  wir   bei  manchen  unserer 
Fälle  constatiren  können,  in  welchen  die  Meninx  an  ihrer  hinteren 
Seite   alterirt  war,    ohne   dass  der  degenerative  Process   in  den 
Hintersträngen  dieselbe  berührt  hätte.  In  der  näheren  Betrachtang 
des  degenerativen  Processes  selbst  werden  wir  den  Grund  dieses 
Einflusses  aus  der  Entfernung  finden. 

Bei  der  Tabes,  wie  auch  bei  allen  degenerativen  Processen, 
die  auf  experimentellem  Wege  hervorgerufen  wurden,    folgt  der 
primären  Alteration  der   Nervenfasern  die  secundäre  Veränderung 
der  Neuroglia,  deren  wuchernde  Elemente  zur  BUdung  von  binde- 
gewebigen Fasern  Anlass  geben    und  dadurch   endlich  die  dege- 
nerirte Partie  in  ein  fibröses  Gewebe  umwandeln,  welches  durch 
die    veränderten  Nutritionsbedingungen   geeignet    erscheint,    die 
Ursache    für    einen    beständigen  localen  Reizzustand   abzugeben, 
dadurch  aber  auch  befähigt  ist,    denselben  sclerotischen  Process 
in  die  Umgebung  zu  diflfundiren  (S c h  i e f f e rdecker,  Kusmin). 
So  entsteht  die  Meningitis,    und  in  diesem  Sinne    scheint  es  uns, 
dass  Friedreich  Recht  hat,    wenn   er  der  Behauptung  Raum 
gibt,  dass  die  systematischen  degenerativen  Alterationen  sich  auch 
in  transversaler  Richtung  ausbreiten  können,  indem  sie  die  Grenzen 
der  Faserbündel,  in  welchen  sie  ursprünglich  aufgetreten  waren, 
überschreiten.  Westphal  leugnet  diese  letztere  Thatsache,  indem 
er  behauptet,    dass  der  Process   in  den  Nervenfasern  stattfindet, 
und  dass  diese,  zu  Bündeln  grnppirt,  unabhängig  und  isolirt  ver- 
laufen;   er  berücksichtigt  jedoch  nicht   in  geeigneter  Weise  den 
Umstand,  dass  in  vorgerückteren  Stadien  an  Stelle  der  Degeneration 


*)  Vulpian,  Maladies  du  Systeme  nerveux.  Paris  1879,  pag.  442. 

(20) 


Die  pseudosystematischen  Degenerationen  des  Btickenmarkes  etc.        41 

dk  Sklerose  tritt,  dass  die  destmctiven  Vorgänge  in  der  Nerven- 
faser  durch  prodactive  in  den  Bindegewebselementen  ersetzt 
werden,  welch'  letztere  eine  derartige  systematische  Anordnung 
nicht  nachweisen  lassen  und  daher  die  sie  befallenden  Processe 
nach  allen  Seiten  hin  za  diffundiren  gestatten. 

Wir  heben  nochmals  hervor,  dass  in  unseren  Fällen  sowohl 
die  Ganglienzellen  der  Vorderhömer,  als  auch  jene  der  Clarke- 
8chen  Säulen,  dem  Aussehen  nach  normal  waren;  wenigstens  ist 
an  denselben  irgend  welche  erhebliche  pathologische  Alteration 
ausgeschlossen.  Wir  wissen  aber,  dass  dies  nicht  genügt,  um 
jeden  Verdacht  des  Vorhandenseins  eines  krankhaften  Vorganges 
in  denselben  zu  unterdrücken.  Jürgens  hat  auf  eine  besondere 
Reaetion  der  Ganglienelemente  hingewiesen,  die  man  an  Zellen 
erhalt,  welche ,  anscheinend  normal ,  sieh  doch  bereits  in  dem 
Anfangsstadinm  einer  Degeneration  befanden.  *)  Waren  vielleicht  in 
unseren  Fällen  die  Ganglienzellen  in  diesem  primären  Stadium 
der  Alteration ,  wo  nur  eine  besondere  chemische  Reaetion  auf 
einen  krankhaften  Zustand  hindeutet?  Das  kann  allerdings  nicht 
entschieden  werden,  da  aber  andere  besondere  Verhältnisse  uns 
bestimmt  haben,  auf  eine  nach  einem  interstitiellen  Process  ent- 
standene secnndäre  Läsion  der  Nervenfasern  zti  schliessen,  so  hat 
für  uns  eine  eventuelle  geringe  Alteration  der  Zellenelemente,  wie 
immer  auch  sie  aufgefasst  werden  möge,  nur  den  Werth  einer 
accessorischen  Thatsache. 

Ballet  und  Minor ^)  versuchen  neben  der  Aufstellung 
von  verschiedenen  Typen  der  in  Rede  stehenden  Rückenmarks- 
degeneration  auch  jene  Unterschiede  hervorzuheben,  welche  vom 
histologischen  Standpunkte  aus  die  differenten  Processe  charak- 
terisiren. 

Die  zwei  Autoren  behaupten,  dass  bei  den  nicht  systema- 
tischen Alterationen,  aber  nur  bei  diesen,  die  Nervenfasern  in  einem 
gewissen  Stadium  ihrer  Alteration  ein  varicöses  Aussehen  darbieten, 
riele  Kerne  enthalten,  dilatirt  sind  und  einen  ebenfalls  varicösen 
Axencylinder  besitzen;    sie   stützen    sich    dabei  auf    eine  Studie 


0  Archiv  für  Psychiatrie.  Bd.  Vin,  pag.  480. 
')  Archiyes  de  Neurologie.  VII. 

(21) 


42  Borgberini. 

Charcot's,  die  einer  viel  iFrüheren Epoche  entstammt.^)  Wir  sind 
nicht  derselben  Meinung.  Ein  solches  rosenkranzähnliches  Aus- 
sehen, mit  Yermehmng  der  Kemelemente  in  der  Umgebung  der 
Nervenfasern  und  mit  Alteration  des  Axencylinders,  ist  auch  bei 
den  experimentell  hervorgerufenen  Alterationen  der  spinalen  Faser- 
bündel anzutreffen. 

Femer  fanden  dieselben  Autoren  in  den  nicht  systematischen 
Alterationen  die  Gefässe  mit  sehr  verdickten  Wandungen  und 
reichlich  mit  Kernen  infiltrirt,  welcher  Umstand  nach  ihnen  fiir 
diese  Processe  charakteristisch  sein  soll;  daher  sie  auch  den 
Namen  perivasculäre  Processe  für  dieselben  vorschlagen.  — 
Das  ist,  wie  uns  scheint,  nur  zum  Theile  wahr;  die  nicht  syste- 
matischen Sclerosen  treten  wohl  in  dem  Initialstadium  mit  der- 
artigen Gefass Veränderungen  auf,  während  im  entsprechendem 
Stadium  der  systematischen  Sclerosen  allerdings  der  nämliche 
Befund  nicht  vorkommt.  Später  aber  finden  successive  auch  bei 
diesen  letzteren  die  gleichen  vasculären  Alterationen  statt,  weshalb 
dann  in  dieser  Hinsicht  beide  Formen  sich  gleich  werden. 

Wir  haben  in  den  Bereich  unserer  Untersuchungen  auch 
jene  Form  von  disseminirter  Myelitis  gezogen,  die  zuweilen  in 
Folge  von  traumatischen  Spinalläsionen  auftritt  und  von  Pick, 
Schiefferdecker  und  Vulpian  etc.  beschrieben  wurde.  In 
solchen  Herden,  namentlich  im  Initialstadium,  ist  deutlich  zu  sehen, 
dass  die  bedeutendsten  Alterationen  sich  in  den  Gefässen  und  um 
dieselben  vorfinden.  Die  Autoren  sprechen  femer  nahezu  Alle  bei 
der  Beschreibung  der  systematischen  Degenerationen,  besonders 
der  Tabes,  von  der  hypertrophischen  Alteration  der  Gefasse  wie 
von  einer  constanten  Thatsache. 

Auf  die  diesbezügliche  reiche  Literatur  nochmals  zurück- 
blickend, sehen  wir  uns  demnach  mit  D  6jerine  gezwungen, 
auszusprechen,  dass  ein  grosser  Theil  der  als  primäre,  systema- 
tische, combinirte  Degeneration  beschriebenen  Fälle,  nichts  anders 
sei  als  Formen  von  secundärer  Meningomyelitis  (Perimyelitis),  die 
sich  auf  der  Basis  einer  systematischen  Alteration  der  Hinterstränge 

^)  Sur  la  tnm^faction  des  ceUüles  nerveuses  motrices  et  da  cylinderaze  des 
tubes  nervenx  dans  certains  cas  des  mj^lites.  Archives  de  pbysiologie  normale 
et  pathologique  1871—72. 

(22) 


Die  peendosystematischen  Begeneratioiien  des  Bückenmarkes  etc.         43 

beTaQsentwickelt  bat.  —  Als  solche  erscheinen  z.  B.  die  Fälle 
Friedreicb'B,  Prevost's,  Reymond's,  Ballet'snndMinor's, 
mancher  Fall  StrümpelTs  u.  A.  Es  gibt  aber  eine  andere  Form, 
die,  in  anatomiscb-patbologischer  Beziehung,  einen  anderen  Platz 
für  sieh  beanspmcbt,  als  den,  welcher  ihr  bis  zu  dem  heatigen 
Tage  angewiesen  wurde:  es  gilt  dies  nicht  ausschliesslich  für 
aUe,  aber  für  die  meisten  Beispiele.  Die  Form,  welche  ich  meine 
ist  namlicb  die  spastische  Spinallähmnng.  Bekanntlich 
erschien  den  ersten  Beschreibem  dieser  Form,  C  bar  cot  und 
Erb,  angewiss,  welcher  Art  die  anatomischen  Veränderungen  bei 
dieser  Erkrankung  seien,  weshalb  auch  ü  bar  cot  in  seiner  ersten 
diesbezüglichen  Arbeit  nur  in  präsumptiver  Weise  darauf  zu 
sprechen  kommt.  Er  glaubte,  dass  die  anatomische  Grundlage  der 
spastischen  Spinalparalyse  in  einer  Sclerose  der  Seitenstränge 
gesucht  werden  müsse;  die  späteren  Erfahrungen  sprachen  jedoch 
Hiebt  durchwegs  zu  Gunsten  dieser  Vermuthung.  W  e  s  t  p  h  a  1  und 
Strümpell  haben  eine  grosse  Anzahl  von  derartigen  Fällen  ge- 
sammelt, in  denen  die  verschiedenartigsten,  später  ausfuhrlicher 
za  erwähnenden  anatomischen  Befunde,  zu  Grunde  lagen. 

Mancher  unserer  Fälle  bietet  viel  Aehnlichkeit  mit  einigen 
Fallen  S  r  ü  m  p  e  1  Ts  und  W  e  s  t  p  h  a  Fs,  welche  klinisch  als  Form 
von  spastischer  Spinallähmung  diagnosticirt,  bei  der  Nekroskopie 
von  den  genannten  Autoren,  auf  Grund  ihrer  speciellen  Auffassung, 
als  Formen  von  primärer  systematischer  Degeneration  erklärt 
wurden. 

Dem  Symptomencomplexe  der  spastischen  Spinallähmung 
entsprechen  also  verschiedenartige  anatomische  Befunde ;  und  wenn 
einerseits  das  Vorkommen  einer  reinen  primären  Sklerose  der 
Seitenstränge  nicht  geläugnet  werden  soU^  und  auch  zugegeben 
werden  muss,  dass  primäre  combinirte  Systemerkrankungen  unter 
dem  BUde  der  spastischen  Spinallähmung  auftreten  können,  so 
möchte  ich  doch  mit  einiger  Sicherheit  behaupten,  dass  in  den 
meisten  Fällen,  welche  klinisch  unter  diesen  Erscheinungen  ver- 
liefen, eine  chronische  Meningitis  mit  Randdegeneration,  also  ein 
pseudosystematischer   Process  zu  Grunde  lag. 


(23) 


44  Borgherini. 

EliniBche  Bemerkungen. 

Die  Yon  uns  mit  dem  Namen  Perimyelitis  bezeichneten, 
und  secundär  nach  systematischer  Degeneration  der  Hintersträng'e 
auftret;enden  pathologischen  Alterationen ,  welche  von  manchen 
anderen  Autoren  als  primäre  combinirte  und  systematische  De- 
generation des  Rückenmarkes  beschrieben  werden,  bieten  eine  kli- 
nische Form,  die  sich  auf  zwei  wohl  unterschiedene  nosologische 
Typen  zurückführen  lässt,  zwischen  welchen  aber  Mischformen,  und 
wir  möchten  fast  sagen  Uebergangsformen,  existiren,  nnd  die  ihre 
Entstehung  der  Prävalenz  einer  oder  der  anderen  der  angegebenen 
histologischen  Alterationen  verdanken.  Diese  zwei  Typen  sind : 

1.  Jener  der  Tabes  dorsalis,  complicirt  durch  paralitische 
Erscheinungen,  die  sich  manchmal  unter  spastischen  Charakteren 
präsentiren. 

2.  Jener  der  spastischen  Spinalparalyse. 

Der  erste  der  von  uns  untersuchten  Fälle  bietet  uns  das 
Beispiel  eines  dieser  beiden  Typen. 

Obgleich  die  klinische  Geschichte  desselben  nicht  vollständig* 
ist,  haben  wir  doch  bei  demselben  ein  Initialstadium,  welches  die 
Charaktere  der  tabischen  Formen  zeigt  (lancinirende  Schmerzen, 
Blasenbeschwerden),  wozu  aber  bald  auch  spastische  Phänomene 
als  Zeichen  der  Lateralsklerose  mit  Contracturen  und  erhöhten 
Reflexen  hinzutreten. 

Dieser  Krankheitstypus  ist  auch  der  häufigste,  und  wir  finden 
ihn  in  vielen  Fällen  beschrieben,  welche  mit  dem  Namen  svste- 
matische  combinirte  Degeneration  bezeichnet  sind. 

Das  chronologische  Studium  der  in  unserem  Falle  vorhan- 
denen Symptome  bestätigt  also  unsere  Anschauung,  wonach  die 
Alterationen  primär  sich  in  den  Hintersträogen  etabliren  und  erst 
in  der  Folge  auf  die  Seiten-  und  Vorderstränge  übergreifen,  weil 
die  ersten  bei  demselben  beobachteten  Symptome  gerade  diejenigen 
sind,  die  auf  initiale  tabische  Formen  zu  beziehen  sind. 

Die  Aufeinanderfolge  der  Krankheitserscheinungen  ist  jedoch 
hier  nicht  so  gut  markirt  wie  in  anderen  Fällen.  DiesbezügUch 
hat  D(^jerine  einen  geradezu  classischen  Fall  veröffentlicht.  Es 
handelte  sich  nämlich  um  einen  Mann,  bei  welchem  die  tabischen 

(24) 


DIb  peeudoBystematiBcheii  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         46 

Enäimimgen  den  paralytischen  um  circa  6  Jahre  voraasgegangen 
iraren;  und  erst  dann,  als  jene  sieh  vollkommen  aasgebildet 
hatten,  gesellten  sich  die  Symptome  einer  leichten  Form  von 
Paraparese  hinzn,  die  sich  allmälig  bis  zur  Paraplegie  steigerte. 
Bei  der  Nekroskopie  fand  sich  eine  beträchtliche  Alteration  der 
Pia,  die  von  dem  Autor  selbst  als  ein  zwischen  der  Läsion  der 
Hinter-  nnd  Seitenstränge  existirendes  Verbindungsglied  aufge- 
fasst  wurde. 

Wenn,  wie  wir  schon  oben  gesagt  haben,  die  anatomische 
Form  der  in  Rede  stehenden  Processe  noch  Gegenstand  der  Dis- 
cnasion  unter  den  Pathologen  ist,  so  gilt  ein  Gleiches  nicht  fUr  die 
klinische  Form,  die  insbesondere  von  Westphal  und  Strümpell 
scharf  gekennzeichnet  wurde.  Schon  seit  Duchenne  de  Bou- 
logne  hielt  man  die  Läsion  der  Hinterstränge  nicht  fUr  genügend 
um  Lahmungserscheinungen  hervorzurufen.  In  dem  Verlaufe  der 
Tabes,  wenn  sie  eben  eine  ganz  reine  Form  repräsentirt,  werden 
paralytische  und  selbst  paretische  Symptome  nicht  beobachtet. 

Nur  dann,  wenn  die  Alteration  zu  einer  Neuritis  (wie  z.  B. 
häufig  Neuritis  des  N.  peroneus)  hinzutritt,  kommen  partielle 
Lähmungen  zur  Ausbildung,  die  sich  in  einer  Gruppe  von  Muskeln 
localisiren  und  absolut  nicht  der  Läsion  der  Hinterstränge  zuzu- 
schreiben sind. 

Je  rascher  die  Alteration  in  den  Seitensträngen  auftritt, 
desto  weniger  deutlich  zeigen  sich  die  atactischen  Symptome,  so 
dass  oft  die  Läsion  der  Hinterstränge  ganz  unbemerkt  bleibt. 
Wenn  sich  hingegen  die  paretischen  Erscheinungen  wie  in  dem 
Falle  von  D^jerine  erst  viel  später  hinzugesellen,  dann  siebt 
man  zu  dem  primären  reinen  Bilde  der  Tabes  erst  in  der  Folge 
dasjenige  der  Lateralsklerose  hinzutreten,  welch'  letzteres  gelegent- 
heh  bis  zur  gänzlichen  Verdrängung  des  ersteren  führt. 

Nach  Westphal  scheinen  einige  von  Friedreich  mit 
dem  Namen  hereditäre  Ataxie  beschriebene  Fälle,  bei  welchen 
eine  Läsion  der  Hinter-  und  Seitenstränge  bestand,  im  Wider- 
spruch mit  der  obigen  Anschauung  zu  stehen,  da  trotz  der  Seiten- 
strangdegeneration  die  paretischen  Erscheinungen  mangelten.  Bei 
näherer  Betrachtung  dieser  Fälle  aber  wird  es  sofort  klar,  dass 
die  Läsion  der  Seitenstränge  dort  nur  auf  deren  peripheren  Ab- 

(ib) 


46  Borgherini. 

sehnitt ,  die  Eleinhirn-Seitenstrangbahn,  beschränkt  war ,   woraus 
sich  das  Fehlen  paralytischer  Erscheinungen  leicht  erklärt. 

Westphal   citirt   zwei  Fälle,    den   einen  ßriesinger's, 
welcher  1867    in    der  Charit^   zu  Berlin   zur  Beobachtung   kam, 
und   einen  anderen,    welcher   von   Lejden    1877    beschrieben 
wurde.    Bei   beiden  hatte   eine   nur   auf  die  Hinterstränge    be- 
schränkte Läsion  paralytische  Phänomene  hervorgerufen.  Dessen- 
ungeachtet stossen  diese  Fälle  die  erst  ausgesprochene  Anschauung 
nicht  um,  weil  man,  wie  Westphal  selbst  bemerkt,   bei    den- 
selben nichts  über  den  Ernährungszustand  der  Muskelfasern  weiss, 
und  die  Lähmung  viel  eher  in  Zusammenhang  mit  einer  Atrophie 
der  Muskeln  als  mit  einer  Läsion  der  motorischen  Spinalbahnen 
hätte  stehen  können.  Wenn  wir  nun  daran  gehen,  die  bei  unserem 
Falle  beobachteten  Symptome   nach   der   von   den  Autoren   den- 
selben beigemessenen  Bedeutung  zu  erklären,  so  müssen  wir  sagen, 
dass  die  ursprüngliche,    in  den  Hintersträngen  localisirte  Läsion 
die  untere  Lendenpartie  verschont  oder  wenigstens  nur  wenig  an- 
gegriffen und  statt  dessen  sich  in  den  Seitensträngen  ausgebreitet 
hatte:  erst  später,  als  die  Reflexerscheinungen  aufhörten  und  die 
Symptome   seitens  der  Blase  deutlicher  hervortraten,   erst   dann 
scheint  sich  die  Läsion   über  die  ganze  Länge  der  Hinterstränge 
ausgedehnt  zu  haben. 

Bei  einer  Patientin,  die  wir  erst  vor  Kurzem  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatten^)  und  bei  welcher,  unserer  Ansicht  nach,  die 
gleiche  Erankheitsform  im  Initialstadium  vorhanden  ist,  präsen- 
tirten  sich  die  Erankheitssymptome  folgendermassen  : 

Die  Kranke  begann  vor  zwei  Monaten  über  Ameisenlaufen 
und  plötzlich  anfallsweise  in  den  unteren  Extremitäten  und  am 
Kreuzbein  auftretende  Schmerzen  zu  klagen,  welche  sie  der  Ge- 
wohnheit, baarfuss  auf  nassem  Boden  zu  gehen,  zuschrieb.  Bald 
gesellten  sich  dazu  locomotorische  Störungen,  welche  in  Amyostenie, 
in  erschwerter  Ausführung  von  Bewegungen  und  in  einem  GtefÜhl 
von  Starre  bestanden. 

Die  Kranke  muss  jetzt  fest  auf  den  Boden  schauen,  um  sich 


^)  Die  Beobachtung   dieses   klinischen  Falles   verdanke   ich  der  Liebens- 
würdigkeit des  Herrn  Primarius  d'Ancona. 

(26) 


Die  psendosystematischen  Degenerationen  des  Rückenmarkes  etc.         47 

Torwarts  bewegen  za  können ;  mit  hochgehaltenem  Kopfe  kann  sie 
dies  nicht  thnn,  oder  nnr  äusserst  schwer  und  unbeholfen.  Seit 
einiger  Zeit  hat  sie  auch  Störungen  beim  Urinlassen. 

Bei  genauerer  Untersuchung  constatirt  man  eine  verminderte 
Contractionsfahigkeit  sowohl  der  unteren,  als  auch  der  oberen 
Extremitäten;  an  den  unteren  ist  dies  deutlicher  ausgeprägt,  die 
Wadenmuscnlatur  ist  leicht  atrophisch,  das  Eniephänomen  ge- 
steigert; den  passiven  Bewegungen  setzen  die  unteren  Extremitäten 
einigen  Widerstand  entgegen,  und  deren  Bewegungen  zeigen  auch 
in  horizontaler  Lage  einen  deutlich  atactischen  Charakter.  In 
aufrechter  Lage  ist  das  Romberg'sche  Phänomen  deutlich 
bemerkbar. 

Der  zweite  Typus,  unter  welchem  die  Combination  von 
Siderose  der  Hinterstränge  mit  chronischer  Perimyelitis  sich  zeigen 
kann,  ist  jener  der  spastischen  Spinalparalyse. 

Strümpell  und  Westphal  insbesondere  verdanken  wir 
die  Mittheilung  von  Fällen  letzterer  Art,  die  von  ihnen  allerdings 
anatomisch  als  primäre,  combinirte,  systematische  Degenerationen 
beschrieben  worden,  meiner  Meinung  nach  aber  wenigstens  zum 
Theile  sich  als  pseudosystematische  Processe  darstellen,  wie  ich 
dies  oben  bereits  auseinandergesetzt  habe.  Eine  aufmerksame  Yer- 
gleichnng  der  von  jenen  Autoren  gegebenen  Beschreibung  mit  der 
nnserigen  ergab  in  der  Regel  keinen  erheblichen  Unterschied; 
nur  &nden  sieh  in  unseren  Fällen  mit  der  Spinalläsion  zusammen 
noch  beträchtliche  Alterationen  der  Pia  oder  wenigstens  Verdickung 
der  Rindenschicht  vor. 

Es  sei  auch  darauf  hingewiesen,  dass  bei  einem  unserer 
Fälle  der  Symptomencomplex  ein  derartiger  war,  dass  man  zu 
der  klinischen  Diagnose:  spastische  Rückenmarkslähmung,  hätte 
geftohrt  werden  können.  Wir  brauchen  uns  nicht  in  die  klinische 
Symptomatologie  dieser  Erkrankungsform,  welche  ja  allgemein 
bekannt  ist,  einzulassen  und  wollen  nur  hervorheben,  dass  wir 
anf  Grund  der  oben  angeführten  Anschauungen  die  Behauptung 
ftr  nicht  gewagt  halten,  dass  die  spastische  Form  sich  dann 
^ransbildet,  wenn  die  Läsion  der  Seitenstränge  sehr  frühzeitig 
auftritt  und  die  Oberhand  über  jene  der  Hinterstränge  gewinnt. 
Mitunter  gesellt  sich  zu  den  Erscheinungen  der  spastischen  Spinal- 

(27) 


48  Borgherini. 

paralyse  noch  eine  Atrophie  gewisser  Muskeln,  in  einigen  Fällen 
von  Strümpell  und  in  unserem  Falle  I,  so  dass  dann  eine, 
wenn  auch  entfernte  Aehnlichkeit  mit  der  amyotrophischen  Lateral- 
sklerose von  Charcot  entstehen  konnte. 

Bei  der  von  Charcot  beschriebenen  Form  beginnt  aber 
die  Muskelatrophie  sehr  frtth  und  tritt  zuerst  an  den  oberen,  dann 
an  den  unteren  Extremitäten  auf,  und  ist  nicht  durch  Lipomatose 
oder  durch  Störungen  seitens  der  Blase  complicirt. 

Die  reine  Form  der  primären  Seitenstrangsklerose  ist,    wie 
erwähnt,  äusserst  selten,   so  dass  in  der  ganzen  diesbezüglichen 
Literatur  nur  wenige  Beispiele  verzeichnet   sind.^)    Es  sind   die 
anatomischen  Alterationen  fast  immer  sehr  complicirt.  Strümpell 
sah  mit  den  klinischen  Symptomen  der  spastischen  Spinalparalyse 
auftreten:    einfache  Myelitis  des  Dorsalabschnittes,  Hydromyelie, 
traumatische  Myelitis  des  Lumbarabschnittes,   Compression  durch 
Tumoren,  Abscesse  etc.,  cerebro-spinale  Sklerose,   acute  Myelitis 
nach  Typhus;  Leyden  beobachtete,  dass  traumatische  disseminirte 
Myelitis   dasselbe    Symptomenbild   gab,   und   ein    gleiches    fand 
Charcot   bei  der  Sclörose  en  plaques.    Nochmals  bemerke  ich, 
dass  die  gleichen  Erscheinungen   auch  bei  den  primären  combi- 
nirten  Systemerkrankungen,   sowie  bei  den  pseudosystematischen 
Aflfectionen  auftreten  können. 

In  welchem  Zusammenhange  alle  diese  verschiedenen 
Alterationen  mit  dem  gleichartigen  klinischen  Bilde,  das  sie  ge- 
boten, stehen,  könnten  wir  im  absoluten  Sinne  nicht  aussprechen. 
Sicher  ist  es,  dass  immer  die  Pyramidenbahnen  in  den  Seiten- 
strängen und  gelegentlich  auch  in  den  Vordersträngen  (Charcot) 
mehr  oder  weniger  ergriflTen  sind.  Das  prädominirende  Symptom 
sind  die  spastischen  Contracturen ,  und  es  fragt  sich  nur,  worauf 
Sic  zurückzuführen  wären.  Die  meisten  Pathologen  sind  allerdings 
der  Anschauung,  dass  diese  Contracturen  der  Erkrankung  der 
seitlichen  Pyramidenbahnen  ihr  Zustandekommen  verdanken;  die 
noch  leitungsfähig  erhaltenen  Fasern  der  Pyramiden-Seitentrang- 
bahn  sollten  sich  dabei  in  einem  dauernden  Reizzustand  befinden. 


')  Wostphal,  1.  c.  —  Julinean,  Th6sc  de  Paris.  1883.  —  öom- 
bault  et  Debove,  Archives  de  physiologie.  1879,  pag.  751. 

(28) 


Dia  pModoif stem  atischeii  DifenanitioDeD  des  Efickemnu'ksa  ste. 


49 


Nicht  mit  Unrecht  bemerkt  Strümpell,  dass  diese  letzte  Hypo- 
these paradox  klingt,  weil,  wenn  die  Fasern  der  Pyramidenbahneo 
vSUig  Temichtet  sind ,  wie  es  ja  in  vielen  Fällen  vorkommt ,  so 
würden  die  spastiBchen  Phänomene  keinen  G-rood  mehr  haben, 
10  existiTen. 

Was  die  Elrscfaeinnng  der  spastischen  Contractnr  anlangt, 
so  können  wir  für  nnseren  Theit  eine  von  ans  beobachtete  That- 
gaehe  anführen,  die,  wenn  sie  auch  von  anderer  Seite  bestätigt 
werden  wUrde,  einige  Beriicksichtigang  verdiente.  Bei  mehreren  von 
Ol»  operirten  Thieren  (Hunden) ,  denen  die  Hinter-  tmd  Seiten- 
Bttinge  zerstört  wnrden,  bat  das  Zurückbleiben  der  Vorderstränge 
mit  intactem  motorischem  Pyramidenbttndel  eine  langsame  und 
bis  IQ  einem  gewissen  Fonkte  vollständige  Wiederkehr  der  Be- 
w^nngen  in  den  früher  paralTtischen  hinteren  Gliedmassen  ver- 
anlasst, nnd  dieselben  nahmen  stela  die  spastische  Bengnng 
aller  ihrer  Gelenke  an. 

Flf .  1.  Kg.  t. 


ErkEnmg  der  Abbildtmgen. 

Simmtliclie  Figii>^i  stellen  Querschnitte  ans  dem  RDckenmarke  des  Fallw  I 
iu;  nrbimg  aach  Weigert,  Kvelmaligie  VeTgTSsHening. 
Hf,  1.   Oberes  Cerricalmark. 
Ftf.  i,  6«geiid  des  7.  Cemcfünerren. 
nf.  t.        ,  «8.  DomlBsrven. 

Ifi  4<       •  »3.  Lendennerven. 

n(<  5>  Conna  medoIlBTia. 


-mf- 


Hel  Jahrb&oher.  18S7. 


"^MAY  8  1888'' 


.^ 


'*MRY   f^^ 


in. 

lieber  Dilatation  des  rechten  Yorhofes  and  ihren 

Nachweis. 

Von 

Professor  SehrStter. 

(Am  14.  Dinner  1887  *von  der  Redaotion  flbemommen.) 


Wenn  wir  anch  meistens  mit  grosser  Befiriedigang  auf  die 
Uebereinstimmnng  der  im  Leben  gestellten  Diagnosen  bei  Er- 
krankungen der  Brustorgane  mit  den  Ergebnissen  der  Nekro- 
skopien sehen  können  nnd  wenn  wir  oft  nicht  wissen ,  was  wir 
mehr  bewundern  sollen,  die  Schärfe  der  Sinne  oder  die  Feinheit 
der  angestellten  Schlnssfolgemngen ,  so  gibt  es  doch  noch  Fälle, 
wo  wir  in  der  Stellung  der  Diagnose  unsicher  sind,  und  zwar 
selbst  dann,  wenn  wir  alle  zu  Gebote  stehenden  Hilfsmittel  an- 
wenden. Man  könnte  nun  allerdings  sagen,  dass  es  sich  hierbei 
mir  um  rein  wissenschaftliche  Spitzfindigkeiten  handle,  sozusagen 
nur  um  die  Befriedigung  des  wissenschaftlichen  Ehrgeizes,  bei 
welehem  aber  der  Patient  leer  ausgehe.  Dem  ist  aber  durchaus 
nicht  so.  Abgesehen  davon,  dass  eine  genaue  Präcisirung  der 
Diagnose  von  grossem  prognostischem  Werthe  sein  kann,  kann 
sie  aach  unser  therapeutisches  Vorgehen  beeinflussen  and  nament- 

(1) 


52  Schrötter. 

lieh  ist  gar  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  mit  den  weiteren  Fort- 
schritten der  Wissenschaft  dies  mehr  und  mehr  der  Fall  sein 
wird.  Die  sofort  mitzntheilende  Beobachtong  wird  nach  mehreren 
Richtungen  hin  das  eben  Gesagte  erläutern. 

Es  handelt  sich  um  einen  schweren  Herzfehler  mit  einer 
ganz  eigenthümlichen  Form  der  Herzdämpfung.  Ist  diese  durch 
ein  pericardiales  oder  ein  abgesacktes  pleuritisches  Exsudat,  oder 
durch  den  abnorm  ausgedehnten  rechten  Vorhof  bedingt? 

Ich  hebe  aus  der  bezüglichen  Krankengeschichte  nur  das 
Wichtigste,  ftir  unsere  speciellen  Erörterungen  Nothwendige  hervor. 

Die  14  Jahre  alte,  schwächlich  gebaute  Patientin  C.  G.  Utt 
schon  seit  ihrer  frühesten  Kindheit  an  Herzklopfen  und  Kurz- 
athmigkeit.  Gesicht,  Hände  und  untere  Extremitäten  stark  cyanotiscb, 
Unterhautzellgewebe  allerwärts,  theilweise  ziemlich  stark  ödematös. 
Die  Halsvenen  stark  ausgedehnt,  deutlich  und  constant 
systolisch  pulsirend.  Der  Thorax  ziemlich  lang,  seitlich  zn- 
sammengedrückt.  Auffallend  ist  die  Verschiedenheit  der  beiden 
vorderen  Thoraxgegenden.  Rechterseits  ist  nämlich  die  Gegend  von 
der  dritten  bis  sechsten  Rippe  stärker  gewölbt  als  dieselbe  Stelle  der 
linken  Seite.  Es  steht  die  rechte  Brustwarze  deutlich  höher  als 
die  linke.  Es  lässt  sich  leicht  nachweisen,  dass  die  angefahrte 
Veränderung  der  rechten  Seite  nicht  etwa  durch  Oedem  des  Unter- 
hautzellgewebes bedingt  ist,  was  man,  da  die  Kranke  viel  auf 
der  rechten  Seite  liegt,  vermuthen  könnte,  sondern  durch  eine 
Veränderung  im  Knochengerüste. 

Bei  den  26  Inspirationen  in  der  Minute,  bei  denen  man  anf 
Distanz  tracheales  Rasseln  hört,  wird  das  Mesogastrium  nur  sehr 
wenig  vorgewölbt,  der  Thorax  stark  gehoben.  Der  Herzstoss  ist  weder 
in  der  Rücken-  noch  in  der  linken  Seitenlage  zu  sehen,  schwach  in 
der  linken  Seitenlage  im  sechsten  Intercostalraume,  etwas  nach  aussen 
von  der  linken  Mamillarlinie,  zu  fühlen.  Die  Dämpfung  des  Herzens 
begiimt  etwas  nach  einwärts  von  dieser  Stelle  und  reicht  über 
den  rechten  Sternalrand  in  die  sofort  zu  beschreibende  Dämpfung 
bis  zur  rechten  Mamillarlinie  herüber.  Unter  der  linken  Clavicnla 
ist  der  Pereussionsschall  schön  voll  bis  zum  unteren  Rande  der  vierten 
Rippe.    Rechts  sind  die  Verhältnisse   der  Percussion   complicirter. 


T3»V«r  Düatation  des  rechten  Yoriiofes  and  ihren  Nachweis. 


53 


Ea  mcli\  nämlich  in  der  Mamillarlinie  der  volle  SchaU  bis  zum 
oberen  Bande  der  sechsten  Rippe,  in  einer  Linie  1  ^-j  Gm.  einwärts 
TOB  der  Mamillarlinie  nur  bis  znm  unteren  Rande  der  vierten  Rippe, 
in  einer  Linie  wieder  IVa  Cm.  nach  einwärts  nur  bis  zum  unteren 
Rande  der  dritten  Rippe,  nächst  dem  Stemum  aber  wieder  bis  in  die 
Mitte  der  vierten  Rippe.  Es  entsteht  somit,  da  diese  Dämpfung,  wie 
schon  früher  erwähnt,  unmittelbar  in  die  Herzdämpfung  übergeht 

Fig:  1. 


und  die  Dämpfung  rechts  höher  hinaufreicht  als  links,  wo  sie 
gegen  5  Cm.  über  den  linken  Stemalrand  hinausreicht,  eine 
eigenthümliche  Dämpfimgsfigur,  charakterisirt  durch  den  beschrie- 
benen convexen  Rand  nach  rechts  hin,  die  Kuppe  nach  aufwärts 
bis  znm  unteren  Rand  der  3.  Rippe  und  den  nach  unten  ein- 
springenden Winkel  zunächst  dem  rechten  Stemalrande  bis  zur 
Mitte  der  vierten  Rippe.    An   der  Herzspitze  hört  man   ein  rein 


54  Sohrötter. 

systolisches,  schabendes  und  mehr  schnurrendes  diastolisches  Ge- 
räusch. Nach  der  Herzbasis  dasselbe,  nur  schwächer,  und  tritt  die 
Accentuirung  des  zweiten  Pulmonaltones  deutlich  hervor,  lieber 
dem  rechten  Ventrikel,  respective  entsprechend  der  geschilderten 
Dämpfung,  hört  man  ein  dem  über  dem  linken  Ventrikel  gehörten 
Yollkonmien  identisches,  nur  schwächeres  Geräusch  und  einen 
dumpfen  zweiten  Ton. 

Ueber  der  Lunge  beiderseits  vesic.  Inspirium,  rechts  etwas 
hörbares  Exspirium,  ausserdem  einzelne  mittelgrossblasige  Rassei- 
geräusche und  etwas  Schnurren. 

Am  stark  ausgedehnten  Unterleibe  Ascites  nachzuweisen. 
Die  Leber  gut  drei  Querfinger  über  den  Rand  des  Rippenbogens 
reichend,  nach  links  hin  beinahe  zur  linken  Mamillarlinie.  Die 
Milz  massig  vergrössert. 

An  der  Rückseite  des  Thorax  ist  über  den  Lungenspitzen  der 
Schall  beiderseits  gleich  voll ;  nach  unten  links  in  normaler  Aus- 
dehnung, rechts  drei  Querfinger  breit  nach  abwärts  vom  Schulter- 
blattwinkel voll,  nach  der  Seite  hin  etwas  tympanitisch,  in  der 
Axillarlinie  voll  bis  zum  unteren  Rande  der  sechsten  Rippe.  Oben 
beiderseits  und  links  an  der  ganzen  Seite  vesiculäres  Athmen, 
rechts  unten  einzelne  mittelgrossblasige,  etwas  con- 
sonirende  Rasselgeräusche.  Geringe  Mengen  schleimig- 
eitrigen, hie  und  da  blutigen  Sputums,  der  Puls  sehr  klein,  schwach. 

Mit  Rücksicht  auf  die  geschilderten  Erscheinungen  musste 
man  Insuflicienz  und  Stenose  an  der  Bicuspidalklappe,  und  zwar 
entweder  angeboren  oder  in  der  frühesten  Kindheit  erworben, 
mit  allen  den  angegebenen  Folgezuständen  diagnosticiren.  Der 
deutliche,  eonstant  systolisch  bleibende  Halsvenenpuls  liess  eben 
wegen  seiner  Constanz,  obwohl  ein  selbstständiges  systolisches 
Geräusch  über  dem  rechten  Ventrikel  nicht  vorhanden  war,  eine 
Insufficienz  der  Tricuspidalis  annehmen. 

In  welcher  Weise  war  aber  die  eigenthümliche  Form*  der 
Hcrzdämpfung  zu  erklären?  Mit.  einer  einfachen  Vergrösserung 
des  Herzens  in  allen  seinen  Theilen,  wie  sie  ja  bei  dem  complicirten 
Klappenfehler  leicht  angenommen  werden  konnte,  war  sie  offen- 
bar nicht  in  Verbindung  zu  bringen.  Für  ein  grosses  Pericardial- 

(4) 


TSeYMT  BUatation  defi  reehien  Vorhofes  und  ihren  Nachweis.  55 

eundat  sprach  die  Form  der  Dämpfung  wieder  nicht ,  denn  es 
fehlte  ja  jede  Dämpfung  an  der  Herzbasis,  respective  der  linken 
Seite.  Man  konnte  nur  annehmen  ,1  dass  es  sich  um  ein  abge- 
sacktes pericardiales  Exsudat  handelte.  Es  wäre  ja  ganz  gut 
möglich,  dass  von  einer  früheren  Erkrankung  herrührende  Verwach- 
smigen  zwischen  Pericardium  parietale  und  viscerale  das  Exsudat 
sich  nicht  in  der  gewöhnlichen  Weise  ansammeln  Hessen.  So  wäre 
es  auch  leicht f erklärlich ,  dass  ein  solches,  unter  hohem  Drucke 
stehend  zu  der  beschriebenen  Hervorwölbung  an  der  rechten 
Seite  des  Thorax  geführt  hätte.  Gegenüber  den  anderen  Autoren 
mnss  ich  hier  hervorheben,  dass  ich  die  Hervorwölbung  der  Herz- 
g^^end  bei  hypertrophischen  Herzen  und  bei  Pericardialexsudaten 
hei  Weitem  für  keine  so  häufige  Erscheinung  halte,  als  dies  gewöhn- 
lich angenonmien  wird.  Ich  habe  riesige  Pericardialexsudate,  und 
auch  hei  jugendlichen  Individuen  gesehen ,  ohne  dass  eine 
stärkere  Wölbung  in  der  Herzgegend  bestand.  In  unserem  Falle 
aber  liess  sich  die  Hervorwölbung  mit  Rücksicht  auf  das  jugend- 
liche Alter  einerseits  und  auf  den  hohen  Druck  andererseits,  unter 
welchem  das  Exsudat  unter  den  angenommenen  Absackungsver- 
hältoissen  stehen  konnte,  wohl  erklären.  Der  Mangel  von  Schmerz 
üi  der  Herzgegend  schliesst  die  Annahme  einer  Pericarditis  nicht 
aus,  und  konnte  es  sich  somit  um  ein  solches  Exsudat  handeln, 
aber  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  es  abgesackt  wäre. 

Waren  aber  nicht  auch  noch  andere  Erklärungen  möglich? 

Ein  Aneurysma  der  Aorta  war  bei  dem  jugendlichen  Alter, 
bei  der  Stelle  der  Dämpfung,  bei  dem  Mangel  aller  anderen  Er- 
scheinungen leicht  auszuschliessen,  ebenso  zum  Theile  aus  denselben 
Grfinden  irgend  ein  Mediastinaltumor. 

Hingegen  war  an  die  Möglichkeit  eines,  natürlich  wieder 
abgesackten  plenritischen  Exsudates  zu  denken.  Der  Umstand, 
das8  man  die  Schallerscheinungen  des  Herzens  über  der  Dämpfung 
noch  mit  relativer  Stärke  wahrnahm,  schloss  diese  nicht  aus.  Die 
Form  der  Dämpfung,  namentlich  die  eigenthümliche  Gonfiguration 
nach  oben,  waren  allerdings  höchst  auffallend.  Ich  untei*suchte  daher, 
wie  sich  die  Verhältnisse  beim  tiefen  Inspirium  der  Kranken  ver- 
halten  würden.    Wäre  bei  diesem  eine  Aenderung  eingetreten. 


56  Schröiter. 

resp.  hätte  sich  die  Lunge  über  die  Dämpfungsgrenze  hereinge- 
schoben, 80  wäre  das  abgesackte  pleuritische  Exsudat  ausge- 
schlossen gewesen.  Allein  da  bei  wiederholten  Versuchen  diese 
Aenderung  nicht  eintrat  und  da  auch  einige  Wochen  vorher  b^ 
der  Kranken  ein  pleurales  Beiben  an  der  vorderen  Seite  des 
Thorax  gehört  worden  sein  soll,  war  ein  abgesacktes  pleuritisches 
Exsudat  in  eigenthlünlicher  Form  in  der  Nähe  des  rechten  Herzens, 
ebenso  wie  ein  abgesacktes  pericardiales  Exsudat  möglich. 

Es  lag  aber  noch  eine,  und,  wie  ich  glaube,  nur  noch  diese 
letzte  Deutung  vor,  nämlich  die,  dass  der  bedeutend  ausgedehnte 
rechte  Vorhof  die  Dämpfung  verursachte.  Für  gewöhnlich  ist  der 
rechte  Vorhof  bekanntlich  vollständig  von  der  rechten  Lunge  zuge- 
deckt und  daher  der  Untersuchung  nicht  zugänglich.  Wenn  er  aber 
in  höherem  Maasse  dilatirt  ist,  vermag  er  die  Lunge  abzudrängen 
und  wird  dann  in  mehr  minder  beträchtlicher  Ausdehnung  zwischen 
dem  unteren  Rande  der  zweiten  Rippe  und  dem  oberen  Bande 
der  sechsten  Rippe  wandständig.  Für  eine  starke  Ausdehnung 
des  Vorhofes  wäre  hier  allerdings  in  der  Insufficienz  und  Stenose  an 
der  Bicuspidalis  und  Insufficienz  der  Tricuspidalis  eine  ausreichende 
Ursache  gefunden.  Allein  neben  der  ganz  besonders  starken  Aus- 
dehnung, die  man  hier  doch  annehmen  musste  und  die  man 
für  gewöhnlich  selbst  bei  den  complicirten  Klappenfehlern  nicht 
beobachtet,  waren  hier  noch  ein  paar  Umstände,  die  diese  An- 
nahme nicht  so  ohne  weiters  gelten  lassen  konnten,  vorhanden. 
1.  Die  eigenthümliche  Form,  das  nicht  vollständige  Heran- 
reichen der  Dämpfting  zum  rechten  Stemalrande  und  2.  das  Gleich- 
bleiben der  Dämpfung  beim  tiefen  Inspirium.  Beides  aber  Hess 
sich  durch  die  Annahme  von  Verwachsungen  der  Lunge  mit  der 
Pleura  wieder  hinreichend  erklären;  denn  solche  konnten  einer- 
seits die  Retraction  der  Lunge  an  der  Basis  verhindern  und  so 
den  einspringenden  Winkel  mit  vollem  Schall  an  der  oberen 
Grenze  der  Dämpfung  verursachen,  und  andererseits  verhindern, 
dass  sich  die  Lunge  beim  Inspirium  weiter  über  das  Herz  herein- 
lege. Dieses  letztere  konnte  allerdings  auch  dadurch  verhindert 
werden,  dass  der  rechte  Vorhof  unter  bedeutendem  Drucke  der 
vorderen  Thoraxwand  anlag.   Es  war  somit  die  Annahme,  dass 

(6) 


lieber  Dilatation  des  rechten  Vorhofes  und'  ihren  Nachweis.  57 

die  Dämpfdng  und  beträchtliche  Wölbang  der  rechten  Thorax- 
wand  durch  den  stark  ausgedehnten  Vorhof  bedingt  sei,  durchaus 
nicht  ausgeschlossen.  Wie  nun  über  die  Richtigkeit  unter  diesen 
drei  Möglichkeiten:  „Stark  ausgedehnter  rechter  Vorhof,  abge- 
sacktes Pericardial-,  abgesacktes  pleuritisches  Exsudat^  Gewissheit 
erlangen? 

Da  nun  aber  die  Kranke  in  den  nächsten  Tagen  eine  sich 
hochgradig  steigernde  Atheinnoth  mit  noch  stärkerer  Ausdeh- 
nung der  Halsvenen  und  Cyanose  bekam,  schien  die  Feststellung 
der  Diagnose  nicht  blos  akademisch  wilnschenswerth ,  sondern 
wegen  eines  etwaigen  therapeutischen  Eingriffes  durchaus  noth^ 
wendig.  Im  Falle  es  sich  nämlich  um  ein  Exsudat  der  einen 
oder  anderen  Art  gehandelt  hätte,  schien  die  Function  eines 
solchen  angezeigt. 

Ich  glaube  hinreichend  erörtert  zu  haben,  dass  es  aus  den 
angeführten  Symptomen  nicht  möglich  war,  eine  sichere  Diagnose 
zu  machen,  und  entschloss  mich  daher  zur  Vornahme  einer  Explo- 
rativpnnction.  Ich  stellte  mir  vor,  dass  diese  unter  allen  Gautelen 
vorgenommen ,  selbst  wenn  es  sich  um  den  rechten  Vorhof  han- 
delte, für  die  Kranke  keine  Gefahr  bringen  würde,  und  war  hierzu 
besonders  durch  die  Resultate  meiner  Functionen  der  Aneurysmen 
ennnthigt  ^) 

Am  18.  November  1886  wurde  im  4.  Intercostalraume, 
2  Cm.  nach  einwärts  von  der  Mamillarlinie ,  die  aasgegltthte 
Nadel  einer  Fravaz'schen  Spritze  ohne  besonderen  Widerstand 
eingestochen.  Sofort  machte  die  ganze  Spritze  theils  von  der 
Respiration  abhängige,  theils  aber  noch  auffallendere,  rhythmische, 
mit  den  Bewegungen  des  Herzens  gehende ,  auf-  und  absteigende 
pendehide  Bewegungen.  Die  in  die  Spritze  angezogene  dunkel- 
rotfae  Flüssigkeit  erwies  sich  bei  der  mikroskopischen  Unter- 
sachnng  als  reines  Blut.  Somit  war  die  Diagnose,  dass  es 
sich  mn  den  colossal  ausgedehnten  rechten  Vorhof  handelte ,  ge- 
sichert.  Der  operative  Eingriff  war  durchaus  unschädlich,  verlief 


')  üeber  Therapie  der  Aorienanenrysmen.  Von  Prof.  Schrott  er.  Deutsch. 
AkMt  tfkr  kUa.  tfedidn.  1884,  Bd.  VI. 

Med.  Jahrbücher.  1886.  5      (?) 


58  Schrötter. 

vollständig  reactionslos,  doch  erlag  die  Kranke  am  6.  December 
1886  ihrem  schweren  Leiden. 


Aus  dem  von  Herrn  Prof.  Kund  rat  angegebenen  Sections- 
befnnde  will  ich  ebenfalls  nur  das  fiir  unsere  Frage  Wichtige 
hervorheben. 

Haut  im  Gesichte  geschwellt,  verfärbt,  Unterhautzellgewebe 
ödematös ,  Hals  kurz ,  Brustkorb  schmal ,  stark  gewölbt ,  nach 
innen  von  der  rechten  Brustwarze  stärker  ausgebaucht,  Unterleib 
schwappend,  Extremitäten  leicht  ödematös.  . . .  Herzbeutel  enorm 
ausgedehnt,  durch  colossale  Ausdehnung  des  Herzens.  Dieses  mit 
seinem  vorderen  Rande  nach  rechts  gedreht,  und  zwar  so,  dass 
die  Spitze  in  der  Höhe  vor  dem  vorderen  knöchernen  Ende  der 
6.  linken  Rippe  lagert,  der  colossal  ausgedehnte  Vorhof  der 
rechten  Brustwand  anliegt.  Die  rechte  Lunge  nach  hinten  und 
unten  retrahii-t,  am  Rande  und  an  der  Aussenfläche 
des  Ober-  und  Mittellappens  durch  strangförmige 
Pseudomembranen  fixirt,  im  Oberlappcn  in  grösserer  Aus- 
dehnung verwachsen,  an  dessen  Spitze  gedunsen.  Nach  unten  zu 
im  rechten  Brustraume  ^s  Liter  seröser  Flüssigkeit  angesammelt, 
im  linken  Brustraum  etwa  ^'a  Liter  gelblichen,  klaren  Serums. 
Linke  Liinge  gross,  blutreich,  etwas  rostbraun,  dichter.  Die  rechte 
Lunge  im  Spitzenantheile  des  Oberlappens  emphysematös  gedunsen, 
blutarm.  In  den  basalen  Antheilen  im  Mittel-  und 
Unterlappen  und  zwar  im  vorderen  Antheile  des 
letzteren  schwielig  verödet  und  geschrumpft.  Die 
Bronchien  daselbst  erweitert. 

Der  1.  Ventrikel  erweitert,  in  seinen  Wandungen  etwas 
verdickt,  in  seinen  Trabekeln  abgemagert,  das  Endocard  über  den- 
selben milchigweiss  getrübt.  Die  Aoi*taklappen  herabgedrängt 
und  ausgebaucht  und  unterhalb  der  Schlusslinie  milchigweiss  ge- 
trübt. Die  Noduli  mit  feinsten  weissen  Excrescenzen  besetzt. 
Bicuspidalis  durch  Verwachsung  beider  Zipfel  und  der  Sehnen- 
fäden untereinander  und  durch  starke  Schrumpfung  in  einen 
starren  Trichter  verwandelt,  dessen  Oeffnung  an  der  Spitze  14  Mm. 

(8) 


lieber  DUatation  des  recbten  Yorhofea  nnd  ihren  Nachweis.  59 

lang  nnd  6  Mm.  breit  ist.  Tricnspidalis  gleichfalls  in  einen 
Trichter  yerwachsen,  dessen  Ostium  rundlich  die  Grösse  circa 
einer  Erbse  besitzt.  Der  rechte  Ventrikel  wenig  erweitert,  wenig 
rerdickt,  Vorhöfe,  besonders  der  rechte,  enorm  er- 
weitert, sehr  stark  in  seinen  Wandungen  hypertrophirt.  Im 
rechten  Herzohre  wandständige  Thromben,  das  Herz  strotzend  von 
locker  geronnenem  Blute.  Leber  sehr  gross,  dick,  plump,  in  eine 
verdickte  getrübte  Kapsel  gehüllt,  obei^flächlich  gelappt,  granulirt. 
Parenchym  muscatnussähnlich  gezeichnet,  in  einzelnen  Läppchen 
hypertrophirt.  Milz  sehr  gross,  dick,  plump.  Kapsel  und  Gerüste 
verdickt,  Pulpa  schwarzroth. . . .  Nieren  blutreich,  etwas  gelockert, 
in  der  Rinde  erbleicht. 

Vergleichen  wir  diesen  Befund  mit  den  während  des  Lebens 
erörterten  Anschannngen,  so  ergibt  sich  zuerst  die  Richtigkeit  der 
Diagnose  auf  lusuiflcienz  und  Stenose  des  Bicuspidalis  und  Insufiicienz 
der  Tricuspidalis.  Die  Veränderungen  an  den  Aortenklappen  haben 
dieselben  an  ihrem  Verschlusse  wohl  nicht  gehindert,  wenigstens  waren 
im  Leben  keine  darauf  bezüglichen  Erscheinungen  nachzuweisen. 
Hingegen  fand  sich,  und  zwar  eine  ganz  beträchtliche  Ste- 
nose am  Ostium  venös,  d.  Dass  eine  solche  kein  Geräusch 
hervorbringt,  ist  bereits  hinreichend  oft  beobachtet  worden  und 
erklart  sich  wohl  aus  der  geringen  Intensität,  mit  welcher  das 
Blut  aus  dem  rechten  Vorhofe  in  den  rechten  Ventrikel  sti'ömt 
und  entweder  kein  Geräusch  oder  nur  ein  so  schwaches  zu 
Stande  kommen  lässt,  dass  es  unter  jenem  des  linken  Ventrikels 
verschwindet.  Interessant  ist,  dass  trotz  dieser  Stenose  noch  ein 
so  dentlicher  systolischer  Halsvenenpuls,  der  bei  seiner  Gonstanz 
doch  nur  auf  die  Contraction  des  rechten  Ventrikels  zu  beziehen 
war,  zu  Stande  kommen  konnte.  Richtig  war  femer  auch 
die  eolossale  Ausdehnung  des  rechten  Vorhofes,  welcher,  der 
rechten  Thoraxwandung  in  der  geschilderten  Weise  anliegend, 
die  ausgebreitete  Dämpfung  verursachte.  Richtig  war  femer 
die  im  Leben  angenommene  Erklämng  für  die  eigenthümliche 
Form  derselben  durch  die  pseudomembranösen  Verwachsungen 
der  Lunge.  Zu  der  bedeutenden  Ausdehnung  des  Vorhofes 
jedoch  kam  noch  ein  zweites  Moment  hinzu,  welches  dessen  weit 


gO       Schrotte  r.  lieber  Dilatation  d.  rechten  Vorhofes  n.  ihren  Nachweis. 

aui^ebreitetes  Anliegen  an  die  Thoraxwandung  nach  rechts  hin 
verursachte.  —  Dieses  ist  in  der  ohne  Zweifel  angeborenen 
Schrumpfung  der  bezüglichen  Lungenabschnitte  gegeben.  Gewiss 
hängen  mit  dieser  und  der  leichten  Erweiterung  der  Bronchien 
jene  in  der  Krankengeschichte  angegebenen,  rechts  rückwärts 
unten  gehörten  mittelgrossblasigen  consonirenden  Rasselgeräusche 
zusammen.  Diese  raussten  aber  mit  Rücksicht  auf  die  anderen 
Erscheinungen  mit  einer  pneumonischen  Infiltration  und  nicht  mit 
der  Induration  dieses  umschriebenen  untersten  Lungenabschnittes, 
welcher  von  der  Leberdämpfung  nicht  zu  differenziren  war,  um- 
somehr  in  Verbindung  gebracht  werden,  als  auch  die  übrigen 
Zeichen  für  dieselbe  fehlten. 

Die  Explorativpunction  war  im  Leben  vollkommen  gefahr- 
los verlaufen,  sie  hatte  aber  auch  am  Präparate  keinerlei  Spur 
zurückgelassen,  so  dass  in  schwierigen  Fällen  dieses  Mittel  unbe- 
schadet  zur  Feststellung  der  Diagnose  benützt  werden  kann. 


-m^ 


Dnck  TOB  eoUli«b  Oi«t«l  *  Comp,  in  Wien.  (10) 


IV. 

Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres:  die  mor- 
pbologische  Bedeutung  der  Gehörknöchelchen. 

Von 

Dr.  G.  Oradenlgo  ans  Padua. 

(Aus  dioi  Laturatorium  des  Prof.  Schenk  in  Wies.) 

(Im  October  1886  von  der  Bodaction  übernommen.) 


L 

Allgemeiner  Theil. 

Die  erste  Anlage  der  Gehörknöchelchen  und  dee  iubo-tympa- 
nalen  Raiimee:  morphologieche  Bedeutung  der  Ereteren. 

Durch  die  erschöpfenden  Arbeiten  Retzius',  Tafani's, 
Boettcher's  haben  die  Kenntnisse  in  der  vergleichenden  Ana- 
tomie nnd  der  Entwicklnngogeschichte  des  inneren  Ohres  in  ihren 
Hmptzilgen  einen  derartigen  Orad  der  Vollkommenheit  erreicht, 
den  man  noch  vor  wenigen  Jahren  nicht  geahnt  hätte.  Ein 
GMches  kann  vom  Mittelohre  nicht  gesagt  werden.  Die  Ent* 
Bldimigsweise  des  tabo-tympanalen  Baumes,  die  erste  Anlage 
«od  die  morphologische  Bedeutung  der  (Gehörknöchelchen  bilden 
Boefa  immer  einen  der  dunklen  Abschnitte  der  Entwicklungs- 
geschichte und  der  comparativen  Anatomie. 

Die  technischen  Schwierigkeiten,  die  sich  an  die  Präpa- 
ration so  kleiner,  der  Untersuchung  schwer  zugänglicher  Objecto 
knüpfen,  und  die  Complication  der  topograplüschen  Verhältnisse, 

Med.  Jalirlrüoher.  1887.  6      (D 


g2  Gradexiigo. 

bedingt  durch  die  Anhänfung  und  das  Ineinandergreifen  wichtiger 
embryonaler  Gebilde  auf  einer  relativ  engen  Stelle,  erklären  viel- 
leicht zum  Theile  die  auseinandergehenden  Ansichten,  welche  sich 
auf  diesem  Gebiete  kundgeben. 

Und  nicht  allein  die  Angaben  über  nebensächliche  Einzel- 
heiten, sondern  auch  jene  über  fundamentale  Vorgänge  stehen  zu 
einander  im  Widerspruche.  Der  tubo-tympanale  Raum  wird,  was 
seine  Entstehungsweise  betrifft,  von  den  Einen  mit  der  inneren 
Hälfte  der  ersten  Eiemenspalte  in  Beziehung  [Reichert  ('), 
Kölliker  (**)*)]  gebracht,  von  den  Anderen  als  eine  gegen 
das  Ohr  zu  wachsende  Ausstülpung  des  Darmcanals  angesehen 
[H  u  n  t  (»T),  M  0 1  d  e  n  h  a u  e  r  (")].  Betreffs  der  Gehörknöchelchen 
stimmen  die  Autoren  nur  darin  überein,  dass  sie  den  Hammer 
aus  dem  ersten  Kiemcnbogen  entstehen  lassen.  Der  Ambos  wird 
von  den  Einen  mit  dem  ersten  Eiemenbogen  [Reichert  (*), 
Rathke  C^),  (*"),  Sälen sky  (^«)],  von  den  Anderen  mit  dem 
zweiten  in  Zusammenhang  gebracht  [Huxley  ('*""")?  Parker 
("X  Fräser  (t»)]. 

Der  Steigbügel ,  das  wichtigste  Knöchelchen  in  physio- 
pathologischer  Hinsicht  ist  bald  mit  dem  ersten  Eiemenbogen 
[Valentin  (^-8)^  Günther  (")],  bald  mit  dem  zweiten  [Rei- 
chert (»),  Bruch  ("-"),  Semmer  (**)],  bald  mit  der  perio- 
tischen  Eapsel  [Burdach  (*),  Gruber  («>),  Parker  (")],  in 
Beziehung  gebracht  worden:  einige  Autoren  stehen  sogar  für 
eine  morphologische  Unabhängigkeit  des  Steigbügels  ein,  indem 
sie  das  embryonale  Bindegewebe  zum  Steigbügel  umwandeln 
lassen  [Hunt  ("),  Salensky  (^e),  Fräser  (7»)]. 

Wenn  in  Fragen  so  allgemeiner  Bedeutung  eine  solche 
Verschiedenheit  der  Ansichten  herrscht ,  ist  es  leicht  begreiflich, 
wie  noch  um  so  ungewisser  und  unvollkommener  unsere  Kennt- 
nisse über  einzelne  Details,  z.  B.  die  Einzelheiten  in  den  Ent- 
wicklungsvorgängen der  Enöchelchen  und  in  der  Topographie 
des  embryonalen  tubo-tympanalen  Raumes,  die  Entstehungs weise 
der  Deckknochen  u.  s.  w.  sein  müssen. 


*)  Die  eingeklammerten  kleinen  Ziffern  yerweisen  auf  daa  bibliograpliiflclie 
Yerzeickniss,  welches  am  Ende  dieser  Arbeit  steht« 

(8) 


IHe  embryonale  Anlage  des  Ifittelolufes :  die  morphologische  Bedeutung  etc.       g3 

Beim  Stadium  der  Entwicklungsart  der  Gehörknöchelchen 
halte  ich  fiir  nothwendig,  die  Entstehungsweise  der  periotischen 
Kapsel  und  besonders  ihrer  vestibulären  Wand  in  Betracht  zn 
ziehen,  welche  später  in  ein  inniges  Verhältniss  zu  den  Gebilden 
des  Mittelohres  gelangt. 

In  der  That,  während  im  Embryo  die  Entstehnngsweise  des 
hantigen  Labyrinthes  als  eine  ziemlich  bekannte  betrachtet  werden 
kann,  dünkt  es  mich,  dass  die  wichtigen  Modalitäten,  welche  die 
Labyrinthkapsel  in  ihrer  Entwicklmig  aufweist,  bislang  nicht 
entsprechend  erforscht  wurden. 

Das  genaue  Studium  des  Entwicklungsganges  der  Gehör- 
knöchelchen und  der  periotischen  Kapsel  ist  geeignet,  eine 
Eeihe  wichtiger  allgemeiner  embryologischer  und  morphologischer 
Fragen  zu  lösen. 

Es  sind  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen,  welche  die 
AnpassungsYorgänge  des  primordialen  Skeletes  zu  dem  höchsten 
Skelettypus  im  Embryo  verfolgen ,  diejenigen,  welche  uns  in  die 
Lage  setzen ,  in's  verwickelte  Feld  der  Morphologie  der  Wirbel- 
thiere  einzudringen.  Die  vergleichende  Anatomie  ist  für  sich 
aBein  nicht  im  Stande,  alle  complicirten  morphologischen  Pro- 
bleme zu  lösen,  die  sich  dem  Forscher  entgegenstellen.  Zu  be- 
deutend und  verschiedenartig  sind  die  Veränderangen  des  pri- 
mordialen  Typus  bei  den  verschiedenen  Wirbelthierclassen ,  zu 
ausgedehnt  das  Anpassungsvermögen  der  Organe  der  einzelnen 
Thierarten. 

Andererseits,  da  die  Erforschung  der  Entwicklungsweise  der 
Gehörknöchelchen  und  deren  Gelenke  Gebilde  berücksichtigt, 
welche  in  einem  beschränkten  Räume  jene  histologischen  Vor- 
gange bilden,  welche  bei  der  Entstehung  der  Röhrenknochen  und 
der  grossen  Gelenke  anzutreffen  sind,  so  ist  es  möglich,  in  einem 
und  demselben  mikroskopischen  Gesichtsfelde  diejenigen  Processe 
aaf  einmal  zu  übersehen,  welche  bei  dem  Studium  der  Ent- 
wicklongsweise  anderer  Skelettheile  nur  auf  eine  lange  Reihe 
von  Schnitten  mühselig  verfolgt  werden  müssen.  Dies  erleichtert 
wesentlich  die  Beurtheilung  einiger  noch  fraglicher  Thatsachen 
io  der  allgemeinen  Entwicklungslehre  der  Skeletelemente. 

6  •    (8) 


64  Gradenigo. 

.  Die  beste  Methode,  nm  die  verschiedenartigsten  Fragen, 
welche  man  auf  diesem  Gtobiete  trifft,  zc  lösen,  besteht  meines 
Erachtens  darin,  die  histologischen  Einzelheiten,  welche  sich 
an  die  EntwicUnng  der  verschiedenen  Gebilde  des  Mittelohres 
anknüpfen,  ohne  vorausgehende  Beriicksichtigong  der.  Ergebnisse 
der  vergleichenden  Anatomie  zu  stadiren  und  festzustellen.  Erst 
dann,  wenn  die  fundamentalen  Entwicklungsvorgänge  festgesetzt 
sind,  wird  man  zu  ihrer  Deutung  schreiten  und  über  ihren  Werth 
discutiren,  indem  man  sie  zu  den  allgemeinen  embryonalen 
Lehren  und  zu  den  aus  dem  Studium  der  vergleichenden  Ana- 
tomie gewonnenen  Resultaten  in  Beziehung  bringt. 

Von  einem  streng  embryologischen  Standpunkt  bin  ich  also, 
auf  Grund  dieser  Betrachtungen,  an  das  Studiimi  der  so  compli- 
cirten  und  noch  so  wenig  bekannten  Entwicklnngsweise  der 
Skeletelemente  des  Mittelohres  und  des  tubo-tympanalen  Baumes 
gegangen.  In  dieser  Arbeit  wird  die  Entwicklung  der  Skelet- 
elemente nur  bis  auf  die  Verknöcherung  verfolgt. 

Bei  den  Untersuchungen,  welche  ich  im  embryologischen 
Institute  der  Wiener  Universität  unter  der  gelehrten  und  freund- 
lichen Leitung  des  Herrn  Prof.  Schenk,  dem  ich  hier  meinen 
besten  Dank  abzustatten  mich  beehre,  unternahm,  kamen  mensch- 
liche und  Säugethierembryonen  zur  Anwendung,  und  wurden  diese 
mit  einer  streng  wissenschaftlichen  Methode,  der  Methode  der 
Serienschnitte,  studirt.  Das  reichlich  dazu  benützte  Material,  die 
dünnen  Schnitte,  die  angewandte  Doppelfarbungsmethode  haben 
mich  in  die  Lage  gesetzt,  die  kleinsten  histologischen  Details 
der  wichtigsten  Entwicklungsstadien  mit  Genauigkeit  zu  verfolgen. 

Die  gewonnenen  Resultate  scheinen  mir  geeignet,  die  Ent- 
mcklungsweise  des  Mittelohres  hinreichend  zu  beleuchten,  und 
in's  breite  Feld  der  Morphologie  der  Gehörknöchelchen  einen  Licht- 
strahl zu  werfen. 

Die  Entwicklungsweise  der  Gehörknöchelchen,  und  besonders 
des  Steigbügels  ist,  nach  meinen  Resultaten,  weit  complicirter  als 
bis  jetzt  gedacht.  Der  Steigbügel  der  Menschen  und  der  höheren 
Säugethiere  geht  aus  der  Verschmelzung  zweier  embryologisch 
und  morphologisch  ganz  verschiedener  Elemente  hervor.  Der 
tubo-tympanale  Raum  geht  zur  Zeit  des  Auftretens  der  proxi- 

(4) 


Die  emluryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologiscbe  Bedentnns  etc.       65 

malen  Enden  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  einen  eigentlichen 
InyolntionsTorgang  ein,  und  sich  erst  dnrch  eine  Keihe  complicitter, 
aber  bestimmter,  in  der  Entwicklangsweise  der  umgebenden 
Skelettheile  gelegener  Verändenmgen  seine  definitive  Gestaltung 
ganz  erreicht. 

Anch  diesmal  bestätigen  nnd  vervollständigen  die  embryo- 
logiflchen  Thatsachen  in  wunderbarer  Weise  die  Ergebnisse,  welche 
man  ans  dem  Stadium  der  vergleichenden  Anatomie  ziehen  kann ; 
auch  diesmal  entsprechen  die  autogenetischen  Vorgänge  den  phylo- 
genetischen vollkommen. 

Die  Resultate  meiner  Arbeit  sind  zugleich  geeignet  eine 
glänzende  Bestätigung  des  classischen  Satzes  anzugeben,  dass  es 
die  Entwicklungsgeschichte  ist,  welcher  die  Aufgabe  zufällt,  das 
Richteramt  über  die  comparative  Anatomie  zu  führen. 

Unter8Uchung8methode. 

Bei  den  Untersuchungen  der  Entwicklungsweise  der  Gehör- 
knöchelchen können  zwei  Methoden  zur  Anwendung  kommen: 
Die  gewöhnliche  anatomische  Präparirmethode  und  die 
Methode  der  Serienschnitte.  Es  ist  angezeigt  über  deren 
relativen  Werth  einige  Woi-te  zu  sprechen,  denn  die  von  den 
Autoren  erlangten  verschiedenen  Resultate  dürften  zum  Theil  den 
betreffenden  angewendeten  Methoden  zugeschrieben  werden. 

Die  sogenannte  Präparirmethode  besteht  darin,  dass 
man  makroskopisch  die  einzelnen  soliden  Skelettheile  heraus- 
präparirt,  und  sowohl  deren  Form  und  Zusammenhang  als  auch 
deren  topographische  Verhältnisse  studirt. 

Es  folgt  hieraus,  dass  diese  Methode  mit  befriedigendem 
Erfolg  nur  dann  angewendet  werden  kann,  wenn  die  zu  unter- 
suchenden Elemente  genug  fest  sind,  damit  sie  mechanisch  von 
den  umgebenden  Theilen  ordentlich  getrennt  werden,  und  wenn 
die  Dimensionen  derart  sind,  dass  man  sie  wenigstens  deutlich 
und  leicht  mit  der  Loupe  sehen  kann. 

Der  MeckeTsche  Fortsatz,  der  Hammer  und  der  Ambos 
können  ohne  erhebliche  Schwierigkeiten  bei  den  Embryonen  der 
meisten  höheren  Säugethiere  herauspräparirt  werden,  jedoch  erst 
dann,  wenn  die  Verknorpelung  schon  eingetreten  ist. 


gg  Gradenigo. 

Was  den  Steigbügel  betrifft,  so  ist  dessen  unversehrte  Prä- 
parining  und  die  Erforschung  seiner  topographischen  Verhältnisse 
wesentlich  erschwert  durch  die  Zartheit  seiner  Contouren,  die  viel- 
fachen Beziehungen  zu  den  Nachbartheilen,  die  tiefe  Lage  in  der 
Nische  des  ovalen  Fensters  und  das  umgebende  embryonale 
Bindegewebe. 

Aber  auch  flir  die  übrigen  obgenannten  knorpeligen  Elemente 
des  Mittelohres  muss  sich  die  Anwendung  der  Präpariimethode 
auf  bestimmte  Entwicklungsperioden  beschränken.  Das  erste  Auf- 
treten des  Knorpelgewebes  geht  nicht  gleichzeitig  und  gleichmässig 
in  allen  Skeletabschnitten  der  Kiemenbogen  vor  sich.  Durch  die 
Präparation  kann  man  nun  Bilder  bekommen,  welche  die  Ver- 
schiedenheit der  histologischen  Vorgänge  in  übertriebenem  Maasse 
anschaulich  machen,  und  müssen  in  gewisser  Beziehung  als  künstlich 
erzeugt  angesehen  werden.  Ueberdies  ist  bei  den  ersten  Stadiea 
der  Elnorpel  von  dem  ihn  umgebenden  embryonalen  Gewebe  gar 
nicht  deutlich  abgegrenzt.  Salensky  selbst,  welcher  die  Ent- 
stehungsweise des  Hammers  und  des  Ambosses  hauptsächlich  mit  der 
Präparirmethode  verfolgt  hat,  gesteht  zu,  dass  das  Präpariren 
des  Knorpels  bei  den  kleinen  Embryonen,  bei  welchen  die  Ver- 
knoipelung  noch  nicht  ganz  vollendet  ist,  eine  ziemlich  schwierige 
Manipulation  darstellt.  Selbst  an  den  gefärbten  Präparaten  treten 
die  Grenzen  der  Knorpel  nicht  sehr  scharf  hervor,  und  das  die 
Knorpel  umhüllende  embryonale  Bindegewebe  kann  nicht  voll- 
kommen entfernt  werden. 

Vor  dem  Auftreten  des  Knorpelgewebes,  in  dem  in  morpho- 
logischer Hinsicht  wichtigsten  Stadium,  wo  die  Elemente  des 
künftigen  Skeletes  nur  von  mehr  färbungsfähigen  Zellanhäufungen 
dargestellt  erscheinen,  kann  von  einer  Präparirmethode  nicht  die 
Bede  sein. 

Aus  den  oben  angeführten  Gründen  erhellt,  dass  bei  dem 
Studium  der  Entwicklungsweise  der  Gehörknöchelchen  die  Prä- 
parirmethode nur  in  besonderen  Fällen,  und  jedenfalls  nie  in  den 
allerersten  Stadien  mit  Erfolg  angewendet  werden  kann. 

Wenn  das  Knorpelgewebe  schon  vollkommen  gebildet  ist, 
kann  uns  die  Präparirmethode  eine  werthvoUe  und  rasche  Uebersicht 
der    wichtigsten  Einzelheiten  über  Form  und    Grösse  gewähren, 

(6) 


Die  embryonale  Anlage  des  Hittelolires :  die  morphologische  Bedeutung  etc.       67 

und  dies  besonders  bei  vorausgegangener  passender  Färbung  des 
anatomiscben  Präparates  in  toto. 

Die  zweite  Methode,  die  einzige,  welche  auf  alle  Fälle  passt^ 
besteht  in  der  Anfertigung  der  Serienschnitte.  Nur  nach  dieser 
Methode  ist  es  möglich  die  allerersten  Stadien  der  Skeletelemente 
zu  treffen,  wenn  diese,  noch  kaum  angedeutet,  inmitten  des  zarten 
embryonalen  Bindegewebes  erscheinen ;  nur  an  der  Hand  derselben 
Methode  können  wir  bestimmte  und  genaue  topographische  Kenntnisse 
erlangen,   und  in  die  feinsten  hystologischen  Details  eindringen. 

Es  ist  wohl  wahr,  dass  eine  exacte  Kenntniss  über  die  Form 
und  Ausdehnung  nur  durch  einen  Vergleich  von  wenigstens  drei 
ToUkonunenen,  nach  den  drei  Hauptrichtungen  geführten  Schnitt- 
serien gewonnen  werden  kann.  Die  Vorbereitungsmethode  ist 
daher  langwierig  und  mühevoll.  Die  Herstellung  aus  den  Schnitten 
eines  realen  Bildes  ist  manchmal  schwer,  aber  die  Folgerungen,  die 
man  daraus  ziehen  kann,  übertreffen  in  Bezug  auf  Genauigkeit 
und  Vollkommenheit  der  Details  und  wissenschaftlichen  Werth 
bei  weitem  jene  Resultate,  welche  nach  der  geschicktesten  Prä- 
paration zu  erzielen  sind. 

Die  von  mir  unternommenen  Untersuchungen  wurden  nach 
der  Serienschnittenmethode  geführt.  Bei  einzelnen  speciellen  Fällen 
hat  mir  die  Präparationsmethode  sehr  gute  Dienste  geleistet. 

Je  nach  dem  Alter  des  Embryo  wurden  entweder  das  ganze 
cephalische  Ende  oder  der  otico-occipitale  Abschnitt,  oder  aber 
auch  nur  das  Gehörorgan  in  Schnitte  zerlegt.  Die  Dicke  der  einzelnen 
Schnitte  variirte  bei  sehr  jungen  Embryonen  von  Veo — ^Uo  Mm.^ 
für  ältere  Embryonen  betrug  sie  Vbo — ^'20-  Ich  habe  mich  oft  über- 
zeugt, dass  die  Entwicklungsvorgänge  nur  an  sehr  dünnen  Schnitten 
genau  zu  verfolgen  sind. 

Die  mehr  als  3  Cum.  langen  Embryonen  wurden  entweder 
in  der  Mülle  raschen  Flüssigkeit  oder  in  einer  Chromsäurelösung 
gehärtet,  respective  aufbewahrt. 

Für  jüngere  Embryonen  habe  ich  eine  Reihe  von  Fixirungs- 
fltissigkeiten  angewendet ;  unter  anderen  die  T  a  f  a  n  i'sche  Lösung 
(Qamiamsäure  und  doppeltchromsaures  Kali),  dieEleinenberg- 
lehe  Flüssigkeit  (Pikrinsäure  und  Schwefelsäure),  die  Ehrlich- 
sehe  Mischung   (doppeltchromsaures  Kali   mit  Eupfersulfid) ,   die 

(7) 


^g  Gradenigo. 

Flemming'scheMiscbimg  (Chromsäure  nnd  EssigBäure).  —  Die 
glänzendsten  Restdtate  wnrden  nach  der  von  Tafani  angegebenen 
Methode  erlangt.  Die  Embryonen  wnrden  in  folgende  frisch  be- 
reitete Flüssigkeit: 

wässerige  Lösung  von  0*40  Proc.  doppelt- 
chromsaurem  Kali =20  Gem. 

wässerige   Lösung   von    1    Proc.    Ueber- 

osmiumsäure =     5  Gem. 

hineingelegt. 

Ich  liess  sie  an  einem  dunklen  Orte  6~-12  Stunden  stehen, 
und  brachte  sie  dann,  behufs  Erhärtung,  in  Kleinenberg's 
Flüssigkeit. 

Die  einzelnen  Zellen  der  so  behandelten  Präparate  treten 
in  ihren  Contouren  sehr  scharf  hervor;  die  Kerne  färben  sich 
rasch  und  intensiv.  Das  einzige  Fehlerhafte,  welches  sich  zu- 
weilen einschlich,  bestand  in  einem  nicht  genügenden  Eindringen 
der  Osmiumsäure  in  das  (Jewebe, 

Auch  die  Kleinenberg'sche  Flüssigkeit  fdr  sich  allein 
hat  mir  durch  prompte  Fixirung  und  rasche  Erhärtung  vorzüg- 
liche Resultate  geliefert.  Aus  den  verschiedenen  Erhärtungsflüssig- 
keiten wurden  die  Embryone  in  successive  stärkeren  Alkohol  ge- 
bracht. Nachdem  endlich,  wenn  der  Fall  eintrat,  die  Höhlen  des 
Mittel-  und  inneren  Ohres  weit  geöfinet  wurden,  liess  ich  die 
einzelnen  Theile  in  einer  Mischung  aa.  partes  aequales  absoluten 
Alkohol  und  Schwefeläther  durch  6—12  Stunden  liegen,  und 
habe  sie  dann  in  Celloidin  eingebettet. 

Ich  habe  im  Allgemeinen  nicht  für  geeignet  gehalten,  die 
Präparate  in  t o  t o  zu  färben.  Die  Färbungsmethode,  die  mir  die 
besten  Resultate  ergab,  war  die  doppelte  Färbung  der  Schnitte 
mittelst  Grenachers  Hämatoxylin  und  wässeriger  Lösung  von 
Eosin. 

Nachdem  ich  die  Ueberzeugung  gewonnen  hatte,  dass  nicht 
nur  die  feinen  histologischen  Details,  sondern  auch  die  wesent- 
lichen Vorgänge  bei  der  embryonalen  Entwicklung  nur  an  gut 
gefärbten  Präparaten  genau  zu  verfolgen  sind ,  habe  ich  jeden 
einzelnen  Schnitt  in  der  Serie  doppelt  tingirt,  im  Origanumöl 
aufgehellt,  und  im  Balsam  montirt. 

^8) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.       69 

Nach  der  erwähnten  Doppelfarbungsmethode  tingiren  sich 
die  Kerne  der  Zellen  des  Bindegewebes ,  des  Gentralnerren- 
sysiems,  der  Ganglien  und  der  Epithelien  intensiv  blau.  Im 
fertigen  Enorpelgewebe  bleibt  die  Intercellnlarsubstanz  ungefärbt ; 
die  ZeUenkeme  färben  sich  intensiver  als  die  Kerne  des  Binde- 
gewebes. Die  Nervenfasern  nehmen  eine  ganz  schwache  rosige 
Farbe  an,  die  Muskelfasern  bleiben  roth  gefärbt. 

In  dem  Falle,  wo  sich  bereits  Knochen  vorfinden,  bleibt 
dieses  Gewebe  roth  gefärbt,  und  ist  daher  sehr  leicht  erkennbar. 

Aber  wo  am  meisten  die  Vortheile  der  Doppelfärbung  sich 
kundgeben,  das  ist  in  dem  Verhalten  der  Blutkörperchen.  —  Sie 
nehmen  eine  knpferrothe  Färbung  an,  mit  violettem  Kerne,  so 
dass  die  Blutgefässe  durch  deren  Anhäufung  eine  Farbe  be- 
kommen, die  sie  deutlich  auf  dem  blauen  Felde  des  Präparates 
hervortreten  lasst. 

Das  Carmin  hat  mir  ebenfalls  zuweilen  günstige  Resultate 
ergeben,  aber  in  den  meisten  Fällen  ist  es  mit  den  anderen 
Färbungsmethoden  nicht  zu  vergleichen. 

Asordnung  des  Themas  und  benutzten  Materials,  Terminologie. 

Wenn  man  sich  zur  Betrachtung  des  meisterhaften  Werkes 
Parkers  ('*)  über  die  Entwicklung  des  Schweinsschädels  an- 
schickt —  wo  der  directe  embryonale  Zusammenhang  des  Am- 
bosses mit  den  Elementen  des  zweiten  Kiemenbogens ,  und  nur 
mit  diesen  allein  bis  zur  Evidenz  bei  einer  langen  Serie 
von  Figuren,  die  in  ihren  kleinsten  Einzelheiten  durchgeführt 
sind,  dargestellt  erscheint  —  und  wenn  man  wieder  die  Arbeit 
Salensky's  {''^)  durchliest  —  woselbst  mit  gleicher  Ersicht- 
Uchkeit  nur  der  directe  Zusammenhang  zwischen  Hammer  und 
Ambos  dargestellt  ist  —  so  muss  uns  nicht  wenig  befremden, 
dass  zwei  so  bewährte  Autoren  in  einem  und  demselben  Gegen- 
stand zu  ganz  verschiedenen  Resultaten  gelangt  sind. 

Ich  habe  zwei  Arbeiten  beispielsweise  angeführt,  wo  die 
gezogenen  Schlüsse  diametral  entgegengesetzt  sind:  ich  könnte 
aber  noch  eine  ganze  Reihe  von  diesbezüglichen  Arbeiten  er- 
wähnen, wo  die  Folgerungen  und  die  beigegebenen  Figuren  eben- 
sowenig zusammenstimmen. 

O) 


70  Gradenigo. 

Die  einzige  Erklärnng  über  dieses  eigenthümliche  Vorkommniss 
wäre  die  Annahme,  dass  die  objectiven  Thatsachen,  bei  den  von 
den  Antoren  vorwiegend  nntersuchten  Entwicklangsstadien,  an  und 
fiir  sich  so  wenig  beweisend  nnd  charakteristisch  sind,  dass  sie 
sich  den  verschiedenartigsten  Hypothesen  anpassen,  und  dass  der 
Aator  sich  gewissennassen  gezwungen  sieht,  nach  einem  eigenen, 
meistens  durch  die  Ergebnisse  der  vergleichenden  Anatomie  er- 
langten Gesichtspunkte,  sie  zu  systemisiren  und  zu  vervollständigen. 
Auf  diese  Weise  wird  die  complicirte  Beobachtungsthatsache  nach 
einem  vorherbestimmten  Schema  zu  erklären  versucht,  und  der 
objective,  in  mancher  Beziehung  unbestimmte  Befund,  in  ein  be- 
stimmtes Resultat  umgewandelt. 

Indem  ich  an  diese  Arbeit  ging,  war  meine  erste  Sorge 
darauf  gerichtet ,  nur  auf  meine  Wahrnehmungen  gestützt ,  die 
eigene  Meinung  zu  begründen.  Dieses  leitende  Princip  liegt  auf 
die  Anordnung  der  ganzen  Arbeit  zu  Grunde. 

In  einem  ersten,  streng  objectiv  behandelten  Abschnitte 
werden  nur  die  beobachteten  Thatsachen  in  Kürze  zur  Darstellung 
kommen,  wie  sie  aus  der  sorgfältigen  Untersuchung  der  wichtig- 
sten Entwicklungsstadien  gewonnen  worden  sind. 

Nur  in  einem  zweiten  Abschnitte  werde  ich  solche  Resultate 
mit  den  Ergebnissen  der  vergleichenden  Anatomie  in  Beziehung 
bringen,  und  zugleich  die  Ansichten  anderer  Autoren  hierüber, 
welche  auf  diesem  dunklen  Gebiete  mir  vorangegangen  sind, 
durchprüfen  und  discutiren,  um  hierauf  zur  Aufstellung  einer 
einzigen  Lehre  zu  kommen. 

Die  allerersten  Stadien  der  Entwicklung  der  Gehörknöchel- 
chen wurden  von  mir  bei  einer  fortschreitenden  Reihe  von  Katzen- 
embryonen 

I.  Stadium  12 — 13  Mm.  Steissscheitellänge 

ni.      „      20         „ 

verfolgt.  Die  gemachten  Beobachtungen  wurden  bei  Kaninchen- 
embryonen (13  Mm.),  bei  Schweinsembryonen  (2  und  2*5  Cm.), 
bei  Hundembryonen  (2  Cm.)  controlirt. 

Für  ein  späteres  (IV.)  Stadium,  welches  bis  zur  Verknöcherung 
der  Skeletelemente  reicht,    kamen   eine  Reihe  von  menschlichen 

(10) 


Die  embiyonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.       ^  1 

Embryonen  (von  4 — 17  Cm.  Scheitelsteisslänge) ,  von  Schweins-, 
Kaninchen-,  Hnnd-  nnd  Mansembryonen  zur  Anwendung. 

.Terminologie.  Die  Embryonen  sind  in  aufrechter  Stellung 
gedacht. 

Die  Schnitte  wurden  nach  den  drei  Hauptebenen  geführt: 
horizontal,  sagittal  (verticalis  antero- posterior, 
parallel  der  Medianebene)  und  frontal. 

In  Betreff  der  Benennung  der  Eaemenbogen  glaubte  ich  auf 
die  Bezeichnungen  der  zwei  ersten  prä oralen  Bogen,  denen 
nur  eine  morphologische  Bedeutung  zukommt,  nicht  Rücksicht 
nehmen  zu  müssen;  die  Benennung  erster  und  zweiter  Kiemen- 
bogen  bezieht  sich  auf  die  postoralen  Bogen  im  Ganzen. 

Unter  der  Bezeichnung Hyoid- und  Mandibular z eil  en- 
gt ränge  verstehe  ich  die  künftigen  Skeletelemente  der  betreffenden 
Kiemenbogen  zur  Zeit  als  sie  noch  nicht  durch  Enorpelgewebe 
vertreten  sind.  Mit  der  Bezeichnung  Mandibular-  (MeckeTsche 
Knorpel)  uud  Hyoidbogen  (Reichert's  Knorpel)  beziehe  ich  mich 
anf  die  Skeletelemente  der  respectiven  Bogen. 

I.  Abtheilung. 

lägene  Unterstiohtingen. 

Meine  eigenen  Untersuchungen  beziehen  sich  hauptsächlich 
auf  das  Studium  der  embryonalen  Entwicklung  der  Skelettheile 
des  Mittelohres  (der  zwei  ersten  Kiemenbogen  und  der  periotischen 
Kapsel)  bis  zur  vollendeten  Verknorpelung,  und  der  Entstehungs- 
weise  des  tubo  tympanalen  Raumes. 

I.  Abaohnitt 

Die  Skeletelemente  des  Hittelohres. 

Was  die  Skeletelemente  betrifft,  scheint  es  mir,  um  die  folgende 
Darstellung  verständlicher  zu  machen,  sehr  geeignet,  vier  Ent- 
wicklungsstadien zu  unterscheiden,  nämlich: 
I.  Stadium.  —  Die  allererste  Anlage  der  Skeletelemente. 
n.  Stadium.  —  Die  vorknorpeligen  Skeletelemente. 

(11) 


72  Oradenigo. 

m.  Stadium.  —  Das  erste  Auftreten  des  Enorpelgewebes  (Ueber- 

gangsstadimn). 
.IV.  Stadium.  —  Die  knorpeligen  Skeletelemente. 

Alle  diese  Stadien  gehen  selbstredend  in  einander  tlber. 

I.  Stadium. 

Das  erste  Auftreten  der   vorknorpeligen  Skelet- 
anlage  (Eatzenembryo  12  Mm.). 

Dieses  Stadium  entspricht  der  allerersten  Anlage  der  Skelet- 
elemente.   Katzenembryo  12  Mm.  Scheitel-Steiss-Länge.^) 

Charakteristische  Merkmale.  Ausgesprochene  mesocephalische 
Krümmung ;  Kiemenbogen  und  Kiemenspalten  deutlich  entwickelt. 
Die  primitive  Augenblase  napfförmig,  durch  die  Linse  eingestülpt. 
Keine  Spur  yon  Pigment  im  äusseren  Blatte  der  secundären  Augen- 
blase. Die  Linse  ist  bei  manchen  Embryonen  noch  nicht  ganz 
vom  Ectoderm  abgelöst,  bei  anderen  jedoch  schon  blas^iförmig 
isolirt,  und  misst  in  ihrem  grössten  Durchmesser  0'2ö  Mm.,  in 
ihrer  Dicke  0*17  Mm. 

Der  Stiel  des  Nervus  opticus  noch  mit  einer  Höhlung 
versehen,  und  hat  gleich  hinter  der  Augenblase  einen  Durchmesser 
von  0*30  Mm.;  wovon  20  jx  auf  die  Höhlung  fallen. 

Die  ovale  Gehörblase  misst  an  der  Basis  in  horizontaler 
sagittaler  Richtung  0*75.  Nur  der  Ductus  endolymphaticus 
ist  schon  deutlich  abgeschnürt;  seine  Ausdehnung  in  sagittaler 
Richtung  beträgt  0*14,  in  frontaler  0-06. 

Skeletelemente.  Bei  diesem  Stadium  sind  einige  der 
künftigen  Skeletelemente  nur  in  Form  von  nicht  scharf  begrenzten 
Anhäufungen  runder,  gefärbter,  dick  aneinander  liegender  Zellen 
angedeutet,  welche  bei  schwacher  Vergrösserung  besser  hervor- 
treten. Die  Zellen  des  indiflferenten  embryonalen  Gewebes  sind 
weniger  dicht  aneinander  gelagert,  haben  eine  mehr  ovale  Gestalt, 
besitzen  einen  verhältnissmässig  grossen  Kern,  mit  spärlicher  Pro- 
toplasmahülle und  sind  mit  kurzen  Ausläufern  versehen. 


^)  Entspriclit  dem  von  Boettcher'*')  beschriebenen  Schafembryo,  13  Mm. 
Sch.-St.-Länge. 

*)  Boettcher,  Entwicklung  und  Bau  des  Gehörlabyrinths. 

fl2) 


Die  eMbryonale  Anlage  des  Mittalohres :  die  morphologische  Bedentung  etc.       73 

Die  Nervenganglien ,  die  wegen  der  Beachaffenheit  der  sie 
msammensetzeiiden  Zellen  mit  den  obgenannten  Zellenanhänfnngen 
der  ersten  Enorpelanlage  verwechselt  werden  könnten,  sind  jedoch 
durch  ihre  iniugen  Beziehungen  za  den  Nervenfasern  vollkommen 
nnterscheidhar.  Die  Nervenstriinge  selbst  treten  in  diesem  Stadium 
sehr  deutlich  hervor;  ihre  Fasern  färben  sich  durch  Eosin  rosenroth, 
so  dass  sie  in  klaren  Umrissen  auf  dem  mit  Hämatoxylin  gefärbten 
Fdde  erscheinen.  In  den  Nervenstämmen  verlaufen  die  einzelnen 
Fasern  nicht  parallel,  sondern  kreuzen  sich  vielfach  untereinander. 
Zwisehen  den  einzelnen  Fasern  ausgestreut,  finden  sich  in  relativ 
gmnger  Anzahl  Zellen  ohne  Fortsatz,  von  ovaler  Form  und  mit 
dem  grOssten  Durchmesser  in  der  Längsrichtung  des  Nerven 
angeordnet. 

Für  die  Benennung  der  graannten  Zellenanhäuftangen,  Anlage 
der  Skelet&eile,  wähle  ich  die  Bezeichnung  „vorknorpelige 
Anlage^,  welche  auf  das  zukünftige  Knorpelgewebe  hindeutet, 
oder  auch  ganz  einfach,  je  nach  der  Form,  die  Ausdrücke  Zell- 
hänfung,  Zellenstrang,  welche  sich  lediglich  auf  die  histo- 
logischen Charaktere  beziehen. 

Bei  dem  cephalischen  Ende  der  Eatzenembryonen  von  12  Mm. 
Scheitel-Steiss-Länge  finden  wir  angedeutet: 

a)  Die  vorknorpelige  Anlage  der  Wirbelsäule. 

h)  Die  ersten  Spuren  der  periotischen  Kapsel  um  die 
Gehörblase  herum,  welche  durch  einen  Hof  von  runden,  dicht  an- 
einander gednlngten  Zellen  repräsentirt  erscheinen,  die  besonders 
zahlreich  an  der  unteren  seitlichen  Wand  der  Gehörblase  vor- 
kommen. Von  diesen  müssen  die  ihnen  ähnlich  aussehenden 
Zdlen  an  der  unteren  medialen  Wand  streng  unterschieden  werden, 
die,  wegen  ihrer  Lage  und  der  innigsten  Beziehungen  zu  der 
Epithellage  des  künftigen  Ductus  cochlearis  als  erste  Anlage 
des  Ganglion  cochleare  aufzufassen  sind. 

c)  Von  den  Kiemen-Skeletelementen  lässt  sich  in  dieser  Periode 
an  dem  mittleren  äusseren  Abschnitte  des  ersten  Kiemenbogens 
auf  eine  kleine  Strecke  hin  ein  Zellenstrang  von  einer  Dicke  0*05 
verfolgen,  welcher  an  dem  dritten  Aste  des  fünften  Nervens  ventral 
liegt    Gegen  das  distale  Ende  des  Kiemenbogens  wie  auch  gegen 

(18) 


74  Gradenigo. 

das  proximale  geht  der  genannte  Zellenstrang  in  das  nndiegende 
Gewebe  allmälig  über. 

An  den  Wurzeln  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  finden  sich 
unregelmässige  Anhäufungen  von  runden  und  intensiv  gefärbten 
Zellen  vor. 

Topographie  der  Eopfgebilde:  Gefässe.  Indem 
ich  mir  vorbehalte  bei  der  Beschreibung  des  nächsten  Entwicklungs- 
stadiutiis  über  die  Topographie  der  embryonalen  Eopfgebilde  aus- 
führlich zu  sprechen,  um  dieselben  auch  mit  der  Anlage  der 
Skelettheile  in  Beziehung  bringen  zu  können,  will  ich  hier  nur 
hervorheben,  dass  die  Jugularvene  eine  mächtige  Ausdehnung 
aufweist,  dass  sie  seitlich  die  ganze  Hälfte  des  Eopfes  einnimmt, 
gegen  hinten  zu  die  Ganglien  des  9.  und  10.  Nervenpaares  nach 
aussen  abgrenzt,  und  vorne  gegen  das  Ganglion  Gasseri,  welches 
relativ  stark  entwickelt  erscheint,  hineinragt. 

Die  künftigen  Carotiden  sind  verhältnissmässig  von  geringeren 
Dimensionen,  und  steigen  mit  bogenförmigem  Verlauf  an  den  beiden 
Seiten  der  Medianlinie  in  der  hinteren  Wand  des  Darmcanals 
nach  oben,  um  in  die  Schädelhöhle  einzudringen.^) 

Aus  dem  Studium  an  Eatzenembryonen,  12  Mm.  Scheitelsteiss- 
länge,  welche  die  allererste  Anlage  der  Skeletelemente ,  von  mir 
als  erstes  Stadium  der  Entwicklung  bezeichnet,  darbieten,  ist  fol- 
gendes ersichtlich: 

I.  Enorpelgewebe  findet  sich  noch  nicht  vor,  die  künftigen 
Skelettheile  sind  nur  durch  Zellenankäufungen  und  Zellenstränge 
dargestellt. 

n.  Von  den  Skeletelementen  der  zwei  ersten  Eiemenbogen 
ist  nur  eüi  Abschnitt  des  ersten  (mandibularen)  Bogens,  seinem 
proximalen  Ende  entsprechend,  angedeutet. 

m.  Die  vorknorpelige  Anlage  der  periotischen  Eapsel  ist 
besonders  gut  an  der  lateralen  unteren  Wand  der  Gehorblase  an- 
gedeutet. 


')  Die  Katzenembryonen  von  13  Mm.  St.-Scli.-Läiige  zeigen  keine  merk« 
liehen  Unterschiede  an  jenen  schon  beschriebenen  in  der  Länge  von  12  Mm. 


(14) 


Die  embiyonale  Anlage  des  Hittelohres :  die  morphologiselie  Bedeutung  etc.        75 

n.  Stadiom. 

Die  Torknorpeligen  Skeletelemente  (Katzenembryo 

15  Mm.). 

Die  Skeletelemente  sind  nur  von  Zellenanfaäu- 
fnngen  dargestellt;  keine  Spar  von  Enorpelgewebe. 
Katzenembryo  15  Mm.  Scheitelsteisslänge.^) 

CharakteristischeMerkmale:Mesocephalische'Ertim- 
mong  nocb  dentlicb  anngesprochen ;  der  Orbitalfortsatz  ist  lateral- 
wärts  mit  dem  Mandibniarbogen  yerschmolzen ;  der  gut  entwickelte 
Xasalfortsatz   begrenzt  nach  oben  die  Mundbucht;   die  Eiemen- 
Bpalten  sind  bereits  fast  geschlossen.  —  Im  Auge  durchsetzt  das 
Pigment  das  äussere  Blatt  der  secundären  Augenblase   in  seiner 
ganzen  Dicke ;  die  Linse  ist  von  dem  Ectoderm  durch  eine  meso- 
dermatische  Schichte  getrennt,    die  beiläufig  20  [Jt.  dick  ist;    die 
Lause  besitzt  in  der  Richtung  der  optischen  Achse  eine  Höhe  von 
mgefahr  0*25,  und  in  einer  zu  dieser  Achse  senkrecht  gelegenen 
Ebene  einen  Durchmesser  von  0*40;   der  Stiel  des  Nervus  op- 
ticus weist  jetzt  kaum  eine  Spur  einer  Höhlung  auf.  Die  Labyrinth- 
blase hat  nunmehr  eine  gut  ausgesprochene  Anlage  ihrer  einzelnen 
Theile.  Der  Ductus  endolymphaticus  (Fig.  3,  D.  E.)  ist  über  einen 
Millimeter  lang;   er   zeigt  jedoch  an  seinem  oberen  Ende  keine 
merkliche  Erweiterung ;  seine  Eriimmung  ist  immer  mit  einer  nach 
aussen  sehender  Convexität;  seine  Mündung  ist  im  Begriff ,  sich 
senkrecht   zur  Labyrinthblase  zu  stellen.  Unterhalb  der  Mündung 
bemerken  wir  schon  die  ersle  Anlage  des  Sacculus  rotundus 
(Fig.  3,  Sac.).    Indem   sich  der  Canalis  cochlearis   (Fig.  3, 
Ca.  Goch.)  gegen  vorne  und  medianwärts  krümmt,  gelangt  er  zu 
einer  Entfernung  der  Medianlinie  von   ungefähr   0*30  Mm.   Hier 
wendet  er  sich  auf  eine  kleine  Strecke  hin  nach  oben  und  aussen, 
ohne  aber   eine   ganze  Windung  voll  zu  machen.   Die  einzelnen 
Theile  der  Labyrinthblase  messen: 

Ductus  endolymphaticus  (Fig.  3,  D.  E.).     .     .     .     l'OO  Mm. 

Der   lange    Schenkel   des   verticalen   halbzirkel- 
förmigen  Canälchens  (Fig.  3,  C.  s.  s.)     .     •     .    0*65     „ 

')  £at0pricht  einem  mittlereii  Stadium  swiacben  den  von  B  oettoher 
ftbgeUldetaa  Schafembryonen  von  2  Cm.  und  2*20  Om. 

(15) 


76  Gradenigo. 

Der  kurze  Schenkel  desselben 0*32  Mm. 

Das  Lumen  des  oberen  Canälehens,  nahe  der  Basis    0'15     „  ^ 

Die  Höhe  des  Canalis  semicircularis  ex- 

ternus  (C.  s.  ex.) 0-20    „ 

Das  Lumen  desselben  nahe  der  Basis  ....    0'20     „ 
Das  Skelet   erscheint   nur  in  Form   der   schon  vorher   be- 
schriebenen Zellenanhäufungen,   die  in  diesem  Stadium  schärfer 
heryortreten ;  keine  Spur  von  eigentlichem  Enorpelgewebe. 

Topographie  der  Eopfgebilde.  Bevor  ich  zur  Be- 
schreibung der  Gestaltung  der  SkeleteleuKente  der  zwei  ersten 
Eiemenbogen  und  der  periotischen  Kapsel  übergehe,  welche  auf 
dieser  Entwicklungsstufe  höchst  wichtige  Details  aufweisen,  scheint 
es  mir  am  Platze  zu  sein ,  Einiges  über  die  Topographie  der 
embryonalen  Eopfgebilde  im  Allgemeinen  zu  schildern. 

Nervengebilde.  Das  erste  Paar  steigt  nach  unten  an 
beiden  Seiten  der  medianen  Linie,  um  in  Beziehung  zu  dem 
Epithel  der  Gerachsgruben  zu  treten.  Der  Trigeminus  tritt 
aus  dem  Nachhirn  fast  in  der  Höhe  der  Augen  heraus,  und 
bildet  gleich  das  beträchtlich  entwickelte  Ganglium  Gasseri 
(Fig.  5,  5  A  u.  21 A,  G.  G.).  Dieses  Ganglion  liegt  nur  circa 
0'20  vor  der  Austrittsstelle  des  fünften  Nervens,  unterhalb  und 
nach  hinten  vom  Auge  (Fig.  5  u.  5  A.  0.)  von  innen  zu  von  der 
Jugularis  begrenzt  (Fig.  5  u.  5  A,  Sagittalschnitte  Ju.). 

Aus  seiner  vorderen  Convexität  entspringen  seine  drei  Aeste. 
Von  diesen  zieht  der  erste  gegen  das  Auge  zu;  der  zweite  ver^ 
läuft  direct  nach  vorne  in  den  Orbitalfortsatz  des  ersten  Eiemen- 
bogens,  auf  einer  geraden  Strecke  von  1*10  Mm.  (Fig.  6A  und 
20  A :  y  ^) ;  der  dritte  wendet  sich  in  schiefer  Bichtnng  nach 
unten  und  aossen  und  verläuft  längs  des  ersten  Eiemenbogens 
(Fig.  5  A  V»,  Fig.  20,  20  A,  21,  21  A :  V«).  0  Nachdem  er  sich  bis 
zu  einer  Entfernung  von  1  Hm.  der  Medianlinie  gelangt,  theilt 
er  sich  dorsalwärts  von  dem  MeckeFschen  Fortsatze  in  drei 
Zweige:  der  eine  verläuft  direct  nach  aussen,  der  andere  setzt 
sich    entlang   der  Aussenseite  des  MeckeFschen  Zellenstranges 


^)  Die  Fig;are]i  steUen  frontale  Scknitte  dar;  die  mit  A  beaeiehneten  ent- 
iprechen  weiter  nach  hinten  gelegenen  Ebenen. 


Die  emfaiTOiiAle  Anlage  des  Mittalohres :  die  morphologische  Bedentimg  etc.       77 

nach  Yorne  fort,  nm  dann  gegen  die  Oberfläche  des  ersten  Kiemen- 
bogens  sich  der  Beobachtung  zu  entziehen ;  der  dritte  endlich,  zu 
welchem  die  Chorda  tympani  hinzutritt,  zieht  an  der  inneren 
Seite  des  genannten  Stranges  nach  vorne.  (Vergl.  Fig.  5  A ,  wo 
der  Mandibularbogen  mit  Mn.  und  die  Chorda  tympani  mit  Ch.  ty. 
bezeichnet  ist.) 

Der  siebente  NeiT  tritt  aus  einer  Stelle  des  Nachhims 
heraus,  die  etwas  seitlich  von  der  Wurzel  des  fünften  Nervens^ 
liegt.  Die  Entfernung  zwischen  dem  hinteren  Rande  der  benannten 
Wurzel  und  dem  vorderen  Bande  des  achten  beträgt  0*15  Mm. 

Gleich  hinter  dem  siebenten  Nerv  tritt  aus  dem  Nachhim 
der  achte  Nerv  (Fig.  5  u.  5  A,  Sagittalschnitt  VIII). 

Die  Fasern  der  zwei  Nerven  und  deren  Ganglien  können  schon 
in  diesem  Entwicklungsstadium  von  einander  unterschieden  werden» 

Drei  ziemlich  deutlich  hervortretende  Ganglien  finden  sich 
vorne  und  oberhalb  der  Convexität,  welche  von  der  Krümmung 
des  Canalis  cochlearis  gebildet  wird. 

Ein  Ganglion,  von  ovaler  Form,  liegt  ganz  vorne  (G  a  n  g  1  i  u  m 
cochleare,  acusticum  anticum).  Das  andere,  mehr  abge- 
nmdet  und  dicker,  gleich  hinter  dem  ersten  (Ganglium  vesti- 
buläre seil  acusticum  posticum).  Lateralwärts  von  den 
zwei  genannten,  entsprechend  der  Verlängerung  ihres  Zwischen- 
nunnes,  liegt  das  dritte,  welches  rundlich  und  kleiner  erscheint, 
and  mch  von  den  anderen  durch  die  Grösse  seiner  Zellen  unter- 
scheidet (Ganglium  faciale). 

Die  vorderen  Nervenfasern,  welche  ganz  vorne  am  Nachhim 
entspringen,  gehören  dem  siebenten  an,  und  verlaufen  zwischen 
den  zwei  Ganglien  des  Acusticus  hindurch,  um  ihr  eigenes 
Ganglion  zu  erreichen.  Die  gleich  hinter  denselben  heraustretenden 
Fasern  verlaufen  quer  gegen  das  hintere  Ganglion  des  A  c  u  s  t  i  c  u  s, 
tmd  werden  in  charakteristischer  Weise  von  den  hintersten  Wurzeln 
unten  durchkreuzt,  welche  in  einer  nach  vorne  schiefen  Richtung 
za  dem  vorderen  Ganglion  des  Acusticus  gelangen.^) 

')  Damit  ist  der  Beweis  geliefert,  dass  die  sogenannte  hintere  Aon- 
stienswnrzel  mit  der  Cochlea  (Nervns  cochlearis),  nnd  die  vordere 
ait  dem  Yorhof  nnd  den  Canale|8  semicircnlares  (Nervns  vesti- 
knlari  s)  im  Znsammenhange  stehen. 

Med.  JahrbOcher«  1887«  7     ^7) 


78  Gradenigo. 

Der  Facialis  steigt  von  vorne  nach  hinten  nnd  von  innen 
nach  aussen,  indem  er  die  Jugularvene  durchkreuzt  (Fig.  5,  VII). 
Die  Chorda  tympani  (Fig.  24,  Ch.  ty.)  löst  sich  fast  recht- 
winklig vom  Facialisstamm  (VII)  ab,  und  verläuft  nach  vorne  nnd 
oben  von  einem  arteriellen  Gefässast  begleitet  (vergl.  Fig.  2,  3, 
4,  horizontale  Schnitte ;  Fig.  5 ,  6 ,  sagittale  Schnitte ;  Fig.  22, 
22  A,  23,  frontale  Schnitte  :  Ch.  ty.). 

Von  den  complicirten  Verhältnissen,  die  der  genannte  Nerv 
mit  dem  zweiten  Kiemenbogen  eingeht,  wird  später  ausführlich 
besprochen  werden. 

Die  letzten  Paare  der  Hirnnerven  folgen  sich  in  der  bekannten 
Anordnung  aufeinander. 

Das  Ganglion  des  neunten  Nervens,  welches  gleich  unter- 
halb der  Labyrinthblase  liegt,  wird  nach  aussen  von  der  Jugu- 
laris  und  nach  innen  von  der  Carotis  begrenzt  (vergl.  Fig.  5  A)  5 
«es  entsendet  nach  oben  zu  in  paralleler  Richtung  zur  Carotis 
einen  beträchtlichen  Strang  (Jacobson's  Ast). 

Gefässe.  Die  Vena  Jugularis  hat  im  Vergleich  zudem 
früheren  Stadium  viel  an  Umfang  abgenommen,  und  erscheint  in 
Tolge  des  ansehnlichen  Zuwachses  der  Gehörblase  nach  aussen 
vorgedrängt.  Sie  behält  jedoch  unterhalb  der  Gehörblase  ein  noch 
ziemlich  erweitertes  Lumen,  welche  Stelle  vielleicht  als  Andeutung 
<les  künftigen  Bulbus  angesehen  werden  könnte  (Fig.  22  und 
22A:  Ju.). 

Sie  steigt  seitlich  von  der  Gehörblase  hinauf,  und  kommt  an 
demCanalis  semicircularis  externus  vorüber  (vergl.  die 
Reihe  von  unten  nach  oben  der  horizontalen  Schnitte,  die  von  den 
Fig.  1,  2,  3,  4  dargestellt  sind,  und  die  sagittalen  Schnitte  Fig.  5 
und  6 :  Ju.),  um  dann  nach  innen  und  vorne  umzubiegen  und  von 
innen  her  das  Ganglion  Gasseri  zu  begrenzen  (Fig.  5  Ju.). 

Die  Carotis  steigt  entlang  der  Medianlinie  an  der  hinteren 
Wand  des  Darmcanals  (Fig.  1  Ca.);  biegt  sich  nach  aussen  und 
hinten,  und  gibt  in  der  Höhe  des  vorderen  Endes  des  Canalis 
cochlearis  einen  kurzen  Ast  ab,  welcher  sich  bald  verzweigt 
(bei  der  Fig.  2  wurde  dieser  Ast  der  Länge  nach  getroflfen);  ein 
Arm  steigt  nach  hinten  (Arteria  stapedialis)  (Fig.  3,  A.  st.), 
der  andere  begibt  sich  nach  unten  und  hinten  und  geht  zwischen 

(18) 


JÜe  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentang  etc.       7  9 

Jagolaris  und  Facialis  durch  (Arteria  hyoidea)  (Fig.  1  und  Fig.  6, 
A.  hy.).  Die  Arteria  stapedialis  durchbohrt  den  Annulns 
Stapedialis,  von  welchem  später  die  Rede  sein  wird  (Fig.  4, 
A.  St.),  üiid  theilt  sich  wieder  in  zwei  Aeste,  von  welchen  der 
Yoidere  gegen  das  Auge  zu  verläuft.  Auch  von  den  complicirten 
Verhältnissen  ,  welche  die  Jugularis  und  die  Carotis  in  der  seit- 
liehen Gegend  des  Schädels  darbieten,  soll  später  ausführlich  die 
Bede  sein. 

Die  Carotis  selbst,  nachdem  sie  die  erwähnten  Verzweigungen 
abgegeben  liat,  wendet  sich  neuerdings  nach  vorne  und  innen,  um 
hierauf  nach  hinten  mit  fast  rechtwinkliger  Biegung  in  die  Schädel- 
höhle einzudringen,  wo  sie  in  der  bekannten  Weise  zur  Bildung 
des  Circulus  Willisii  beiträgt. 

Skeletelemente.  Periotische  Kapsel.  Um  die  Gehör- 
blase herum  hat  die  Schichte  der  rundlichen  Zellen  in  Vergleich 
zum  früheren  Entwicklungsstadium  an  Dicke  zugenommen,  und 
beträgt  an  der  dicksten  Stelle,  nämlich  entsprechend  dem  C  a  n  a  1  i  s 
semicircularis  externus  (C.  s.  ex.)  0*20  Mm.  An  dem 
hinteren  Abschnitte  der  Blase  erscheint  diese  Schichte  dünner, 
mid  ist  kaum  an  der  Seite  des  Nachhims  wahrnehmbar  (Fig.  2 
und  3).  Keine  Spur  von  Labyrinthfenstem. 

Kiemenskelet.  Mandibularer  Zellenstrang.  In  der 
Dicke  des  ersten  Kiemenbogens  eingebettet  findet  sich  beiderseits 
ein  gut  markirter  Zellenstrang  (Fig.  21  und  21  A  :  mn.).  Sein 
distales  Ende  reicht  nicht  bis  zur  Medianlinie,  endet  aber  mit 
dner  geringen  Krümmung  gegen  oben  in  einer  Entfernung  von  0*30 
Ton  derselben. 

Die  beiden  Zellenstränge  verlaufen  parallel  zum  Kiemenbogen, 
d.  i.  in  schiefer  Richtung  von  hinten  und  oben  nach  vorne  und 
unten.  Die  Grösse  ihres  Durchmessers  beträgt  ungefähr  0*15  Mm. ; 
se  zeigen  eine  verdickte  Stelle  an  dem  Niveau  des  vordersten 
Theiles  der  Gehörblase. 

Der  dritte  Ast  des  5.  Nervens  steigt  von  der  Convexität 
des  Ganglion  Gasseri  nach  unten  entlang  der  dorsalen  Seite  dieses 
mandibularen  Bogens  (Fig.  21  V^),  und  theilt  sich  in  seinen  drei 
Aesten  in  einer  Entfernung  von  0*25  Mm.  vom  Darmrohre,  und 
0*40  von  Ectoderm. 

7*    (19) 


gQ  Gradenigo. 

Hyoidbogen.  In  dem  zweiten  Eiemenbogen  verläuft  der 
Hyoidzellenstrang  an  seiner  äusseren  Seite  von  dem  Facialis  be- 
gleitet (Fig.  21,  21 A,  22,  22  A.  Hy.). 

Proximale  Enden  derzwei  ersten  Kiemenbogen. 

Das  Verhalten  der  proximalen  Enden  der  Eiemenbogen, 
welche  die  seitlichen  Theile  der  Labyrinthkapsel  erreichen,  wird 
besser  an  der  Hand  einzelner  Schnitte  auseinandergesetzt. 

Wir  werden  zuerst  die  horizontalen,  dann  die  sagittalen 
Schnitte  studiren. 

Horizontale  Schnittserie  aus  144  Schnitten  be- 
stehend, senkrecht  auf  der  Chorda  und  von  unten 
beginnend: 

Schnitt  78  (Fig.  1).  —  Von  der  Gehörblase  ist  nur  deren 
hinterster  und  tiefster  Theil  getroflfen,  entsprechend  der  Anlage 
für  die  verticalen  Bogengänge  (Ca.  v.).  An  ihrem  vordersten 
Abschnitte  beginnt  schon  das  Ganglium  acusticum  sichtbar 
zu  werden.  Die  Jugularis  (Ju.)  welche  in  ihrem  grössten  Sagittal- 
durchmesser  0*75  misst,  befindet  sich  aussen  und  etwas  nach 
vorne  von  der  Labyrinthblase,  und  liegt  der  vorknorpeligen  perio- 
tischen  Eapsel  an.  Vorne  und  medialwärts  der  Jugularis  trifft 
man  auf  drei  Gefässlumina :  Am  vordersten  die  Carotis  (Ca.) 
(Durchmesser  0*20  Mm.),  weiter  hinten  einen  arteriellen  Stamm  der- 
selben (A.  hy.),  den  man  in  den  unteren  Schnitten  lateralwärts 
von  der  Jugularis  verfolgen  kann  (Arteria  hyoidea)  (Vgl.  Fig.  6  A.  hy.) ; 
mehr  nach  aussen  ein  kleiner  Ast  (A.  mn.),  welcher  die  Chorda 
tympani;  wie  aus  der  Fig.  2  ersichtlich,  in  den  mandibularen 
Bogen  begleitet  (Arteria  mandibularis). 

Der  Canalis  tubo-tympanicus  (C.tu.  ty.,  Fig  1)  setzt 
sich  in  dem  Darmcanal  (Ca.  i.)  fort,  und  zeigt  in  einer  Entfernung 
von  0'25  von  der  Medianlinie  eine  engere  Stelle,  erweitert  sich 
dann  wieder,  indem  er  nach  hinten  umbiegt,  und  reicht  mit 
seinem  hinteren  Ende,  welches  ungefähr  1*12  Mm.  von  der  Me- 
dianlinie weit  absteht,  bis  zu  0*28  vom  vorderen  Rande  der 
Vena  jugularis. 

In  dem  zweiten  Eiemenbogen  verläuft  der  hyoidale  Zellen- 
strang (Hy.),  ziemlich  gleichmässig  dick  (Dicke  0*10),  parallel  und 
seitwärts  von  der  Tubalspalte  (C.  tu.  ty.).  Im  Niveau  des  hintersten 

(80) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohies :  die  morphologische  Bedeutung  etc.       8 1 

Ende  der  Tuba  legt  er  sich  vor  dem  Facialisstamm  (VII) ;  weder 

sein   distales,   noch   sein   proximales  Ende   kommen  in  diesem 

Sdinitt  vor. 

Schnitt  81  (Fig.  2).  Ausser  der  Anlage  flir  die  verticalen 

Bogengänge  (Ca.  s.),  finden  wir  hier  die  Anlage  des  Canalis 

semicircnlaris  externus(C.  s.  ex.),  und  des  Canalis  coch- 

leari8(C. coch.), nndeinStückdesDuctus  endolymphaticus 

(D.  e.). 

Das   Lumen   der    Jugularis    (Ju.)    ist    enger    geworden 

(sagittaler  Durchmesser  0*47),  und   das  Gefäss  selbst  ist  nach 

Tome  gerückt,  so  dass  sein  hinterstes  Band  von  dem  Canalis 

semicircnlaris  externus  beiläufig  0*12  absteht. 

Das  im  vorhergehenden  Schnitte  als  Arteria  hyoidea 
beschriebene  Gefass  (A.  hy.)  ist  an  der  Stelle,  wo  es  in  den  zur 
Carotis  führenden  Ast  einmündet,  den  es  mit  der  Arteria  sta- 
pedialis  gemein  hat,  getroffen.  Die  Arteria  mandibularis 
ist  an  zwei  Stellen  ihres  Verlaufes  getroffen,  und  zieht  lateralwärts 
der  Chorda  tympani  (Ch.  ty.)  nach  aussen  zu.' 

Der  tubo-tympanale  Kaum  ist  enger  als  in  dem  vorherbe- 
schriebenen  Schnitt,  besonders  gegen  das  Endstück  zu,  wo  die  zwei 
Epithelschichten  untereinander  in  Berührung  kommen  (Ca.  tu.  ty.). 

Von  dem  Hyoidbogen  finden  wir  lateralwärts  der  Tuba 
(Ca.  tu.  ty.)  und  der  Facialis  (VII),  und  vor  der  Jugularis  (Ju.) 
nur  einen  nmden  Abschnitt  seines  proximalen  Ende. 

Schnitt  83  (Fig.  3).  Die  Labyrinthblase  ist  vollgetroffeh. 
Es  fehlt  nur  die  äusserste  Spitze  des  Canalis  cochleäris 
(Ca.  coch.),  der  nach  vorne  und  oben  zu  gewendet  ist.  Wir 
finden  den  ganzen  Ductus  endolymphaticus  (D.  e.),  die 
Anlage  der  oberen  Bogengänge  (C.  s.  s.),  des  Canalis  semi- 
circnlaris externus  (C.  s.  ex.),  des  Canalis  cochleäris 
(Ca.  coch.). 

Die  Jugularis  bietet  keine  merkliche  Veränderungen  in  ihrer 
Grösse  und  Lage  (Ju.).  Das  hinterste  Ende  des  tubo-tympanalen 
Raumes  befindet  sich  jetzt  1*40  von  der  Medianlinie  entfernt 
(Ca.  tu.  ty.). 

Von  dem  kurzem,  früher  besprochenen  Gefässaste,  von  welchem 
sich  früher  die  Arteria  hyoidea  abgetrennt  hatte,  zweigt  sich 

(21) 


g2  Gradenigo. 

jetzt  gegen  oben  und  hinten  zu  die  Arteria  stapedialis  ab 
(A.  8t.).  An  ihrem  hinteren  Rande  legt  sich  der  Hyoidzellenstrang 
(Hy.)  in  Form  eines  Halbkreises  mit  der  Concavität  nach  yome. 
Der  Facialisstamm  liegt  jetzt  gerade  hinten  (VII). 

Die  topographischen  Verhältnisse  des  genannten  Halbkreises 
können  durch  die  folgenden  Maasse  dargestellt  werden: 
Entfemnng  des  hinteren  Randes  des  Halbringes 
von  dem  vorderen  Schenkel  der  äusseren  Bogen- 
gänge (C.  s.  ex.) 0-42  Mm. 

Entfemnng  des  hinteren  Randes  des  Halbringes 

von  dem  Stamme  des  N.  Facialis,  kaum    .     .     .  15  (/. 
Entfernung  des  medialen  Randes  des  Halbringes 

von  der  later.  Wand  der  Labyrinthblase    .    .    0*25  Mm. 
Entfernung  des  medialen  Randes   von  der  vor- 
knorpeligen periotischen  Kapsel 0*08      „ 

Letztere  ist  also  0*17  dick. 

Bei  der  Fig.  3  ist  noch  zu  sehen  die  Chorda  tympani  (Ch.  ty.), 
die  Chorda  dorsalis  (Ch.  d.),  der  Darmcanal  (C.  i.). 

Schnitt  85  (Fig.  4).  Die  Labyrinthblase  hat  in  ihren  Di- 
mensionen abgenommen.  Der  Ductus  endolymphaticus 
ist  nur  an  seiner  Spitze  getroffen  (D.  e.). 

Der  von  dem  Hyoidbogen  um  die  Art.  stapedialis  herum 
(A.  st.)  gebildete  Ring  ist  complet  entwickelt;  er  hat  einen 
Durchmesser  von  0*17,  und  eine  ziemlich  gleichmässige  Dicke 
von  0*025  Mm. ;  an  seiner  vorderen  und  lateralen  Seite  kann  eine 
etwas  dunklere  runde  Zellenanhäufung  beobachtet  werden:  An- 
nulus  stapedialis  (An.  st.).  Das  arterielle  Lumen  ist  von  ovaler 
Form  mit  dem  grössten  Durchmesser  (0*08  Mm.)  nach  vorne  gegen 
die  Carotis  zu  gerichtet.  Zwischen  der  Peripherie  des  stapedialen 
Gefässes  und  dem  inneren  Rande  des  besser  gefärbten  Ringes 
ist  eine  Schichte  von  Gewebe  aus  blasseren  oder  weniger  dicht 
aneinanderliegenden  Zellen  zu  sehen. 

Die  Entfernung  zwischen  Arteria  stapedialis  (A.  st.)  und 
Carotis  (Ca.)  beträgt  in  dieser  Höhe  0*22  Mm.  Das  hintere  Ende 
der  tubo-tympanalen  Spalte  reicht  bis  zum  Niveau  des  hinteren 
Randes  des  Ringes,  und  steht  von  diesem  circa  0*12  ab.  Die  Ent- 
fernung dieses  Endes  von  der  Medianlinie  ist  ungefähr  1*50  Mm. 

(22) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelobres :  die  morphologische  Bedentnng  etc.       83> 

Der  Ring  ist  jetzt  mittelst  seiner  medialen  Wand  mit  der 
Anlage  der  periotischen  Kapsel  in  Berührung;  liegt  immer  vor 
dem  yil,  nnd  der  Jngularis  (Ju.). 

Schnitt  90.  —  Von  den  Labyrinthgebilden  erscheinen  hier  nur 
der  oberste  Theil  der  verticalen  Bogengänge  und  die  Spitze  des 
Canalis  cochlearis.  Zwischen  diesen  beiden  Theilen liegen  die 
Ganglien  des  Acusticns  nnd  besonders  tritt  das  Ganglium  coch- 
learis hervor,  dessen  Nervenfasern  in  schiefer  Richtung  verlaufen. 

Der  Facialisstamm,  welcher  vor  der  Jugularis  sich  befindet, 
zeigt  lateralwärts  einige  grosse  Ganglienzellen.  Um  die  Arteria 
Stapedialis  ist  keine  Spur  mehr  von  einem  Ringe  zu  sehen.  In. 
dieser  Höhe  ist  der  Hyoidbogen  nicht  mehr  zu  treffen,  und  der 
Mandibulare  noch  nicht  zum  Vorschein  gekommen.  Das  hinterste 
Ende  des  tubo-tympanalen  Raumes  findet  sich  TöO  Mm.  von  der 
Medianlinie  entfernt  und  nur  0*15  von  der  Einsenkung  des  äusseren 
Gehöiganges. 

Ans  der  Untersuchung  der  weiter  nach  oben  geführten  Schnitte 
ist  bezüglich  des  Mandibularbogens  folgendes  zu  bemerken: 

Der  Mandibularbogen  in  Gestalt  eines  Zellenstranges  (von 
der  Dicke  0*10}  kommt  zu  Gesicht  in  der  Höhe  des  obersten 
Theües  der  Acusticnsganglien ,  in  welcher  Ebene  die  Labyrinth- 
blase ganz  aufgehört  hat. 

Sein  proximales  Ende  ist  weniger  deutlich  markirt,  und  kann 
nach  hinten  nur  bis  zum  Niveau  des  Endstückes  des  tubo-tym- 
panalen  Raumes  verfolgt  werden. 

Wenn  wir  kurz  das,  was  aus  den  beschriebenen  horizontalen 
Schnitten  zu  entnehmen  ist,  zusammenfassen,  können  wir  sagen: 

Das  proximale  Ende  des  Eyoidbogens  wendet  sich  nach  oben, 

vome  nnd  medialwärts,   legt  sich  vor  dem  Facialis  und  vor  der 

Jugolaris  an  der  hinteren  Wand  eines  arteriellen  Gefässes  (Arteria 

stapedialis)  an  und  weiter  oben  bildet  es  um  dieses  Gef äss  herum 

einen  vollständigen  Ring  (Annulus  stapedialis).  Dieser  Ring  stellt 

das  proximale  Ende  des  Hyoidzellenstranges  dar,  und  tritt  ziemlick 

weit  nach  vorne  von  der  Anlage  des  Ganalis  semicircularis  extemus 

mit  der  Anlage  der  periotischen  Kapsel  in  Berührung.  Der  stape- 

diale  Bang   bietet   in   diesem  Entwicklungsstadium  keine   innige 

Bezieliimg'  zu  dem  proximalen  Ende  des  I.  Kiemenbogens  dar. 

(88) 


S4  Gradenigo. 

Die  Arteria  stapedialis  stammt  von  der  Carotis  gemeinsam 
mit  der  Arteria  liyoidea  ab,  welche  in  den  zweiten  Eiemenbogen 
nach  nnten  verläuft. 

Sagittale  Schnitte.  Die  Prüfung  einiger  in  sagittaler 
Bichtnng  geführter  Schnitte  ist  geeignet,  die  Erkenntnisse  über 
das  Verhalten  des  proximalen  Endes  des  Hyoid-  und  Mandibular- 
bogens  zu  vervollständigen. 

In  den  mehr  lateral  gelegenen  Schnitten  kommt  zuerst  das 
proximale  Ende  des  Mandibularbogens  zum  Vorschein:  in  den 
mehr  medialwärts  geführten  Schnitten  trilBRt'  man  auch  das  proxi- 
male Ende  des  Hyoidbogens.  Zwischen  diesen  zwei  Gebilden  beträgt 
die  verticale  Entfernung  0*70  Mm. 

Sagittale  Schnittreihe  aus  51  Schnitten  beste- 
hend  und  von  aussen  beginnend. 

Schnitt  17  (Fig.  5).  Die  Labyrinthblase  zeigt  eine  An- 
deutung der  halbzirkelfbrmigen  Canälchen  fCa.  s.  s.),  ferner  nach 
vorne  hin  das  Anfangsstiick  des  Ganalis  cochlearis,  und 
hinten  einen  Abschnitt  des  Ductus  endolymphaticus  (D.e.). 

Ventral  von  der  Blase  bemerkt  man  die  V.  jugularis  (Ju.), 
die  der  Länge  nach  getroflFen  erscheint,  und  die  gegen  oben  aus 
dem  Bereiche  des  Schnittes  heraustritt,  indem  sie  sich  medial- 
wärts wendet.  Man  nimmt  auch  den  mehr  lateralwärts  gelegenen 
Theil  des  Ganglium  Gasseri  wahr  (G.G.). 

Ventral  von  der  Vena  jugularis  findet  sich  der  Facialis- 
stanmi ,  welcher  deren  Verlaufsrichtung  kreuzt.  Der  Verlauf  des 
achten,  und  theils  dieser  des  siebenten  Nervens  ist  durch  punk- 
tirte  Linien  nach  den  nächst  gelegenen  Schnitten  angedeutet. 
Vor  dem  Facialis  ist  die  obere  Partie  des  Hyoidbogens  (Hy.),  die 
nach  vorne  und  oben  gewendet  erscheint;  das  proximale  Ende 
Wegt  sich  medialwärts,  und  wurde  daher  nicht  von  dem  Schnitte 
getroflFen. 

Der  tubo-tympanale  Raum  ist  in  seinem  hintersten  Ende  ge- 
troflTen.  Ventral  von  diesem  finden  wir  die  Chorda  tympani  (Ch.  ty.), 
•deren  Abzweigung  von  dem  Facialisstamm  in  den  mehr  lateral- 
wärts gelegenen  Schnitten  erkenntlich  war.  Ganz  oben  und  vorne 
den  lateralen  Theil  des  proximalen  Endes  des  mandibularen 
Bogens  (Mn.). 


Die  embryouale  Anlage  des  MiUelohres :  die  morphologische  Bedentung  etc.       85 

Die  Endstücke  der  beiden  Bogen  sind  von  einander  durch 
den  tnbalen  Raum  getrennt,    and   beträgt   ihre  Entfernung  0*35. 

Schnitt  20.  Gnt  sichtbar  der  laterale  Rand  des  stapedialen 
Ringes,  welches  gegen  unten  zu  in  den  Hyoidbogen  sich  fortsetzt. 

Schnitt  22  (Fig.  6).  Der  Stapedialring  ist  fast  in  seiner 
Mitte  getroffen;  die  Arteria  stapedialis  kommt  jedoch  kaum  zum 
Vorschein. 

Unmittelbar  unterhalb  dem  Ringe  ist  das  Lumen  des  Ramus 
der  Carotis,  welcher  die  Arteria  stapedialis  und  die  Arteria 
hvoidea  in  sich  aufiiimmt,  zu  sehen.  Man  kann  nach  unten  zu 
auf  eine  gewisse  Strecke  die  Arteria  hyoidea  (A.  hj.)  ver« 
folgen.  Die  Jugularis  ist  nur  in  ihrem  unteren  Theile  getroffen 
(Ju.).  Der  Stapedialring  (Annulus  stapedialis)  berührt  auf  eine 
kurze  Strecke  die  vorknorpelige  periotische  Kapsel. 

Das  Lumen  des  tubo-tympanalen  Raumes  erscheint  in  Form 
eines  spitzwinklig  gebogenen  Cylinders ;  der  Scheitel  kommt  nach 
aussen  und  vorne  zu  liegen  und  zeigt  in  dieser  Richtung  eine 
kurze  Spitze  (Ca.  tu.  ty.).  Dieser  Schnitt  (Fig.  6)  trifft  den  Hyoid- 
bogen an  zwei  Stellen  seines  Verlaufes :  nämlich  unten,  bevor  er 
ach  nach  oben  und  vorne  wendet,  dann  wieder  entsprechend 
dem  Annulus  stapedialis.  Das  Zwischenstück  kommt  in  den 
fiHher  beschriebenen,  mehr  lateralen  Schnitten  zum  Vorschein. 

Bei  diesen  Sagittalschnitten  ist  deutlich  zu  sehen,  dass  in 
diesem  Entwicklungsstadium  die  proximalen  Enden  der  zwei  ersten 
Kiemenbogen  durch  eine  Schichte  von  embryonalem  indifferenten 
Gewebe  von  einander  getrennt  sind. 

Ans  der  bisherigen  Schilderung  der  Präparate,  welche  auf 
diese  Entwicklungsphase,  von  mir  als  zweites  Stadium  be- 
zeichnet, sich  beziehen,  ist  folgendes  ersichtlich: 

L  Echtes  Enorpelgewebe  ist  noch  nicht  vorhanden,  die 
künftigen  Skeletelemente  sind,  wie  im  vorher  beschriebenen 
Stadium,  nur  durch  nicht  deutlich  begrenzte  ZeUenanhäufungen 
und  Zellenstränge  dargestellt. 

n.  Der  Mandibularbogen  erscheint  in  Form  eines  Zellen- 
Stranges,  welcher  an  seinem  distalen  Ende  nur  bis  zu  einer  ge- 
wissen Entfernung  von  der  Mittellinie  reicht,  und  endet  frei 
proximal  mit  einer  unbegrenzten  Anschwellung  an  der  Seite  des 

(25) 


36  Gradenigo. 

SeMdels,  dem  vorderen  Theile  der  Labyrintbblase  entspreclieiid. 
Er  tritt  weder  zu  der  periotisclieii  Kapsel,  noch  zn  dem  proximalen 
Ende  des  zweiten  Eiemenbogens  in  Beziehung. 

m.  Der  Hyoidbogen  erscheint  in  Form  eines  ZeUenstranges, 
weicher  ungefähr  dieselbe  Dicke  als  der  Mandibularbogen  aufweist. 
Sein  distales  Ende  geht  nach  vorne  in  unbegrenzte  Zellenan- 
häufungen über ;  sein  proximaler  Abschnitt  wendet  sich  zuerst  ein 
wenig  nach  aussen,  dann  biegt  er  sich  nach  oben,  vorne  und  innen. 
Das  proximale  Ende  umgibt  ein  arterielles  Oefäss  (Arteria  stape- 
dialis),  und  bildet  auf  diese  Weise  einen  vollständigen,  aus  dicht 
aneinanderliegenden  Zellen  bestehenden  Ring  (Annulus  stapedialis), 
und  tritt  zuletzt  zu  der  Anlage  der  periotischen  Kapsel  in  Be- 
ziehung. 

IV.  Die  Arteria  stapedialis  stammt  mittelst  einem  mit 
der  Arteria  hyoidea  gemeinsamen  Aste  von   der  Carotis  ab. 

V.  Die  vorknorpelige  periotische  Kapsel  weist  die  grosste 
Dicke  entsprechend  der  lateralen  Wand  der  Oehörblase  auf. 

Keine  Spur  von  Labyrinthfenstem  ist  zu  bemerken. 

III.  Stadium. 

Das    erste  Auftreten    des   Enorpelgewebes,    Ueber- 

gangsstadium  (Eatzenembryo  2  Cm.). 

Die  Skeletelemente  sind  theils  durch  die  Ueberreste  der  vor- 
knorpeligen Anlage,  theils  durch  echtes  Knorpelgewebe  darge- 
stellt. Von  Embryonen,  welche  dieses  Stadium  der  Entwicklung 
dargeboten  haben,  habe  ich  zwei  Reihen  von  Katzenembryonen 
ungefähr  2  Cm.  Scheitelsteisslänge  *)  und  Schweinsembryonen  3 
und  3^  2  Cm.  Scheitelsteisslänge  untersaeht. 

Eatzenembryo  2  Cm.  Scheitelsteisslänge. 

Charakteristische  Merkmale.  Die Eiemenbogen  total 
verwachsen.  Netzhaut  im  Auge  gefaltet.  Nervus  opticus  misst  an 
seiner  Insertionsstelle  0*20  Millimeter.  An  verschiedenen  Skelet- 
theilen ist  das  Enorpelgewebe  gut  ausgebildet:  lateralwärts  des 
vorderen  Abschnittes  des  Meckel'schen  Enorpels  ist  schon  eine 
Enochenlamelle  des  Dentalis  aufgetreten.  Die  Labyrinthkapsel 

')  Obwohl  diese  Katzenembryonen  alle  nngefälLr  2  Cm.  lang  waren,  haben 
einige  von  diesen  etwas  mehr  vorgerückten  Entwicklungsgrad  gezeigt. 

(26) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentang  etc.        87 

in  ihrer  hinteren  Partie  deutlich  knorpelig;  die  Cochlea  zeigt 
mehr  als  1^/j  Windung;  der  Ductus  endolymphaticus  be- 
sitzt an  seinem  Ende  eine  ausgesprochene  Erweiterung  (Frontal- 
durehmesser  0*20  Mm.).  Der  Sinus  petrosus  superior,  der 
ihr  nahe  steht,  hat  ein  Lumen  yon  0*12  Mm.  Das  Lumen  des 
Canalis  renniens  superior  ist  bedeutend  enger  geworden 
und  misst  jetzt  circa  10  pi. 

Topographie  der  Kopfgebilde.  Gefässe.  Die  embryo- 
nalen Kopfgebilde  weisen  schon  eine  bemerkenswerthe  Umgestaltung 
auf,  so  dass  die  hauptsächlichsten  topographischen  Verhältnisse 
jenen,  die  sich  beim  erwachsenen  Thiere  vorfinden,  ähnlich  sind. 
Darum,  nnd  aus  diesem  Grunde,  weil  uns  die  Behandlung  des 
Gegenstandes  von  dem  Bereiche  unserer  Untersuchungen  zu  weit 
fuhren  würde,  halte  ich  es  für  nicht  angezeigt,  in  eine  ausführ- 
lichere topographische  Darstellung  einzugehen. 

Ich  kann  jedoch  nicht  umhin,  auf  eine  merkwürdige  Yer- 
Inderong  in  der  Anordnung  des  Gefassverlaufes  hinzuweisen. 

Die  Jugularis,  die  wir  früher  als  ein  verhältnissmässig 
mächtiges  Gefäss,  an  der  Seite  und  hinter  dem  Facialis  verlaufend, 
kennen  gelernt  haben,  ist  jetzt  fast  gänzlich  verschwunden  (vergl. 
Kg.  7  und  8). 

An  ihrer  Stelle  finden  wir  ein  kleines  Gefäss,  welches  sich 
von  unten  herauf  nur  bis  zur  Höhe  des  ovalen  Fensters  verfolgen 
lässt  (Fig.  8  V). 

Auch  die  Carotis  hat  in  ihrem  Verlaufe  eine  beträchtliche 
Modification  erlitten:  Die  weitere  Ausbildung  der  Pars  coch- 
learis  der  Gehörkapsel  hat  die  Carotis  ganz  nach  vorne  ge- 
drängt; überdies  hat  sich  ihr  Lumen  sehr  verengert.  Die  Arteria 
Stapedialis  (Fig.  8,  A.  st.)  zweigt  sich  direct  von  der  Carotis 
ab,  deshalb  weist  sie  eine  beträchtliche  Länge  auf. 

Skeletelemente.  Histologische  Beschaffenheit  und 
Terminologie.  Bezüglich  der  Skeletelemente  finden  wir  in 
diesem  Stadium  die  verschiedensten  Entwickelungsstufen  des 
Knorpelgewebes  vertreten,  von  den  Zellenanhäufungen  ange- 
tuigen,  welche  in  den  vorhergehenden  Stadien  ausschliesslich 
vorhanden  waren,  bis  zu  dem  ausgebildeten  Knorpelgewebe. 
Dieses  Stadium,  wo  schon  Knorpel  eintritt  und  die  vorknorpelige 

(27) 


88  Gradenigo. 

Anlage   noch   nicht   vollkommen   ist,   wnrde   von  mir  auch  als 
Uebergangsstadinm  bezeichnet. 

Ans  der  verschiedenen  Anordnung  der  Zellen  nnd  der  ver- 
schiedenen Intensität  der  Färbung  mittelst  Hämatoxylin  sind  wir 
im  Stande,  ein  hinreichend  genaues  und  wohl  schätzenswerthes 
Kriterium  über  die  Zeit  der  Entwicklung  der  einzelnen  Skelet- 
theile zu  gewinnen. 

Wir  können  drei  verschiedene  Entwicklungsphasen  des 
Knorpelgewebes  unterscheiden,  obwohl  die  ganze  Reihe  der 
Zwischenstadien  beobachtet  werden  kann. 

1.  Gewebe  vollkommen  identisch  den  Zellenanhäufungen, 
welche  die  Skeletelemente  bei  den  Embryonen  der  früheren  zwei 
Stadien  darstellt.  Zellen  klein.  Kern  relativ  gross  oder  kömiger 
Inhalt,  geringe  Menge  von  Protoplasma ;  Intercellularsubstanz  gering 
oder  auch  nicht  wahrnehmbar.  —  Die  Zellen  sind  dicht  aneinander 
gedrängt.  —  Die  Zellsubstanz  sticht  durch  intensivere  Färbung 
von  dem  umgebenden  Gewebe  deutlich  ab.  —  Die  Bezeichnung 
vorknorpeliges  wird  ftir  dieses  Gewebe  auch  im  Nachfolgenden 
beibehalten  werden. 

2.  Zellen  grösser,  Protoplasma  reichlicher;  Intercellular- 
substanz in  geringem  Maasse  schon  aufgetreten;  sie  färbt  sich 
noch  mit  Hämatoxylin,  jedoch  weniger  als  die  Zellkerne.  Das 
Knorpelgewebe  dieser  Entwicklungsphase  sei  als  unreifer 
Knorpel  bezeichnet- 

3.  Das  Gewebe  bietet  das  Aussehen  eines  ausgebildeten 
Knorpels:  Zellen  gross  und  mit  deutlich  ausgesprochener  Kapsel, 
Intercellularsubstanz  reichlich  vorbanden,  von  hyaliner  Beschaffen- 
heit und  sich  mit  Hämatoxylin  kaum  färbend.  Obschon  dieses 
Gewebe  durch  eine  besondere  Grenzschichte  in  das  umgebende 
indifferente  Gewebe  übergeht,  und  relativ  reich  an  Zellen  ist,  halte 
ich  es  fdr  zweckmässig,  die  Bezeichnung  „reifer  Knorpel'  zu 
wählen,  mit  Rücksichtnahme  auf  die  zwei  vorausgehenden  Phasen. 

Durch  die  Messung  der  Grösse  der  Zellen  und  ihrer  wechsel- 
seitigen Entfernung,  wollte  ich  oft  versuchen,  einen  Anhaltspunkt 
ausfindig  zu  machen,  um  die  verschiedenen  Reifegrade  des  Knorpel- 
gewebes feststellen  zu  können. 

(28) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolires :  die  morphologische  Bedentnng  etc.       89 

Da  aber  an  einer  bestimmten  Stelle  eines  and  desselben 
Gewebes,  sowohl  die  Grösse  der  Zellen  als  anch  deren  Entfernung 
Yoneiiiander  verschieden  sind  (was  aach  ans  dem  interstitieUen 
Wachsthnm  des  Knorpels  voransznsehen  war),  so  scheint  es  ge- 
eignet und  viel  sicherer,  als  Classificationscriterium  den  Färbnngs- 
grad  und  das  von  dem  Gewebe  dargebotene  Aassehen  festzustellen. 
Ich  will  eigentlich  betonen,  dass  der  Hauptunterschied  zwischen 
der  Yorknorpeligen  Anlage  und  dem  Knorpel  in  dem  Vor- 
handensein der  Intercellularsubstanz  und  zwischen  dem  unreifen 
und  dem  reifen  Knorpel  in  dem  Verhalten  der  Intercellularsubstanz 
geg^i  Hämatoxylin  besteht. 

Wenn  der  unreife  Knorpel  sich  zu  zeigen  beginnt,  sind  ge- 
wohnlich die  einzelnen  Skeletabschnitte  den  künftigen  Gelenken 
entsprechend  voneinander  getrennt. 

Diese  Abschnitte  sind  in  ihrem  ganzen  Umfange  von  einer 
Sehichte  von  Zellen  umgeben,  die  einen  allmäligen  Uebergang 
von  den  wahren  Knorpelzellen  zu  den  embryonalen  Bindegewebs- 
zeDen  darstellen. 

Die  Intercellularsubstanz  wird  gegen  die  Peripherie  spärlich, 
und  nimmt  eine  stärkere  Färbung  an  (Fig.  11,  St.  L);  das  Zellen- 
prDtoplasma  nimmt  ab,  die  Zellen  werden  mehr  oval  bis  Spindel- 
fönnig,  ordnen  sich  in  parallelen  Reihen  an,  und  erhalten  zuletzt 
das  Aassehen  der  eigentlichen  embryonalen  Bindgewebszellen. 
Diese  Uebergangzone  ist  breiter  bei  den  von  mir  als  Un- 
reif bezeichneten  Knorpeln;  mit  dem  Reifi^erden  des  Knorpel- 
gewebes nimmt  sie  in  ihrer  Dicke  ab,  und  die  sie  zusammensetzenden 
Zellen  werden  länglich,  spindelförmig  (die  Anlage  des  Perichondrium) . 
Die  Uebergangzone  wird  von  mir  als  Grenzschichte  bezeichnet 
werden. 

Wichtige  Veränderungen  sind  in  dieser  Entwicklnngsperiode 
aueh  in  dem  GewebC;  welches  die  Skeletelemente  umgibt,  auf- 
getreten. 

Lateralwärts  von  dem  vordersten  Theil  des  mandibularen 
Knorpels,  ist  auf  eine  kurze  Strecke  eine  knöcherne  Lamelle,  die 
Anlage  der  Mandibula  (Unterkiefer,  Os  dentale)  zu  sehen.  Sie 
iit  ans  direcler  Umwandlung  des  mesoblastisohen  Gewebes  ent- 
flfainden  (Deckknochen). 

(29) 


90  Gradenigo. 

Das  interstitielle  Gewebe  ist  in  Be^iflF  faserig  zu  werden. 

Periotische  Kapsel.  Während  die  Skeletelemente  der 
Schädelbasis  schon  den  Charakter  des  reifen  EuQorpels  ange- 
nommen haben,  müssen  wir  indessen  bei  der  periotischen  Kapsel 
die  vordere  untere  Partie  (Pars  cochlearis)  von  der  hinteren 
oberen  (Pars  canalinm  semicircularium)  streng  unterscheiden.  — 
Während  diese  letztere  echt  knorpelig  aussieht,  ist  das  Gewebe 
an  dem  vorderen  Theil  in  seiner  Entwicklung  bedeutend  zurück- 
geblieben und  bietet  das  Aussehen  eines  unreifen  Knorpels.  Die 
Grenzen  der  Knorpellamelle,  welche  die  Cochlea  in  sich  aufnimmt, 
sind  an  der  tympanalen  Seite  ziemlich  deutlich  zu  erkennen.  — 
An  der  Labyrinthseite  indessen  gehen  sie  allmälig  in  das  Gewebe 
über,  welches  den  Canalis  cochlearis  umgibt. 

An  einer  bestimmten  Stelle  sogar  ist  die  cochleare  Kapsel 
noch  nicht  knorpelig  geworden,  nämlich  die  Intercellularsubstanz 
ist  so  spärlich  vorhanden,  dass  das  Gewebe  als  ein  Zwischenstadium 
zwischen  der  vorknorpeligen  Skeletanlage  und  dem  unreifen  Knorpel 
angesehen  werden  könnte.  Diese  Stelle  entspricht  der  Gegend 
der  künftigen  ovalen  Fenster,  nimmt  auch  das  Promontorium  und 
gegen  unten  zu  die  ganze  laterale  vordere  Partie  der  Kapsel 
ein,  indem  allmälig  die  übrige  knorpelige  cochleare  Lamelle  in 
die  Kapsel  übergeht.  —  Gegen  oben  und  hinten  zu  kann  man 
indessen  ein  ganz  bestimmtes  Baphe  bemerken,  welches  auf  die 
Grenze  zwischen  dem  capsularen  Theile  der  Schnecke  und  dem- 
jenigen der  Bogengänge  hindeutet. 

Bei  diesem  Stadium  der  Entwicklung  ist  also  keine  Spar 
des  runden  Fensters  zu  sehen ;  die  noch  nicht  knorpelige  Anlage 
der  cochlearen  Lamelle  zieht  continuirlich  an  dieser  Stelle  vorüber. 

Dem  ovalen  Fenster  entsprechend,  erscheint  das  Gewebe 
bei  einer  ersten  Reihe  von  Embryonen  von  Katzen  2  Ctm.  durch 
das  Anlegen  des  medialen  Randes  des  Annulus  stapedialis 
gegen  das  Labyrinth  zu  einfach  hineingedrängt.  Bei  der  zweiten 
Reihe  von  Embryonen,  mehr  in  der  Entwicklung  vorgerichtet, 
diflferenzirt  sich  die  Stelle  der  capsularen  Wand,  welche  den  me- 
dialen Rand  des  Annulus  stapedialis  in  sich  aufnimmt,  rund- 
herum von  den  übrigen  Theilen  der  periotischen  Kapsel,  und 
bildet  eine  Platte,   mit   einer  Concavität,  welche  dem  medialen 

(30) 


Dia  embryonale  Anlage  des  lOttelohres :  die  morphologiache  Bedeutung  etc.       9 1 

Sande  des  hier  anliegenden  Ringes  entspricht  (Lamina  stape- 
dialis,  Fig.  7  n.  Fig.  8,  L.  st.).  In  jener  Lamelle,  wo  die  Zellen 
in  fa8t  concentrischer  Reihe  zu  dem  Ringe  selbst  angeordnet  er- 
seheioen  and  die  Intercellolarsubstanz  noch  nicht  deutlich  zu 
beobachten  ist,  können  auch  bei  schwacher  Vergrösserung  zwei 
Schichten  unterschieden  werden :  die  eine  tympanale,  weniger 
gefärbt  und  mit  dem  Ringe  in  Gontact  tretend ;  die  andere  laby- 
rinthische intensiver  gefärbt,  und  einen  Theil  der  inneren 
Oberflache  der  Kapsel  darstellend. 

Die  tympanale  Schichte  verdankt  ihre  schwache  Färbung 
der  geringeren  Färbung  ihrer  Eemfiguren.  Die  Differenzirung  der 
Lamina  stapedialis  von  der  übrigen  Wand  der  Kapsel  er- 
scheint in  diesem  Entwicklungsstadium  von  der  Anordnung  der 
Zellen  bedingt. 

Skeletelemente  der  Kiemenbogen.  Auch  in  den 
Skeletelementen  der  zwei  ersten  Kiemenbogen  sind  in  diesem  Ent- 
wicklungsstadiam  wichtige  Veränderungen  eingetreten. 

Handibularbogen.  Der  Mandibularbogen  bietet  durch 
eine  grosse  Strecke  hin  das  Aussehen  des  reifen  Knorpelgewebes. 
—  Seme  vorderen  Abschnitte  bilden  eine  schwache,  gegen  unten 
convexe  Krümmung,  und  werden  lateralwärts  von  einer  Knochen- 
lameDe  begleitet.  Diese  Knochenlamelle,  die  Anlage  des  Unter- 
kiefers (Dentalis),  liegt  in  derselben  Höhe,  aber  in  einer  gewissen 
Entfernung  von  dem  MeckeTschen  Knorpel  fast  concentrisch  zu 
diesem  Knorpel  gekrümmt.  Zwischen  dieser  Lamelle  und  dem 
Meck ersehen  Knorpel  liegt  ein  Nervenstrang:  der  Ramus 
alveolaris  des  5.  Paares;  gegen  hinten  zu,  ungefähr  in  der 
Hohe  des  GangliumGasseri^  hört  dieser  Knochen  gänzlich  auf. 

Die  distalen  Enden  des  mandibularen  Bogens  kommen  auf 
der  Medianlinie  mit  einander  in  Berührung ;  sie  wenden  sich 
dann  von  einander  ab,  um  bald  in  eine  Anhäufung  von  ge- 
erbten Zellen  überzugehen. 

Das  proximale  Ende  des  knorpeligen  Bogens  schwillt  nach 
ussen  an  einer  Stelle  an,  welche  dem  vorderen  Theil  der  Labyrinth- 
bbee  entspricht,  setzt  sich  nach  hinten  in  eine  Gewebsmasse, 
welehe  an  ihren  verschiedenen  Stellen  verschiedene  Entwick- 
hogsgrade  darbietet,  fort.    In  einem  solchen  Gewebe  lassen  sich 

(81) 


92  Gradenigo. 

schon  die  Formen  des  Hammers  und  des  Ambosses  erkennen.  Der 
Hammer-  nnd  Amboskörper  sind  knorpelig,  und  von  einander  schon 
zum  Theile,  durch  die  betreffende  Grenzschichte,  den  künftigen 
Gelenkoberflächen  entsprechend  getrennt.  Der  Knorpel  des  Hammer- 
körpers zeigt  dieselbe  Eutwicklungsphase  wie  der  MeckeFsche 
Knorpel. 

Das  Gewebe  des  Amboskörpers  hat  indessen  ein  etwas  mehr 
junges  Aussehen. 

Der  obere  Abschnitt  des  Hammergriffes  und  des  langen 
Ambosschenkels  und  der  grösste  Theil  des  Processus  brevis 
des  Ambosses  sind  nur  durch  die  vorknorpelige  Anlage,  d.  i. 
einfache  Zellenanhäufungen  dargestellt. 

Selbstverständlich  finden  sich  in  allen  diesen  Theilen  eine 
ganze  Reihe  von  Zwischenstufen  der  Entwicklung.  In  Betreff  der 
Form  der  in  Bede  stehenden  Knöchelchen  bei  solchen  2  Cm. 
langen  Embryonen  halte  ich  es  für  nicht  angezeigt,  mich  in 
nähere  Details  einzulassen,  denn  schon  in  diesem  Stadium  be- 
ginnen die  morphologischen  Charaktere  des  erwachsenen  Indivi- 
duums sich  geltend  zu  machen. 

Hyoidbogen.  Der  knorpelige  Hyoidbogen  als  Product 
aus  dem  zweiten  Kiemenbogen  ist  in  seiner  Entwicklung  weit 
hinter  dem  Mandibularbogen  zurückgeblieben.  Nicht  nur  sein  Ge- 
webe sieht  als  unreifer  Knorpel  aus ,  sondern  auch  seine  Dicke, 
die  im  vorhergehenden  Stadium  gleich  jener  des  Mandibular- 
bogens  war,  beträgt  jetzt  nur  die  Hälfte  dieses  letzteren. 

Ueberdies  ist  er  nicht  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  knor- 
pelig geworden. 

Der  unmittelbar  unterhalb  des  Annulus  stapedialis 
gelegene  Theil  hat  die  histologischen  Charaktere  der  vorknorpe- 
ligen Anlage  beibehalten. 

Vorne  vereinigen  sich  mit  dem  Körper  des  Os  hyoideum 
(B  a  s  i  -  h  y  a  1  i  s)  die  leicht  angeschwollenen  distalen  Enden.  Indem 
der  knorpelige  Bogen  nach  hinten  zieht,  verschmälert  er  sich  in 
seinem  Mitteltheile,  wendet  sich,  wie  im  vorigen  Stadium,  zuerst 
ein  wenig  gegen  aussen,  dann  gegen  oben,  vorne  und  medial- 
wärts,  verliert  aber  die  knorpelige  Beschaffenheit  bevor'  er  — 
ungefähr  008  Mm.  von  der  Ursprungsstelle  aus  dem  Facialisstamm 

(88) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mitielohres :  die  morphologische  Bedeutung  eto.       93 

der  Chorda  tympani  —  direct  vor  dem  siebenten  Nerv  zu  liegen 
kommt. 

In  diesem  Stadium  liegt  das  knorpelige  Ende  des  hyoidalen 
Bogens  circa  0*45  Mm.  von  dem  lateralen  Ende  des  Annulu» 
stapedialis  entfernt. 

Das  knorpelige  Endstück  verlängert  sich  nach  oben  zu  in 
Form  eines  Zellenstranges,  der  sich  durch  eine  Verbreiterung  mit 
dem  lateralen  Rande  des  stapedialen  Ringes  und  unteren  Ende 
des  Processus  longus  des  Ambosses  in  Verbindung  setzt 
(Fig.  8,  Hy.).  Im  Verlaufe  dieses  Stranges  sind  auf  einer  kleinen 
•Strecke  hin  die  ihn  zusammensetzenden  Zellen  weniger  durch 
Hämatoxylin  gefärbt  und  weniger  dicht  aneinander  gedrängt,  so 
dass  es  den  Anschein  hat,  als  ob  sie  sich  mit  den  Zellen  des 
umgebenden  Gewebes  vermischen  würden. 

Annulus  stapedialis.  Der  Stapedialring ,  welcher  da- 
durch nicht  mehr  in  directer  Beziehung  zu  dem  Hyoidbogen 
steht,  ist  schon  in  inniges  Verhältniss  mit  den  Derivaten  des 
ersten  Bogens,  und  zwar  mit  dem  gegen  unten  zu  hingewachsenen 
langen  Ambosschenkel ,  getreten.  Das  Gewebe  des  Ringes  hat 
das  Aussehen  eines  unreifen  Knorpels  (Fig.  7,  An.  st.).  In  Folge 
des  Schwindens  der  Vena  Jugularis,  die  im  früheren  Stadium  den 
Ring  hinten  begrenzt  hatte  (vergl.  Fig.  4,  V.  Ju.  und  Fig.  8,  V.  Ju.), 
und  wegen  des  Wachsthums  nach  vorne  der  Labyrinthblase,  er- 
schemt  der  Annulus  stapedialis  gegen  hinten  gerückt.  Die 
Entfernung  seines  hinteren  Randes  von  der  vorderen  Wand  der 
knorpeligen  Kapsel  des  äusseren  Bogenganges  beträgt  jetzt  nur 
0-20  (vergl.  Fig.  4  und  Fig.  7). 

Wie  in  dem  vorigen  Stadium,  ist  der  Ring  derart  geneigt, 
dass  der  hintere  und  laterale  Rand  am  tiefsten  zu  liegen  konunt. 
Die  Arteria  stapedialis,  welche  durch  den  Ring  hindurch- 
geht (vergl.  Fig.  8),  ist  viel  dünner  geworden,  und  kaiin  nur  eine 
kurze  Strecke  über  den  Ring  verfolgt  werden. 

Der  lange  Ambosschenkel  befindet  sich  mit  seinem  knorpe- 
ligen Ende  in  einer  gewissen  Entfernung  von  dem  lateralen  Rand 
des  Ringes,  mit  der  noch  nicht  knorpelig  gewordenen  Spitze  schon 
nit  diesem  Rande  in  Berührung. 

Ved.  Jahrbücher.  1M7.  3    (88) 


94  Gradenigo. 

Der  mediale  Band  des  Ringes  ist  an  der  periotischen  Kapsel 
nicht  mehr  einfach  anliegend,  er  hat  sich  vielmehr  zum  grössten 
Theile  in  das  Gewebe  hineinvertieft.  Anch  bei  diesem  einge- 
drungenen Theile  treten  die  Gontouren  durch  das  Vorhandensein 
der  sogenannten  Grenzschichte  deutlich  hervor  (Fig.  7  und  8, 
An.  St.). 

Schweinsembryonen,  Die  von  mir  untersuchten Schweins- 
•embryonen,  3  und  SVb  Cm.  Scheitelsteisslänge,  entsprechen  einer 
etwas  weiter  vorgerückten  Entwicklungsstufe.  Das  Kjiorpelgewebe 
bietet  überall  ein  ziemlich  reifes  Aussehen  dar ;  das  Bindegewebe 
ist  schon  faserig  geworden.  Durch  die  vorknorpelige  Anlage  ist 
nur  das  Stück  des  Hyoidbogens  unmittelbar  unterhalb  des  Stape- 
dialringes  und  die  äusserste  Spitze  des  langen  Ambosschenkels 
dargestellt.  Die  ganze  periotische  Kapsel  ist  schon  knorpelig  ge- 
worden ;  die  Lamina  stapedialis  ist  rund  herum  differenzirt. 
Das  runde  Fenster  erscheint  relativ  sehr  breit;  zwischen  seinen 
Rändern ,  deren  der  untere  nicht  so  deutlich  als  der  obere 
begrenzt  ist,  ist  keine  Spur  einer  Anlage  der  entsprechenden 
Membrana  zu  sehen. 

Aus  der  bisherigen  Schilderung  der  Präparate,  welche  auf 
Eatzenembryonen,  2  Gm.  Scheitelsteisslänge  und  Schweinsembryonen, 
3  und  3^/s  Gm.  Scheitelsteisslänge  (UL  Entwicklungsstadium),  sich 
beziehen,  ist  folgendes  ersichtlich: 

I.  Die  Skeletelemente  sind  in  diesem  Stadium: 
aj  theils  von  einfachen  ZeUenanhäufnngen  (vorknorpeUge  Anlage), 
b)  theils  von  echtem  Enorpelgewebe  dargestellt.  Der  Deckknoclien, 

welcher  den  Unterkiefer  darstellt,  ist  schon  erschienen. 

H.  Das  Enorpelgewebe,  welches  die  meisten  Skeletelemente 
Tertritt,  wird  durch  das  Vorhandensein  einer  Intercellularsubstanz 
charakterisirt.  Nach  dem  Reichthum  an  Intercellularsubstanz  kann 
man  einen  unreifen  Knorpel,  welcher  an  die  vorknorpeligen 
ZeUenanhäufungen  durch  seine  histologische  Beschaffenheit  erinnert, 
nnd  einen  reifenKnorpel  unterscheiden.  Von  der  vorknorpeligen 
Anlage  bis  zum  reifen  Enorpelgewebe  ist  ein  aUmäliger  üebergang 
zu  bemerken. 

m.  Die  periotische  Kapsel  bietet  in  ihrer  hinteren 
oberen  Partie  (Pars  canalium  semicircularium)   das  Aus- 

(34) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolures :  die  morphologische  Bedeutung  etc.       95 

sehen  tob  ziemlicli  reifem  Enorpelgewebe ;   ihre  vordere  untere 

Partie  (Pars   coohlearis  et  vestlbnlaris)   ist  noch  nicht 

knorpelig  geworden« 

IV.  Die  Stelle  der  Labyrinthkapsel,  an  welcher  der  mediale 

Band  dw  Stapedialringes  (Annnlns  stapedialis)  anliegt, 
düferenzirt  sicli  später  rund  hemm  dnrch  die  Anordnung  der  sie 
zusammensetzenden  Zellen  von  der  übrigen  Wand,  und  bildet  somit 
eine  noeli  nieht  knorpelige  Lamelle,  welche  den  obgenannten  Rand 
in  sicIi  aufninimt  (Lamina  stapedialis).  In  diesem  Entwick- 
lungsstadium ist  auch  das  breite  runde  Fenster  zu  sehen. 

V.  Der  Mandibularbogen  ist  in  Form  eines  knorpeligen 
Cylinders  vorhanden;  die  distalen  Enden  stossen  in  der  Mittel- 
linie zusammen ;  aus  den  proximalen  Extremitäten  entwickeln  sich 
Hammer  und  Ambos,  noch  nicht  ganz  getrennt.  Der  Hammergriff 
und  die  beiden  Ambosfortsätze  sind  noch  nicht  knorpelig  geworden. 
YL  Der  Hyoidbogen  ist  dünner  als  der  Mandibulare;  das 
distale  Ende  ist  in  Beziehung  mit  dem  Os  hyoideum  getreten. 
Ein  Stuck,  unmittelbar  unterhalb  dem  proximalen  Ende,  ist  noch 
immer  durch  einen  ZeUenstrang  vertreten.  Das  proximale  Ende 
büdet  den  stapedialen  Ring  (Annulus  stapedialis),  welcher 
in  das  Ctowebe  der  Lamina  stapedialis  hinein  vertieft  erscheint. 
YIL  Die  Topographie  der  Eopfgebilde  ist  nunmehr  der  Topo- 
grapUe  des  erwachsenen  Thieres  ähnlich;  die  bereits  sehr  dünn 
gewordene  Arteria  stapedialis  stammt  jetzt  unterhalb  dem 
vorderen  Theile  der  periotischen  Kapsel,  direct  von  der  Carotis  ab. 

IV.  Stadium. 

Die  knorpeligen  Skeletelemente.   (Menschliche 

Embryonen.) 

Die  Skeletelemente  der  Eiemenbogen  und  der 
periotischen  Kapsel  sind  alle  von  Knorpelgewebe 
dargestellt;  die  Verknöcherung  dieser  Elemente 
ist  noch  nicht  aufgetreten,  ausgenommen  am  di- 
stalen Ende  des  Mandibularbogens. 

Bei  den  Katzenembryonen  haben  wir  die  allerersten  Anlagen 
der  Grehörknöchelchen  untersucht,  und  constatirt^  dass  Hammer 
imd  Ambos  aus  dem  ersten  Kiemenbogen,    der  Stapedialring  aus 

8*    (M) 


96  Gradenigo. 

dem  zweiten,  die  Lamina  stapedialis  aus  der  Labyrinthwand 
hervorgehen. 

Für  das  Stadium  der  vollständigen  Verknorpelung  dieser 
Theile  ist  es  viel  geeigneter,  sich  menschlicher  Embryonen  zu 
bedienen,  weil  der  morphologische,  für  das  erwachsene  Individuum 
charakteristische  Typus  der  Gehörknöchelchen  schon  aufzutreten 
beginnt. 

In  dieser  Beziehung  sind  die  Vergleiche,  welche  sich  zwischen 
Embryonen  verschiedener  Thierspecies  (Schwein,  Kaninchen,  Hunde 
und  Mäuse)  anstellen  lassen,  sehr  lehrreich  zur  Unterscheidung  der 
allgemeinen  Entwicklungsvorgänge  von  den  speciellen  bei  den 
Thieren  einer  und  derselben  Gattung.  Für  das  Studium  dieses 
Entwicklungsstadiums  habe  ich  eine  Reihe  von  menschlichen  Em- 
bryonen (4,  4Va?  5,  7Va?  8,  10),  dann  Schwein-,  Kaninchen-  und 
Mäuseembryonen  angewendet. 

Menschliche  Embryonen  4  und  4V2Cm.  Scheitel- 
Steiss-Länge. 

Die  jüngsten  von  mir  untersuchten  menschlichen  Embryonen 
waren  4  und  4V2  Cm.  lang. 

Obwohl  der  eine  etwas  mehr  als  der  andere  in  der  Entwicklung 
vorgerückt  war,  sind  überhaupt  keine  merkbaren  Verschiedenheiten 
in  dem  Aussehen  der  einzelnen  Skelettheile  zu  constatiren;  und 
nur  die  Lamina  stapedialis  weist  ein  verschiedenes  Verhalten 
in  beiden  Embryonen. 

Charakteristische  Merkmale.  Im  Auge  sind  schon 
die  Stäbchen  der  Netzhaut  deutlich  zu  erkennen.  Der  Ductus 
cochlearis  hat  schon  seine  Windungen  vollbracht ;  er  erscheint 
jedoch  immer  in  Form  eines  einfachen  Schlauches,  und  seine 
Epithelschichte  ist  an  der  gegen  das  Gehirn  zu  gewandten  Wand 
am  dicksten.  Keine  Spur  von  Knorpelgewebe  an  der  Stelle  des 
künftigen  Modiolus.  Der  Sacculus  misst  in  seinem  grössten 
verticalen  Durchmesser  0*40  Mm.,  der  Canalis  reuniens  Henseni 
0*05  Mm.,  wovon  0'02  auf  die  mediale,  O'Ol  auf  die  laterale 
Wand,  und  0*02  auf  die  Höhlung  fallen.  —  Verknöcherungs- 
punkte  des  primordialen  Skeletes  sind  schon  imSphoenoideum 
posterius  und  Basi  occipitale  zu  sehen.  Die  meisten  Deck- 
knochen sind  schon  aufgetreten. 

(86) 


Di«  embryonale  Anlage  des  Mittelohrea :  die  morphologische  Bedentnng  etc.       97 

Histologische  Beschaffenheit.  Das  Gewebe  der 
Kiemenbogen  und  der  periotischen  Kapsel  bietet  fast  überall  das 
Aussehen  des  reifen  Knorpels.  Die  Intercellularsubstanz  ist 
reichlich  vorhanden ;  die  Zellen  sind  gross  und  lassen  eine  deutliche 
Kapsel  um  sie  erkennen.  Als  Grenzschichte  des  Knorpels  finden 
wir  jetzt  keine  Uebergangszone  von  Knorpelzellen  zu  Bindegewebs- 
lellen  mehr,  sondern  eine  faserige  Schichte  mit  spindelförmigen 
Zellen,  die  eigentliche  Anlage  des  Perichondriums.  Das  Bindegewebe 
ist  auch  faserig  geworden ;  seine  Zellen  jedoch  sind  immer  rundlich 
imd  mit  kurzen  Fortsätzen  yersehen. 

Die  Nervenfasern  sind  in  diesem  Stadium  schwer  von  der 
fiiserigen  Grundsubstanz  zu  unterscheiden. 

Die  Muskelfasern  lassen  sich  durch  regelmässige  Streifen 
nnd  Ziellenreihen  und  durch  ihre  rothe  Färbung  (Eosin)  erkennen. 

Die  intensiv  roth  mit  Eosin  gefärbten  Deckknochen  treten 
auf  dem  mit  Hämatoxylinblau  gefärbten  Felde  sehr  scharf  hervor ; 
auch  mit  schwacher  Vergrössernng  können  ihre  topographischen 
Verhältnisse  ohne  Schwierigkeit  durch  die  Reihe  der  Schnitte 
verfolgt  werden. 

Die  Deckknochen  welche  sich  sehr  oft  in  Beziehung  zu 
einem  bestimmten  Knorpelstück  bringen  lassen,  erscheinen  zuerst 
in  Form  einer  Lamelle,  inmitten  des  mesodermatischen  Gewebes, 
und  in  einer  gewissen  Entfernung  von  dem  betrefifenden  Knorpel. 
Die  knöeherne  Lamelle  ist  in  der  Regel  gekrümmt  und  weist  in 
den  meisten  Fällen  eine  der  convexen  Fläche  des  Knorpels  zu- 
gewendete Concavität  auf.  Die  Zellen  des  Bindegewebes,  welche 
sich  zu  Osteoblasten  umwandeln,  zeigen  zuerst  um  sie  herum  einen 
lichteren  Saum,  sind  wenig  aneinander  gedrängt,  verlieren  ihre 
Fortsatze  und  werden  allmälig  in  einer  eosinophylen  Intercellular- 
substanz eingebettet. 

Periotische  Kapsel.  Die  in  diesem  Stadium  ganz 
knorpelig  gewordene  periotische  Kapsel,  zeigt  an  ihrer  lateralen 
Wand  die  zwei  Labyrinthfenster,  und  an  ihrer  medialen  Wand 
eine  grosse  Lücke,  den  künftigen  D  u  c  t  u  s  acusticus  internus. 

Die  periotische  Kapsel  ragt  auf  einer  gewissen  Strecke  nach 
Tome  ganz  frei  mit  ihrem  rundlichen  vorderen  Ende  hervor ;  gegen 
hinten  za  verschmilzt  die  mediale  Wand  mit  den  Sphoenoideum 

(87) 


98  Gradenigo. 

a  D  t  e  r  i  n  s ,  und  noch  weiter  hinten  verschmilzt  der  untere  Abschnitt 
dieser  Wand  mit  dem  Sphoenoidenm  posterius  und  occi- 
p  i  t  a  1  e.  Spuren  einer  Raphe  sind  an  den  letzteren  Verschmelzungs- 
stellen  zu  bemerken. 

Die  Kapsel  kann  als  aus  einem  vorderen  und  unteren,  welcher 
die  häutige  Cochlea  und  den  Sacculus  aufnimmt  (Pars  cochlearis), 
und  einem  hinteren  Theil,  welcher  die  Bogengänge  einschliesst 
(Pars  canalium  semicircularium) ,  zusammengesetzt  betrachtet 
werden. 

Der  vordere  Theil  ist  eine  ovale  Schale  mit  dem  in  verticaler 
Richtung  etwas  schief  nach  innen  gerichteten  grössten  Durchmesser, 
und  wird  aus  einer  knorpeligen  ziemlich  gleich  dicken  Lamelle 
gebildet,  welche  den  grössten  Theil  des  Ductus  cochlearis,  die 
Ganglien  und  die  Faser  des  Nervus  cochlearis,  alles  in  em* 
bryonalem  Bindegewebe  eingebettet,  aufninmit. 

Der  viel  massivere  hintere  Theil  stellt  bereits  eine 
Ejiorpelmasse  dar,  in  welcher  die  respectiven  Bogengänge  ein- 
gebettet erscheinen.  Seine  Gestalt  wird  durch  das  Vorhandensein 
eines  knorpeligen  Fortsatzes  unregelmässig,  welcher  von  dem 
hinteren  oberen  Abschnitte  der  lateralen  Oberfläche  abgeht,  sich 
lateralwärts  hinstreckt,  indem  er  in  einer  Art  Rinne  den  kurzen 
Ambosschenkelaufhimmt(Processusperioticusposterior^). 

Der  vordere  Theil  der  periotischen  Kapsel  ist  seinerseits 
mittelst  einer  knorpeligen  Lamelle  in  einem  oberen  grösseren 
Abschnitte,  welcher  den  grössten  Theil  des  spiralförmigen  Ductus 


^)  Nach  Beobachtungen,  welche  hauptsächlich  anf  spätere  Entwicklnngs- 
stadien  sich  beziehen,  nnd  über  deren  Ergebnisse  ich  mir  in  einer  anderen 
Arbeit  ansfährlich  zn  sprechen  vorbehalte,  wären  drei  knorpelige  Fort- 
sätze zn  unterscheiden,  welche  ans  der  lateralen  Wand  der  periotischen  Kapsel 
gegen  das  künftige  Mittelohr  zn  wachsen;  nämlich: 

1.  Processns  perioticns  superior,  welcher  nebst  einer  knöchernen 
LameUe  des  Os  sqnamosnm  znr  Bildung  des  sogenannten  Tegmen  tympan  i 
beiträgt. 

2.  Processns  perioticns  posterior,  welcher  mit  dem  Beichert- 
sehen  Knorpel  zuerst  in  faserige  Verbindung  tritt,  dann  mit  letzterem  knorpelig 
yerschmilzt  (Processus  styloideus  Politzer). 

3.  Processus  perioticns  inferior,  welcher  sich  zuletzt  entwickelt, 
und  theilweise  den  Boden  der  Paukenhöhle  bildet. 

(88) 


Die  eml)ryoiiale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeatung  etc.       99 

eoehleariB  anfiiimmt  (eigentliche  Pars  cochlearis),  und 
einem  kleineren  unteren-hinteren ,  welcher  den  Saccalus  und  da» 
AaÜEUigsstück  der  coehlearen  Basalwindang  in  sich  aufnimmt  (Par& 
vestibiilaris),  gesondert. 

Solche  Lamelle  weist  eine,  derjenigen  des  Ductus  coch- 
learis ähnliche,  Entwicklungsart  auf. 

Wie  bekannt,  entwickelt  sich  der  Ductus  cochlearis, 
während  er  gegen  hinten  in  Verbindung  mit  dem  Sacculus  mittelst 
dem  Canalis  reuniens  inferior  bleibt,  direct  nach  vorne  sich 
auf  einer  gewissen  Länge  hinstreckend,  um  sich  später  gegen 
oben,  aussen  und  hinten  imizubiegen,  und  somit  seine  Spiral- 
Windungen  anzufangen.  —  Die  knorpelige  Lamelle  des  Cochlearis- 
tfaeiles,  welche  die  Windungen  an  der  tympanalen  Seite  begrenzt^ 
ist  mit  der  übrigen  Kapsel  gegen  hinten  und  unten  nicht  ver- 
sehmolzen,  sondern  erscheint,  entsprechend  dem  Zwischenräume, 
welcher  zwischen  den  höheren  Spiralwindungen  und  dem  Sacculu» 
sammt  dem  Anfangsstticke  der  Basalwindung  sich  befindet,  nach 
vorne  und  oben  fast  hineingebogen.  Die  in  Rede  stehende  Lamelle 
setzt  sieh  dann  in  einer  vorspringenden  Linie  fort,  welche,  spiral- 
förmig ans  der  inneren  Wand  der  Kapsel  abgehend,  die  einzelnen 
Windungen  des  Ductus  cochlearis  trennt.  Diese  Linie  nimmt 
alhnälig  an  seiner  Höhe  ab,  je  mehr  sie  sich  dem  oberen  Thei) 
der  Cochlea  nähert. 

Bei  den  obgenannten  menschlichen  Embiyonen  ist  zwischen 
der  zweiten  und  dritten  Windung  kaum  eine  Spur  dieser  vor- 
springenden Linie  zu  sehen.  An  der  Stelle,  wo  die  äussere  Wand 
sich  g^en  das  Innere  der  Cochlea  umwendet,  befindet  sich  zwischen 
derselben  und  dem  übrigen  Theil  der  Kapsel  eine  deutliche 
Raphe. 

Es  bleibt  somit  eine  den  häutigen  Sacculus  und  das  Anfangs- 
stück der  Basalwindung  enthaltende  Höhle,  welche  weder  nach 
vorne,  noch  nach  hinten  geschlossen  ist,  da  der  Sacculus  mittelst 
dem  Canalis  reuniens  inferior  mit  dem  Ductus  coch- 
learis nnd  mittelst  dem  Canalis  reuniens  superior  mit 
dem  Utricnlus  (Alveus  communis  canalium  semicir- 
enJariam)  in  Verbindung  steht.  Diese  Höhle  stellt  die  vestibuläre 
Höhle  dar. 

(39) 


100  Crradenigo. 

Es  ist  wichtig,'  die  Gegenwart  der  begehriebenen  Raphe 
zwischen  dem  hinteren  unteren  Theil  der  cochlearen  Lamelle  und 
dem  oberen  vorderen  der  yestibularen  zu  constatiren.  Bei  den 
Frontalschnitten  erscheint  diese  unmittelbar  oberhalb  des  ovalen 
Fensters,  und  könnte  daher  mit  der  oberen  Differenzirungslinie 
der  Lamina  stapedialis  verwechselt  werden.  In  der  Fig.  10 
z.  B.  ist  die  Raphe  mit  dem  Buchstaben  J?,  die  obere  Peripherie 
der  Lamina  stapedialis  mit  A  bezeichnet. 

Ovales  Fenster.  —  Lamina  und  Annulus  stape- 
dialis. (Menschl.  Embryonen  4  Cm.  Vergl.  Fig.  9  und  10). 

Die  Stelle  der  capsularen  Wand,  an  welcher  der  Stapedialring 
anliegt,  beginnt  nur  gegen  oben  und  hinten  zu  von  dem  übrigen 
Theil  der  Wand  sich  zu  diflferenziren ,  und  eine  solche  Differen- 
yjrung  scheint  wesentlich  durch  das  Hineindringen  von  faserigen 
Elementen,  besonders  von  der  tympanalen  Seite  her,  unterstützt  zu 
werden.  Die  Differenzirung  ist  nur  an  der  oberen  hinteren  Peripherie 
der  Lamina  zu  sehen;  weiter  nach  vorne  kann  man  blos  eine 
Anordnung  der  Knorpelzellen  in  parallelen,  dem  Rande  des 
Annulus  stapedialis  concentrischen  Reihen,  beobachten. 

Der  in  seiner  ganzen  Umrandung  scharf  begrenzte  Annulus 
stapedialis  hat  sich  in  die  Lamina  um  beiläufig  die  Hälfte 
der  Dicke  seines  medialen  Randes  hineinvertieft.  Der  Ring  ist 
in  ähnlicher  Weise  zu  dem,  was  wir  bei  Katzenembryonen  con- 
statirt  haben,  schief  gerichtet,  so  dass  sein  hinterer  äusserer  Rand 
am  tiefsten  zu  liegen  kommt. 

üeberreste  der  A.  stapedialis  sind  noch  zu  sehen. 

Diese  Verhältnisse  sind  aus  der  Fig.  9  und  10  zu  sehen. 

Fig.  9  stellt  einen  frontalen  Schnitt  dar,  der  hinter  dem 
langen  Ambosschenkel  geführt  wurde,  und  das  Lumen  des  An- 
nulus stapedialis  getroffen  hat.  Der  laterale  und  der  mediale 
Rand  des  Ringes  weisen  eine  ziemlich  gleiche  Dicke  auf.  Die 
Stelle  der  Labyrinthwand,  an  welcher  der  Stapedialring  anliegt, 
zeigt  noch  nicht  eine  DiflFerenzirung  von  dem  übrigen  Gewebe; 
die  Raphe,  welche  nach  oben  zu  in  der  Figur  zu  sehen  ist,  ent- 
spricht den  Grenzen  zwischen  der  vestibulären  Lamelle  und  der 
Partie  der  periotischen  Kapsel,  welche  die  Bogengänge  umschliesst. 
Ausser  dem  engen  Vas  perforans  (Arteria  stapedialis),   findet 

(40) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     JQ 1 

man  ein  Stückchen  des  Mnscnlas  stapedialis  (M.  st.),  den  hinteren 
periotischen  Fortsatz  (Pr.  per.),  den  Sacculus  (Sacc.),  den  Ductus 
cochlearis  (D.  coch.),  das  runde  Fenster  (Fen.  r.)  u.  s.  w. 

Bei  Fig.  10,  die  einen  frontalen  Schnitt  hinter  dem  soeben 
beschriebenen  darstellt,  ist  der  Ring  in  der  Nähe  seines  hinteren 
Schenkels  getroffen;  dabei  bemerken  wir  oben,  neben  der  be- 
schriebenen Begrenzungslinie  zwischen  der  vestibulären  und  der 
cochlearen  Partie  (R.),  die  Differenzirung  der  oberen  Peripherie 
der  Lamina  stapedialis. 

Wenn  wir  bei  starker  Vergrösserung  den  an  der  vestibulären 
Wand  anliegenden  Theil  des  Annulus  untersuchen  (Fig.  11),  finden 
wir  sein  Gewebe  aus  kleinen,  intensiv  gefärbten  Zellen  gebildet 
nnd  die  Intercellularsubstanz  ziemlich  reichlich  vorhanden.  Die 
Grenzschichte  des  Annulus  (St.  1.)  pflanzt  sich  auch  zwischen 
Annulus  und  Lamina  fort.  Die  Stelle  der  Kapselwand,  an 
welcher  der  Ring  anliegt,  zeigt  relativ  grosse,  schwach  gefärbte, 
nnd  mit  kleinem  geschrumpften  Kern  versehene  Zellen,  die  fast 
concentrisch  zu  der  Berührungsfläche  in  Reihen  angeordnet  sind, 
und  an  der  tympanalen  Seite  keine  Grenzschichte  aufweisen.  Das 
Bindegewebe  zeigt  sowohl  an  der  tympanalen  als  auch  an  der 
labyrinthischen  Seite  eine  echt  faserige  Beschaffenheit. 

Entsprechend  dem  hinteren  Rande  des  Ringes,  dringen  diese 
Bindegewebsfasern  von  der  tympanalen  Seite  her  in  das  Knorpel- 
gewebe der  capsnlaren  Wand  und  beginnen  so  an  dieser  Stelle 
die  künftige  Lamina  stapedialis  zu  begrenzen. 

BeidemEmbryo  4^2  Cm.  Scheitel-Steiss-Länge , 
ist  die  Lamina  stapedialis  rund  herum  deutlich  differenzirt;  die 
beschriebene  Raphe  ist  noch  deutlich  vorhanden. 

Rundes  Fenster.  Das  runde  Fenster  ist  schon  deutlich 
rund  herum  mit  knorpeligen  Rändern  begrenzt.  Das  Promontorium 
endet  g^en  unten  zu  mit  einer  convexen  Oberfläche  (Fig.  9,  Pr.), 
und  vom  inneren  Rande  dieser  Oberfläche  geht  die  Anlage  der 
Membrana  tympani  secundaria  ab,  und  heftet  sich  dem 
inneren  Rande  des  gegenüberliegenden  Abschnittes  der  Kapsel 
an.  Die  Anlage  der  Membrana  wird  von  intensiver  gefärbten, 
spindelförmigen  oder  länglichen  in  longitudinalen  Reihen  ange- 
ordneten Zellen  zusammengesetzt,  welche  als  von  der  Verlängerung 

(41) 


102  Gradenigo. 

und  der  Verschmelznng  des  Perichondriums  der  inneren  und  äasseren 
Oberfläche  der  capsularen  Wand  gebildet  betrachtet  werden  dürften. 

Während  jedoch  an  der  tympanalen  Seite  die  die  obge- 
nannte  Anlage  zusammensetzenden  Zellen  allmälig  in  die  Zellen 
des  Bindegewebes,  welches  noch  den  betreffenden  Abschnitt  der 
tympanalen  Höhle  besetzt,  übergehen,  scheint  hingegen  an  der 
vestibnlaren  Seite  die  Membrana  genau  begrenzt,  da  schon 
hierbei  ein  Resorptionsprocess  angefangen  hat.  Das  Bindegewebe 
der  vestibulären  Höhle  ist  grösstentheils  gegen  hinten  zu  um  das 
Anfangsstück  des  Ductus  cochlearis  und  den  Sacculus 
(Fig.  10,  Sac.)  verschwunden ;  die  Resorption  reicht  bereits  nach 
hinten  bis  zur  vorderen  Wand  des  Utriculns. 

Mandibularbogen.  In  diesem  Entwicklungsstadium 
können  wir  bereits  den  vorderen  grösseren  Abschnitt  des  Mandi- 
bular bogens  als  M ecke Fschen  Knorpel,  und  das  proximale  Endstück 
als  Hammer  und  Ambos  bezeichnen. 

Der  MeckeFsche  Knorpel  erscheint  in  Form  eines 
knorpeligen  Stabes,  dessen  Durchmesser,  welcher  ziemlich  constant 
in  den  einzelnen  Abschnitten  bleibt,  durchschnittlich  0*50  Mm.  misst 
Die  distalen  Enden  vereinigen  sich  in  der  Mittellinie  und  lassen 
zwischen  sich  eine  Raphe  deatlich  erkennen.  Der  knorpelige  Stab 
steigt  nach  hinten  zu,  indem  er  sich  etwas  medialwärts  umbiegt.  Das 
proximale  Ende  des  M  e  c  k  e  Tschen  Knorpels  geht  in  den  Hammer- 
körper über,  und  entspricht  dem  medialen  Abschnitte  des  letzteren. 

Hammer.  Der  Hammer  bietet  schon  die  Form  des  Hammers 
eines  erwachsenen  Menschen  dar;  bei  selbem  sind  bereits  die 
Andeutungen  des  kurzen  und  des  musculären  Fortsatzes  zu  erkennen. 

Der  Hammer  ist  von  vorne,  oben  und  aussen  nach  hinten, 
unten  und  innen  gerichtet.  Der  verhältnissmässig  dicke  Griff 
erscheint  concav  gegen  vorne;  durch  die  schiefe  Lage  des  ge- 
sammten  Knöchelchen  tritt  das  stumpfe  Griffende  mit  der  gegen- 
überliegenden Wand  der  periotischen  Kapsel  in  Berührung. 

Die  wichtigen  Beziehungen,  in  welchen  der  Hammer  zu 
dem  tnbo-tympanalen  Räume  gelangt,  werden  später,  —  bei  Ge- 
legenheit von  der  Darstellung  der  Entwicklungsweise  dieses  Raumes, 
—  ausführlich  besprochen  werden.  Hier  glaube  ich  nur  erwähnen 
zu  dürfen,  dass  die  ganze  Partie  des  Knöchelchen,  welche  oberhalb 

(42) 


Di«  embryonale  Aiilage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeuttmg  etc.     1 03 

des  kurzen  Fortsatzes  liegt ,  Ton  embryonalem  Bindegewebe  um- 
geben erseheint,  so  dass  nm*  der  Griff  frei  in  die  Trommel- 
höhle hineinragt,  nnd  von  Epithel  bedeckt  wird,  jedoch  derart, 
dass  das  Knorpelgewebe  von  dem  Epithelialüberznge  dnroh  eine 
ziemlich  gleich  dicke  Schichte  von  Bindegewebe  getrennt  bleibt. 

Ambos.  Der  Ambos  empfängt  den  Hammerkopf  in  einer 
schief  Ton  oben  nnd  aussen  nach  unten  and  innen  gerichteten 
Furche.  Die  Gelenkflächen  deuten  bereits  die  Form,  welche  beim 
erwachsenen  Menschen  anzutreffen  ist.  Zwischen  den  zwei  Knorpeln 
liegt  eine  ans  länglichen  Zellen  bestehende  intermediäre  Schichte, 
welche  als  aus  der  Yerläugerung  und  der  Verschmelzung  der 
Grenzschichten  (Perichondria)  der  zwei  Knöchelchen  entstanden, 
angesehen  werden  kann. 

Ich  konnte  jedoch  durch  sorgfältigste  PriLfung  der  betreffenden 
Präparate  die  Ueberzeugung  gewinnen,  dass  in  beiden  in  Rede 
stehenden  menschlichen  Embryonen  die  Trennung  der  zwei  Ge- 
hörknöchelchen noch  keine  vollständige  war.  —  Es  war  in  der 
That  dem  unteren  und  äusseren  Theil  des  Gelenkes  entsprechend 
eine  Art,  aus  Knorpelgewebe  bestehender  Brücke  zu  beobachten, 
welche  den  Hanuner-  und  Amboskopf  direct  yereinigte.  —  An  dieser 
Stelle  liess  die  besondere  Anordnung  der  Knorpelzellen  nicht 
einmal  die  spätere  Trennung  der  Gehörknöchelchen  vorhersehen. 

Der  Ambos  bietet,  so  wie  der  Hammer,  annäherungsweise 
die  Form,  welche  beim  Erwachsenen  anzutreffen  ist ;  auch  dieses 
Knöchelchen,  so  wie  der  Hammer,  ist  schief  nach  innen  und  unten 
gerichtet.  Der  etwas  von  dem  Hammergriff  nach  hinten  diver- 
giiende  lange  Ambosschenkel  steigt  herunter  nach  innen  zu,  und 
weist  eine  Convexität  nach  vorne  auf.  —  Das  Ende  des  langen 
AmboBschenkels  tritt  zu  dem  distalen  Rande  des  Annulus  sta- 
pedialisin  Beziehung,  indem  es  sich  stark  nach  innen  in  seinem 
untersten  Stücke  biegt.  Die  vereinigten  Grenzschichten  trennen 
die  zwei  Knorpelstücke  von  einander. 

Es  ist  keine  Spur  eines  getrennten  knorpeligen  Os  lenti- 
eulare  s.  sjlvianum  zu  sehen. 

Der  kurze  Ambosschenkel  wird  in  einer  fast  quergerichteten 
Forche  der  vorderen  Fläche  des  hinteren  periotischen  Fortsatzes 
angenommen,  nnd  mittelst  faserigen  Bindegewebes  fixirt. 

(48) 


104  Gradenigo. 

Hyoidbogen.  Der  Hyoidbogen  stellt  die  Form  eines  knor- 
peligen Stabes  dar,  welcher  ziemlieh  beträchtliche  Verschiedenheiten 
der  Dicke  in  seinen  einzelnen  Abschnitten  zeigt.  Man  kann  über- 
haupt sagen,  dass  sein  Durchmesser  nie  die  Hälfte  des  Durch- 
messers des  mandibularen  Bogens  übertrifit.  Bezüglich  seinem 
proximalen  Stücke,  welches  als  Annulus  stapedialis  sich  ganz  von 
dem  übrigen  Hyoidbogen  getrennt  hat,  und  in  inniges  Verhältniss 
zu  dem  langen  Ambosschenkel  und  der  Lamina  stapedialis 
gelangt  ist,  war  schon  bei  der  Darstellung  der  Entwicklungsvor- 
gänge  der  Kapsel  die  Rede.  Das  übrige  proximale  Stück  wird 
von  uns  als  Reichert'scher  Knorpel  bezeichnet  werden. 

Die  distalen  Enden  des  Hyoidbogens  vereinigen  sich  neben 
der  Mittelinie  mit  dem  knorpeligen  Os  hyoideum.  An  dieser 
Stelle  erscheint  der  Knorpel  grösser.  (Durchmesser  circa  0*35  Mm.^) 

Indem  der  Reich  er t'sche  Knorpel  sich  nach  hinten  und 
oben  hinstreckt,  wird  er,  einer  mittleren  Partie  entsprechend, 
beträchtlich  dünner  (Durchmesser  022  Mm.),  und  auf  dieser  Strecke 
bietet  auch  sein  Gewebe  das  Aussehen  eines  noch  sehr  unreifen 
Knorpels  dar.  Weiter  hinten  biegt  sich  der  Knorpel  nach  oben, 
nimmt  wieder  an  Dicke  zu,  und  misst  in  seinem  proximalen  End- 
stücke 0-30. 

Der  R  eich  er  f  sehe  Knorpel  steigt  einem  länglichen  knor- 
peligen Fortsatze  entgegen,  welcher  die  Verlängerung  nach  unten 
des  capsularen  Abschnittes  darstellt,  welcher  vorne  den  kurzen 
Ambosschenkel  in  sich  aufnimmt;  er  legt  sich  an  die  mediale 
Seite  dieses  Fortsatzes,  und  hört  mit  einem  stumpfen  und  freien 
Ende  ungefähr  in  der  Höhe  des  mittleren  Abschnittes  des  Pro- 
montoriums auf.  Die  laterale  Fläche  des  Reicher  tischen  Knorpels 
wird  mittelst  faserigen  Gewebes  mit  den  medialen  Flächen  des 
obgenannten  Processus  perioticus  verbunden,  und  verschmilzt 
in  späteren  Entwicklungsstadien  knorpelig  mit  diesem  Portsatze. 

Deckknochen.  Unter  den  zahlreichen  Deckknochen,  die 
im  Schädel  in  dieser  Entwicklungsperiode  schon  aufgetreten  sind. 


^)  Ich  darf  woM  bemerken,  dass,  wenn  die  Schnitte  nicht  in  einer  genauen 
frontalen  Ebene  geführt  worden  sind,  so  wie  der  mandibulare  als  anch  der 
Hyoidbogen  von  verschiedenen  Dimensionen  und  Gestaltungen  erscheinen  können. 

(44) 


Die  embiyonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologiBclie  Bedeutung  etc.     105 

werde  ich  nur  die  berücksichtigen,  welche  sich  in  Beziehung  zu 
den  zwei  ersten  Skeletelementen  der  Kiemenbogen  bringen  lassen, 
namfieh :  Os  mandibnlare,  Os  sqnamosom,  Processus  gracilis  mallei 
and  Annnlos  tympanicos. 

Der  Unterkiefer  (Mandibula),  das  Sqnamosum,  der  Processus 
gracilis  8.  folianus  mallei  (langer  Hammerfoi*tsatz)  stehen  alle  in 
Beziehung  zu  dem  mandibularen  Knorpel  und  seinen  Derivaten. 
Der  Annolus  tympanicus  scheint  nicht  nur  mit  dem  proximalen 
Abschnitte  des  mandibularen,  sondern  auch  mit  dem  proximalen 
Abschnitte  des  Hyoidbogens  in  Beziehung  zu  sein. 

Os  mandibulare  (Os  dentalis,  Unterkiefer).Fig.  24. 
Der  Unterkiefer  stellt  den  ersten  Deckknochen,  welcher  im  Kopfe 
des  Embryos  auftritt,  dar  (yergl.  III.  Stadium).  Ganz  vorne  neben 
der  Mittellinie,  vor  der  Yereinigungsstelle  der  zwei  M  e  c  k  e  Fschen 
Knorpel,  erscheint  der  Unterkiefer  in  Form  einer  knöchernen 
Lamelle.  Vorne  an  der  Seite  treten  zwei  knöcherne  gekrümmte 
Lamellen  auf,  welche  unten  in  einer  Anschwellung  zusammenlaufen, 
und  somit  einen  spitzigen  gegen  oben  geöfiheten  Winkel  bilden. 
Die  mediale  Lamelle  bietet  eine,  der  äusseren  convexen  Flächen 
des  mandibularen  Knorpels  entsprechende  Concavität  dar,  bleibt 
jedoch  durch  eine  Bindegewebsschichte  von  dieser  Fläche  getrennt 
(Fig.  24,  Ma.  La.  m.). 

Die  laterale,  in  ähnlicher  Weise  concave  Lamelle  zeigt 
ongefahr  dieselbe  Höhe  als  die  mediale  (Fig.  24,  Ma.  La.  1.).  In 
dem  spitzigen,  gegen  oben  geöfiheten  Winkel,  welchen  die  zwei 
Lamellen  begrenzen,  sind  die  Arteria  und  Nervus  alveo- 
lar is  (Aa.  und  Na.)  und  ganz  oben  die  Zahnkeime  (D.),  welche 
als  Ausstülpungen  des  epithelialen  Ueberzuges  des  Mundes  er- 
scheinen, in  einem  sehr  lockeren  Gewebe  eingebettet.  Bei  der 
Fig.  24  ist  noch  das  Sulcus  lingualis  (Su.  Li.)  zu  sehen. 
Weiter  hinten  nimmt  die  mediale  Lamelle  allmälig  an  Höhe  ab, 
während  die  laterale  fortwährend  an  Höhe  zunimmt,  und  an  ihren 
zwei  Enden  kolbig  angeschwollen  erscheint.  Diese  letztere  Lamelle 
stellt  den  Processus  coronoideus  und  condyloideus  der 
Mandibula  dar,  und  wird  schon  mittelst  deutlich  angeordneter 
Muskelfasern  mit  dem  Os  jugale  und  der  künftigen  Fossa 
zygom atica  verbunden. 

(46) 


106  Gradenigo. 

Der  MeckeFsche  Knorpel  bleibt  immer  im  Niveau  des 
unteren  Abschnittes  des  knöchernen  Unterkiefers^  in  einer  gewissen 
Entfernung  Yon  diesem.  Nur  auf  einer  kurzen  Strecke  habe  ich 
bei  dem  menschlichen  Embryo  4V2  Cm.  constatirt,  dass  die  untere, 
aus  der  Verschmelzung  beider  Lamellen  entstandene  Anschwellung 
in  Berührung  mit  der  vorderen  äusseren  Peripherie  des  M  eck  ei- 
schen Knorpels  getreten  war,  und  an  dieser  Stelle  wegen  der  unregel- 
mässigen Krümmung  hätte  der  Knorpel  als  atrophisch  betrachtet 
werden  können. 

Os  squamosum  (Fig.  25).  In  der  frontalen  Ebene  des 
vorderen  Abschnittes  der  periotischen  Kapsel,  fangt  das  Squamosum 
in  Form  zweier  knöcherner  Lamellen,  welche  in  einen  fast 
rechten,  nach  aussen  geöffneten  Winkel  zusammenlaufen,  zu  er- 
scheinen an.  Die  untere  Lamelle  (L.  i.  s.)  bietet  eine  dem  convexen 
oberen  äusseren  Rande  des  mandibularen  Bogens  entsprechende 
Krümmung  dar;  bleibt  jedoch  in  einer  gewissen  Entfernung  von 
diesem  Rande.  Die  obere,  fast  verticale  Lamelle  (L.  v.  s.)  besitzt 
ungefähr  dieselbe  Höhe  wie  die  andere  und  erscheint  weniger 
gekrümmt.  Gegen  hinten  hin  schiebt  sich  die  verticale  Lamelle 
allmälig  mit  ihrem  unteren  Ende  lateralwärts,  so  dass  zuletzt  die 
zwei  Lamellen  einen  spitzigen,  medial wärts  geö£fheten  Winkel 
zusammen  begrenzen.  Weiter  hinten  oberhalb  der  Hanmier-  und 
Ambosköpfe  verschmelzen  die  zwei  Lamellen  des  Squamosum 
in  eine  einzige  Lamelle,  welche  mit  einer  passenden  Krümmung 
die  Köpfe  der  Knöchelchen  von  aussen  und  oben  umfasst. 

In  der  frontalen  Ebene  des  Amboskörpers  ist  keine  Spur 
des  Squamosum  mehr  zu  sehen. 

Annulus  tympanicus  (Fig.  25,  An.  ty.).  Der  tym- 
panale  Ring  stellt  den  grösseren  Theil  eines  knöchernen, 
zwischen  den  zwei  proximalen  Enden  des  mandibularen  und 
des  Hyoidbogens  gelegenen  Ringes  dar.  Der  tympanale  Ring 
fehlt  der  Stelle  entsprechend,  wo  die  Köpfe  des  Hammers  und 
des  Ambosses  sich  befinden,  und  behält  nicht  die  gleiche  Dicke 
in  seiner  Peripherie.  Der  Abschnitt,  welcher  direct  unterhalb  des 
letzten  Theiles  des  MeckeTschen  Knorpels  liegt,  ist  der  breiteste; 
er  besitzt  die  Form  einer  dünnen,  gegen  oben  convexen  Lamelle, 
und  fast  die  Breite  der  unteren  convexen  Fläche  des  Meckel- 

(46) 


Die  embryonale  Anlage  des  Hittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     107 

sehen  Stabes  (An.  ty.).  Das  laterale  Ende  der  Laraelle  ist  dem 
Knorpel  näher  als  das  mediale.  Diese  Lamelle  hört  frei  nach 
hinten  anf,  bevor  der  MeckeFsche  Knorpel  (Mn.)  in  den  Hammer- 
körper übergeht  Na<^h  yome  und  unten  setzt  sich  die  Lamelle 
in  einer  dünnen  knöchernen,  fast  cylindrischen  Spange  fort, 
welche  sich  nach  hinten  krümmt,  um  an  der  medialen  und  oberen 
Seite  des  Rei c he rf sehen  Knorpels  (Hy.)  zu  gelangen.  An  der 
Stelle,  wo  direct  dieser  Knorpel  nach  oben  umbiegt,  bleibt  der 
hintere  Band  des  tympanalen  Ringes  medialwärts  und  vorne  von 
ihm,  nm  frei  in  der  Höhe  ungefähr  des  stumpfen  Endes  des  er- 
wähnten Reicherf sehen  Knorpels  zu  enden. 

Die  hintere  Umrandung  des  Ringes  bleibt  immer  in  einer 
Constanten  Entfernung  von  dem  Hyoidbogen. 

Processus  folianus  s.  gracilis  mallei  (Fig.  25, 
P.  g.  m.).  Der  lange  Hammerfortsatz  erscheint  zuerst  in  Form  eines 
schmalen  knöchernen,  in  einer  sehr  kurzen  Entfernung  von  dem 
MeckeTschen  Fortsatze  gelegenen  Leistchen.  Dieser  knöcherne 
Fortsatz  reicht  vorne  nicht  bis  zur  vorderen  Umrandung  des 
Annulns  tympanicus.  Er  kommt  direct  oberhalb  des  medialen 
Abschnittes  der  Lamelle,  die  die  vordere  obere  Peripherie  des 
Annnlnstympanicus  bildet,  zu  hegen.  Gegen  hinten  behält  er 
dieselbe  Lage  bezüglich  des  MeckeTschen  Knorpels  bei,  und 
endet  an  der  inneren  Seite  des  vorderen  Abschnittes  des  Hammer- 
körpers, unmittelbar  oberhalb  des  tubo-tympanalen  Raumes. 

Der  Processus  gracilis  tritt  in  kein  näheres  Yerhältniss 
zn  dem  Hanuner. 

Muskeln.  Der  Musculus  tensor  ebenso  wie  der  Mus- 
cnlns  stapedius  sind  bei  4  und  4Va  Cm.  langen  menschUchen 
Embryonen  deutlich  differenzirt,  insbesondere  ihrer  Anhefkungs- 
steUe  an  der  periotischen  Kapsel  entsprechend. 

Der  Musculus  tensor  entspringt  an  einer  fast  horizontalen 
vorspringenden  Linie  der  tympanalen  Wand  der  periotischen 
Kapsel,  ungefähr  in  der  Höhe  der  unteren  Hälfte  der  Mittel- 
windong  des  Ductus  cochlearis  und  wendet  sich  nach  hinten; 
seine  Anheftnngsstelle  an  der  inneren  Seite  des  Hammers  ist  noch 
nicht  gut  angedeutet. 

(47) 


108  Gradenigo. 

Der  Musculas  stapedius  nimmt  seinen  Ursprung  von 
unten  nach  oben,  längs  einer  von  dem  hinteren  periotischen 
Fortsatze  gebotenen  Rinne,  welche  Rinne  auch  den  absteigenden 
Facialisstämm  aufnimmt. 

Näheres  über  die  topograpischen  Verhältnisse,  die  der 
Musculus  tensor  zu  diesen  Nerven  und  zu  dem  oberen  End- 
stücke des  Reich  er  tischen  Knorpels  darbietet,  wird  später  mit- 
getheilt  werden. 

Weitere  Entwicklung  der  Gehörknöchelchen 
und  der  periotischen  Kapsel.  Da  ich  in  dieser  Arbeit 
die  Entstehungsweise  der  Gehörknöchelchen  und  der  periotischen 
Kapsel  nur  bis  zum  Anfange  der  Yerknöcherung  zu  verfolgen  mir 
vorgenommen  habe,  bleibt  es  mir  nun  noch  übrig,  um  das  vor- 
liegende Thema  zu  vervollständigen,  die  Resultate  der  Prüfung 
älterer  menschlicher  Embiyonen,  die  noch  keine  Verknöcherungs- 
punkte  in  dem  Skeletelemente  des  Mittelohres  darboten,  zu  er- 
wähnen. 

Wir  haben  schon  gesehen,  dass  bei  4  und  4Va  Ctm. 
langen  menschlichen  Embryonen  die  Gehörknöchelchen  bereits 
annähernd  die  Form,  welche  beim  Erwachsenen  anzutreffen  ist, 
zeigen ;  es  ist  also  vorauszusehen,  dass  in  späteren  Stadien  keine 
wichtigen  Veränderungen  mehr  zu  treffen  sein  werden.  Ich  halte 
nur  für  geeignet,  einige  Detail  Vorgänge  bei  der  Lamina  sta- 
pedialis  und  dem  Reic herrschen  Knorpel  hervorzuheben. 

Entsprechend  der  Peripherie  der  Lamina  zerti-ümmem  und 
vernichten  die  hineindringenden  Bindegewebsfaserzüge  die  einzelnen 
Knorpelzellen.  An  dem  centralen  Theile  der  Lamina  hingegen 
erscheinen  die  Zellen  verdrängt  und  in  einem  Zustande  von 
beginnender  Atrophie  (Fig.  13).  Die  Lamina  sieht  sehr  ver- 
schmälert aus. 

Obschon  in  dieser  Entwicklungsphase  die  Grenzschichte 
nicht  mehr  zu  sehen  ist,  bleibt  die  Lamina  stapedialis  doch 
scharf  von  dem  A  n  n  u  1  u  s  getrennt ;  die  kleinen  und  gut  gefärbten 
Zellen  des  letzteren  scheinen  eine  rege  kariokynetische  Thätigkeit 
zu  besitzen. 

In  weiteren  Stadien  ist  es  nicht  möglich  an  der  Basis  der 
schon  ziemlich   gut  ausgebildeten  Stapes  die  Lamina  deutlich  zu 

(48) 


Die  efmbTyonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedenttmg  etc.     109 

erkennen.  Die  einzelnen  Theile  dieses  Knöchelchens  nehmen 
allmälig  Form  nnd  Verhältnisse  an,  wie  sie  bei  dem  Erwachsenen 
anzutreffen  sind. 

Bei  der  Untersuchung  der  entsprechenden  Entwicklnngsphasen 
bei  Kaninchen-,  Hnnd-  nnd  Mansembryonen ,  habe  ich  an  der 
Basis  des  Stapes  ganz  dentlich  die  zwei  sie  zusammensetzenden 
Elemente  erkannt  (Annulus  und  Lamina),  welche  besonders  durch 
die  Yerschiedene  Färbung  hervortraten.  In  den  späteren  em- 
bryonalen Stadien  ist  eine  solche  Unterscheidung  nicht  mehr 
möglieh. 

Das  Ligamentum  annulare  bildet  sich  durch  Hinein- 
dringen der  Bindegewebsfaser  hauptsächlich  von  der  tympanalen 
Seite  her,  der  Peripherie  der  Lami na  entsprechend.  —  Ich  habe 
jedoch  mich  oft  überzeugen  können,  insbesondere  bei  Kaninchen- 
embryonen, dasB  auch  ein  Theil  der  KnorpelzeUen  in  der  ent- 
sprechenden Gegend  zur  Bildung  des  in  Rede  stehenden  Gelenkes 
beitragt.  Diese  Zellen  platten  sich  ab,  ordnen  sich  in  parallelen 
Reihen  zu  der  Oberfläche  der  Lamina,  nehmen  die  Charaktere 
der  Bindegewebszellen  an  und  wandeln  sich  zuletzt  im  eigentlichen 
Fasergewebe  um. 

Reichert'scher  Knorpel.  Bei  einem  menschlichen 
Emhryo  8  Ctm.  Scheitel-Steiss-Länge  habe  ich  das  Endstück 
des  Hyoidknorpels  durch  eine,  von  unten  beginnende  Reihe  von 
horizontal  geführten  Schnitten  verfolgt.  Die  Fig.  14  bis  18,  welche 
bei  fiinf  aufeinanderfolgenden  Schnitten  unternommen  wurden, 
yeranschanlichen  genau  die  topographischen  Verhältnisse  dieses 
KnorpelB.  In  Fig.  15  sind  die  Contouren  des  tubo-tympanalen 
Ramnes  (Ca.  t.  ty.),  des  äusseren  Gehörganges  (C.  a.  ex.),  des 
Trommelfells  (M.  ty.)  und  des  schief  getroffenen  Hammergriffes 
M.  M.)  gezeichnet. 

Der  Vergleich  der  einzelnen  Schnitte  lässt  uns  erkennen, 
dass  der  Knorpel  in  einer  Art  tiefen,  nach  vorne  offenen  Furche 
liegt,  die  von  der  hinteren  Partie  der  periotischen  Kapsel  gebildet 
erscheint.  Der  Knorpel  verschmälert  sich  allmälig  gegen  oben 
zu;  in  Fig.  17  ist  nur  noch  seine  Grenzschichte  vorhanden,  in 
Kg.  18  jede  Spur  verschwunden.  Wir  treffen  in  diesen  Figuren 
die  faserige  Verbindung   der  lateralen  Wand   des  Knorpels  mit 

Med.  Jalirbücher.  1887.  9    (49) 


110  Grftdenigo. 

der  entgegengesetzten  medialen  des  periotischen  Fortsatzes  nicht, 
weil  diese  Verbindung  in  einem  tieferen  Niveau  liegt. 

Der  Vn.  Nervus,  welcher  gegen  oben  seine  Grössenverhältnisse 
nicht  merklich  modificirt,  liegt  aussen  und  hinten  von  dem  Knorpel. 
Der  Musculus  stapedius,  welcher  oben  an  Dicke  zunimmt,  liegt 
hinten  und  etwas  innen. 

Bei  anderen  menschlichen  Embr}'^onen  yerschmilzt  indess  der 
Reich ert'sche  Knorpel  unter  Bildung  einer  Baphe  mit  dem 
Gewebe  des  periotischen  Fortsatzes. 

Die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  über  dieses  IV.  Ent- 
wicklungsstadium  (menschliche  Embryonen)  lassen  sich  folgender- 
massen  zusammenfassen: 

L  Die  Skelettheüe  des  Hittelohres  sind  durch  echtes  Knorpel- 
gewebe vertreten  und  zeigen  noch  keine  Ossiflcationspunkte. 

Die  meisten  Deckknochen  sind  schon  aufjgetreten.  Die  Ver- 
knöcherung beginnt  in  der  Basis  Cranil. 

n.  Das  Knorpelgewebe  ist  durch  grosse  Zellen  mit  deutlich 
markirter  Kapsel  und  reichlicher  Intercellularsubstans  charakterisirt. 
Die  Orenzsohichte  der  Knorpelstficke  stellt  jetzt  die  Anlage  des 
Perichondriums  dar. 

m.  Der  vordere  Abschnitt  der  periotischen  Kapsel  wird 
durch  Einbiegung  einer  knorpeligen  Lamelle  in  eine  cocUeare  und 
eine  vestibuläre  Partie  gesondert. 

IV.  Die  Lamina  stapedialis  wird  rund  herum  von  der 
äbrigen  vestibulären  Wand  durch  das  Hineindringen  von  faserigem 
Bindegewebe  differenzirt.  Der  mediale  Band  desAnnulusstape- 
dialis  dringt  aUmälig  in  die  Lamina  hinein;  das  Gewebe  der 
Lamina  verschmilzt  theilweise  mit  dem  Gewebe  des  Annulus, 
und  erföhrt  theilweise  einen  Involationsvorgang. 

Das  runde  Fenster  ist  schon  mit  der  Anlage  der  Membrana 
tympani  secundaria  zu  sehen. 

V.  Der  Hammer  erscheint  mit  dem  Ambos  knorpelig  partiell 
vereinigt,  der  betreffenden  Gelenkfläche  entsprechend. 

VI.  Der  Beiohert'sche  Knorpel  hat  jede  Beziehung  zum 
Annulus  stapedialis  verloren;  er  tritt  in  faserige  Verbin- 
dung mit  einem  absteigenden  Fortsatze  der  periotischen  Kapsel, 

'  (BO) 


Die  «BibTTOBalo  Anlage  des  Mittelohiea :  die  morphologische  Bedeatang  etc.     1 1 1 

und  yeraelunilzt   mit  diesem    in  einem  späteren  Entwicklungs- 
sbidinm. 

YIL  Der  knöoheme  Unterkiefer  ersclieint  zuerst  an  der 
lateralen  Seite  des  M  e  e  k  e  rscken  Knorpels  in  Form  zweier  Lamellen, 
welche  aieh  naeh  nnten  vereinigen  nnd  somit  einen  naek  oben 
geolljieten  Winkel  begrenzen.  Zwischen  den  Lamellen  sind  die 
Arteria  und  Nervus  alveolaris  und  die  Zaknkeime  im  embryonalen 
Bindegewebe  eingebettet. 

YUL  Das  Os  squamosum  erscheint  zuerst  oberhalb  des 
MeekeTschen  Xnorpels  in  Form  zweier  knöcherner  Lamellen, 
wdehe  vorne  einen  rechten  nach  oben  und  aussen  geöflheten 
Winkel  bilden,  und  hinten  in  einer  einzigen  gekrümmten  Lamelle, 
welche  die  Hammer-,  Ambosköpfe  umfasst  sich  vereinigen. 

£E.  Der  Annulus  tympanicus,  welcher  den  Hammer-, 
AmboskSpfen  entsprechend  unterbrochen  ist,  weist  in  seiner  Um- 
randung nicht  gleiche  Form  und  Dicke  auf.  Sein  vorderer  oberer 
Abschnitt,  welcher  direct  unterhalb  des  proximalen  Stftckes  des 
Meckerschen  Knorpels  zu  liegen  kommt,  wird  von  einer  ziemlich 
breiten,  nach  oben  concaven,  knöchernen  Lamelle  dargestellt;  die 
übrige  Peripherie  wird  von  einer  dünnen,  fast  cylindrischen 
knöchernen  Spange  vertreten. 

X.  Der  Processus  folianusmallei  tritt  in  Form  eines 
sehmalen,  an  der  unteren  medialen  Fläche  des  HeckeTschen 
Knorpels  anliegenden  Leistchens  auf.  Er  zeigt  keine  directe  Ver- 
bindung weder  mit  dem  Annulus  tympanicus,  noch  mit  dem 
Hammer  oder  Hecke  Tschen  Fortsatze ;  reicht  vorne  kaum  bis  zur 
vorderen  Peripherie  des  Annulus  und  endet  hinten  frei  an  der 
inneren  Seite  des  vordersten  Abschnittes  des  Hammerkörpers. 


IL  AbBohmtt 

Die  embryonale  Entwicklung  des  tubo-tympanalen  Baumes. 

Ich  halte  es  für  angezeigt,  die  Entwicklungsvorgänge  des 
tubo-tympanalen  Raumes  hier  zu  schildern,  indem  ich  alles  das 
zusammenstelle,  was  darüber  aus  dem  Studium  der  verschiedenen 
Entwicklungsperioden  zu  entnehmen  ist. 

9  ♦     (51) 


112  Gradenigo. 

Es  ist  nicht  leicht,  eine  klare  Anschauung  der  Topographie 
der  Tuba  in  ihrem  primitivsten  Stadium  zu  gewinnen.  —  Die  in 
horizontaler  oder  leicht  von  vorne  nach  hinten  schiefer  Richtung 
geführten  Schnitte  kommen  in  einer  der  beiden  Eiemenbogen 
ungefähr  parallelen  Ebene  zu  liegen,  und  sind  daher  nicht  geeignet, 
eine  richtige  Idee  über  die  Beziehungen  zwischen  Tuba  und  der 
ersten  Eiemenspalte  zu  geben. 

Von  den  Sagittalschnitten  können  für  diese  Art  von  Nach- 
forschungen nur  die  von  der  Mittellinie  am  weitesten  gelegenen 
benützt  werden. 

Jene,  welche  die  reflexe  Partie  der  Eiemenbogen  treffen, 
können  uns  eine  Uebersicht  über  das  Verhalten  des  distalen,  nicht 
aber  des  proximalen  Abschnittes  der  Spalte  geben.  Jedenfalls 
erscheint  die  Untersuchung  der  sagittalen  Schnittreihe  in  mancher 
Beziehung  wichtig. 

Die  Frontalschnitte  sind  es,  die  sich  sehr  gut  flir  das  Studium 
der  Modalitäten  der  Tubaentwicklung  eignen;  am  besten  jene, 
welche  etwas  schief  von  vorne  und  aussen  nach  hinten  und  innen 
geführt,  sich  der  Richtung  des  Halbmessers  des  Eiemenbogens 
nahem.  So  können  nur  Bilder  der  einen  Seite  des  so  winzigen 
Embryos  zu  Gesicht  kommen,  da  die  andere  Hälfte  in  einer  zu 
schiefen  Richtung  getroffen  wird. 

Auch  die  von  hinten  her  tangential  zur  mesocephalischen 
Erümmung  geführten  Schnitte  können  uns  nicht  zu  unterschätzende 
Resultate  liefern. 

In  meiner  nachfolgenden  Darstellung  werde  ich  nur  die  ersten 
zwei  Eiemenbogen  und  die  erste  Spalte  berücksichtigen. 

Da  die  Eiemenbogen,  wie  bekannt,  an  den  Seiten  der  Schädel- 
basis sich  anheften,  setzt  sich  der  Darmcanal,  den  sie  vorne 
begrenzen,  beiderseits  bis  zu  ihrer  Insertionsstelle  fort,  und  com- 
municirt  mit  der  ersten  Eiemenspalte.  Gerade  die  Fortsetzung 
des  Darmcanals  an  der  inneren  Seite  der  zwei  ersten  Eiemenbogen 
ist  für  das  Studium  der  Entstehungsweise  des  tubo-tympanalen 
Raumes  von  Interesse. 

Es  möge  mir  gestattet  sein,  um  die  nachfolgende  Darstellung 
verständlicher  zu  machen,  auf  ein  Schema,  welches  in  der  Fig.  19 
dargestellt  ist,  hinzuweisen.  —  Ich  unterscheide  bei  jener  Strecke 

(58) 


Bie  embryonale  Ank^e  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutong  etc.     113 

des  Darmcanals,  die  sich  nach  hinten  zu  zwischen  den  inneren 
Flächen  der  Bögen  und  der  lateralen  Fläche  der  Schädelbasis 
fortsetzt,  einen  oberen  Abschnitt,  von  mir  alsmandibulareSpalte 
bezeichnet  (dbe\  und  einen  unteren  (hyoidale  Spalte)  (fce)^ 
jener  gegen  aussen  von  dem  ersten  Kiemenbogen,  dieser  von  dem 
zweiten  begrenzt  —  Diese  beiden  Spalten  communiciren  mit  der 
eigenen  Kiemenspalte  (hyomandibulare  Spalte),  welche  zwischen 
den  einander  zugekehrten  Flächen  der  beiden  Bögen  liegt.  (Im 
Schema  wird  die  gegen  aussen  geschlossene  erste  Kiemen- 
spalte nur  durch  den  Raum  adf  dargestellt.) 

So  nimmt  der  ganze  Baum  in  seinem  Durchschnitte  die  Form 
eines  mit  gekrümmten  und  nach  innen  convexen  Seiten  versehenen 
Dreieckes  an;  die  äussere  obere  Seite  (adh)  würde  durch  den 
ersten  fJj,  die  äussere  untere  (afc)  durch  den  zweiten  Kiemen« 
bogen  (II)  1  die  innere  (bec)  durch  die  laterale  Wand  des 
Schädels  (Cr.)  dargestellt  erscheinen. 

Unter  der  Benennung  tubo-tympanale  Raum  versteht 
man  jene  Höhle,  welche  zwischen  den  Kiemenbogen  und  der 
lateralen  Wand  des  Schädels  unmittelbar  hinter  der  dorsalen 
Wand  des  Darmcanals  zurückbleibt. 

Bezüglich  der  Gestaltung  scheint  es  mir  geeignet,  bei  diesem 
Baum  zn  unterscheiden,  eine  vordere  Partie,  welche  in  den  ersten 
Entwicklungsstadien  vor  dem  vordersten  Ende  der  Gehörblase 
und  in  späteren  Entwicklungsperioden  vor  dem  Hammer  zu  liegen 
kommt;  eine  hintere  Partie,  die  in  den  ersten  Stadien,  bis  zu 
dem  Punkte,  wo  der  Ductus  endolymphaticus  in  die  Labyrinth-» 
blase  einmündet,  und  später  bis  zum  hinteren  Rande  des  Stapedial- 
ringes  reicht.  Auf  die  vordere  Partie  beziehen  sich  die  Fig.  20, 
21,  22'^  auf  die  hintere  20-4,  21-4,  22.4,  welche  den  hauptsäch- 
lichsten Entwicklungsstadien  der  von  mir  untersuchten  Katzen- 
embryonen entsprechen. 

Katzenembryonen  12  Mm.  Scheitel-Steiss- 
Länge.  Diese  Embryonen  bieten  uns  eines  der  günstigsten 
Stadien  dar,*  um  die  Entstehungsweise  des  tubo-tympanalen  Raumes 
verfolgen  zu  können.  Die  erste  Kiemenspalte  ist  im  Begriffe,  sich 
zu  schliessen.  Ganz  vorne  sind  die  distalen  Enden  der  zwei  ersten 
Bogenpaare  vollständig  zusammen  verschmolzen,  ohne  dass  irgend 

(58) 


114  Gradenigo. 

eine  Spur  der  ersten  Spalte  zurückgeblieben  wäre.  Mehr  lateral- 
wärts,  entsprechend  der  reflexen  Partie  der  Bogen  sind  ihre 
einander  zugekehrten  Flächen  durch  eine  mesodermatische  Brücke 
verbunden.  In  dem  vorderen  Abschnitte  des  tubo-tympanalen  Raumes, 
in  der  frontalen  Ebene  der  vordersten  Spitze  der  Gehörblase, 
sind  die  Bogen  durch  Mesoderma  verbunden.  Von  der  ersten 
Kiemenspalte  verbleibt  nur  der  innere  Abschnitt  (a  df^  Fig.  19  und  20), 
welcher  in  Verbindung  mit  der  gegen  unten,  respective  oben  ge- 
öffneten mandibularen  und  hyoidalen  Spalte,  steht.  In 
dem  hinteren  Abschnitte  (Fig.  20-4)  ist  die  obere  Hälfte  der  inneren 
Fläche  des  ersten  Bogens  und  der  grösste  untere  Theil  der  gleich- 
namigen Fläche  des  zweiten  Bogens  mit  der  Schädelbasis  ver- 
wachsen, daher  sind  mit  der  ersten  Kiemenspalte  nur  die  untere 
Hälfte  der  mandibularen  Spalte  und  ein  kleiner,  oberer  Abschnitt 
der  hyoidalen  Spalte  in  directer  Communication  geblieben  (dbc^ 
Fig.  20  Ä).  Die  Kiemenspalte  ist  aber  nicht  durch  mesodermatisches 
Gewebe,  sondern  durch  die  einfache  Berührung  der  epithelialen 
Ueberzüge  (a)  gegen  aussen  geschlossen. 

Nach  hinten  schliessen  sich  allmälig  die  hyoidale,  wie  die 
hyomandibulare  Spalte  (Kiemenspalte),  weil  einerseits  das  proxi- 
male Ende  des  Hyoidbogens  (Fig.  20-4,  Hy.)  sich  mit  einer  starken 
Krümmung  nach  vorne,  oben  und  innen  wendet,  und  andererseits 
die  zwei  ersten  Bogen  miteinander  verwachsen  (Mn.  und  Hy.). 

Die  mandibulare  Spalte,  welche  schief  gegen  oben  und 
innen  gerichtet  ist,  verschwindet  als  letzte,  wie  dies  auch  Fig.  20^ 
andeutet  (dbe).  Entsprechend  der  Stelle,  wo  der  Ductus  endo- 
lymphaticus in  die  Labyrinthblase  einmündet,  ist  keine  Spur  des 
tubo-tympanalen  Raumes  mehr  zu  finden.  An  der  äusseren  Ober- 
fläche bleibt  nur  eine  seichte  Senkung  entsprechend  der  ersten 
Kiemenspalte  zurück. 

Bei  dieser  Figur  ist  noch  zu  sehen:  die  Labyrinthblase 
mit  La.  bezeichnet;  die  Carotis  (Ca.)  und  die  Aeste  des  5.  und 
7.  Nerven  (V^  V«,  VH). 

Katzenembryo  15  Mm.  Scheitel-Steiss-Länge. 
(Fig.  21  und  21-4.)  ZweitesStadium.  Die  zwei  ersten  Kiemen- 
bogen,  ihrer  ganzen  Länge  nach,  miteinander  durch  Mesoderma 
verbunden. 

(54) 


Die  embiyonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentimg  etc.     115. 

Die  Yordere  Partie  des  tabo-lympanalen  Raumes  ist  in  seiner 
Gestaltung  beträchtlich  verändert.  Das  rasche  Wachstbum  der 
Labyiinthblase  nnd  Labyrinthkapsel  hat  die  mediale  Seite  de^ 
oben  beschriebenen  Dreieckes  weit  nach  aussen  vorgeschoben.  Im 
Schema  Fig.  19  repräsentirt  die  punktirte  Linie  b  e\  c  die  Stelle 
wo  die  Linie  bec  za  stehen  kommt.  Die  mesodermatische  Schichte 
welche  die  zwei  Bogen  verbindet,  hat  andererseits  die  Schliessung 
eines  grossen  Theiles  der  Ueberreste  der  ersten  Spalte  veranlasst 
(a  gebt  in  a\  Fig.  19  und  21). 

Der  tubo-tympanale  Raum  ist  also  in  diesem  Stadium 
last  ausschliesslich  von  den  beiden  mandibularen  und  hyoi- 
dalen  Spalten  gebildet,  die  nach  aussen  mit  spitzem  Winkel 
zusammenlaufen;  die  eine  a^be^  —  die  andere  a^ce^  (Fig.  19  und  21). 
Im  Punkte  a  findet  sich  noch  die  Andeutung  der  primitiven 
Kiemenspalte. 

Im  hinteren  Abschnitte  (Fig.  21^)  können  wir  wieder  con~ 
statiren,  wie  durch  die  nach  vorne  erfolgte  Krümmung  de» 
zweiten  Kiemenbogens  —  welcher  hier  auch  in  der  Fig.  2 1 A  von 
dem  hyoidalen  Zellenstrange  (Hy.)  und  dem  Stapedialringe  (An.  st.) 
vertreten  ist  —  die  hyoidale  Spalte  zum  Verschwinden  ge- 
bracht wurde,  und  der  tubo-tympanale  Raum  nur  durch  die 
mandibulare  Spalte  dargestellt  ist.  Die  mandibulare  Spalte 
reicht  hinten  bis  zumAnnulus  stapedialis,  und  verläuft  wie 
im  früheren  Stadium  von  aussen  unten  nach  innen  oben  (Fig.  21^ 
a^dbe^);  diese  Spalte  trennt  das  proximale  Ende  des  mandibularen 
Bogens  (Mn.)  von  dem  proximalen  Ende  des   Hyoidbogens  (Hy.). 

Indem  das  proximale  Ende  des  zweiten  Kiemenbogens  nach 
hinten  den  tubo-tympanalen  Raum  schliesst,  veranlasst  es  eine 
vertical  gerichtete  Einstülpung  der  Wand  in  Form  eines  Wulstes 
(Colliculus  hyoideus). 

Bei  der  Fig.  21  ist  noch  zu  sehen:  die  Carotis  (Ca.),  die 
Jugolaris  (Ju.),  der  7.  Nerv  mit  der  Chorda  tympani 
fCh.  ty>)j  der  dritte  Ast  vom  5.  Nerv  (V),  die  Einsenkung  des 
äusseren  Ohres  (C.  a.  e.). 

Bei  der  Fig.  21^  ist  ausserdem  zu  sehen :  das  Ganglion  de^^ 
9.  Paares  zwischen  Carotis  und  Jugularis,  das  Ganglion  Gasseri 
(6a.  G.),  die  Arteria  mandibularis  (A.  mn.). 

(55) 


116  Oradenigo. 

Katzenembryonen  2  Cm.  Scheitel-Steiss-Länge. 
<Fig.  22  und  22^.)  Drittes  Stadium.  In  Folge  der  weiteren 
Entwicklung  des  proximalen  Endes  des  Mandibularknorpels,  können 
wir  wieder  eine  wichtige  Formveränderung  des  tubo-tjmpanalen 
Raumes  beobachten.  Während  der  Musculus  tensor  tympani 
das  obere  Ende  der  Mandibularspalte  herabdrUckt,  comprimirt  der 
Hammergriff,  indem  er  gegen  innen  zu  wächst,  die  äussere  Wand' 
der  Spalte  (Fig.  22,  Te.  ty.  und  Ma,). 

Die  mittlere  Partie  der  Wand  b  a^  kommt  daher  in  Berührung 
mit  der  inneren  Wand  6e;  die  zwei  entsprechenden  Epithelschichten 
verschmelzen  auf  dieser  Stelle  und  verschwinden  zuletzt  {d  in  d^ 
Fig.  19). 

Der  obere  Abschnitt  der  mandibularen  Spalte,  welcher 
7\vischen  Hammergriff,  Hanmierhals,  Musculus  tensor  und  Labyrinth- 
kapsel liegt,  wird  auf  diese  Weise  von  dem  übrigen  Theile  des 
tubo-tympanalen  Raumes  getrennt,  setzt  sich  nach  hinten  auf  eine 
kurze  Strecke  hin  fort,  um  sich  bald  zu  schliessen.  Hinten  dehnt 
sich  demnach  nicht,  wie  im  vorigen  Stadium,  die  mandibulare 
Spalte,  sondera  nur  die  Hyoidalspalte  aus  (Fig.  22^  a^e^c). 
Wegen  des  Verschwinden  jeder  Spur  der  Kiemenspalte  ist  die 
Hyoidalspalte  mit  dem  zurückgebliebenen  Theil  der  mandi- 
bularen Spalte  verschmolzen. 

Indem  das  proximale  Ende  des  Mandibularknorpels  in  diesem 
^Stadium  schwillt  um  den  Hammer-  und  Amboskörper  zu  bilden, 
veranlasst  es  eine  vertical  gerichtete  Einstülpung  der  hinteren 
iiusseren  Wand  des  Darmcanals,  unmittelbar  oberhalb  der  Einmün- 
dung des  tubo-tympanalen  Raumes  (Colliculusmandibularis). 

Bei  der  Fig.  22  ist  noch  zu  sehen :  der  äussere  Gehörgang 
(C.  a.  e.),  der  7.  und  9.  Nerv,  die  Carotis  (Ca.),  der  vorderste 
Theil  des  Ganglion  von  7,  den  Hammer,  die  Chorda  tympani  u.  s.  w. 

Bei  der  Fig.  22  A :  die  knorpelige  Kapsel  der  Bogengänge 
(Ca.  ca.  s.),  der  kurze  und  der  lange  Ambosschenkel  (S.  pr. 
br.  —  S.  pr.  1.),  der  Annulus  stapedialis  (An.  st.)  die 
Arteria  stapedialis  (A.  st.). 

Fassen  wir  den  ganzen  complicirten  Vorgang  kurz  zusanmien : 

In  einem  ersten  Stadium,  bevor  die  vollständige 
Schliessung  der  ersten  Eiemenspalte  erfolgt  ist,   wird  der  tubo- 

(56) 


Die  embryonale  Anlage  des  MittelohreB :  die  morphologische  Bedentang  etc.     117 

tympanale  Raom  dargestellt  dnroli  das  Zusammenfliessen  der  er- 
wilinteB  Spalte  mit  den  beiden  Spalten,  die  zwischen  den  inneren 
Flächen  des  mandibularen,  respective  hyoidalen  Bogens  nnd  der 
lateralen  Schädelwand  zurückbleiben  (mandibulare  und  hyoi- 
dale  Spalte)  (Pig.  20^). 

In  einem  zweiten  Stadium,  wenn  das  proximale  Ende 
des  Hyoidbogens  zuerst  zur  Entwicklung  kommt,  indem  es  mit 
einer  starken  Krümmung  nach  oben  und  vorne  in  den  Annulus 
stapedialis  übergeht,  schliesst  sich  nach  hinten  die  entsprechende 
Hyoidalspalte.  Nachdem  aber  die  Schliessung  der  ersten  Bronchial- 
spalte immer  vollständiger  wird,  ist  der  tubo-tympanale  Raum 
hinten  nur  von  der  Fortsetzung  der  Mandibularspaite  repräsentirt 
(21^). 

In  einem  dritten  Stadium,  wo  gleichzeitig  mit  der 
Entwicklung  des  proximalen  Endes  des  ersten  Bogens,  der  Stapedial- 
ring  in  inniger  Beziehung  zu  diesem  tritt,  ist  es  die  Mandibular- 
spalte,  die  in  ihrer  Ausbildung  gehemmt  und  von  dem  gegen  innen 
zu  wachsenden  Hammergriff  gepresst  wird ;  hier  setzt  sich  nach 
hinten  nur  die  Hyoidspalte  fort. 

I  Wenn  wir  zur  Untersuchung  der  Verhältnisse  zwischen  tubo- 

t>inpanalen  Räume  nnd  Labyrinthblase  übergehen,  Verhältnisse, 
die  im  frontalen  Durchschnitte  anschaulich  gemacht  sind,  so  können 
wir  beobachten,  dass  in  dem  ersten  Entwicklungsstadium  die 
Labyrinthblase,  welche,  wie  bekannt,  an  der  Stelle  entsprechend 
der  Wurzel  des  2.  Kiemenbogens  liegt,  nur  mit  ihrem  vorderen 
Theil  in  Beziehung  zu  der  Hyoidspalte  tritt,  während  sowohl  die 
eigentliche  Eiemenspalte  (Hyomandibularspalte) ,  als  auch  die 
Mandibularspalte  in  einer  höher  gelegenen  Ebene  sieh  befinden.  — 
In  dem  zweiten  Stadium  können  wir  sehen,  wie  die  Labyrinthblase 
mehr  gegen  oben  gcMrachsen  ist,  so  dass  sie  vorzugsweise  mit 
ihrem  mittleren  Abschnitt  zu  der  mandibularen  Spalte  in  Beziehung 
getreten  ist. 

Dieser  Wachsthum  nach  oben  schreitet  auch  in  den  nach- 
folgenden Stadien  fort,  so  dass  das  hintere,  von  der  Hyoidspalte 
dargestellte  Ende  des  tub  ;-tympanalen  Baumes  unterhalb  des 
vestibulären  Abschnittes  der  periotischen  Kapsel  sich  befindet. 

(57) 


118  Gradenigo. 

Während  also  das  Resultat  der  Umbildungen,  welche  der 
tubo-tympanale  Raum  eingeht,  durch  eine  Niveau-Herabsenkung 
dargestellt  erscheint,  nimmt  das  innere  Ohr  einen  höheren  Platz  ein. 

Das  hintere  Ende  der  tympanalen  Höhle,  welches  anfangs 
oberhalb  des  Labyrinthes  sich  befindet,  kommt  später  unterhalb 
desselben  zu  liegen. 

In  dem  vierten  von  mir  beschriebenen  Entwicklungsstadium, 
wenn  die  Skelettheile  knorpelig  geworden  sind  und  annäherungs- 
weise ihre  definitive  Form  angenommen  haben,  sind  nur  kleine 
Veränderungen  in  den  topographischen  Verhältnissen  des  tubo- 
tympanalen  Raumes,  im  Vergleiche  zu  dem  dritten  Stadium,  ein- 
getreten. Es  ist  angezeigt,  bei  Menschen  die  Entwicklung  des 
tubo-tympanalen  Raumes  zu  verfolgen. 

Bei  menschlichen  Embryonen,  4  und  4V2  Cm.  Scheitel- 
Steiss-Länge,  ist  der  vorderste  Abschnitt  der  Tuba,  unmittelbar 
hinter  der  Einmündung  in  die  Bauchhöhle,  durch  eine  veiücal 
gerichtete  Spalte  vertreten,  welche  in  der  Höhe  des  M  e  c  k  e  Tschen 
Knorpels,  zwischen  diesem  und  dem  vordersten  Theil  der  periotischen 
Kapsel  zu  liegen  kommt.  Medialwärts  von  der  Tuba  verläuft 
die  Carotis  nach  oben. 

Diese  Spalte  ist  also  als  Mandibularspalte  zu  be- 
trachten. —  Mehr  nach  hinten,  vor  dem  Hammergriff,  verlängert 
sich  diese  Spalte  gegen  unten  bis  zum  Reiche rt'schen  Knorpel, 
und  wird  also  von  den  vereinigten  Mandibular-  und  Hyoidspalten 
vertreten.  Der  Hammergriff  ist  gegen  die  Labyrinthkapsel  zu 
gewendet,  und  wiewohl  er  bei  Menschen  eine  nicht  so  ausge- 
sprochene Krümmung  wie  bei  Katzen-  und  Schweinsembryonen 
darbietet,  bedingt  doch  sein  Ende  den  vollständigen  Verschluss 
des  betreffenden  Abschnittes  der  Mandibularspalte.  Jener  Theil 
der  Spalte,  welcher  oberhalb  des  Griffes  offen  bleibt,  ist  von 
oben  her  durch  den  Musculus  tensor  abgeplattet. 

Ausserdem  bleibt  die  tympanale  Höhle  auch  weiter  unten 
verschlossen,  da  sie  zwischen  dem  Promontorium  und  dem  schief 
aufsteigenden  Hyoidknorpel  zu  liegen  kommt.  Deswegen  bleibt 
in  diesem  Niveau  als  Vertreter  des  tubo-tympanalen  Raumes  nur 
der  tiefste  Abschnitt  der  Hyoidspalte,  welcher  unterhalb  des 
Promontorium  und  des  Reich  er  t'schen  Knorpels  liegt. 

(58) 


IMe  emlnyoiiale  Anlage  des  lüttelohres :  die  morpliologisclie  Bedeutung  etc.     1 19 

Die  topographischen  Verhältnisse  welche  der  tubo-tympanale 
Bsnm  bei  menschliclien  Embryonen  in  diesem  Entwicklnngsstadinm 
darbietet,  sind  ganz  ähnlich  den  Verhältnissen,  welche  man  bei 
den  Säügethierembryonen  trifft. 

In  einem  gleich  darauf  folgenden  Stadinm  beginnt  die 
Tronunelhöhle,  welche  bisher  in  einen  Rückgangsprocess  einge- 
gangen war,  sich  auszubreiten.  Anfangs  drängt  die  Höhle  zwischen 
Hammergriff  und  künftigem  Trommelfell  vor,  später  breitet  sie 
sich  über  die  refle:ze  Partie  des  Musculus  tensor  aus,  welche 
somit  in  die  Höhle  aufgenommen  erscheint ;  endlich  erweitert  sich 
dieselbe  zwischen  Hammer  und  der  cochlearen  Kapsel,  und  dem 
Trommelfell  entlang  zwischen  Hyoidbogen  und  Promontorium  u.  s.  w. 
Das  embryonale  Bindegewebe  bleibt  bis  zu  den  spätesten 
Entwicklungsstadien  der  vestibulären  Wand  der  Tronmielhähle 
eutsprechend« 

(Fortsetasnng  folgt.) 


-HSh- 


(6y) 


V. 

Drei  Chinesen  -  Gehirne. 

Anatomische  Mittheiliing  von 

Prof«  Dr.  Moriz  Benedikt. 

(Am  21.  Jänner  1887  von  der  Redaction  flbemommen.) 


Unvergleichlich  interessanter  als  die  der  vergleichenden 
Schädellehre  der  menschlichen  Racen  dürften  einst  die  Resoltate 
der  vergleichenden  Gehimlehre  werden. 

Das  heutige  Material  ist  verschwindend  klein  und  trotz 
aUer  Anstrengongen  ist  es  mir  persönlich  nicht  gelmigen,  irgend 
em  nennenswerthes  Material  exotischer  Bacengehime  aufzutreiben. 
Jede  Pnblication  auf  diesem  Gebiete  wird  aber  hoffentlich  die 
Habgier  der  grossen  wissenschaftlichen  Institute  und  Museen  ent- 
feflseln  und  es  wird  dann  mit  grossen  Mitteln  und  bei  passender 
Gelegenheit  gelingen,  mehr  Material  anzuhäufen. 

Schlüsse  zu  ziehen,  werden  sich  kritisch  geschulte  Männer 
lange  enthalten,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  auch  die 
meisten  exotischen  Völker  anthropologisch  nicht  mehr  einen  ein- 
(Siehen  Factor,  sondern  ein  Racenproduct  darstellen,  aus  dem 
nor  langsam  die  Urformen  werden  herausgeschält  werden  können. 

Die  Bezeichnung  als  „Chinese''  bedeutet  allenfalls  eine  poli- 
tische, eine  religiöse  und  nationale  Zusammengehörigkeit,  aber 
keine  anthropologische  und  am  wenigsten  eine  anthropologische 
in  Sinne  einer  Urrace. 


122  Benedikt 

Dies  geht  schon  aas  der  Vergleichnng  meiner  drei  (Gehirne 
hervor ,  wovon  das  erste  jedenfalls  einer  ganz  anderen  Varietät 
vom  Genus  Homo  angehört  als  die  beiden  anderen. 

Weiters  ist  zu  bedenken,  dass  uns  zu  diesen  Gehirnen  die 
Biographie  fehlt  und  wir  daher  überhaupt  nicht  beurtheilen 
können,  ob  jedes  dieser  Individuen  überhaupt  ein  typisches 
seiner  Race  war. 

Meine  drei  Gehirne,  die  ich  zuerst  am  4.  December  1885 
in  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  demonstrirt  habe,  gehören 
nach  Amerika  eingewanderten  Chinesen  an.  Ich  verdanke  sie 
einem  ausgezeichneten  Gelehrten  der  Vereinigten  Staaten.  Wenn 
ich  ihn  nicht  nenne,  so  geschieht  es  aus  der  vielleicht  übertrie- 
benen Angst  von  meiner  Seite,  dass  der  werthe  College  durch  die 
Bekanntmachung  seines  Namens  der  Vehme  der  Chinesen  ausge- 
setzt sei.^) 

Jede  Gehirnhälfte  ist  durch  zwei  Zeichnungen  repräsentirt. 
Die  eine  stellt  die  äussere  Fläche  dar,  plus  dem  Orbital- 
und  dem  mittleren  Basallappen,  die  man  sich  von  der 
unteren  äusseren  .Kante  nach  aussen  aufgeschlagen  denken  muss. 
Diese  zwei  Basallappen   erscheinen   durch  Straffirung  gesondert. 

Die  zweite  Zeichnung  stellt  die  mediane  Fläche  mit  dem 
hinteren  und  mittleren  Basallappen  dar. 

In  der  Bezeichnungsweise  bin  ich  von  jener,  die  ich  in 
meinem  Buche:  „Anatomische  Studien  an  Verbrechergehimen'' 
befolgt  habe,  wenig  abgewichen. 

Jene  lehnte  sich  ja  wesentlich  an  jene  von  Ekker  an^  die 
nicht  nur  im  Allgemeinen  sehr  gut  ist,  sondern  auch  international 
am  verbreitetsten  ist.  Beibehalten  habe  ich  das  Princip  von 
Zernoff,  getrennt  auftretende  Theile  einer  Furche  als  zusammen- 
gehörig zu  betrachten  und  gleich  zu  bezeichnen. 

Gassirt  habe  ich  die  Bezeichnung  /^  als  dritte  Stimfurche. 
Dieselbe  ist  als  Fiss.  präcentralis  (npc^)  bezeichnet  und  ebenso 
ist  die  Fissura  retrocentralis  markirt  mit  „rc^* 


*)   Es   ist   inzwischen  von  Prof.  Oh.  K.  Mills  in  Philadelphia  auf  dem 
Nenrologen-Oongress   in   Long-Branch    ein  viertes   demonstrirt  imd  beschrieben 
worden. 
(2) 


Drei  Chinesen-Geliiriie.  X23 

Die  Scissura  sylrica  ist  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  an  der 
Basis  und  oberen  Grenze  des  ersten  Schläfelappens  bis  zu  ihrem 
hinteren  Ende  mit  „iS''  bezeichnet;  ihre  zwei  Fortsätze  in  die 
dritte  Stimwindnng  mit  jS^  und  S\  während  der  dritte  vordere 
Fortsatz  derselben,  welcher  nach  vom  und  unten  von  der  Fissura 
frontalis  externa  (Fissura  frontomarginalis  von  W  e  r n  i  c  k  e  j^fe^) 
liegt,  mit  8^  bezeichnet  ist.  Wo  8^  mit  „fe^  zusammenfliesst, 
entsteht  beim  Menschen  eine  Furche,  welche  der  Fiss.  präsylvica 
der  Thiere  entspricht  und  falschlieh  bei  Thieren  von  B  r  o  c  a  und 
Giacomini  als  Centralfurche  angesprochen  wird.  Bei  unseren 
drei  Gehirnen  kommt  es  in  keinem  zu  dieser  Bildung. 

Die  Fissura  occipito-temporalis  externa  von  Wer  nicke  be- 
zeichne ich  mit  „117^,  da  mein  Vorschlag  dieselbe  Wem ic keusche 
Forche  zu  nennen,  vielfach  acceptirt  wurde. 

Der  Gyrus  Hippocampi  („JST")  ist  hier  mehrfach  als  „T*** 
bezeichnet  und  der  Gyrus  uncinatus  („  U^)  als  T*,  weil  besonders 
das  erste  Gehirn  zu  dieser  altemirenden  Bezeichnung  auffordert. 

In  der  Nomenclatur  der  gabelförmigen  Hinterhauptsfurche 
iJ5^,  Fissura  furciformis)  habe  ich  dem  Stiele  der  Gabel 
die  Bezeichnung  „r«^  (Fissura  retrosplenica)  gegeben.  Ich 
empfehle  diese  Bezeichnung  aufs  Wärmste  aus  vergleichend  ana- 
tomischen Gründen,  weil  dieser  Theil  bei  den  meisten  gyrence- 
phalen  Thieren  allein  von  allen  Bestandtheilen  der  gabelförmigen 
Furche  zurückbleibt,  und  zwar  als  hinterster  Bogen  der  Fissura 
coUoso-marginalis  der  Thiere  und  weil  dieser  Gabelstiel  auch 
bei  abnormen  menschlichen  Gehirnen  mit  den  anderen  Theilen 
in  wechselnder  Verbindung  steht.  Es  kommt  nämlich  vor, 
einmal,  dass  der  Stiel  der  Gabel  (urs^)  blos  mit  der  verticalen 
Zinke,  für  die  ich  die  Bezeichnung  ^o^  reservire,  zusammen- 
hängt (s.  1.  c.  4.  Beob.,  linke  Hemisphäre)  und  von  der  Fissura 
calcar.  geschieden  ist,  und  ein  anderes  Mal,  dass  der  Stiel 
blos  mit  der  Fissura  calcarina  (ncc^)  zusammenhängt  und  von 
^po*^  getrennt  ist.  (S.  meine  Mittheilung:  „Demonstration  eines 
Verbrechergehimes.  **  Mittheil.  des  Wiener  med.  Doctoren-Col- 
leginms.  IX.  Bd.,  Nr.  12.) 

Mit  „  cci  ^  habe  ich  die  Parallelfurche  der  Fissura  calcarina 
bezeichnet  Sie  ist  eine  selten  fehlende  Furche,  welche  den  Cuneus 

(3) 


124  Benedikt. 

(„Cw")  in  zwei  Hälften  trennt  und  die  sehr  häufig  mit  der  Fissura 
parieto-occipit.  interna  („^o")  communicirt.  Sie  stellt  also  eine 
Fissura  calcarina  superior  dar. 

Ebenso  kommt  in  den  zu  beschreibenden  drei  Gehirnen  eine 
Parallelftirehe  mit  der  Fissura  coUateralis  („cZ")  vor,  welche  den 
Gyrus  lingualis  in  zwei  Hälften  theilt.  Ich  habe  diese  „obere 
CoUateralfurche"  mit  („cZi")  bezeichnet. 

Die  Scissura  hippocampi  habe  ich  mit  „Sfi""  bezeichnet,  und 
femer  da  mein  Vorschlag,  den  äusseren  Gyrus  des  vorderen  Basilar- 
lappens  als  „ Orbital windung"  zu  bezeichnen,  vielfach  acceptirt 
ist,  diese  Bezeichnung  beibehalten. 

Mit  „a"  ist  die  Fissura  amygdal.  von  Wilder  bezeichnet, 
i.  e.  der  Einschnitt  der  basalen  Scissura  Sylvii  nach  hinten  in 
den  basalen  Mittellappen,  und  zwar  in  der  Richtung,  dass  die 
Fortsetzung  in  die  Trennungsfurche  des  Gyrus  uncinatus  vom 
Gyrus  Hippocampi  fallen  würde.  Am  dritten  Gehirne,  in  welchem 
die  Fissura  coUateralis  (oZ)  durch  den  ganzen  mittleren  Basal- 
läppen  beiderseits  durchgreift  und  bis  an  die  Scissura  Sylvii  ge- 
langt, wird  die  Bedeutung  der  Furche  ganz  klar  (s.  Fig.  m,  c 
und  d).  Diese  aus  cZ,  ^3  und  a  zusammengesetzte  Furche  re- 
präsentirt  zugleich  den  basalen  Theil  der  Fissura  limbica  von 
B  r  0  c  a. 

Als  gemeinschaftliche  Eigenthümlichkeiten  dieser  drei  Ge- 
hirne können  folgende  hervorgehoben  werden. 

1.  Verkümmerung  (mehr  scheinbare)  des  vorderen  und  mitt- 
leren Basallappens,  indem  ein  Theil  der  Orbitalwindung  und  des 
Schläfelappens,  die  sonst  an  der  Basis  liegen,  auf  die  äussere 
Fläche  zu  liegen  kommen. 

2.  Tendenz  des  Schläfelappens  (inclusive  des  mittleren  Basal- 
lappens) in  vier  streng  getrennte  Windungen  zu  zerfallen,  so  dass 
der  Gyrus  uncinatus  als  dritte  und  der  Gyrus  Hippocampi  als 
vierte  erscheinen.  Der  Uncus  gehört  eigentlich  zum  Gyrus  Hippo- 
campi und  nur  weil  beim  Menschen  gewöhnlich  eine  durch- 
gehende Trennungsfurche  fehlt,  wurde  der  dritte  Schläfelappen 
als  Gyr.  uncin.  bezeichnet. 

3.  Die  Tendenz  des  Occipitallappens  an  der  äusseren  Fläche 
in    vier    deutliche  Lappen    zu    zerfallen.    Am    einfachsten    und 

(4) 


Drei  Chine8eii-6eliini6.  125 

lebrreichsten  in  dieser  Beziehung  ist  die  rechte  Hemisphäre  des 
ersten  Gehirnes  (s.  Fig.  I  a).  Als  erste  Trennnngsfnrche  erscheint 
die  horizontale  Hinterhanptsspalte  („^^),  als  dritte  ein  occipitaler 
Fortsatz  der  ersten  Schläfenftirche  („^i^),  der  auch  von  dem  vor* 
deren  Theile  dieser  Fnrche  abgetrennt  sein  kann  nnd  als  zweite 
Trennongsforche  (zwischen  0^  nnd  0^)  eine  Furche  (nOa^),  die 
zwischen  ho  nnd  ^  eingeschaltet  ist.  Diese  zweite  äussere  Occi- 
pitalfiirche  geht  oft  von  der  Wernicke'sehen  Furche  ab  oder 
die  erste  Temporalfurche  gibt  zwei  hintere  Aeste  ab,  wovon  die 
obere  die  zweite  und  die  untere  die  dritte  äussere  Occipitalfurche 
darstellt. 

Oder  die  Interparietalis  (ip)  umkreist  den  hinteren  Pol  der 
äusseren  Fläche,  d.  h.  sie  läuft  von  oben  nach  unten,  parallel 
mit  dem  hinteren  Rande  der  äusseren  Fläche  und  gibt  unter- 
halb ho  noch  einen  mit  dieser  parallelen  Doppelquerast  ab, 
welcher  die  zweite  äussere  occipitale  Furche  («og^)  darstellt 
(8.  Fig.  m  a). 

4.  Eine  weitere  Eigenthlimlichkeit  ist  das  starke  Gewunden- 
sein der  Centralftirche  und  Neigung  zur  Confluenz,  selbst  zur  par- 
tiellen Verschmelzung  mit  der  Praecentralis  („po")  oder  mit  der 
Retrocentralis  („rc«)  [s.  Fig.  I  4  und  Fig.  m  b]. 

1.  QeUbm  (Fig.  I  or—c). 

Dieses  Gehirn  ist  von  den  folgenden  zwei  vielfach  ver- 
schieden. Es  gehört  zweifellos  einem  Langschädel,  der  zugleich 
hochgradig  Plattschädel  war,  an. 

Die  obere  Hälfte  seiner  äusseren  Flächen  im  centralen  und 
dem  Parietaltheile  bildet  eine  ausgesprochene  obere  Fläche  und 
der  mediale  Sand  im  Gebietet  des  Paracentrallappens  ist  nach 
innen  umgekippt  und  es  ist  wahrscheinlich ,  dass  der  Schädel 
an  seiner  obersten  Wölbung  einen  nach  aussen  concaven  Bogen 
bildete. 

Das  ganze  Gehirn  ist,  besonders  die  rechte  Hemisphäre,  in 
seinen  Furchen  architektonisch  merkwürdig  einfach  und  bildet 
daher  grobe  Windungsziige. 

Der  Bau,  besonders  des  Schläfelappens  (inclusive  des  mitt- 
leren BasaUappens),  ist  eine  wahre  Wonne  ftir  einen  Schematiker. 

Xed.  Jahrbücher.  1887.  10      (6) 


126  Benedikt. 

Es  gibt  wohl  kaum  ein  zweites  Gehirn  io  einer  anatomischeii 
Saminliuig,  welche  die  Berechtigung  zur  Eintheilung  des  Scbläfe- 
himes,  inclasive  des  mittleTen  Basall&ppeus  'm  4  Gyri  so  sehr  vor- 


demonstrirt  und  zugleich  die  Identität  des  Gyrns  Hippocampi  mit 
der  vierten  und  des  Gyr.  nncin.  mit  der  dritten  Scbläfewindnng 
so  drastisch  zeigt,  als  diese  rechte  Hemisphäre  (Fig.  1  a). 

Vit.  It. 


Hit  den  folgenden  zwei  Gehirnen  besieht  die  gemeinsebafl- 
licbe  Eigenschaft  einer  scharfen  Sondernng  des  Occipitallappens 
der  äusseren  Seite  in  rier  scharf  geschiedene  Windangen. 


Drai  CbIn«B«ii-G«Iiir]ie.  127 

Die  linke  HemisphÄre  (Fig.  I  J)  zeigt  in  auffallender 
Weise  die  Verschmelznng  der  Centralfnrche  mit  der  praecentralen 
und  retrocentralen. 

EKese  VerschmelziiDg  des  Mittetotttckes  der  Centralfarche 
mit  dem  Hittelstiioke  der  Praeeentralis  und  des  Endsttleke«  der 
"fIj.  U. 


ersteren  mit  dem  Endstücke  der  F.  retrocentralie  ist  wohl  einzig 
in  Beiner  Art  in  den  bisherigeD  Beobachtungen. 

Das  antere  Ende  der  Praeeentralis  („pc")  verschmilzt  so 
ToUständig  mit  dem  HittelstUcke  der  Centralfnrche,  dass  von 
letzterem  die  zwei  Stimforcben  (/]  and  f,)  abgeben. 


Adb  der  medialen  Fläche  der  rechten  Hemisphäre  (Fig.  I  c) 
ist  das  tiefe  Eingreifen  der  Calloso-maiginaliB  in  den  Qnadrat- 
lappen  fast  bis  znr  Perpendionlarspalte  bemerkeoswerth. 

Die  deotliche  Zerlegung  des  Cimeus  und  des  Gjr.  lingnalis 
in   zwei  Parallellappen   (durch  die  Furche   cc,    und  clj)   ist  mit 


Aosnahme  der  liokeD  Hemisphäre  des  dritten  Gebimeg  diesem 
ersten  Gehirne  mit  den  folgenden  zwei  gemeinsun  (a.  Fig.  I  c 
and  d,  Fig.  II  c  and  d  and  Fig.  m  c). 

Das  Verhültnise,  dass  ein  Theil  des  Orbitallappens  snf  die 
ännsere  Fläche  zn  liegen  kommt  nnd  die  Fissora  frontalis  externa 
(/»)  ganz  auf  die  änssere  Fläche  zn  liegen  kommt  nnd  daher  der 
basilare  Theil  des  Orbitallappens  verktünmert  erscheint,  ist  bei 
diesem  Ctehime,  wenn  anch  nicht  in  extremer  Weise ,  schon  an- 
gedeutet. 

2.  Gehirn  (Fi«,  ll  a—d). 

Die  aofiiüleDdfrte    Ersoheinong    an    den    änsseren  Flächen 

beider  Hemisphären  ist  das  weit«  Hineinragen  des  Orbitallappens 

in  dieselben.  Rechts  (Fig.  II  a)  liegt  schon   eine  Art  der  sehr 

wenig  ansgebildeteo  OrbitalAirche  (noi")  an  der  änsseren  Fläche, 


während  in  der  Unken  (Fig.  n  b)  die  OrbitaUiirche  die  Grenze 
zwisoben  änsserer  and  unterer  Fläche  bildet. 

Die  beiden  Centralfnrchen  zeigen  Verästelnngen,  aber  keine 
Conflaenz.  Die  linke  Hemisphäre  (Fig.  II  h)  zeigt  ein  Zasammen- 
i  der  Hinterbanptsftirche  [po)  mit  der  Interparietalis. 


Drei  Cliiiieseii-Crehinie. 


An  der  medialeo  Fläche  zeigt  sieb  beiderseits  ein  anffallend 
korzer  Scfaeokel  der  CaUoeo-mar^naliB,  dagegen  ein  weites  Dorch- 


greifen  dieser  Forche  in  den  PraecnneuB  (Q)  bis  in  die  Mähe  der 
gabelförmigen   Hinterhaaptospalte  und   beiderseits  eine  Tendenz 


zw    Bildang    einer   Parallelfurche    zwischen   der   Fissura   retro- 
Bplenica  («»")  and  dem  Splenimu.     In  der  rechten  Hemisphäre 


feblt   der  Zasaminenhang   zwiecheo  der  Galcarioa 
Rod  der  Farieto-occipitaÜB  (s.  Fig.  II  c  bei  +). 


3.  Oehlm  (Fig.  m  a~d). 
Auf  beiden    änsseren  Hälflen   fällt  wieder  die  gewundene 
und  zn  Zackenbildangen   geneigte  Centralftircbe  (c)  anf,   doch 
fliesBt   dieselbe   in   der   linken  HemiBpbäre    (Fig.  III  b)  nnr  mit 


dem  unteren  Aste  der  Fraecentralis  (pc)  zoBammen.  In  der  recbteo 
Hemisphäre    (Fig.  m  a)    hingegen    ist    die    Retrocentralis   (rc) 


Drei  Cbiuesen-QsliiTiis. 


131 


genao  ein  zweiter  Haoptast  dieser  Fnrclie  and  der  notere  Tbeil 
der  Praecentralis  ebenso.  An  beiden  Hemisphären,  besonders  aber 
reebts  liegt  der  OrbitaHappen  mit  einem  starken  Antbeile  an  der 
äoBseren  Fläche. 


Sehr  complicirt  ist  an  der  rechten  Hemisphäre  (Fig.  III  a 
der  Bau  der  Praecentralis  (pc). 


Ein  QQterer  Ast  geht  von  der  Centralis  ab,  der  obere  Ast 
hingegen,  der  die  obere  Stimfiirche  (/i)  abgibt,  fliesst  mit  dem 
enten  rorderen  Arte  (8')  der  Sylvica  znaatnmen. 


182  BsDedikt. 

Rechte  ist  wieder  der  Schläfelappen  in  vier  Windnngen 
getbeUt  nnd  der  mittlere  Baeallappen  Terkttmmert  nnd  der  Gyras 
nncinatoa  {T^)  znm  Theil  an  der  äneseren  Fläche  gelegen. 

Ebenso  ist  die  strenge  Viertheilnng  des  Occipitallappeng  an 
der  Anssenseite  ansgeaprochen. 

HOchst  complicirt  ist  der  Farietallappen  gebaut.  Ein  Neben- 
ast  (I)  der  Parieto-occipitalis  externa  {po,  s.  Fig.  in  c)  steht  an 
der  äusseren  Fläche  mit  einem  vorderen  Aotheile  der  Interparie- 
talis  (ip),  mit  der  Retrocentralis  und  durch  diese  mit  der  Cen- 
tralis in  Verbindung,  femer  mit  der  Wernicke'scheQ  Fnrche 
(tc)  nnd  durch  letztere  mit  dem  hinteren  Abschnitte  der  Inter- 


parietalis,  welche  fast  senkrecht,  nahezu  parallel  mit  der  hinteren 
Kante  des  Hinterhanptiappens  herabsteigt 

An  der  medialen  Fläche  (Fig.  m  c)  ist  wieder  die  Zwei- 
theilung des  Cnnens  und  des  Gyms  lingnalis  durch  die  Furchen 
eci  und  eil  beachtenswerth  und  ebenso  die  Fortsetzung  von  cl 
in  den  mittleren  Basallappen  als  dritte  Schläfenfurche  und  die 
Endignng  in  der  Scissura  Sylvii.  Die  Fissura  amygdal.  (a)  stellt 
also  das  vorderste  Endstück  dar,  wenn  <d  nnd  t,  zusammenfliessen 
nnd  in  die  Scissnra  sylvica  hineinreichen. 

An  der  linken  Hemisphäre  (Fig.  HI  b)  ist  ausser  der  Vier- 
theilnng des  Occipital-  und  Schläfelappens,  der  Verktimmemng 
des  vorderen  und  mittleren  Basallappens,  weitere  an  der  äuseeren 
Fläche   die    eigenthtlmliche    Durchbrechung    beider   parieto-occi- 


;^M*, 


pitalen  Uebergangsfalten  (PWs  d^  i^^^^^^^^^  V'},^ 

eher  dnrch  die  Conflnenz  der  PeiAw^hbI  ^"^^'^'^^'iwrttrt, 
den    hinteren    nnd    unteren  Pol    <^^^ '^\'a^ ^'^\  vi\\\J^ 
parietalis   (ijo),    ferner  mit  der  kurzen '«v_,^!"*'^toi(,\tiu, 
(ui)    und    mit    einem   hintersten  Abschnitte  ^  ^''^''"^^  Vi^a^ 
fiirche  U) ,    der  von    dem  Haupttheile    der  \^^  ^  '^'"'>y«\v 
trennt  ist,  zn  Stande  kommt.  '"^^  »ii^, 

Daför  besteht  ein  trennender  Windanggi^;.  . 
zweiten  Parietalwindnng  (Pj)  dnrch  einen  hinteren  xw""*  **' 
ersten    Schiäfewindang   (T^)    (bei  x)    zwischen   den  \.^ 
nannten    getrennten  Tlieilen    der  ereten  8ehläfenfnrtlie  ^n.  ^ 
mittleren  Hinterhauptswindung  (Oj  durchgeht.  * 

An    der   medialen    Fläche    fällt    die    Bildung  der  |Vi 
marginalis  (cm)    auf.     Das  Hauptstiick   stellt  eigentUcli  ^^j  ,, 
Fissura  paracentraiis    dar,    mit  je   einem  kurzen  Fortsati 
hinten  in  den  Praecuneus  (0  und  in  das  Stirnhim. 

Das  eigentlich  frontale  Stlick  der  CaÜoso-marginalig ,  ^ 
Tom  paracentralen  getrennt  ist ,  ist  einem  Hirschgeweihe  ni,.\,t 
unähnlich. 

Ich  schliesse  hiermit  die  Schilderung  der  änsseren  Fläeheti 
dieser  Gehirne.  Ich  komme  vielleicht  später,  bei  grüeserem  Materiale 
auf  die  innere  Structnr  zurück. 

Wien,  Mitte  Jänner  1887. 


Errata. 
Pftg.   1:37.  Die  FiBGor  em  iat  irrthUmlicb  mit  i 

verbunden  geieichaet  (in  Fig.  Ic). 
Pft«.  129.  In  Fig.  Uc  ist  bei  x  die  Fissur  cc 

während  b 


D  Stiele  der  Hinterbaopt^furclie 
jt  po  in  Yetbindmig  gezeichnet, 


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TJeber  congenitale  Herzmyome. 

Von 

Dr.  Alexander  Kollsko^ 

Aflsisteiiten  am  pathologlacli-aiiatomiBolien  Institute  in  Wien. 
(Am  9.  Febroar  1887  Ton  der  Bedaction  flbemommen.) 

Hiersn  Tafel  I. 


In  der  am  15.  Jänner  1886  stattgehabten  Sitzung  der 
k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  demonstrirte  ich  mikro- 
skopische Präparate  von  congenitalen  Rhabdomyomen  des  Herzens, 
nnd  da  ich  wegen  der  grossen  Seltenheit  dieser  Geschwulstform  im 
Herzmuskel  den  von  mir  beobachteten  Fall  einer  eingehenderen 
Beschreihung  für  würdig  hielt,  liess  ich  in  dem  betreffenden  Sitzungs- 
protokoll auf  eine  nachfolgende  Veröffentlichung  in  diesen  Jahr- 
büchern hinweisen.  Dieser  Verpflichtung  komme  ich  in  dem 
Folgenden  nach. 

Es  stammten  die  damals  demonstrirten  Präparate  yon  Ge- 
schwülsten in  dem  Herzfleische  eines  2monatlichen  Kindes,  an 
essen  Leiche  die  sanitätspolizeiliche  Section  behufs  Constatirung 
er  Todesursache  vorgenommen  worden  war.  Die  Obduction  wurde 
3n  Herrn  Dr.  Arnold  Pal  tauf  ausgeführt  und  das  Herz  un- 
littelbar  nach  derselben  Herrn  Professor  Kundrat  zur  Verfugung 
gestellt,  der  mich  mit  der  mikroskopischen  Untersuchung  des  Prä- 

¥ed.  Jahrbücher.  1887.  12      (D 


136  Kolisko. 

parates  beauftragte.  Der  Güte  des  Herrn  Dr.  A.  Palt  auf  ver- 
danke ich  die  nachstehenden,  dem  Sectionsbefnnde  entnommenen 
Daten : 

„Theobald  Brackner,  2  Monate  alt,  am  14.  November  1885 
Morgens  todt  im  Bette  gefmiden.  Sanitätspolizeiliche  Section  am 
15.  November  Morgens. 

Körper  55  Gm.  lang,  sehr  mager,  blass,  mit  nur  spärlichen 
Todtenflecken  versehen;  Bindehaut  blass;  Lippen  vertrocknet;  Hals 
dünn ;  Thorax  fassförmig ;  Unterleib  stark  gewölbt,  grünlich  verfärbt ; 
Genitale  und  After  normal;  deren  Umgebung,  sowie  die  unteren 
Extremitäten  mit  gelblich  vertrockneten  Massen  bedeckt ;  Glieder  schlaff; 
äusserlich  keine  Verletzung.  Weiche  Schädeldecken  sehr  dünn,  blass; 
Schädeldach  von  entsprechender  Grösse,  im  Scheitel-  und  Stimtheile 
stark  verdünnt;  Fontanelle  2^/3  Cm.  weit;  Hirnhäute  sehr  blass; 
Gehirn  sehr  weich,  feucht,  blutarm ;  seine  Höhlen  enge ;  in  den  Blnt- 
leitern  nur  sehr  wenige  Faserstoffgerinnsel,  t  Unterhautzellgewebe  fett- 
los ;  Hautnabel,  sowie  Nabelgefi&sse  vollkommen  zurückgebildet.  In  der 
Trachea  sehr  wenig  Schleim,  ihre  Schleimhaut,  sowie  die  des  Larynx 
etwas  geröthet,  die  des  Pharynx  blassviolett,  die  des  Oesophagus 
blass ;  Zwerchfell  beiderseits  am  3.  Rippenknorpel ;  Thymus  zweilappig, 
sehr  blass;  aus  den  grossen  Bronchien  entleert  sich  bei  Druck  auf 
die  Lungen  sehr  reichlicher  zäher,  eitriger  Schleim;  desgleichen  auch 
aus  den  kleineren;  das  Lungengewebe  zum  Theil  lufthaltig,  zum 
Theil  verdichtet,  luftlos,  blntreich ;  die  Pleura  der  rechten  Lunge  von 
einzelnen  Ecchymosen  durchsetzt;  die  linke  ebenso  beschaffen.  Am 
Epicard  des  schlaffen  Herzens  einige  punktförmige  Ecchymosen ;  die 
Herzhöhlen  etwas  weiter;  das  Fleisch  brüchig  und  blass. 

Unter  der  linken  Tasche  der  Pulmonalis  finden 
sich  zwei  streng  umschriebene,  hanfkorngrosse,  1  Mm. 
erhabene,  leicht  höckerige,  fleischige,  sehr  blasse 
Excrescenzen. 

Leber  und  Milz  von  gewöhnlicher  Grösse,  weich,  brüchig,  blutreich. 
Im  Magen  eine  geringe  Menge  galliger. Flüssigkeit;  seine  Wandung 
sehr  dünn  und  blass.  Beide  Nieren  gewöhnlich  gestaltet;  ihre  Kapsel 
leicht  ablösbar;  an  der  Oberfläche  einzelne  Blutpunkte;  das  Nieren- 
gewebe weich,  graulichviolett.  Im  Dünndarm  ziemlich  reichlicher, 
flockiger,  hellgelber  Inhalt ;  Wanduug  desselben  allenthalben  dünn ;  die 
folliculären  Gebilde  sämmtlich  etwas  vergrössert,  innen  sehr  blass.  Im 
Colon  zäher  Schleim;  Schleimhaut  aUenthalben  gefaltet;  die  Follikel 
vergrössert  und  von  theils  rothen,  theils  schiefergrauen  Höfen  umgeben. 
In  der  Harnblase  einige  Tropfen  trüben  Harnes." 

Eine  genauere  Inspection   des  Herzens,  theils  am  frischen, 

theils  am  gehärteten  Präparate  vorgenommen,  ergab  noch  Folgendes : 

(2) 


ü#ber  congenitale  Herzmyome.  137 

In  der  Mitte  des  Ansatzrandes  der  linken  Semilunarklappe  der 
Pafanonalarterie  wölbt  sich  ein  etwa  banfkomgrosses,  ^mndlicbes,  ober- 
fl^blieh  warzig  unebenes  Knötchen  vor,  welches  in  seiner  ganzen  Grösse 
Ober  die  Fläche  des  Endocards  vorspringt  nnd  im  Gewebe  der  Klappe 
selbst  zn  sitzen  seheint,  jedoch   mit  breiter  Basis  dem  Muskelgewebe 
des  Oonns  aufsitzt  nnd  von  einer  Endocardschichte  anscheinend  über- 
kleidet ist.  Die  annähernd  kreisförmige  Basis  misst  3  Mm.  im  Durchmesser, 
die  Dicke   des  Knötchens   an    einem  senkrecht  auf  die  Klappenfläche 
nnd  parallel  zum  Verlaufe  der  Pulmonalarterie  geführten  Durchschnitte 
gemessen  beträgt  2  Mm.  Rechts  von  diesem  Knötchen,  unmittelbar  unter 
der  Oonmiissur  zwischen  linker  und  rechter  Klappe,  ist  das  Endocard 
des  Conus  leicht  vorgewölbt  und  an  zwei  Stellen  mit  mohnkomgrossen, 
1  Mm,  hoch  warzig   vorspringenden  Knötchen  besetzt.    Ein   zu  dem 
erstgefOhrten  Schnitte  paralleler  Schnitt   zeigt   diese  Yorwölbung  und 
die  kleinen  warzigen  Vorsprünge  bedingt  durch  ein  zweites,  dem  ersten 
an  Grösse  gleiches  Knötchen,   welches   in   der  Musculatur  des  Conus 
sitzend  nach  hinten  zu  noch  durch  eine  1  Mm.  breite  Muskelschichte 
vom  subpericardialen  Zellgewebe  getrennt   ist.     Ein  Schnitt  zwischen 
den  beiden   beschriebenen   hanfkomgrossen  Knötchen  zeigt,    dass   sie 
durch  eine  circa  1  Mm.  dicke  Schichte  Muskelsubstanz   von  einander 
getrennt  sind.    Ferner  findet  sich  l^/s  Mm.  unterhalb  des  zuletzt  be- 
schriebenen Knötchens  im  Herzfleische  noch  ein  drittes,  welches  durch 
eine    1 — 2  Mm.   dicke   Muskelschichte  von  jenem   getrennt,   als   ein 
spitzovoider,  fast  8  Mm.  langer  Körper  von   rechts   unten   nach  links 
oben  ziehend  unter  dem  zweiten  Knötchen  liegt,  bis  an  das  Endocard, 
dasselbe    kaum   merklich  verwölbend,   reicht  und  nach   hinten   durch 
eine  1  Mm.  dicke  Muskelsehichte  von  dem  subpericardialen  Zellgewebe 
getrennt  ist.    Die  rechts  liegende  Spitze  desselben  liegt  5  Mm.  unter 
der  Mitte  des  Ansatzes  der  rechten  Semilunarklappe,  die  linksliegende  findet 
sieh  1  Mm.  hinter  der  Basis  des  ersten  Knötchens.    In  seiner  Mitte  zeigt 
sieh  dieses  Knötchen  so  von  vorne  nach  hinten  zu  abgeflacht,  dass  es 
auf  dem  zweiten  der  erwähnten  Schnitte  als  ein  6  Mm.  langer,  2  Mm. 
breiter  Streif  schief  von  unten  nach  oben  die  ganze  Conusmusculatur 
durchsetzt,  aussen  nur  durch  eine  ^/^  Mm.  breite  Muskelsehichte  vom 
subpericardialen  Zellgewebe  getrennt.    Ausser  diesen  3  Knötchen  finden 
sieh  theils  im  obersten  Theile  des  Septum  ventrioulorum,  theils  in  der 
vorderen  Wand  des  rechten  Ventrikels  einige  (5 — 6)  mohnkomgrosse 
ähnliehe  Knötchen,  die  mitten  in  die  Musculatur  eingeschlossen  erscheinen. 
Am  linken  Herzen,  sowie  in  den  übrigen  Theilen  der  Musculatur  des 
rechten  Herzens  finden  sich  trotz  genauer  Durchsuchung  mittelst  zahl- 
reicher Schnitte  keine  ähnlichen  Gebilde. 

Von  all  den  erwähnten  Knötchen  wurden  unter  Anwendung 
der  Celloidinmethode  mittelst  Microtom  Schnitte  angefertigt ,  u.  zw. 

12  *     <3) 


138  Kolisko. 

Ton  den  drei  grösseren  entsprechend  den  angegebenen  auf  die 
Elappenflächen  senkrecht  geführten  Schnitten.  Das  Resultat  der 
mikroskopischen  Untersuchung  war  folgendes: 

A.  Loapen-Vergrösaening. 

An  mit  Carmin  oder  Hämatoxylin-Eosin  geerbten  Präparaten 
stechen  die  kleinen  Geschwülste  durch  eine  bedeutend  hellere  Farbe 
Ton  dem  dunkler  gefärbten  Herzmuskel  ab.  Ausser  diesem  Farben- 
«nterschiede  grenzen  sie  sich  aber  auch  durch  eine  gradlinig  yerlaufende 
Orenze  scharf  von  den  Muskelbflndeln  ab,  so  dass  es  den  Anschein 
hat,  als  wftren  sie,  aus  einem  fremdartigen  Gewebe  bestehend,  in  die 
Musculatur  eingelagert  und  stünden  in  keiner  Verbindung  mit  deren 
Fasern.  Wo  die  Geschwülstchen  an  der  Oberfläche  Yorragen,  sind 
sie  aber  von  einer  dem  Endocard  entsprechenden  fibrösen  Schichte 
41berzogen.  Fig.  1  und  2  geben  bei  dreifacher  Vergrösserung  ein  Bild 
über  die  bei  der  makroskopischen  Beschreibung  erwähnten  Verhältnisse. 
Fig.  1  ent^rioht  dem  senkrecht  auf  die  Conuswand,  durch  die  Mitte 
der  linken  Pulmonalklappe  und  parallel  zur  Pulmonalarterie  geführten 
Schnitte :  „P  ist  die  Innenflache  der  Fulmonalis,  K  die  linke  Pulmonal- 
klappe, ^  t^  ti  und  ^4  sind  die  Tumoren,  M  bezeichnet  die  Herz- 
musculatur."  Fig.  2  entspricht  dem  2.  Schnitte,  welcher  parallel  zum 
1.  durch  die  Commissur  zwischen  linker  und  rechter  ELlappe  geführt 
wurde:  „P  und  A  bezeichnen  Pulmonalis  und  Aorta,  K  die  rechte 
Pulmonalklappe,  ^  und  t^  die  Tumoren,  M  die  Herzmnsculatur.' 

B.  SOfiftche  Vergrösserimg.  Fig.  3. 

Das  Gewebe,  aus  welchem  die  kleinen  Geschwülste  bestehen, 
erscheint  als  ein  zartf aseriges  Balkenwerk  mit  zahllosen  Lücken,  wodurch 
eine  netzartige  oder  vielmehr  schwammige  Anordnung  entsteht,  welche 
den  Eindruck  einer  cavemösen  Structur  darbietet.  Die  Grösse  der 
Lücken  dieses  Balkenwerkes  ist  eine  sehr  variable.  Dieselben  sind 
meist  von  ovaler  Form,  die  grösseren  2 — 4mal  länger  als  breit,  von 
den  kleineren  sind  viele  kuglig.  Der  Längsdurchmesser  dieser  Lücken 
beträgt  an  einigen  ganz  vereinzelten  in  den  zwei  grössten  Knötchen 
bis  0*15  Mm.,  an  der  Mehrzahl  der  grösseren  Lücken  aber  geht  er 
nicht  über  0*08  Mm.  hinaus  und  ist  an  den  die  Hauptmasse  bildenden 
kleinsten  Lücken  circa  O'Ol  Mm.  lang.  Die  ovalgeformten  Lücken 
liegen  mit  ihren  Längsdurchmessem  in  je  einem  Knötchen  einander 
parallel  und  in  der  Regel  lässt  sich  auch  an  den  grösseren  Knötchen 
constatiren,  dass  ihre  Lücken  mit  dem  Längsdurchmesser  auf  der  Richtung 
der  benachbarten  normalen  Muskelbündel  senkrecht  stehen.  Eine  Com- 
manication  dieser  Räume   scheint   nicht   zu  bestehen,   desgleichen  ist 

(4) 


ü^ber  con^nüale  Heixmyome.'  139 

über  einen  etwaigen  Inhalt  derselben  nicht  in's  Klare  zu  kommen,  sie 
Behemen  vielmehr  leer  zu  sein. 

In  dem  zarten  Balkenwerke  selbst,  welches  mit  Lithioncarmin 
Uassroth,  mit  Pioroearmin  gelblich,  mit  Hftmatoxylin-Eosin  rosa  geftrbt 
enebeint,  sieht  man  eine  ziemlich  reichliche  Anzahl  von  blassroth^ 
lespective  blan  gefärbten  Kernen,  doch  ist  dieselbe,  mit  dem  enormen 
Kemreichthum  der  benachbarten  Mnskelbtlndel  verglichen,  relativ  eine 
geringe.  Dnreh  die  zahlreichen,  anscheinend  leeren  Lücken  and  die 
geringe  Zahl  der  Kerne  findet  jene  blassere  Färbnng  der  Geschwülstchen 
ihre  Erklärung.  Doch  findet  man,  wenigstens  in  allen  grösseren  Knötchen, 
mehrere  kemreiche  und  daher  auch  intensiv  gefärbte  Stränge  entweder 
mitten  im  Tnmor  oder  von  der  Peripherie  hereinziehend,  welche  sich 
als  Gefäsflstränge  erkennen  lassen,  was  an  den  stellenweise  sich 
findenden  Querschnitten  solcher  Stränge  noch  deutlicher  sichtbar  ist. 
Die  Grenze  zwischen  dem  Herzmuskel  und  den  Geschwülsten  ist  nicht 
überall  eine  so  scharfe,  wie  sie  sich  nach  der  Loupenvergrösserung 
hätte  erwartoi  lassen.  Wenn  auch  an  vielen  Stellen  eine  vollkommen 
scharfe  Abgrenzung  sich  zeigt,  indem  die  benachbarten  Muskelbündel 
an  der  Geschwulstmasse  vorbeiziehen  oder  gar  durch  ein  zartes  Binde- 
gewebsseptnm  von  ihr  getrennt  sind,  so  ist  doch  andererseits  sowohl 
an  den  grösseren,  als  auch  namentlich  an  den  kleioeren  Tumoren  ein 
üebergeben  der  normalen  Muskdfasem  in  das  Netzwerk  der  Geschwulst- 
masse  sehr  häufig  zu  constatiren. 

Ausser  den  bei  der  makroskopischen  Besehreibung  erwähnten 
Knöteh^i  sieht  man  aber  auch  bei  dieser  Vergrösserung  mehrere  be- 
deutend kleinere,  ganz  den  übrigen  in  Bezug  auf  blassere  Färbung 
imd  netzartige  Struetur  ähnliche  Knötchen,  welche  zwischen  den  be* 
sehnebenen  in  der  Musculatnr  eingebettet  sind  und  an  welchen  das 
Zusammenhängen  ihres  Maschenwerkes  mit  den  normalen  Muskelfasern 
am  deutlichsten  zu  sehen  ist. 

C.  500fache  Vergrösserung. 

Das  Balkenwerk,  welches  bei  der  schwachen  Vergrösserung  ein 
faseriges  zu  sein  schien,  zeigt  fast  durchwegs  eine  zwar  sehr  zarte,  aber 
voUkonmien  deutliche  Querstreifung ,  und  erweist  sich  dadurch  als 
ein  musculöses.  (Diese  Querstreifung  lässt  sich  bei  Anwendung  stärkster 
Linsensysteme  in  kleinste  kugelige  Kömchen  auflösen,  welche  in  Längs- 
«nd  Querreihen  angeordnet  erscheinen,  Fig.  4.)  Im  Polarisations- 
mikroskope zeigt  sich,  dass  das  Maschen  werk  der  Tumoren  doppelbrechend 
ist.  Herr  Professor  Sigm.  Exner  hatte  die  Freundlichkeit,  die  Unter- 
suchung auf  doppelbrechende  Eigenschaften  vorzunehmen  und  dieselben 
zn  constatiren.  Es  sei  mir  an  dieser  Stelle  gestattet,  ihm  meinen  Dank 
auszusprechai. 

(5) 


140  Kolisko. 

Dieses  Balkenwerk  wird  aber  nieht,  wenige  später  zu  erwähnende 
Stellen  ausgenommen,  von  Muskelfasern  gebildet,  sondern  von  grossen 
platten  und  sehr  dünnen  Mnskelzellen,  welche  membranöse  Umhüllungen 
jener  Lücken  darstellen  und  deren  Seitenansicht  jene  bei  schwächerer 
Yergrösserung  faserig  erscheinenden  Balken  vortäuscht.  Man  sieht  nämlich 
an  vielen  und  namentlich  an  den  kleineren  Lücken  bei  tieferer  oder 
höherer  Schraubenstellung  eine  untere  oder  obere  membranöse  Begrenzung 
der  Lücke,  welche  allmälig  in  die  seitliche  Wand  übergeht,  so  dass  jene 
elliptischen  oder  kreisförmigen  Lücken  als  ovoide,  respective  kugelige 
Bäume  erscheinen.  In  Folge  der  geringen  Dicke  dieser  membranösen 
Wände  und  in  Anbetracht  der  Grösse  der  von  ihnen  umschlossenen  Räume 
ist  aber  an  den  meisten  Lücken  die  obere  oder  untere  Wand  nur 
unvollständig  im  Schnitte  enthalten  und  es  sind  dann  nur  mehr  oder 
weniger  breite  Säume  derselben  von  den  seitlichen  Wänden  aus  nach 
unten  oder  oben  zu  verfolgen,  die  dann  meist  zackig,  seltener  geradlinig 
nach  dem  im  Schnitte  als  Lücke  erscheinenden  Hohlräume  zu  vorstehen. 
Durch  Anlegung  von  Schnittserien  gelingt  es,  an  allen,  auch  an  den 
grösseren  Lücken  nachzuweisen,  dass  sie  nach  allen  Raumesrichtungen 
hin  von  den  membranösen  Muskelzellen  umgrenzt  werden. 

um  über  die  Form  dieser  Mu^kelzellen  mehr  in^s  Klare  zu  kommen, 
als  wie  es  an  den  Schnitten  möglich  war,  versuchte  ich  die  Isolirung 
derselben  durch  Kalilauge.  Ein  Stückchen  der  Geschwulst  von  der 
linken  Pulmonalklappe  wurde  mittelst  des  Präparirmikroskopes  möglichst 
sorgfältig  in  Sb^i^  Kalilauge  zerzupft.  Es  zeigte  sich,  dass  die  Isolirung 
der  Zellen,  wenn  auch  nicht  vollständig,  so  doch  an  vielen  Stellen 
genügen  war.  Dieselben  sind  platte,  sehr  dünne  Zellen  mit  zahlreichen, 
ebenfalls  membranösen  Fortsätzen  an  ihrer  Peripherie.  Die  Qnerstreifung 
dieser  Zellen  ist  an  dem  mit  KOH  behandelten  Präparate  sehr  schön 
2u  sehen,  u.  zw.  an  den  Fläohenbildem  der  Zellen,  respective  ihrer 
Ausläufer,  als  jene  regelmässige  Quer-  und  Längsreihen  bildende 
Körnung,  an  den  Seitenansichten  als  quere  Streifung.  An  letzterer 
lässt  sich  auch  leicht  die  Doppelbrechung  nachweisen,  indem  bei  ge- 
kreuzten Nicols  diese  Ränder  hell  erscheinen.  In  diesen  Zellen  findet 
sich  ein  ovaler,  ziemlich  scharf  contourirter,  grosser  Kern.  Uebrigens 
lägst  sich  aueh  in  den  Schnitten  die  beschriebene  Form  der  Zellen 
nachweisen,  allerdings  an  einzelnen  Schnitten  nur  an  dafür  günstigen 
Stellen,  durch  die  Verfolgung  an  Serienschnitten  aber  überall.  Die 
Zellen  sind  gegeneinander  in  der  Weise  gelagert,  dass  ihre  Ausläufer, 
mit  den  Rändern  aneinander  stossend,  anscheinend  durch  dieselben  mit- 
einander vereinigt  sind. 

Die  Hohlräume,  welche  von  all  diesen  membranösen  Zellleibem  und 

Ihren  Ausläufern  umschlossen  werden,  sind  von  denselben  allein  begrenzt 

und  es  gelingt  bei  der  sorgfUtigsten  Durchsuchung  nirgends,   eine 

endotheliale  Auskleidung  derselben  aufieufinden.    Auch   ist    es    nicht 

<fl) 


1 

Ueber  congenitale  Honsmyome.  141 

mOglielii  eine  Gominiiiiioatioii  dersel][>6]i  untereinander  nachzuweisen,  selbst 
niebt  an  den  Serienschnitten.  Dass  sie  vollständig  leer  sein  sollten,  wie  es 
bei  sdiwächerer  Vergrössemng  sohlen,  erweist  sich  ferner  als  nioht  ganz 
richtig,  indem  sich  in  vielen,  namentlich  der  grösseren  Räume,  eine 
sehr  feinkörnige  Masse  findet,  welche  durch  die  Celloidinimbibition  im 
Schnitte  festgehalten  wurde.  Dieselbe  füllt  nirgends  die  Räume  voU- 
stindig  ans,  sondern  liegt  entweder  in  der  Mitte  oder  an  der  Wand 
der  Lücken.  Die  Kömchen  dieses  Inhaltes  sind  ungefiürbt  geblieben. 
Es  macht  den  Eindruck,  als  ob  eine  seröse  eiweissarme  Flflssigkeit, 
wdche  die  Hohlräume  ausgefüllt  hatte,  durch  die  Härtungsflflssigkeit 
zur  G^erinnnng  gebracht  worden  sei.  Ganz  vereinzelt  —  ich  konnte 
es  an  den  zahllosen  durchmusterten  Schnitten  etwa  5mal  sehen  — 
findet  sieh  auch  in  den  grössten  der  Hohlräume  und  in  jener  kömigen 
Masse  eingeschlossen  ein  homogenes  kugliges  Gebilde,  welches  mit 
Carmin  oder  Hämatoxylin  leicht  sich  imbibirt  hat. 

Als  sehr  reichlidi  erweist  sich  die  Geftssversorgung  der  Ge- 
sehwfllstehen ;  dieselbe  ist  namentlich  an  den  kleinen  Tumoren  sehr 
in  die  Angen  fallend,  indem  an  denselben  die  feinsten  Oapillaren  mit 
Blutkörperchen  gefallt  sind,  während  in  den  grösseren  nur  die  mächtigeren 
Geftase  Blut  führen.  Doch  lässt  sich  auch  in  diesen  der  Reichthum 
an  Gapillarrai  durch  die  hintereinandergereihten,  im  Vergleiche  zu  den 
blassen  Mnskelkemen  intensiv  gefilrbten,  spindeligen  Keme  erkennen, 
welche  zwischen  den  membranösen  Muskelzellen  in  den  Wänden  der 
H<dilräiime  sehr  häufig  sichtbar  sind.  Dass  diese  Keme  OapillargefiUBen 
ai^hören,  geht  aus  dem  Vergleiche  mit  den  vom  Blut  iigicirten 
CapiSaren  der  kleineren  Geschwülste  noch  deutlicher  hervor.  Ausser 
diesem  Capillargefitosnetz  finden  sich  auch  noch  dicke,  fibröswandige 
und  kornreiche  grosse  (Jeftsse,  die  theils  der  Länge  nach,  theils  der 
Quere  nach  durchschnitten  sind,  und  welche  in  die  benachbarte  nor- 
male Museulatur  zu  verfolgen  sind. 

An  den  Randpartien  der  Tumoren  erweist  sich  das  Verhältniss 
ihrer  Substanz  zu  der  benachbarten  Museulatur,  respective  zu  dem 
£ndocard  folgendermassen.  Es  steht  das  musculöse  Fachwerk  an  den 
klttneren  Knötchen  mit  der  Museulatur  des  Herzens  in  directem  Zu- 
sammenhange, indem  die  Fasern  des  Herzens  an  der  trotzdem  aber 
noch  immer  scharfen  Grenze  sich  plötzlich  in  das  Netzwerk  aufzulösen 
beginnen,  nur  an  den  äussersten  Randpartien  noch  die  Dicke  bei- 
behaltend, sofort  aber  in  jene  membranösen  Zellen  übergehend.  Dieses 
Verhältniss  findet  sich  auch  an  vielen  Stellen  der  Peripherie  äer  grösseren 
Knötchen,  doeh  fehlt  meistens  an  denselben  dieser  Zusammenhang,  wo 
dann  die  Oesehwulstsubstanz  von  der  des  Herzmuskels  meist  durch 
zartes  Bindegewebe  getrennt  ist.  —  Gegenüber  dem  Endocard  ver- 
halten sich  die  Knötchen,  u.  zw.  die  drei  grösseren,  die  ja  allein  bis 
an*s  Endoeard  rächen,  so,  dass  die  zwei  stark  gegen   die  Herzhöhle 

(7) 


■T?rj 


142  Koliiko. 

vorspringenden  das  Endoeard  nicht  allein  vorwölben,  sondern  aneh 
dnrdiwuchem  nnd  jene  kleinen  warzigen  Erhebungen  auf  der  Oberflilche 
dieser  Knötchen,  vom  Endothel  allein  bedeckt,  auf  dem  Endoeard  auf- 
sitzen oder  nur  mehr  von  einigen  Fasern  desselben  flberdeckt  sind. 
Die  Bindegewebsfasern  des  Endocards  sind  an  diesen  Stellen  durch  das 
cavemöse  Muskelnetz  auseinandergetrieben.  Das  dritte  Knötchen  erscheint 
vom  Endoeard  überzogen,  ohne  in  dasselbe  hineinzugreifen. 

Endlich  wftre  noch  zu  erwfihncD,  dass  in  den  centralen  Partien 
jenes  Knötchens,  welches  in  der  Mitte  des  Ansatzes  der  linken  Pulmonal- 
klappe  sitzt,  die  cavemöse  Structur  weniger  deutlich  ist  als  in  seinen 
peripheren  Partien  und  als  in  den  anderen  Knötchen,  sondern  dass 
daselbst  jene  Lflcken  nur  als  schmale  Spalträume  zwischen  den  Zellen 
zu  erkennen  sind,  welch  letztere  mehr  den  Eindruck  von  Fasern  machen. 
Die  Kerne  sind  aber  an  diesen  Stellen  im  Vergleich  zu  den  normalen 
Muskelfasern  ebenso  spärlich  wie  an  den  cavemösen  Partien,  die  Quer- 
streifiing  ist  ebenfalls  sehr  deutlich.  Ein  Zupfpräparat  in  d5®/o  KOH 
zeigt,  dass  aus  diesen  faserigen  Stellen  Muskelzellen  sich  isoliren  lassen, 
welche  mehr  den  bekannten  kurzen  Querstflcken  der  Herzmuskeln 
ähnlich  sind. 

Es  kann  keinem  Zweifel  nnterliegen,  dass  die  beschriebenen 
kleinen  Tumoren  des  Herzfleisches  aus  quergestreifter  Muskel- 
snbstanz  von  eigenthlimlicher  cavemöser  Anordnung  bestehen.  Die 
zwar  sehr  zarte,  aber  doch  allenthalben  sicher  zu  constatirende 
Qnerstreifung  jenes  Fachwerkes  nnd  seine  doppelt  brechenden 
Eigenschaften  erweisen  dies  zur  Genüge.  Es  könnte  nor  die 
Frage  aufgeworfen  werden,  ob  denn  diese  Muskelsubstanz  die 
Bedeutung  einer  neugebildeten  habe  und  ob  dieselbe  nicht  vielmehr 
ein  Theil  der  ursprünglichen  Musculatur  sei,  welcher  durch  einen 
eigenthümlichen  degenerativen  Process  zur  Bildung  geschwulst- 
ähnlicher Knötchen  gebracht  worden  sei.  Oegen  die  Annahme 
eines  solchen  Degenerationsprocesses  lässt  sich  nun  Folgendes  an- 
fhhren: 

Vor  Allem  ist  es  mit  dem  Begriffe  „Degeneration"  vollkommen 
unvereinbar,  dass  ein  derselben  verfallendes  Gewebe  die  ihm  vom 
Nachbargewebe,  hier  also  von  dem  fibrösen  Endoeard,  gegebene 
Grenze  durchbricht,  dasselbe  durchsetzt,  ja  sogar  jenseits  über- 
wuchert. Ein  solches  Verhältniss  ist  aber  zweifellos  hier  vorhanden, 
denn  an  den  zwei  grösseren  Knötchen  ist  ja  das  Endoeard  von  dem 
cavemösen  Muskelgewebe  durchsetzt,  seine  Fasern  sind  von  ihm 
auseinandergeworfen  und  nur  das  Endothel  überdeckt  noch  die 

(8) 


I   z^ 


üeber  congenitale  Hersmyome.  143 

warzig  yorspringenden  kleinen  Answüchse  anf  der  Oberfläche 
der  Knötchen.  Femer  sind  aber  auch  die  so  dentlich  sichtbare 
Qaerstreifong  der  Zellen,  die  Erhaltung  der  Zellkerne,  die  reichliche 
Gefassyersorgang  Momente,  welche  mit  der  Annahme  eines  dege- 
nerativen  Vorganges  sich  nicht  leicht  vereinigen  lassen.  Endlich 
ist  dagegen  anzuführen,  dass  vollkommen  analog  gebaute,  ebenfalls 
als  Myome  beschriebene  Geschwülste  des  Herzens  bekannt  sind, 
welche  den  Charakter  der  Neubildung  insofeme  noch  deutlicher 
zeigten,  als  sie  zu  einer  viel  bedeutenderen  Grösse  herange- 
wachsen waren. 

Desgleichen  wäre  der  Gedanke  von  der  Hand  zu  weisen, 
dass  eine  circumscripte  Hyperplasie  des  Herzmuskels  vorliege, 
denn  zum  Wesen  einer  Hyperplasie  gehört  doch  vor  Allem 
die  Bildung  gleichartiger  Elemente.  In  den  beschriebenen  Fällen 
aber  ist  eine  so  gleichmässige,  auch  an  den  allerkleinsten  Tumoren, 
an  diesen  sogar  am  deutlichsten,  sichtbare  Abweichung  vom  nor- 
malen Gewebstypus  des  Herzmuskels  zu  sehen,  dass  schon  in 
Folge  dessen  an  eine  Hyperplasie  nicht  gedacht  werden  kann. 
Es  liesse  sich  übrigens  auch  noch  gegen  diese  Auffassung  in^s 
Fdd  führen  die  scharfe  Abgrenzung  der  Tumoren  gegenüber  dem 
Herzmaskel,  die  bereits  erwähnte  Durchwucherung  des  Endocards 
und  endlich  die  Verschiedenheit,  welche  diese  Geschwülste  gegenüber 
einem  von  Eantzow  und  Virchow  beschriebenen  Falle  von 
eongenitaler  circumscripter  Hyperplasie  des  Herzmuskels  in  Folge 
von  im  Muskel  liegenden  miliaren  Gummen  besitzen. 

Es  bliebe  denmach  wohl  nur  die  Annahme  einer  echten 
Geschwolstbildung  übrig. 

Da  aber  die  Geschwülstchen  nicht  allein  aus  der  querge- 
streiften Muskelsubstanz  bestehen,  sondern  ein  Hauptantheil  von 
den  zahlreichen  Hohlräumen  derselben  gebildet  wird,  diese  aber 
die  Deutung  von  Gefässräumen  erfahren  und  dann  die  Tumoren 
als  Ctofässneubildungen  mit  secundärer  Veränderung  des  Muskels 
mfgefasst  werden  könnten,  so  bedarf  auch  die  Möglichkeit  einer 
imurtigen  Auffassung  einiger  Worte. 

Da  weder  an  den  allerkleinsten,  nur  wenige  Hohlräume 
»ithaltenden  Tumoren,  geschweige  denn  an  den  grösseren  eine 
Spur  von  Blut  oder  Blutpigment  als  Inhalt  jener  Räume  zu  ent- 

(9) 


■wr 


144  Kolisko. 

decken  ist,  da  auch  an  keiner  der  Lücken  eine  endothelartige 
Auskleidung  wahrzunehmen  ist,  da  endlich  ein  reichliches  capUlares 
Gefassnetz  mit  Blut  iigicirt  in  den  Wänden  der  Hohlräume  sich 
findet,  ohne  dass  irgendwo  ein  Uehergang  dieser  Gefasse  in  die 
Lücken  zu  constatiren  ist,  kann  a  priori  die  Auffassung  der 
Hohlräume  als  Blutgefässe  und  dem  zu  Folge  auch  die  Annahme 
einer  Blutgefässgeschwulst  als  ausgeschlossen  betrachtet  werden. 

Auch  als  Lymphgefässe  könnten  jene  Lücken  nicht  aufgefasst 
werden,  denn  das  vollständige  Fehlen  einer  endothelialen  Aus- 
kleidung, sowie  auch  der  offenbar  eiweissarme,  wohl  seröse  Inhalt 
der  Räume  lassen  es  als  sehr  unwahrscheinlich  erscheinen,  dass 
man  es  mit  erweiterten  Lymphgefässen  zu  thun  habe. 

Es  kann  demnach  die  Geschwulstbildung  nur  durch  eine 
Neubildung  von  quergestreifter  Muskelsubstanz  bedingt  sein,  welche 
als  Myoma  striocellulare  (Virchow)  oder  Rhabdo- 
myoma  (Zenker)  zu  bezeichnen  ist 

Die  Structur  der  besprochenen  Myome  ist  aber  eine  wesentlich 
andere,  als  wie  wir  es  an  den  Myomen  und  Myosarcomen  der 
Niere,  des  Hodens  etc.  oder  in  den,  quergestreifte  Muskel  ent- 
haltenden Partien  von  Teratomen  zu  sehen  gewohnt  sind.  Das 
Ungewöhnliche  liegt  in  der  eigenthümlichen  Anordnung  der  mem- 
branös  gebildeten  Muskelzellen  zu  einem  Fachwerke,  wie  es  ja 
an  Myomen  anderer  Organe  niemals  beobachtet  worden  ist.  Diese 
Abweichung  ist  aber  offenbar  begründet  durch  die  Localität,  an 
der  die  beschriebenen  Myome  sich  entwickelt  haben. 

Es  sind  ja  diese  Geschwülste  aus  dem  Herzmuskel  herror- 
gegangen,  einem  Muskel,  der  durch  einen  netzartigen  Zusammenhang 
seiner  Elemente  ganz  wesentlich  von  den  anderen  Muskeln  des 
Körpers  verschieden  ist.  Demnach  müsste  aber  das  Herzmyom 
stets  in  so  eigenthümlicher  Weise  gebaut  sein;  und  in  der  That 
findet  dies  sowohl  in  der  Uebereinstimmung,  welche  die  in  der 
Literatur  bis  jetzt  bekfinnten  Fälle  von  Herzmyomen  mit  dem  von 
mir  beschriebenen  Falle  zeigen,  als  auch  in  der  Histogenese  des 
Herzmuskels  seine  Bestätigung 

Es  finden  sich  in  der  Literatur  5  FäUe,  welche  entweder 
als  Herzmyome  beschrieben^  oder  als  solche  von  anderen  Autoren 
gedeutet  worden  sind ;  aber  nur  bei  dreien  ist  die  Auffassung  der 

(10) 


lieber  congenitale  HerEmyome.  145 

betreffenden  Geschwülste  als  Myome  eine  gerechtfertigte,  während 
in  den  2  anderen  Fallen  eine  solche  Deutung  gewiss  unzulässig  ist. 
Es  führt  mich  dies  zu  einer  Besprechung  der  erwähnten 
FäDe.  Des  leichteren  Verständnisses  halber  will  ich  eine  kurze 
Wiedeipibe  des  Wesentlichsten  dieser  Fälle  vorausschicken. 

Fall  Beoklin^hatLsen. ') 

Neugeborenes  Kind,  kurz  nach  der  Geburt  gestorben ;  im  Herz- 
fleisehe  mehrere  theils  nach  aussen,  theils  nach  innen  prominirende 
Tunoren;  die  grösseren  in  den  Wänden  der  Ventrikel,  der  grösste 
tanbeneigross ;  alle  ziemlich  scharf  von  der  Muskelsubstanz  sich  ab- 
setzend, von  blasserer  Farbe  und  von  dichterer  Consistenz  als  dieselbe. 

Bei  frischer  Untersuchung  platte,  theils  spindelige,  theils  ver- 
ästelte Zellen  leicht  zu  isoliren ;  dieselben  besitzen  einen  grossen  elliptischen 
Kern  mit  glänzendem  Eemkörperchen,  liegen  sehr  dicht  nebeneinander 
und  zeigen  eine  regelmässige  Anordnung  kleiner  Körnchen  in  parallelen 
Linien,  eine  deutliche  Querstreifnng.  Am  gehärteten  Präparate  zeigt 
sieh,  dass  diese  platten  Zellen  sich  fast  überall  so  aneinander  legen, 
dass  sie  die  Wände  von  Röhren  bilden,  deren  Querdurchmesser  im 
Allgemeinen  dem  einer  quergestreiften  Muskelfaser  gleich  kommt ;  keine 
eptthelartige  Auskleidung  dieser  Röhren  ist  zu  erkennen,  ebensowenig 
eine  Communication  derselben  untereinander ;  Aber  die  Beschaffenheit  des 
froheren  Inhaltes  der  Röhren  lässt  sieh  kein  Anhaltspunkt  gewinnen. 
Im  Gehirne  eine  grosse  Zahl  von  Sclerosen  (Gliome). 

Fall  Virchow. ') 

Neugeborenes  Sand  von  guter  Ernährung,  mit  multiplen  Haut- 
gesehwUlsten.  Das  Herz  nach  der  Beschreibung  Virchow 's,  dem  es 
ah  Spiiituspräparat  zugesendet  worden  war,  5  Om.  hoch,  4*3  Cm.  breit, 
Bamentlioh  rechts  voluminös  und  halbkugdlg ;  die  linke  Hälfte,  durch 
eine  tiefe  Incisur  an  der  Spitze  abgegrenzt,  mehr  das  Aussehen  eines 
•Anhanges  zeigend;  dureh  eine  Reihe  rundlicher  Vorragnngen  ist  die 
Oberfläche,  zumal  rechts  um  die  Spitze,  links  um  die  Basis  höckerig; 
diese  Vorragungen  entsprechen  auf  Durchschnitten  rundlichen,  bis 
1*5  Gm.  Durehmesser  besitzenden,   sehr  dicht  und  gleichmässig  aus- 


0  Monateohrift  1  Gebnrtakimde.  Bd.  XX,  pag.  1. 

Yttrhandliuigeii '  der  Berliner  sebnrtshilfl.  GesellBchaft.  1863,  Heft  XV, 
pag.  73. 

Die  letsteren  waren  mir  leider  nicht  zogänglich,  die  obigen  Daten  stammen 
ans  der  Konatsschrift  1  Ctebnrtskunde. 

*)  Virchow '8  Archiv,  Bd.  XXX,  pag.  468:  ^Congenitale  cayemöse  Hyome 
des  Henens." 

(11) 


146  Kolisko. 

sehenden,  leicht  auslöebaren  Geschwülsten.  An  den  Mnscnli  pectinati 
des  rechten  Vorhofes  bis  hanfkorngrosse  Auswüchse  der  Fleischbflndel 
sitzend.  In  der  Höhle  des  rechten  Ventrikels,  dieselbe  fast  ausfüllend, 
zwei  unregelmässig  kugelige,  lose  den  Papillarmuskeln  anhängende, 
Thromben  ähnliche  Gebilde,  das  eine  kirschengross,  das  andere  bohnen- 
gross,  beide  dicht  znsammendrttckbar ,  scheinbar  porös,  sonst  ganz 
gleichförmig ;  im  Septum  ein  ähnlicher  kirschgrosser  Knoten  von  derber 
Gonsistenz,  in  den  Ventrikel  halbkugelig  vorragend ;  an  den  Papillar- 
muskeln und  den  Trabeculae  cameae  hanfkorngrosse  flachrundliehe 
Auswüchse,  welche  vom  Endocard  überzogen  sind.  Im  linken  Herzen 
mehrere  grosse  Knoten  im  Septum  unter  dem  Aortenostium,  kleine  an 
den  Trabekeln  der  Herzspitze  und  besonders  grosse,  so  ein  kirsch- 
kemgrosser,  frei  vortretender  Knoten,  am  vorderen  Papillarmuskel. 

Mikroskopisch  an  allen  Tumoren  derselbe  Befund.  Dieselben 
bestehen  aus  einem  losen  Maschenwerke  von  cavemösem  Bau,  das  bei 
schwacher  Vergrösserung  aus  fibrösen  Balken  zusammengesetzt  scheint, 
welche  rundliche  und  unregelmässige,  scheinbar  leere  Räume  bilden. 
Nur  da  erscheinen  diese  Balken  breit,  wo  sie  seitlich  umgelegt  oder 
verschoben  sind.  Bei  starker  Vergrösserung  lösen  sich  alle  Septa  und 
Balken  in  musculöse  Bänder  auf  mit  sehr  weicher  Querstreifung  auf 
Flächen-  und  Seitenansicht.  Diese  Querstreifung  von  kleinen  blassen 
Kömchen  gebildet,  die  auch  der  Länge  nach  in  bestimmten  Reihen 
geordnet  sind.  Von  Strecke  zu  Strecke  grosse  runde  oder  eiförmige 
Kerne  mit  Kemkörperchen.  Auf  der  schmalen  Kante  und  bei  Falten- 
bildung treten  die  Querstreifen  oder  Kömer  schärfer  hervor.  Auch 
bei  starker  Vergrösserung  scheinen  jene  Räume  leer  zu  sein ;  nur  an 
einzelnen^  aus  der  Tiefe  entnommenen  Schnitten  finden  sich  darin  blasse, 
scheinbar  homogene,  verschieden  grosse  Kugeln. 

Fall  Kantzow-Virphow.  0 

Achtmonatliche,  todtgeborene  Fmcht,  von  einer  syphilitischen 
Mutter  herstammend.  In  den  Lungen  weisse  Pneumonie.  Am  Herzen 
findet  sich  quer  über  dem  Conus  der  Pulmonalis,  kurz  vor  dem  Ostium/ 
pulmonale  eine  circa  ^/^  Zoll  breite,  hart  anzufühlende,  flache,  in  der 
Mitte  ziemlich  stark  ansteigende  Oeschwulst,  welche  gegen  die  Ränder 
allmälig  in  das  Nachbargewebe  verstreicht,  ohne  dass  irgend  eine 
scharfe  Orenze  zu  erkennen  ist.  An  dem,  in  der  Mitte  3 — 4  Linien 
dicken  Durchschnitt  ergeben  sich  die  innersten  Muskellagen  fast  ganz 
unverändert,  gegen  die  Herzhöhle  zu  ist  kein  Vorsprung  zu  sehen. 
Im  Uebrigen  lässt  keine  andere  Stelle   des  Herzens  eine  Abweichung 


^)Virchow's Archiv,  Bd. XXXV,  pag. 211:  „Congenitales,  wahrscheinlich 
syphilitisches  Myom  des  Herzens.*' 

(12) 


Ueber  oongenitale  Hensmyome.  147 

erkenneD.  Sehon  änsserlieb  bemerkt  man  an  der  Geschwulst  unter 
dem  Perieard  kleine  rundliche  gelbweisse  Flecke,  in  ziemlich  regel- 
mässigen kleinen  Abständen  im  Oeschwulstgewebe  zerstreut.  Auf  dem 
Durehsohnitte  sind  dieselben  in  der  ganzen  Dicke  der  Anschwellung 
zu  finden,  jedoch  weniger  regelmässig  und  nicht  überall  als  Punkte, 
sondern  hie  und  da  auch  als  Striche  und  Linien.  Schon  dem  blossen 
Auge  erseheint  ihr  Gewebe  dichter  als  die  übrige,  ihrem  Ansehen  nach 
kamn  von  der  übrigen  Herzsubstanz  sich  unterscheidende  Geschwulst- 
Substanz. 

Bei  mikroskopischer  Untersuchung  zeigt  sich  diese  letztere  ganz 
aus  neugebildeten  quergestreiften  Muskeln  zusammengesetzt,  welche 
sidi  von  der  normalen,  aus  den  gewöhnlichen  schmalen  rundlichen 
Primitivbflndeln  bestehenden  Musculatur  dadurch  unterscheiden,  dass 
sie  ausschliesslich  aus  platten,  3 — 4mal  breiteren,  quergestreiften  Muskel- 
zellen bestehen,  welche,  2 — 4mal  länger  als  breit,  regelmässig  grosse 
Kerne  mit  Kemkörperchen  enthalten  und  an  den  langen  Enden  in 
mehrfache  spitzige,  meist  kürzere  Fortsätze  auslaufen.  Die  Querstreifung 
wird  von  Kömeiieihen  gebildet.  Im  Umfange  jener  weissgelben  Punkte 
und  Streifen  ist  eine  durch  Eemwucherung  und  Granulation  bezeichnete 
Wucherung  zu  sehen,  welche  nach  innen  durch  Fettmetamorphose 
zerfUlt  und  im  Centrum  eine  ziemlich  amorphe  Detritusmasse  hinterlässt 
(miliare  Gnmmen). 

Fall  Skrzeozka.  0 

Ein  kräftiger,  angeblich  früher  stets  gesunder  21jähriger  Bauer 
wurde  von  einem  12jährigen  Knaben  im  Laufe  verfolgt,  ergriffen  und 
zu  Boden  geworfen,  in  demselben  Augenblick  rOchelte  er  einige  Male 
und  starb.  Bei  der  Section  findet  sich :  Gedunsenes  Gesicht,  Auftreibung 
des  Unterleibes,  livide  Färbung  des  ganzen  Körpers,  die  blau  durch- 
seheinenden  Hautvenen   ein   Netz   bildend,    merklich  vorgeschrittene 
Yerwesnng;  äusserlich  keine  Verletzung,  einige  Narben  an  den  Fuss- 
geienken  und  der  rechten  Clavicula.   Anhäufung  von  dunklem  flüssigen 
Blute    in   Venen  und   Sinus   der  Kopf  höhle;    blutiges  Serum   an   der 
Schädelbasis   und   im  Wirbelcanal;   totale  schwielige  Anwachsung  der 
linken  Lunge,  fädige  Adhäsionen  der  rechten ;  sechs  Unzen  schwarzes 
dOnnflflssiges  Blut  in  der  rechten  Pleurahöhle ;  hochgradige  Blutttberfüllung 
in  beiden  Lungen,  namentlich  in  der  linken ;  Adhärenz  des  Herzbeutels 
an  die  linke  Pleura;  Verwachsung  des  Herzbeutels  mit  dem  Herzen; 
inlagerung  von  Kalkplatten  zwischen  dieselben.    Das  Herz  blieb  un- 
röffhet,  wie  aus  Skrzeczka's  Beschreibung  hervorgeht  und  wurde 
Spiritus   aufbewahrt.     Bei   der   drei  Monate   nach  der  Section  von 
krzeczka,  dem  das  Präparat  zugeschickt   wurde,  vorgenommenen 

*)  Virchow's  Archiv,   Bd.   XI,  pap.  181:  „ ESigenthftBÜiclie    cavernöge 
itartnng  der  MuBCulatnr  des  Herzens.^ 

(13) 


148  Kolisko. 

üntersachong  findet  sieh  Folgendes :  Gewicht  des  mittelgrossen  Herzens 
326  Gramm ;  v511ige  Verwachsung  der  Pericardialblätter ;  Einlagerung 
kalkiger  Platten  zwischen  dieselben;  die  Wand  des  linken  Ventrikels 
gleicht  auf  dem  Durchschnitte  völlig  einem  durchschnittenen  feinen 
Badeschwamm  und  entspricht  so  ziemlich  den  Brück  e'schen  Abbildungen 
der  eavemösen  Amphibienherzen.  Zahlreiche,  dicht  nebeneinander 
liegende,  Stecknadelkopf-  bis  kleinbohnengrosse  Höhlen  liegen  nämlich 
in  der  gelbbräunlichen  Muskelsubstanz,  die  grösseren  Höhlen  liegen  nach 
aussen  zu,  die  grössten  unter  dem  Pericard  ;  von  den  letzteren  sind  manche 
durch  feine,  von  einer  Wand  zur  anderen  gehende  Häutchen  und  Fädchen 
unvollkommen  in  mehrere  Zellen  getheilt;  die  Höhlen  sind,  nachdem 
der  sie  füllende  Spiritus  ausgelaufen  ist,  leer;  sie  stellen  nur  Lücken 
der  Muskelsnbstanz  dar,  indem  auch  nirgends  eine  auskleidende  Membran 
nachweisbar  ist;  in  einer  einzigen  subpericardial  liegenden  Höhle  ist 
etwas  geronnenes  Blut ;  in  der  Höhe  des  Sulcus  circularis,  ^/^  Linie  unter 
dem  Pericard,  findet  sich  ein  gelber,  scharf  abgegrenzter  erbsengrosser 
Fleck.  Dieselbe  cavemöse  Veränderung  der  Musculatur  findet  sich 
am  Septum  ventriculorum,  femer,  aber  in  geringerem  Grade,  in  der  Wand 
des  rechten  Ventrikels,  endlich  in  den  Papillarmuskeln  des  linken 
Ventrikels ;  die  Klappen  sind  normal ;  die  Wand  des  linken  Ventrikels 
etwas  hypertrophisch,  sonst  die  Herzdimensionen  nahezu  normal ;  kein 
Atherom  an  den  Arterien;  normale  Coronararterien.  Mikroskopisch 
wurde  untersucht  der  in  einer  der  grösseren  Höhlen  enthaltene  Spiritus, 
er  zeigt  ausser  Fetttröpfchen  nichts,  was  auf  den  muthmasslichen 
Inhalt  der  Höhle  hätte  schliessen  lassen ;  femer  die  innerhalb  der  grösseren 
Höhlen  ausgespannten  Häntchen  und  Fädchen,  sie  bestehen  aus  ge- 
locktem Bindegewebe,  untermischt  mit  Fetttröpfchen;  femer  das  Blut- 
gerinnsel der  einen  erwähnten  Höhle,  es  zeigt  mit  Blutfarbstoff  durch- 
tränkte Faserstoffgerinnungen ;  femer  die  Musculatur,  sie  ist  allenthalben 
besonders  im  linken  Ventrikel  hochgradig  verfettet,  sehr  brüchig,  bei 
der  Zerfasemng  nur  kurze  Trümmer  von  Muskelbündeln  darzustellen; 
endlich  der  erwähnte  gelbe  Fleck,  er  besteht  aus  Bindegewebe  mit 
dazwischen  gelagertem  Fett,  theils  frei  als  kleine  Tröpfchen,  theils  in 
grossen  Zellen  eingeschlossen. 

Fall  Hlava.^ 

14  Tage  altes  Kind ;  wegen  plötzlichen  Todes  sanitätspolizeiliche 
Section.  Am  Herzen  findet  sich,  auf  der  äusseren  Peripherie  der  linken 


»)  Sbornik  lökafakj^,  I.  Bd.,  3.  Hefk,  Juli  1886,  „Rhabdomyom  lev^ho 
srdce^.  loh  entnehme  die  Daten  über  diesen  Fall  theils  einer  üebersetznng  der 
Hlava'schen  Publication,  theils  bemhen  dieselben  auf  eigener  Beobachtung  an 
mikroskopischen  Präparaten,  welche  Herr  Professor  Hlava  mir  zuzuschicken 
die  Freundlichkeit  hatte. 

(14) 


Ueber  congenitale  Henrnyome.  ^49 

Kammer  breit  aa£sitzeiid,  ein  eiförmiger,  4  Cm.  langer,  in  der  Mitte 
3  Cm.  breiter,  vom  Salcus  annularig  bia  zur  Herzspitze  reichender 
Tomor.  Dersdbe  grenzt  sich  vom  Herzen  dnroh  eine  von  der  Basis 
der  Aorta  zur  Herzspitze  and  auf  die  hintere  Wand  ziehende  Furehe 
ab.  Durch  diese  Furche  hat  es  den  Anschein,  als  wenn  zwei  Herzen 
in  eines  yerschmolzen  wären,  an  dem  nur  die  Spitze  gespalten  blieb. 
Der  Tumor  ist  vom  Epicard  überzogen.  Auf  seinem  Durchschnitte 
erseheint  er  weich,  blutreich,  blassbraun,  aber  lichter  als  die  Herz- 
mnseulatur  gefärbt,  dem  Parenchym  eines  feinen  Schwammes  ähnlich, 
scharf  vom  Herzmuskel  abgegrenzt.  Die  linke  Kammer  auffallend  enge, 
vom  Tumor  comprimirt,  beide  Vorhöfe  etwas  erweitert,  Foramen  ovale 
offen,  rechte  Kammer  erweitert  und  deutlich  hypertrophirt.  Der  Ductus 
BotaÜi  noch  f%lr  eine  feine  Sonde  durchgängig.  Herzfleisch  gelblich, 
brflehig.    Die  Klappen  zart. 

Mikroskopisch  erweist  sich  die  Oeschwulst  als  aus  quergestreiften, 
platten,  mit  ovalem  Kerne  versehenen  Zellen  bestehend,  welche  zahl- 
reiche ebenfalls  platte  membranöse  Ausläufer  aussenden,  und  theils 
mit  ihrem  Leibe,  theils  mittelst  der  membranösen  Ausläufer  zahlreiche 
mndovale,  meist  aber  unregelmässige  Lücken  umgrenzen.^)  Der  Tumor 
ist  an  seiner  äusseren  Fläche  vom  Epicard  überzogen,  unter  welchem 
noeh  eine  dünne  faserige  Muskelschichte  sich  findet,  welche  aber  dem 
Herzmuskel  und  nicht  dem  Tumor  anzugehören  scheint  und  die  in 
das  Fachwerk  der  membranösen  Muskelzellen  des  Tumors  hie  und  da 
deutlich  übergeht.  Auch  gegen  die  Musculatur  des  linken  Ventrikels, 
dem  der  Tumor  ja  aufsitzt,  ist  ein  üebergang  der  Tumorzellen  in  die 
Herzmnsculatur  zu  constatiren.  Ein  sehr  reichliches  Netzwerk  kern- 
reieher,  capillarer  Gefässe  durchzieht  die  Muskelsubstanz  des  Tumors 
in  ganz  ähnlicher  Weise,  wie  ich  es  an  meinen  Herzmyomen  beschrie- 
boi  habe.  Doch  finden  sich  ausserdem  auch  sehr  zahlreiche  grosse,  meist 
mit  Blut  gefüllte  Gefitese,  die  in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  und 
namentlich  die  grössten  eine  eigenthümliche  Beschaffenheit  ihrer  Wand 
zeigen ,  indem  dieselbe  mit  Ausnahme  der  kemreichen  Intima  in  eine 
homogene  transparente,  ungefärbt  bleibende  (Picrocarmin)  breite  Schichte 
nmgewandelt  ist,  in  der  sich  hie  und  da  spindelige  oder  sternförmige, 
mit  Ausläufern  versehene  Zellen  nachweisen  lassen. 

Von    diesen   fönf  Fällen    sind   nur    drei ,   bei    welchen  die 

Deutung  der  Herztumoren  als  Bhabdomyome  zulässig  ist.  Es  sind 


^)  HIava  fasst  diese  Lücken  in  seiner  Arbeit  zwar  als  einen  Effect  der 
Alkoholhärtnng  auf  and  will  sie  im  Protoplasma  der  Mnskelzellen  selbst  wahr- 
genommen haben ;  doch  konnte  ich  mich  an  den  mir  von  Herrn  Professor  H 1  a  v  a 
xogiesandten  Präparaten  nirgends  von  letzterem  überzeugen,  yielmehr  mit  Be- 
stimmtheit die  intercellnläre  Lage  dieser  Lücken  constatiren  nnd  fast  überall, 
am  deutlichsten  an  den  Bandpartien,  die  yollkommene  Analogie  mit  der  eigen- 
thSmüchen  cavemösen  Zellstmctnr  der  Myome  meines  Falles  finden. 

(16) 


^T 


150  Kolisko. 

dies  die  Fälle  von  Recklinghausen,  vonVirchow  und  von 
H 1  a  V  a.  1)  Die  beiden  anderen  Fälle,  derKantzow-Vircho  w'sche 
und  der  Skrzeezk ansehe  Fall,  gehören,  wie  ich  versuchen 
werde  zu  beweisen,  nicht  zu  den  Myomen  des  Herzens. 

In  den  drei  ersteren  kann  kaum  ein  Zweifel  aufkommen, 
dass  es  sich  in  der  That  um  echte  Geschwulstbildnng  querge- 
streifter Muskelsubstanz  handelte.  Da  wegen  der  so  bedeutenden 
Grösse,  dem  scharfen  Begrenztsein,  dem  polypösen  Vorragen 
nach  der  Herzhöhle  zu  an  eine  einfach  hyperplastische  Neubildung 
von  Muskelgewebe  nicht  zu  denken  ist,  kann  nur  Geschwulst- 
bildung im  engeren  Sinne  des  Wortes  vorliegen.  Und  da  dieselbe 
durch  zweifellos  neugebildete  Muskelsubstanz  gebildet  wird,  ist 
wohl  „Myom^  die  allein  passende  Bezeichnung. 

In  allen  drei  Fällen  hat  aber  die  Substanz  dieser  Myome 
jene  besondere  Eigenthümlichkeit,  welche  sie  von  der  Musculatur 
anderer  Rhabdomyome  so  wesentlich  unterscheidet,  nämlich  jene 
cavemöse  Anordnung  der  die  Geschwulst  bildenden  Muskelzellen, 
welche  sich  auch  an  den  kleinen  Tumoren  des  von  mir  beobachteten 
Falles  findet.  Nur- im  Recklinghause n'schen  Falle  ist  insofeme 
eine  Abweichung  zu  bemerken,  als  es  in  der  Beschreibung  des  mikro- 
skopischen Befundes  heisst,  dass  jene  Zellen  sich  so  aneinander 
legten,  dass  sie  die  Wände  von  Röhren  bildeten.  Doch  beruht 
diese  Bezeichnung  offenbar  auf  einer  irrigen  Deutung  jener  Lücken, 
denn  Virchow  selbst  äusserte  sich  bei  Gelegenheit  der  Be- 
schreibung eines  Falles  von  „cavemösen  Myomen  des  Herzens''  über 
denRecklinghausen'schenFall  dahin,  dass  er  denselben  nach 


^)  Einen  vierten  irahrscheinlich  hierhergehörigen  FaU  ans  der  älteren 
Literatur,  von  Billard  beschrieben,  habe  ich  zu  erwähnen nnterlafisen)  weil  ein 
mikroskopischer  Befand  des  Billard'schen  Falles  fehlt.  Virchow  weist  in 
seinem  Werke  „Die  krankhaften  Geschwülste",  Bd.  in,  pag.  99,  bei  der  Ab- 
handlung der  streifzelligen  Muskelgeschwulst  des  Herzens  auf  diesen  Fall  hin, 
indem  er  sagt,  dass  derselbe  möglicherweise  hierher  gehöre.  Billard  beschrieb 
nämlich  (Trait4  des  maladies  des  enfans  nouveau-nte  et  ä  la  mamelle,  Paris  1828, 
pag.  6Ki7)  unter  der  Bezeichnung  Squirrhe  du  coeur  im  Herzfleische  eines  drei 
Tage  alten  Kindes  drei  kleine  Geschwülste,  welche,  an  der  vorderen  Herzfläche 
in  der  Wand  des  linken  Ventrikels  und  im  Septum  liegend,  die  Musculatur  nach 
aussen  und  innen  vordrängten  und  auf  dem  Durchschnitte  aus  einem  Faser- 
geflecht zu  bestehen  schienen. 

(16) 


üeber  congenitale  Herzmyome.  151 

neuerlicher  Vergleichong  als    „ganz  und   gar   ttbereinstinunend^ 
gefiinden  habe. 

Was  nun  die  beiden  anderen  Fälle  betrifft,  so  können  sie 
ans  folgenden  Gründen  nicht  zu  den  Herzmyomen  gezählt  werden. 

Im  Eantzow-Virchow'schen  Falle  handelt  es  sich  ja 
nach  Virchow's  eigenen  Worten  um  „eine  syphilitische  inter- 
stitielle Myocarditis,  neben  welcher  die  mosculäre  Hyperplasie  als 
ein  einfaches  Beizungsprodnct  aufzufassen  sein  dürfte,  ähnlich 
der  Hyperostose  neben  Gummositäten  des  Periosts^.  Die  Richtig- 
keit dieser  Anschauung  V  i  r  c  h  o  w^s  geht  aus  seiner  vortrefflichen 
Beschreibung  des  Falles  zweifellos  hervor  und  Virchow  hatte 
von  seinem  Standpunkte  aus  gewiss  Recht,  das  neugebildete 
Muskelgewebe  Myom  zu  nennen. 

Da  man  aber  heutzutage  die  einfachen  Gewebshyperplasien, 
entzündlichen  Gewebsneubildungen  und  Retentionsgeschwülste  von 
den  echten  Geschwülsten  zu  trennen  gewohnt  ist,  kann  auf  den 
Kantzow-Yircho waschen  Fall  der  engere  Begriff  des  Wortes 
,,(}eschwul8t^  nicht  anwendbar  und  mithin  auch  die  Bezeichnung 
dieser  Muskelneubildung  als  Myom,  wenigstens  nach  dem  heutzu- 
tage allgemein  üblichen  Vorgänge,  nicht  zulässig  sein.  Nichtsdesto- 
weniger figurirt  der  betreffende  Fall  ii\  all  den  neueren  Hand- 
büchern ^)  der  pathologischen  Anatomie  als  Myom,  obwohl  in  den- 
selben sonst  überall  und  strenge  die  Trennung  der  echten  Muskel- 
geschwulst, des  Myoms  von  einer  einfachen  Hyperplasie  der 
Muskeln  festgehalten  wird.  Auch  Friedreich ^)  berührt  auf 
Grund  des  Eantzow-Yircho waschen  Falles  die  Möglichkeit 
der  syphilitischen  Genese  der  Herzmyome. 

Was  nun  den  Skrzeczk  ansehen  Fall  betrifil,  so  ist  es  eigent- 
licb  unverstandlich,   wie  derselbe  die  Deutung  von  Herzmyomen 

')  Orth,    Lehrb.    d.  spec.  path.  Anat.  1.  Lief.,  pag.  201    und  202.   — 
Ziegler,   Lehrb.   d.  aDg.   n.  spec.  path.  Anat.   4.  Anfl.,  2.  Bd.,    pag.  55.  — 
Bireh-Hir Sehfeld.  Lehrb.  d.  path.  Anatomie.  2.  Aufl.,  2.  Bd.,  pag.  87  nnd 
i.  Anfl.,  LBd.,  pag.  131. 

Ja  Gornil-Banvier  nehmen  sogar  keinen  Anstand,  zn  erklären,  dass 
De  Herzmyome   syphilitischen  Kindern   angehört   hätten   nnd    dass  Virchow 
-enwt  geneigt  wäre,  sie  für  Gnmmen  zn  betrachten   (Manuel  d'histologie  patho- 
»giqne.  IL  6dit.,  1881,  Tome  I,  pag.  272). 

s)  Krankheiten  des  Herzens.  2.  Auflage. 
Med.  Jahzbüoher.  1887.  13    (17) 


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152 


Koliako. 


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erfahren  konnte.  Skrzeczka  selbst  hat  seinen  Fall  keineswegs 
als  Geschwülste  des  Herzens  beschrieben,  sondern  als  eine  „ eigen- 
thümliche  cavemöse  Entartung  der  Muscolatur  des  Herzens^^  die 
er  sich  in  der  Weise  zu  erklären  versuchte,  dass  er  eine  Re- 
sorption von  circumscripten  Verfettungsherden  des  Muskels  annahm. 
Nun  hat  aber  Virchow  bei  Gelegenheit  der  Beschreibung  der 
cavemösen  Structur  der  Herzmyome  sich  dahin  geäussert,  dass 
ihm  etwas  Aehnliches  aus  der  Literatur  nicht  bekannt  sei,  ausge- 
nommen der  Skrzeczka'sche  Fall,  bei  welchem  durch  eine 
poröse  badeschwammähnliche  Beschaffenheit  der  Herzmusculatur 
eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  der  cavernösen  Structur  der  Myome 
sich  finde.  Diese  Aeusserung  Virchow's,  welche  sich  ja  nur  auf 
die  Aehnlichkeit  der  Structur  der  Musculatur  des  Skrzeczka- 
schen  Herzens  einerseits  und  der  Myome  andererseits  beziehen 
konnte,  wurde  offenbar  missverstanden  und  ist  wohl  die  Ursache, 
dass  in  der  späteren  Literatur^)  der  Skrzeczka'sche  Fall  zu 
denHerzgeschwülsteU;  respective  zu  den  Herzmyomen,  gezählt  wird. 
Dass  aber  jene  „eigenthümliche  cavemöse  Entartung  der 
Musculatur  des  Herzens",  wie  Skrzeczka  sie  beschreibt,  nicht 
durch  Geschwulstbildung  bedingt  sein  kann,  geht  aus  Folgendem 
hervor.  Es  ist  in  Skrzeczka's  Beschreibung  ausdrücklich  ange- 
geben, dass  die  Herzdimensionen  ausser  einer  geringen  Hyper- 
trophie des  linken  Ventrikels  nahezu  normal  waren;  weder  nach 
innen,  noch  nach  aussen  zeigte  sich  am  Herzen  eine  Vorwölbung, 
obwohl  die  Ventrikel  wand  so  dicht  von  jenen,  mit  Spiritus  ge- 
füllten Höhlen  durchsetzt  war,  dass  sie  einem  Schwämme  glich; 
diese  Höhlen  selbst  erreichten  die  relativ  bedeutende  Grösse  einer 
kleinen  Bohne  und  stellten  nur  Lücken  der  Musculatur  dar;  sie 
waren  leer,  nachdem  der  sie  füllende,  nur  Fetttröpfchen  ent- 
haltende Spiritus  ausgeflossen  war;  keine  Spur  einer  aus- 
kleidenden Membran  war  in  ihnen  nachzuweisen;  das  Herz 
hatte  anscheinend  genügend  und  nur  von  der  Verwachsung 
beeinträchtigt    functionirt,    denn    es    gehörte    einem    kräftigen 


^)  Orth,  1.  c,  als  „cavemöses  Angiom,  das  vielleiclit  anch  ursprünglich 
•ein  Myom  war**,  beaseichnet.  Ziegler,  1.  c,  als  „Angiom'^.  Friedreich,  1.  c. 
als  „wahrscheinlich  anch  zu  den  Myomen  gehörend^.  Hlava,  1.  c,  als  mit 
seinem  nnd  dem  Vir cho  waschen  Falle  für  übereinstimmend  erklärt. 

(18) 


K. 


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lieber  congenitale  Herzmyome.  153 

21jäliTigeii ,  Yorher  gesunden  Bauer  an,  der  angeblich  sogar  nie 
brustkrank  gewesen  sein  sollte.  Unter  solchen  Verhältnissen  ist  es 
doch  geradezu  unmöglich,  an  das  Vorhandensein  von  Herz- 
geschwtilsten  zu  denken.  Ebensowenig  ist  irgend  ein  Anhaltspunkt 
f^T  die  Annahme  einer  Rückbildung  von  Geschwülsten  zu  jenen 
Hohlräumen  zu  finden,  ganz  abgesehen  davon,  dass  es,  um  mit 
C  0  h  n  h  e  i  m's  treffenden  Worten  zu  sprechen,  eine  für  alle  echten 
Geschwülste  giltige  Thatsache  ist,  dass  niemals  ein  Neoplasma 
sich  spontan  zurückbildet  und  verschwindet.  Skrzeczka  selbst 
gibt  als  Erklärung  seines  Befundes  eine  Resorption  von  circum- 
Scripten  Verfettungen  an,  weil  er,  wohl  mit  Recht,  die  Extraction 
des  Fettes  durch  den  schlechten  Präparatenspiritus,  also  eine 
postmortale  Entstehungsweise  jener  Lücken  für  unmöglich  hält. 
Doch  ist  auch  eine  derartige  Resorption  wohl  kaum  als  Ursache 
anzunehmen,  denn  abgesehen  davon,  dass  niemals  etwas  Aehnliches 
bei  Herzverfettungen  beobachtet  worden  ist,  ist  es  doch  nicht 
denkbar,  dass  bei  einer  so  hochgradigen  Veränderung  des  Herz- 
fleisches die  Herzdimensionen  normale  und  der  Träger  eines 
solchen  Herzens  ein  kräftiger,  21jähriger,  vorher  gesunder  Bursche 
gewesen  sein  soll. 

Efi  ist  überhaupt   eine   gezwungene  Annahme,    dass  jene 
„cavemöse  Entartung"    während   des   Lebens    bestanden    habe. 
Viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  dieselbe  einen  postmortalen 
Entstehungsgrund  habe.     Welcher  Natur  dieser   Process  aber  ge- 
wesen ist,  lässt  sich  allerdings  nur  schwer  aus  der  Beschreibung 
Skrzeczka 's  erschliessen.    Doch  möchte  ich  eine,  wie  mir  scheint 
nicht  unwahrscheinliche  Entstehungsweise  vermuthen.    Es  wäre 
nämlich  meiner  Ansicht  nach  ohne  Zwang  der  Grund  jener  ca- 
vemösen  Entartung  in  einem  Fäulnissemphjsem  der  Herzmusculatur 
zu  finden,  welches  bei  der  Section  übersehen  worden  wäre,   da 
ja  das  Herz  gar  nicht  eröfihet,  sondern  erst  nach  langem  Ver- 
weilen in  Spiritus  von  Skrzeczka  untersucht  worden  war.  Dies- 
ezOglich  ist  zu  beachten,  dass  im  Sectionsberichte  des  Dr.  R  e  i  c  h  e  I, 
er  die  Obduction  vorgenommen  hatte,  ausdrücklich  vorgeschrittene 
Verwesung  angegeben  ist;  auch  die  Dunsung  des  Gesichtes,  die 
Auftreibung  des  Unterleibes,  die  livide  Färbung  des  ganzen  Körpers, 
die  blaudurchscheinenden  Venennetze  und  die  blutigen  Flüssige 

13  •    ^i»> 


Sf 


154  Eoliako. 

keiten  an  der  Schädelbasis,  im  Wirbelcanai  und  im  rechten 
Pleuraräume  sind  Momente,  welche  auf  einen  vorgeschrittenen 
Fäulnissprocess  hindeuten.  Wie  schon  erwähnt,  wurde  das  Herz 
bei  der  Section  nicht  eröffnet,  sondern  es  wurde  wegen  der  aus- 
gedehnten Verkalkung  zwischen  dem  angewachsenen  Herzbeutel 
und  dem  Herzen  in  Spiritus  aufbewahrt.  Erst  nach  drei  Monaten 
untersuchte  Skrzeczka  das  Herz  und  bei  der  Eröffnung  fand 
er  jene  „eigenthilmliche  cavemöse  Entartung^  der  Musculatur. 
Unter  solchen  Verhältnissen  ist  es  doch  gewiss  denkbar,  dass  ein 
Fäulnissemphysem  der  Herzmusculatur  übersehen  wurde,  und  dass, 
nachdem  die  Gasblasen  von  dem  eindringenden  Spiritus  resorbirt 
oder  verdrängt  worden  waren,  sich  jene  schwammige  Beschaffenheit 
des  Herzmuskels  gebildet  hatte.  Auch  ein  sonst  sehr  auffallendes 
und  schwer  zu  erklärendes  Verhältniss  am  Skrzeczk ansehen 
Herzen  würde  seine  Erklärung  in  einem  Fäulnissemphysem  finden. 
Jene  Höhlen  zeigten  nämlich  eine  ungleiche  Grösse,  u.  zw.  lagen 
die  kleinsten  von  Stecknadelkopfgrösse  in  den  inneren  Schichten 
der  Herzwand,  die  grösseren  aussen  und  die  grössten,  von  Bohnen- 
grösse,  unter  dem  Pericard.  Auch  beim  Fäulnissemphysem  des 
Herzmuskels  liegen  in  den  dichten  Muskelschichten  innen  nur 
kleine  Gasblasen,  während  nach  aussen  zu  in  dem  lockeren  sub- 
pericardialen  Gewebe,  namentlich  wenn  starke  Fettwucherung 
vorhanden  ist,  die  kleinen  Gasblasen  zu  grossen  confluiren. 

In  dieser  meiner  Vermuthung,  dass  jene  „eigenthümliche 
cavemöse"  Entartung  durch  ein  Fäulnissemphysem  entstanden 
wäre,  wurde  ich  noch  durch  einen  diesbezüglichen  Versuch  bestärkt. 

Ich  liess  zwei  Herzen,  an  welchen  bei  der  Section  ein  hoch- 
gradiges Fäulnissemphysem  schon  von  aussen  bemerkbar  war, 
wovon  ich  mich  auch  durch  Einschnitte  überzeugt  hatte,  durch 
mehrere  Monate  im  gewöhnlichen  Präparatenspiritus  uneröffnet 
liegen.  Als  ich  dann  die  Herzwände  durchschnitt,  zeigte  sich  ein 
Bild,  das  der  Skrzeczka'schen  Beschreibung  fast  vollkommea 
glich.  Das  Herzfleisch  hatte  ein  schwammiges  Gefüge,  gebildet  durch 
zahllose,  verschieden  grosse,  mit  Spiritus  erfüllte  Lücken,  während 
die  Gasblasen  vollkommen  verschwunden  waren.  Namentlich  an 
dem  einen  Herzen,  das  von  dicker  Fettschichte  umwuchert  war, 
zeigte  es  sich  äusserst  deutlich,  dass  die  kleinen  Lücken  nur  in 

(20) 


üeber  congenitale  Herzmyoine.  155 

den  Innensehichten ,  die  grösseren  bis  bohnengrossen  im  snbperi- 
cardialen  Zellgewebe  und  in  den  äusseren  Mnskelschichten  vor- 
handen waren.  Selbst  die  von  einer  Wand  zur  andern  gehenden 
,Häntchen  nnd  Fädchen^  fanden  sich  in  den  peripher  liegenden 
grösseren  Höhlen  nnd  eine  mikroskopische  Untersuchang  zeigte 
sie  ebenfalls  ans  Bindegewebe  mit  Fetttröpfchen  bestehend. 

Nach  all  dem  glaube  ich,  dass  meine  Ansicht  über  die  Ent- 
stehnngsweise  der  „carvemösen Entartung^  imSkrzeczka ^schen 
Falle  eine  nicht  unberechtigte  ist;  gewiss  aber  kann  als  sicher 
gestellt  betrachtet  werden,  dass  jener  Fall  nicht  zu  den  Herz- 
geschwülsten, geschweige  denn  zu  den  Herzmyomen  zu  zählen  sei» 

Ich  kehre  zu  meinem  Falle  zurück.  Aus  dem  Vergleiche 
mit  den  Fällen  aus  der  Literatur  geht  hervor,  dass  er  als  der 
vierte  Fall  von  Herzmyomen  anzusehen  wäre,  und  mit  den 
bisher  bekannten  Fällen  die  eigenthümliche  cavemöse  Structur 
der  Muskelsubstanz  gemeinsam  hat,  welche  bisher  nur  an  den 
congenitalen  Herzmyomen  beobachtet  worden  ist.  Es  scheint  also 
das  angeborene  Myom  des  Herzens  diese  Eigenthümlichkeit  über- 
haupt zu  besitzen.  Natürlicher  Weise  wirft  sich  die  Frage  auf, 
worin  dieselbe  ihren  Grund  haben  könnte. 

Bisher  ist  es  nicht  gelungen,  eine  Erklärung  hierfür  zu  geben 
und  nur  die  Thatsache  ist  constatirt  worden.  Ich  glaube  aber, 
dass  ein  diese  Thatsachen  erklärender  Grund  in  der  Histogenese 
des  Herzmuskels  zu  finden  ist. 

Cohnheim's  geistreiche  Theorie  über  die  Aetiologie  der 
Geschwülste  im  Auge   habend,  ging  ich  von  der  Meinung  aus, 
es  möchte  jene  Eigenthümlichkeit  der  Muskelsubstanz  der  con- 
genitalen Myome  ihren  Grund  in  einer  ähnlichen  Beschaffenheit 
der  allerjüngsten  Stadien  der  Musculatur  des  embryonalen  Herzens 
haben.     In  der  Literatur,  soweit  sie  mir  zugänglich  war,  findet 
sich  nichts  von  einem  ähnlichen  Lückensysteme  im  embryonalen 
Herzmuskel  beschrieben.    Als  ich  mich  aber  selbst  an  die  Unter- 
^hnng  des  Embryoherzens  nach   dieser  Richtung  hin  machte, 
b  ich  meine  Erwartung  bestätigt.    An  dem  Herzen  eines,  etwa 
er  Wochen  alten,  menschlichen  Embryos  konnte  ich  ein  ähnliches 
fld,  wie  am  caveniösen  Herzmyome,  wahrnehmen.    Es  fand  sich 
imUeh   ein  System  kleinster  Lücken  in  der  Herzwand,  also  in 

(21) 


156  Kolisko. 

der  Musculatur  selbst ,  u.  zw.  waren  diese  Lücken  von  den  mem- 
branösen  Maskeizellen  und  ihren  Ausläufern  umgrenzt.  Trotz  der 
Kleinheit  der  Lücken  liess  sich  mit  Sicherheit  feststellen,  dass  die 
Muskelzellen  ein  Fachwerk  bildeten,  dass  ihre  membranösen  Leiber 
bald  ein  Profilbild,  bald  ein  Flächenbild  darboten  und  dass  ersteres 
die  seitliche,  letzteres  die  obere  oder  untere  Begrenzung  von  jenen 
Lücken  dai*stellten.  Ein  Inhalt  liess  sich  in  den  Lücken  nicht 
entdecken,  Blutkörperchen  waren  sicher  nicht  darin  zu  finden,  eben- 
sowenig liess  sich  eine  endotheliale  Auskleidung  nachweisen.  Am 
deutlichsten  war  diese  fachartige  Anordnung  der  embryonalen 
Muskelzellen  in  den  peripheren  Schichten  der  dicken  Ventrikelwand 
zu  sehen,  sie  war  aber  auch  deutlich  zu  erkennen  in  jenen 
musculösen  Balken  im  Innern  des  Herzens,  welche  den  späteren 
Papillarmuskeln  und  Sehnenfäden  entsprechen.  Dasselbe  Resultat 
hatte  ich  bei  der  Untersuchung  der  Herzmusculatur  von  zwei 
anderen,  etwas  älteren  menschlichen  Embryonen,  von  zwei  wenige 
Tage  alten  Kaninchenembryonen  und  einem  Meerschweinchen- 
embryo. Ich  hatte  auch  Gelegenheit,  vom  Herzen  eines  etwa  zwei 
Monate  alten  menschlichen  Embryos  ein  ganz  frisches  Zupfpräparat 
anzufertigen  und  konnte  sehen,  dass  die  isolirten  membranösen 
Muskelzellen  ebenfalls  membranöse  Ausläufer  besassen,  welche 
nach  verschiedenen  Raumesrichtungen  von  dem  den  Kern  ent- 
haltenden Leib  der  Zelle  abgingen.  An  Profilbildem  dieser  Fortsätze 
war  sehr  deutlich  Querstreifung  zu  erkennen. 

In  diesem  Lückensysteme  des  embryonalen  Herzmuskels 
scheint  mir  die  Erklärung  für  die  cavemöse  Structur  der  Herz- 
myome zu  liegen.  Dieselbe  wäre  als  ein  Ausdruck  der  embryonalen 
Natur  des  Muskelgewebes  der  Myome  aufzufassen.  Gleichwie  in 
anderen  echten  Geschwülsten  embryonale  Gewebstypen  sich  wieder- 
finden, die  im  physiologisch  erwachsenen  Organismus  kein  Prototyp 
besitzen,  wäre  auch  hier  ein  nur  im  embryonalen  Herzmuskel 
sich  findender  Typus  in  dem  Myome  wiederholt.  Alle  jene  kleinen, 
nur  mikroskopisch  wahrnehmbaren  Stellen  cavemöser  Muskel- 
substanz, wie  sie  sich  in  meinem  Falle  finden,  wären  demnach 
als  eben  sich  entwickelnde  Myome  aufzufassen  und  es  liegt  nicht 
zu  ferne,  dieselben  im  Sinne  von  Cohnheim's  Theorie  als  aus 
überschüssig  producirtem  Zellenmateriale  der   Herzmuskelanlage 

(22) 


•    M 


lieber  congenitale  Herzmyome.  157 

hervorgegangen   zu   betrachten,   dessen  Vertheilung  im  tibrigen 
wohlansgebildeten  Herzmuskel  sie  angeben  würden. 

Ein  Beleg  hierf)ir  scheint  mir  auch  in  dem  Eantzow- 
y  i  r  c  h  0  w  'sehen  Falle  zu  finden  zu  sein,  wo  nämlich  die  platten, 
quergestreiften,  an  den  langen  Enden  mit  mehrfachen  Fortsätzen 
yersehenen  Muskelzellen  trotz  dieser  embryonalen  Beschaffenheit 
die  cavemöse  Structur  vermissen  Hessen,  wo  aber  auch  deren 
Entstehung  nicht  auf  jene  frühe  Stufe  dei*  Entwicklung  des  Herz- 
muskels zurückzuführen  wäre,  sondern  wo  dieselben  als  einfaches 
>  Beizungsproduct  um  miliare  Gummen  in  einer  viel  späteren  Zeit 
I         des  embryonalen  Lebens  sich  entwickelt  haben  mussten. 

Die  eigentliche  Bedeutung  jenes  Lückensystemes  im  em- 
bryonalen Herzmuskel  kann  wohl  erst  durch  eine  eingehendere 
Verfolgung  dieses  Verhältnisses  an  zahlreichen  Embryonen  ergründet 
werden;  doch  möchte  ich  die  Vermuthung  aussprechen,  dass  dasselbe 
mit  der  späteren  netzförmigen  Beschaffenheit  der  Herzmusculatur 
in  ursächlichem  Zusammenhange  stehe,  wobei  vielleicht  die  ein- 
tretende Function  als  das  veranlassende  Moment  zur  Umbildung 
jener  platten  Zellen  zu  den  verzweigten  Fasern  anzusehen  wäre. 
Ob  der  im  Thierreich  auch  anderswo  als  am  Herzen]  sich  fin- 
dende netzförmige  Zusammenhang  der  Muskelfasern  ebenfalls 
in  einer  ähnlichen  cavemösen  Structur  ihrer  embryonalen  Anlage 
begründet  sei,  müsste  auch  Gegenstand  einer  eingehenderen  Unter- 
suchung sein,  wenn  sich  meine  eben  ausgesprochene  Vermuthung 
bestätigen  sollte. 

Als  Resultate  meiner  Untersuchungen  möchte  ich  somit 
hinstellen: 

Dass  die  bisher  bekannten  als  echte  Neubildungen  zu 
betrachtenden  Myome  des  Herzens  Rhabdomyome  waren,  welche 
flieh  durch  den  eigenthümlichen  cavernösen  Bau  ihrer  Muskel- 
snbstanz  auszeichnen.  Dass  diese  eigenthümUche  Structur  mit 
dem  Bau  des  Herzmuskels  in  dessen  ersten  Entwicklungsstadien 
übereinstimmt  und  dadurch  noch  mehr  den  congenitalen  Ursprung 
jener  Geschwülste  klarstellt. 


(28) 


158  Eolisko.  Ueber  congenitale  Henmyome. 


Erklärung  der  AbbildungeiL 

r  ^.  1  und  2.  LonpenvergTosserong.  P=  Polmonalarterie ;  A  =  Aorta ;  M=z  Herz- 

mnscülatiir ;  K  auf  Fig.  1  :s  die  linke  Polmonalklappe,  auf  Fig.  2  ^b  die 

rechte  PalmonaUdappe ;   t^t  t^^  ^,,  f^=:die  Tnmoren. 
Fig.  8.  SOfiftclie  Vergrössemng  eines  der  kleineren  Knötchen. 
"Fig.  4. 900fache  Vergrossening  einer  Partie  ans  demselben  Knötchen.  Die  Inhalts- 

massen   sind  nicht   in  alle  Ränme   eingeseichnet,   die  Müskelkenie  sind 

etwas  sn  scharf  contounrt. 


-m^ 


(24) 


■ 

i 


vn. 
Bemerkungen  zur  Ehrlich'schen  Nervenförbung. 

Dr.  J.  Pal. 

(Hus  dsm  IniiliuiB  für  allGomeliiB  und  BiperlmBittille  PilliolOElB  der  Wlengr  UninnilSI.) 

(Am  13.  März  1887  vod  der  BedactloD  Obeinonmeii.) 

Am  21.  December  1885  hielt  Ehrlich  in  Berlin  einen 
Vortrag  >),  in  welchem  er  Über  eine  nene  Färhemethode  flJr  Nerven- 
fasem  berichtet.  Sein  Färbeverfahren  ist  von  allen  bisher  bekannt 
gewordenen  echon  insofern  priocipieU  verBchiedeD,  als  es  sich  hier 
um  eine  in  vivo  vorgenommene  Procednr  handelt,  imd  zwar  wird 
m  diesem  Zwecke  Afethylenblan  oder  ein  anderer  £6rper  der 
Kethylenblangrnppe  °)  in  die  Vene  des  lebenden  Thieres  gebracht. 

Ich  habe  die  Wiederholung  dieser  Versuche  im  Herbste 
Torigeit  Jahres  anfgenommen,  znnächBt  um  die  höchst  interessante 
Thatsache  zu  constatiren.  Indem  aber  die  so  schön  gefUrbteu 
Nerrenstämmciien  nnd  ifervennetze  ihre  Farbe  unter  dem  Mikro- 
skope schon  nach  Minuten  verlieren,  habe  ich  mein  Bestreben 
darauf  gerichtet,  diese  Farbe  zu  fixiren. 

Wenngleich  nun  meine  Arbeit  nicht  ganz  erfolglos  war,  so 
habe  ich  doch  Anstand  genommen,  darüber  öffentlich  zu  berichten, 

')  Prof.  Dt.  P.  Ehrlich:  Ueher  die  Hethylenblsiireacüoii  der  leliendm 
Kvrmianbstanz.  D.  med.  WocheiucliT.  1886,  Vr.  4. 

■)  Bernthien,  Ber.  d.  d.  ehem.  Ges.  1885.  Liebig's  Ann.  230,  pag.  73. 


A'^ 


\iy 


160 


Pal. 


l^\ 


zumal  Herr  Ehrlich  eine  aosfiihrliche  Pablication  in  Alissicht 
gestellt  hat. 

Inzwischen  hat  Prof.  C.  Arnstein  in  Kasan  im  „Anato- 
mischen Anzeiger"  ^)  über  Experimente  Mittheilong  gemacht ,  die 
Herr  Alexis  Smirnow  unter  seiner  Leitung  unternommen  hat 
und  die  gleichfalls  darauf  gerichtet  sind,  die  durch  die  E  h  r  1  i  c  h'sche 
Methode  dargestellten  Bilder  zu  fixiren.  Nimmehr  liegt  für  mich 
kein  Grund  vor,  die  Resultate  meiner  Versuche  nicht  mitzutheilen. 

Vorerst  will  ich  aber  in  Kürze  das  Wesentliche  des  Ex- 
periments beschreiben,  was  mir  umsomehr  geboten  erscheint,  als 
von  Ehrlich  hierüber  keine  Daten  vorliegen. 

Ich  habe  Fröschen  *)  das  Methylenblau  auf  dem  Wege  der 
Infusion  unter  niedrigem  Drucke  beigebracht,  und  zwar  fand  ich, 
dass  selbst  ganz  dünne  Lösungen  genügen,  um  die  schönsten 
Bilder  von  Nervenendigungen  hervorzurufen. 

In  jüngster  Zeit  habe  ich  mit  Vaprocentiger  Lösung  ge- 
arbeitet. 

Die  Canüle  habe  ich  zuweilen  in  die  Vena  abdominalis,  zu- 
weilen in  die  Vena  cutanea  magna  des  Frosches  eingeführt.  Das 
letztere  Verfahren  ziehe  ich  trotz  seiner  Schwierigkeit  vor,  da  es 
bei  dem  ersteren  Verfahren  zu  Stauungen  in  der  Leber  kommt, 
die  den  Versuch  leicht  stören  können. 

Das  Resultat  war  in  allen  Fällen  ein  zufriedenstellendes, 
wenn  kein  Fehler  in  der  Anordnung  vorlag.  Nach  wenigen  Se- 
cunden  schon  ti*at,  wie  es  Ehrlich  angibt,  intensive  Bläue  in 
der  geöfiBaeten  Mundhöhle  auf.  Wurde  die  Infasion  fortgesetzt,  so 
gingen  die  Thiere  nach  mehreren  Stunden  zu  Grunde ;  unterbrach 
man  die  Infusion  sofort  nach  den  ersten  Färbungserscheinungen,  so 
blieben  die  Thiere  am  Leben  und  zeigten  nach  mehreren  Tagen 
noch  in  einzelnen  Organen,  insbesondere  in  der  Leber,  Spuren  des 
Farbstoffes,  der  dadurch  bemerkbar  wird,  dass  sich  die  Leber  an 
der  Luft  grün  färbt.  Um  die  Organe  mit  Farbstofflösung  besser 
durchzuspülen,  habe  ich  gewöhnlich  aus  einem  grösseren  Gefässe 
bluten  lassen. 


\ 


^)  „Methylenblaufärbnng  als  histolo^sche  Methode.'^  IL  Jahrg.  1887,  Nr.  5. 
*)  Meine  Versnche  sind  ausschliesslich  an  diesen  darchgeführt. 


W 


Bemerkungen  snr  Ehrlich'schen  Nervenfärbung.  Igl 

Betrachtet  man  die  Znnge  eines  anf  diese  Weise  präparirten 
Frosches  näher,  so  sieht  man  die  breiten  Papillen  als  tiefblaue 
Punkte  hervortreten.  Schneidet  man  nun  ein  Stückchen  der  Zungen- 
schleimhaut aus  und  bringt  sie  unter  das  Mikroskop,  so  erblickt 
man  fast  immer  in  den  Geschmackspapillen  ein  überraschend 
schönes  Bild  von  Nervenendigungen,  welche  Ehrlich  in  dem 
erwähnten  Vortrage  beschrieben  hat. 

Ein  Zweifel,  betreffend  die  nervöse  Natur  der  Gebilde,  kann 
nicht  obwalten,  da  das  zuführende  Nervenstämmchen  in  der 
gleichen  ganz  eigenthümlichen  Nuance  des  Blau  gefärbt  erscheint. 
Ebenso  wie  in  diesem  Gewebe  sind  auch  an  anderen,  schon  von 
Ehrlich  angegebenen  Orten  in  hervorragender  Weise  Nerven- 
stämmchen und  deren  feinste  Endigungen  gefärbt,  so  z.  B.  in  der 
Gaumenschleimhaut,  in  den  Augenmuskeln  u.  s.  w.  An  manchen 
Stellen  sieht  man  jedoch,  dass  auch  vereinzelt  andere  Gewebs- 
elemente  den  Farbstoff  an  sich  reissen,  wie  dies  auch  schon  von 
Ehrlich  hervorgehoben  wurde. 

Für  das  Zustandekommen  dieser  Erscheinung  hat  Ehrlich 
auch  eine  chemische  Erklärung  gefunden,  die  nach  Allem,  was 
man  darüber  heute  weiss,  sehr  plausibel  zu  sein  scheint. 

Ich  kann  nicht  umhin,  hier  in  Kurzem  eine  Andeutung  davon 
zu  machen. 

Das  Methylenblau  hat  wie  alle  Körper  dieser  Gruppe  ^)  eine 

Sulfongruppe  eingelagert, 

Ce  H3^  -  N  (CH,), 
N<         >S 

CeHs  —  N(CHs},Cl 


Salzsanres  Methylenblan  nach  Bernthsen, 

and  alle  diese  Körper  geben  die  gleiche  Reaction,  wenn  sie  in 
das  Gefasssystem  eingeführt  wurden.  Führt  man  jedoch  die  ganz 
ähnlich  construirte  Verbindung 

Ca  H,  —  N  (CHa), 


N< 


Ce  H,  —  N  (CHs)a  Cl 


Dimethylplienylengran  (Bindschedler). 


^)  Bernthsen  1.  c. 

(8) 


NV 


^\^- 


162 


Pal. 


-.A 


»1. 


ein,  die  sich  Ton  dem  Methylenblan  wesentlich  durch  den  Mangel 
der  Snlfongmppe  unterscheidet,  so  tritt  die  Nervenreaction  nicht 
ein.  Es  lag  in  Folge  dessen  nahe,  zu  schliessen,  dass  durch  die 
Einlagerung  der  Sulfongruppe  die  Aufnahme  in  die  Nervenbahn 
ermöglicht  werde. 

Ehrlich  zieht  auf  Grund  einiger  vergleichender  Unter- 
suchungen den  Schluss,  dass  „die  Methylenblaureaction  als  eine 
allgemeine  Eigenschaft  der  Axencjlindersubstanzen  anzusehen  und 
somit  in  direete  Beziehung  mit  der  Function  der  Nervensubstanz 
zu  bringen  ist^. 

Allein  nicht  alle  Nervenendigungen  zeigen  diese  Beaction. 
Nach  Ehrlich  sollen  Sauerstoffsättigung  und  alkalische  Beaction 
die  Bedingungen  sein,  unter  welchen  die  nervösen  Substanzen  das 
Methylenblau  aufnehmen.  Doch  ist,  wie  Ehrlich  selbst  angibt, 
auch  diese  Erklärung  ftir  sich  nicht  ausreichend. 

Der  Werth  der  durch  diese  Methode  erlangten  Bilder  wird 
aber  wesentlich  dadurch  getrübt,  dass  die  Färbung,  wie  schon 
einleitend  bemerkt  worden  ist,  sehr  rasch  schwindet.  Meine  auf 
die  Conservirung  gerichteten  Experimente  sind  zwar  noch  nicht 
abgeschlossen;  aber  die Publication  Arnstein's  veranlasst  mich, 
dasjenige  mitzutheilen,  was  bereits  spruchreif  erscheint. 


V*. 


IT.» 


S*i'- 


Breitet  man  ein  Stückchen  der  gefärbten  Mundschleimhaut 
auf  dem  Objectträger  aus  und  bedeckt  es  mit  einem  Deck- 
glase, so  beginnt  das  Präparat  schon  nach  wenigen  Minuten  ab- 
zublassen, wenngleich  sich  einzelne  Partien  noch  stundenlang  blau 
erhalten. 

Das  Abblassen  beginnt  in  diesem  Falle  im  Centrum  des 
Präparates  und  schreitet  von  hier  gegen  die  Peripherie  vorwärts ; 
die  Bandpartien  erhalten  die  blaue  Farbe  am  längsten. 

Dieser  Umstand  drängt  uns  die  Annahme  auf,  dass  das  aus- 
geschnittene Gewebe  Beductionsfahigkeit  besitzt  und  aus  dem 
Methylenblau  eine  Leukoverbindung  bildet,  während  die  Eand- 
partien  noch  unter  dem  Zuflüsse  des  umgebenden  Sauerstoffes  blau 
bleiben.  Es  lag  demnach  nahe,  die  Präparate  ohne  Deckglas  zu 
beobachten,  und  es  stellte  sich  in  der  That  heraus,  dass  sich  un- 
bedeckte Präparate  bis  zu  mehreren  Stunden  erhalten,  wenn  die 

(4) 


Bemerknngen  snr  Gbrlich'aehsn  Nerveaftirbimg.  J.gg 

nßthige  Fenchtigkeit  nicht  Tereiegt.  Zar  Erhaltong  der  erfordere 
licbeD  Feacbtigkeitsmenge  habe  ich  O'ßprocentige  KochBalztösnng, 
eventnell  anch  deetillirtes  Wasser  benützt. 

Um  die  Rednction  des  Methylenblau  zn  Terhisdem ,  habe 
ich  in  zweiter  Linie  versucht,  die  Gewebe  rasch  abzntüdten  nnd 
anf  diesem  Wege  Präparate  von  längerer  Dauer  zu  gewinnen.  Ich 
habe  zn  diesem  Zwecke  einerseits  Trocknen  in  der  Spiritnsflamme, 
andererseits  Trocknen  über  Schwefelsäure  bei  LnftverdUnnnng 
versncht.  Beide  Verfahren  haben,  mit  der  nöthigen  Vorsicht  an- 
gewendet, brauchbare  Bilder  geliefert,  wenngleich  dabei  die 
feinsten  Endigungen  der  Nerven  nur  ausnahmsweise  coneervirt 
erschienen. 

Bei  beiden  Procedsren  dürfen  nur  ganz  kleine  Stückchen 
auf  dem  Objcctträger  dbnn  ausgebreitet  werden.  Die  Trocknung 
ndt  der  Flamme  geschieht  so ,  dass  man  das  Ende  des  Objeet- 
trägers  einigemale  rasch  durch  die  Flamme  zieht.  Das  Präparat 
selbst  darf  nicht  heisa  werden,  sonst  ist  es  verloren.  Ist  das 
Gewebestückchen  trocken  und  auch  durchsichtig,  so  wird  es 
mit  einem  Tropfen  Terpentin-Damarlack  eingeschlossen.  Einzelne 
solche  Präparate  haben  sich  als  sehr  dauerhaft  erwiesen. 

Nebeu  diesem  Verfahren  musste  ich  natorgemäss  an  die 
Fizirnng  dorch  Fällung  denken  nnd  habe  ich  zu  diesem  Zwecke 
mich  mit  jenen  Substanzen  beschäftigt,  die  in  Methylenhlau- 
lösungen  Niederschläge  erzengen.  Hier  berühren  sich  meine 
Versuche  mit  den  von  Smtrnow  beiÄrnstein  ansgeftibrten. 
Eb  gibt  eine  ganze  Reihe  von  Körpern ,  die  im  Methylenblau 
Niederschläge  erzeugen :  Chromsäure ,  Jodkalium ,  Pikrinsäure, 
rothes  Blntlaugensalz  u.  s.  w.  Die  Erfolge  mit  diesen  Körpern 
waren  mit  Ausnahme  des  Jodkaliums  ungenügende.  Ich  habe  mich 
des  letzteren  in  einer  von  Arnstein  ganz  abweichenden  Weise 
bedient;  welches  von  den  beiden  Verfahren  jedoch  das  zweck- 
mtlSBigere  ist,  kann  ich  zur  Stunde  nicht  auBsagen. 

Ich  schneide  ein  Stückchen  des  Gewebes  aus  und  lege  es 
in  einen  Tropfen  einer  20procentigeQ  Lösung  von  Jodkalium  in 
Glycerin  anf  den  Objcctträger.  Das  so  bereitete  Präparat  bleibt 
dnich  mehrere  Standen  liegen  und  wird  erst  dann  nach  voll- 
ständiger Imbibition  zngedeckt. 


^ii-v.;- 


*  *     ' 

*% 


164 


PaL  BemerkimgeiL  zur  Ehrlicli'Bchen  Nervenfarbnng. 


^ 


K 


Ich  habe  mit  diesem  Verfahren  Nervenfasern  mid  selbst 
schöne  Endigongen  Wochen,  ja  selbst  Monate  hindurch  erhalten. 

Das  Jodkalinm  erzengt  im  Methylenblau  eine  Fällung,  die 
aus  Erystallen  von  violetter  Farbe  besteht.  Dementsprechend 
verwandeln  sich  auch  die  blauen  Nervenbilder  in  violette.  Das 
Sichtbarwerden  solcher  Erystalle  stört  leider  nicht  selten  die  Rein- 
heit der  Bilder. 

Auch  diese  Präparate  blassen  mit  der  Zeit  ab,  jedoch  von 
der  Peripherie  gegen  das  Centrum  hin,  so  dass  sich  hier  die 
Farbe  am  längsten  erhält. 


5J-.' 


'yU 


-m^ 


\ 


(«) 


vin. 


Ueber  den  therapeutischen  Werth  der 

Salzwasserinfosion. 


Von 


Dr,  Carl  Maydl^ 

Privatdooent  der  Clürargie  in  Wien. 
(Am  13.  März  1887  von  der  EedacÜon  übernommen.) 


Im  Jahre  1884  habe  ich  einige  üntersnchimgen^über  die 
Einspritzmig  yerdüimter  Kochsalzlösungen  in  das  Oefösssystem 
yerblnteter  Thiere  angestellt  nnd  die  Ergebnisse  dieser  Unter* 
gQchnngen  in  einer  Abhandlung  ^)  niedergelegt. 

Den  Ansichten  znfolge ,  welche  ich  daselbst  vertreten  habe, 
gollte  dem  therapeutischen  Werthe  der  genannten  Infusionen  keine 
60  hohe  Bedeutung  zukommen ,  als  ihnen  noch  kurz  vorher  bei* 
gelegt  worden  ist  Zwar  habe  ich  nicht  in  Abrede  gestellt,  dass 
man  ein  Thier,  bei  welchem  Athmung  und  Puls  in  Folge  einer 
heftigen  Blutung  eben  erloschen  sind,  durch  die  Infusion  wieder 
beleben,  dass  man  also  Puls  und  Athmung  wieder  erwecken  könne. 
Ich    habe   aber  behauptet,   dass  die  Thiere,   welche  einen  so 


')  Der  Werth  der  Eoohsalzinfasion  und  Blnttransftosion  beim  Verblntimg»- 
tode.  Wi«n«r  med.  Jahrbücher.  1884. 

ü) 


166  MaydJ 

Bchweren  Blntrerlost  erlitten  haben,  trotz  der  Wiederbelebung, 
alsbald  zu  Grande  gehen.  Ich  habe  mich  demgemäss  dahin  ge- 
äussert, dass  Menschen,  welche  in  Folge  einer  Verwundung  auf 
dem  Schlachtfelde  bis  zu  dem  obenerwähnten  Grade  verblutet 
haben,  durch  die  Infusion  einer  geeigneten  Kochsalzlösung  immerhin 
lange  genug  am  Leben  werden  erhalten  können,  um  in  ein 
Hospital  transportirt ,  und  daselbst  einer  zweiten  Infusion  und 
zwar  von  Menschenblut  unterzogen  zu  werden. 

Nach  dem  Erscheinen  meiner  Abhandlung  sind  noch  andere 
Stimmen  laut  geworden,  denen  zufolge  ich  annehmen  durfte,  dass 
ich  mit  meiner  Ansicht  nicht  allein  stehe.  In  der  That  haben 
sich  auch  die  literarischen  Mittheilungen  über  am  Menschen  aus* 
geführte  Infusionen  seither  auffällig  vermindert. 

In  neuester  Zeit  hat  indessen  Professor  Eronecker  in 
Bern  über  dieses  Thema  einen  Vortrag  gehalten,  in  welchem  er 
die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  einer  sehr  abfälligen, 
durch  spöttische  Ausfalle  gewürzten  Kritik  unterzieht.  ^) 

Herr  Kronecker,  der  sich,  wie  es  scheint"),  flir  den  gei- 
stigen Urheber  der  Infusionsmethode  hält,  was  er  aber,  beiläuug 
bemerkt,  nicht  ist,  berichtet  nun  über  einen  einschlägigen  Fall 
von  Heilung  dnrch  die  Salzwasserinfusion.  Während  ich  behauptet 
habe,  dass  Hunde,  die  bis  zum  Ausfall  gewisser  Lebenserschei- 
nungen entblutet  worden  sind,  nach  vorübergehender  Erholung 
dennoch  zu  Grunde  gehen,  führt  Herr  Kronecker  einen  Fall 
an,  in  welchem  das  Leben  des  Thieres  trotz  der  obenerwähnten 
Umstände  am  Leben  erhalten  worden  ist.  Mit  Bücksicht  darauf, 
dass  ich  schon  in  meiner  früheren  Abhandlung,  anlässlich  einer 
anderen  Beweisführung,  einen  ähnlichen  Einzelfall  als  Ausnahms- 
fall bezeichnet  habe,  von  welchem  eine  allgemeine  Regel  nicht 
abgeleitet  werden  dürfe,  schützt  sich  Herr  Kronecker  von 
vorneherein  gegen  einen  solchen  Widerspruch  meinerseits.  Er 
bekämpft  die  formale  Richtigkeit  meines  Denkens  und  weist  unter 


^)  Kritisches  nnd  ExperimenteUes  über  lebensrettende  Infusion  von 
Eoclisalzlösnng  bei  Hunden.  Ans  dem  Correspondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte. 
Basel  1886. 

')  Biese  meine  Aenssemng  grändet  sich  darauf,  dass  er  mich  und  Schramm 
als  die  Herren  Nacharbeiter  anspricht. 
(2) 


üeber  den  therapeutischen  Werth  der  Salzwasserinftision.  157 

AnfühniDg  eines  Exempels  darauf  hin,  dass  ich  mir,  als  Schüler 
des  Philosophen  Stricker,  solche  Exempla  sehr  wohl  zum  Mnster 
hätte  nehmen  können. 

Ueberdies  zeigt  Herr  Kronecker  oder  glaubt  es  wenigstens 
zeigen  zu  können,  dass  die  von  mir  befolgten  Methoden  mangel- 
haft seien,  dass  ich  anf  die  Leistungsfähigkeit  des  Herzens  keine 
Bticksicht  genommen  habe. 

Demzufolge,  argumentirt  er,  sind  meine  Wiederbelebungs- 
versuche unter  so  ungünstigen  Verhältnissen  ausgeführt  worden, 
dass  hierdurch  die  ungünstigen  Ergebnisse ,  letalen  Ausgänge, 
hinreichend  erklärlich  werden. 

Ich  habe  sofort  nach  dem  Bekanntwerden  dieser  Kritik  die 
Arbeit  noch  einmal  aufgenommen,  und  aus  den  Ergebnissen  der 
neuen  Versuche  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass  die  von  mir 
aufgestellten  Behauptungen  durch  die  Ausführungen  des  Herrn 
Kronecker  nicht  im  Geringsten  erschüttert  worden  sind. 

Andererseits  hat  sich  mir  durch  die  Lecture  seiner  Publi- 
eation  die  Meinung  aufgedrängt,  dass  die  Dysharmonie  zwi- 
schen unseren  Ansichten  in  der  That  in  gewissen  Fehlern  be- 
gründet sei,  die  aber  nicht  ich  begangen,  sondern  die  ganz  und 
gar  auf  der  Seite  des  Herrn  Kronecker  liegen. 

Diese  Fehler,  welche  den  Argumenten  des  Herrn  Kron- 
ecker Eintrag  thun,  bestehen  darin: 

1.  Dass  er  seinen  Gedankengang  in  formaler  Beziehung 
mangelhaft  aufbaut. 

2.  Dass  er  bei  dieser  Kritik  den  hydrostatischen  und 
hydrodynamischen  Verhältnissen  ungenügend  Rechnung  trägt, 
und  endlich 

3.  dass  er  sich  mit  seiner  Kritik  auf  Angaben  bezieht,  die 
er  mir  fälschlich  unterschiebt. 

Was  nun  den  1,  Punkt  betriflft,  so  lautet  der  Vorwurf,  den 
Herr  Kronecker  gegen  mich  erhebt,  wie  folgt: 

„Herr  May  dl  behandelt  also  diese  physiologischen  Ver- 
„snche  als  klinischer  Casuistiker  „Ein  seltener  Fall"  be- 
„  weist  ihm  nichts  für  den  Werth  der  Heilung.  Dem  Schüler 
„des  Philosophen  Stricker  hätte  es  aber  doch  nicht  ent- 
„gehen  sollen,  dass  wenn  auch  der  einzige  Gajus  nicht  gestor- 

Hed.  Jahrbücher.  1887.  24     <S> 


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V   . 


168  Maydl. 

„ben  wäre,  entweder  der  Obersatz :  „Alle  Menschen  sind  sterb- 
„lich^  falsch  wäre  oder  der  Schlosssatz :  „Gajns  ist  ein  Mensch^. 
Indem  ich  mich  zur  Entscheidung  von  Streitfragen  der  for- 
malen Logik  nicht  für  competent  halte,  habe  ich  Herrn  Professor 
Stricker,    dessen  Name   nun    doch  einmal  seitens   des  Herrn 
Kronecker  herangezogen  wurde,  gebeten,  mir   über  die  Be- 
rechtigung dieses  Vorwurfes  Aufklärung  zu  ertheilen. 
^,"  \  Hierauf  wurde  mir  die  folgende  Antwort  zu  Theil : 

Ik^'  Sehr  geehrter  Herr! 

Es  fallt  mir  nicht  leicht  Ihrem  Wunsche  zu  entsprechen. 
Die  angeblich  philosophische  Kritik,  welche  Ihrer  Denkweise  zu 
Theil  geworden  ist,  mag  vielleicht  als  ein  Ausflnss  heiterer  Laune 
entstanden  und  nicht  ernstgemeint  sein.  Sie  aber  muthen  mir  zu, 
die  Sache  ernst  zu  nehmen.  Wenn  ich  mich  nun  dennoch  ent- 
schliesse,  Ihrem  Wunsche  zu  entsprechen,  so  geschieht  es  in 
der  Meinung,  dass  meine  Bemerkungen,  abgesehen  von  ihrer 
Beziehung  zu  der  erwähnten  Kritik  einen  didaktischen  Werth 
haben  kannten. 

Mit  Rücksicht  auf  den  Umstand,  dass  die  Leser  Ihres  Auf- 
satzes der  rein  formalen  Behandlung  kein  besonderes  Interesse 
entgegen  tragen  dürften,  will  ich  der  Klärung  der  Sachlage  durch 
eine  Erzählung  zu  Hilfe  kommen. 

Ein  Apotheker  hat  behauptet,  er  habe  einen  Cholerafall 
durch  Pfeffermünzzeltchen  geheilt.  Die  Heilung  gelang  ihm  zwar 
nur  in  einem  Falle,  aber,  sagte  er,  der  eine  Fall  reiche  hin,  um 
die  Behauptung  zu  stützen ,  dass  die  Cholera  durch  Ffeffermünze 
geheilt  werden  könne.  Um  den  Werth  eines  solchen  Einzelfalles 
zu  illustriren,  berief  er  sich  darauf,  dass  die  Regel  „Alle  Rinder 
sind  vierfüssig**  als  durchbrochen  angesehen  werden  müsse,  sobald 
es  festgestellt  ist,  dass  eine  fünffUssige  Kuh  existirt.  Darauf  er- 
hob sich  nun  ein  schlichter  Arzt  und  erwiderte  dem  Apotheker, 
wie  folgt. 

In  dem  Exempel  von  der  Kuh  handle  es  sich  um  eine 
Regel,  welche  der  sinnliehen  Wahrnehmung  entnommen  ist;  es 
handelt  sich  um  eine  Regel  über  Thatsachen.  Sobald  eine  fttnf- 
füssige  Kuh  gesehen  worden  ist,    muss   die  Regel   in    der  That 

(4) 


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Ueber  den  therapentüchen  Werth  der  Salzwaaaeriiifnaion.  Igg 

als  dnrchbrochen  angeseben  werden.  Bei  der  Heilung  der  Cholera 
hingegen  drehe  eich  der  Streit  nm  Ursache  nnd  Wirkung.  Die 
Richtigkeit  der  Tbatsacheo,  welche  der  Herr  Apotheker  vorfUhrt^ 
zweifeln  wir  gar  nicht  an.  Wir  glanben,  daBS  er  dem  Kranken 
Pfeffenniinze  verabfolgt  hat;  wir  glauben,  dass  der  Kranke  genesen 
ist;  was  wir  bezweifeln,  iBt  nnr,  dass  der  Kranke  deswegen 
genesen  sei,  weil  er  die  PfeffemiUnze  genommen.  DieBcs  Weil 
hat  uns  der  Herr  Apotheker  in  dem  Einzelfalle  nicht  ad  oculos 
demoBstrirt. 

So  und  noch  schlechter  liegt  die  Sache  in  Ansehung  des 
Exempels,  welches  Ihr  Kritiker  vorfUhrt. 

In  dem  Streite,  welcher  sich  Über  den  therapeutischen  Werth 
der  Infusion  entwickelt  bat,  handelt  es  sich  nicht  nm  die  ein- 
fache Constatirung  einer  Tbafsache.  Die  Thatsache,  dass  ein  Hund 
nach  der  cntsprccbendeR  Verblntnng  und  Infusion  am  Leben 
geblieben  ist ,  wird  ja  hier  nicht  in  Abrede  gestellt ;  auch  wird 
nicht  in  Abrede  gestellt,  dass  die  gewissen  Erscheinungen:  Ver- 
blntnng, Todessymptome,  Infusion  und  das  Wiederanftreten  von  Puls 
nnd  Athmung  anf  einander  gefolgt  sind;  was  in  Abrede  gestellt 
wird,  ist  das  causale  Verhältniss.  Um  aber  eine  allgemeine  Regel 
über  ein  causales  Verhältniss  zu  durchbrechen,  genügt  es  nicht, 
eine  Reihe  auf  einander  folgender  Erscheinungen  vorzuführen 
nnd  die  Existenz  derselben  zu  constatireuj  es  mnss  eben  das 
cansale  Verhältniss  erwiesen  werden.  Ein  solcher  Beweis  ist,  so 
viel  ich  sehe,  von  Ihrem  Kritiker  gar  nicht  angetreten  worden. 

In  dem  vorliegenden  Falle  liegt  Übrigens  die  Sache,  wie 
ich  schon  angedeutet  habe,  für  den  Werth  der  Kritik  noch  viel 
schlimmer.  Denn  sie  bestreiten  ja  gar  nicht,  dass  in  dem  Aust- 
nahmgfalle  die  Infusion  von  0-6''jo  KochsaLslÖsung  die  Veran- 
lassung zur  Wiederbelebung  gewesen  sei.  Sie  behaupten  eben  nur, 
dass  ausnahmsweise  Umstände  obwalten,  welche  der  Infusion  den 
Hebel  zur  Wirkung  bieten,  die  aber  in  der  Regel  nicht  vorhan- 
den sind.  Wir  wollen  einen  der  möglichen  Fälle  in  Betracht 
ziehen. 

Einem  Hunde  sind  die  Splanchnici  durchschnitten  worden; 
ein  beträchtlicher  Theil  des  Blutes  hat  sich  im  Bauche  ange- 
sammelt;   nun  ist  das  Gehirn  eben  in  Folge  dieser  Ansammlung 

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170 


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ohnedies  mangelhaft  mit  Blut  versorgt.  Schneidet  man  einem 
solchen  Thiere  noch  die  Carotis  durch,  so  wird  es  bei  einem 
relativ  geringeren  Percentsatz  des  Blutverlustes  die  „terminalen^ 
Symptome  bieten.  Bei  einem  solchen  Thiere  ist  es  nun  sehr 
wohl  denkbar,  dass  eine  Infusion  von  verdünnter  NaCl-Lösung 
eine  wesentlich  bessere  Wirkung  erzielt,  als  es  in  der  Regel  der 
Fall  ist,  weil  die  Kochsalzlösung  diesesmal  auf  einen  grossen 
Blutvorrath  in  den  Baucheingeweiden  stösst  und  sich  mit  dem- 
selben mengt.  Ihrer  Behauptung  zu  Folge  sterben  ja  die  Thiere, 
wenn  der  Blutverlust  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  gediehen  ist, 
an  Anämie,  weil  eben  zu  wenig  Blut  im  Körper  zurückgeblieben 
war,  das  sich  mit  der  Kochsalzlösung  mischen  könnte.  Ist  nun 
in  dem  Ihnen  entgegengehaltenen  Einzelfalle  der  Beweis  erbracht 
worden,  dass  daselbst  nicht  ausnahmsweise,  nach  der  Verblutung 
noch  solche  Blutreservoirs  zurückgeblieben  sind,  welche  der  ein- 
gespritzten Kochsalzlösung  beigemengt,  geeignet  waren,  das  Leben 
2U  erhalten?  Die  Antwort  lautet:  Nein. 


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Es  ist  also  offenkundig,  dass  da,  wo  es  sich  um  Ursache 
und  Wirkung  handelt  und  vollends  da,  wo  eine  Reihe  für 
uns  noch  gar  nicht  aufgedeckter  Ursachen  zusammenhängen, 
der  Einzelfall  nicht  so  beurtheilt  werden  kann,  wie  jene  Regel 
über  Thatsachen,  welche  Ihr  Kritiker  durch  das  Beispiel  von 
dem  Cajus,  der  noch  nicht  gestorben  wäre,  zu  illustriren  ver- 
sucht hat. 

Ihr  Kritiker  hat  überdies  das  unrichtig  angewendete  Beispiel 
auch  sonst  noch  unrichtig  angefasst.  Zwar  ist  der  Satz  „Alle  Men- 
schen sind  sterblich"  in  Schulbüchern  vielfach  als  Beispiel  gebraucht 
worden.  Der  Gebrauch  dieses  Exempels  ist  aber  nach  dem  Urtheile 
bedeutender  Philosophen  nicht  empfehlenswerth.  Denn  indem  dieser 
Satz  als  Muster  hingestellt  wird,  bringt  man  der  Jugend  die 
Meinung  bei,  dass  ihm  in  der  That  allgemeine  Giltigkeit  zukomme. 
£r  besitzt  aber  nicht  einmal  empirische  Giltigkeit. 

Wenn  alle  Menschen  aussterben  würden  bis  auf  einen,  äo 
könnte  dieser  Eine  immer  noch  nicht,  auf  Erfahrung  gestützt,  be- 
haupten ,  dass  alle  Menschen  sterblich  seien ;  zumal  er  ja  nicht 
sicher  wissen  kann,  ob  er  selbst  sterben  wird. 

(6) 


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lieber  dem  therapeutisclieii  Werth  der  Salzwasserinftision. 


171 


Da  Dan  Ihr  Kritiker,  einen  Satz  von  allgemeiner  Giltigkeit 
als  £xempel  hinzustellen  die  Absicht  hatte,  so  hat  er  sich  sicherlich 
in  der  Wahl  des  Beispiels  vergriffen.  Vollends  nnznlässig  ist  aber 
die  formale  Durchführung  des  Beweises.  Es  heisst  daselbst  (vide 
pag.  9)  „Wenn  der  einzige  Cajas  noch  nicht  gestorben  wäre". 

Wenn  alle  Menschen,  welche  heute  noch  leben,  plötzlich 
aus  dem  Dasein  scheiden  würden,  dann  könnte  allenfalls  ein  Un- 
sterblicher ausrufen :  „Wenn  der  eine  Cajus  nicht  gestorben  wäre** ; 
heutzutage,  da  sich  noch  Millionen  Menschen  des  Daseins  erfreuen^ 
wäre  ein  solcher  Ausruf  jedenfalls  verfrüht. 

Stricker. 


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Ich  gehe  nun  zu  den  sachlichen  Argumenten  über,  welche 
Herr  Eronecker  gegen  meine  Behauptungen  vorbringt. 

Der  schwerste  Vorwurf  besteht  darin ,  dass  ich  unter  ar- 
teriellem Drucke  in  die  Vena  jugularis  infundirt  habe.  Herr  K. 
citirt  dabei  einen  meiner  Versuche,  und  zwar  den,  welcher  vat 
Cap.  VI  sub  titulo  „Directe  Beobachtungen**  fdes  Herzens)  mit- 
getheilt  worden  ist.  Ich  habe,  heisst  es  in  dem  Berichte  de» 
H.  Kronecker,  einem  Hunde  von  11*5  Kg.  in  2^/2  Minuten  — 
(hier  schaltet  Herr  K.  ein  !  ein)  —  900  Ccm.  blutwarmer  O'öper- 
centiger  Kochsalzlösung  bei  einem  Infusionsdruck  von  80  Mm.  in 
die  Ven.  jug.  ext.  —  (hier  folgt  wieder  ein  !)  —  eingegossen  und 
während  dessen  das  blossgelegte  Herz  beobachtet.  Nach  dieser  Mit- 
tfaeilung  des  Thatbestandes  leitet  Herr  Kronecker  seine  weitere 
Darstellung  mit  den  Worten  ein:  „Derart  sind,  wie  ich  sehe, 
alle  Versuche  angestellt",  und  fügt  hinzu:  „Im  Protokoll  des  Ver- 
suchs Nr.  21  findet  man  sogar  die  wunderbaren  Verhältnisse*^ 
Blutdruck  in  der  Carotis  41  Mm.  Hg,  Infusion  in  der  Jug.  externa 
bei  100  Mm.  Hg. 

In  diese  Darstellung  meiner  Versuche  seitens  des  Herrn  K. 
haben  sich  aber  ganzeigenthümliche  Irrthümer  eingeschlichen. 
Dass  ich  einem  Hunde  bei  80  Mm.  Druck  in  2*/a  Min.  900  Ccm. 
eingeflösst  und  einem  zweiten  Thiere  sogar  bei  100  Mm. 
Hg-Druck  960  Ccm.  Nad-Lösung  infundirt  habe,  ist  allerdings 
richtig.  Nur  sind  es  nicht  dieselben  Versuche,  gegen  welche 
Herr  Kronecker  zu  polemisiren  behauptet.  Denn  seine  Polemik 

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172 


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richtet  sich  gegen  jene  Experimente,  welche  ich  zu  Heil- 
zwecken ausgeführt.  Die  beiden  Versuche  aber,  an  welchen 
Herr  E.  seine  Kritik  übt,  habe  ich  zu  ganz  anderen  Zwecken 
angestellt.  Und  ich  habe  dafür,  dass  sie  ganz  anderen  Zwecken 
dienen,  so  voUgiltige  und  klare  Beweise  angefahrt,  um  es  für 
ganz  ausgeschlossen  halten  zu  dürfen,  dass  sich  irgend  Jemand, 
der  meine  Abhandlung  gelesen  hat,  darüber  hätte  täuschen 
können. 

Ich  habe  1.  in  dem  Versuche,  in  welchem  900  Ccm.  Na  Cl- 
Lösung  bei  80  Mm.  Druck  eingegossen  wurde,  wie  ausdrücklich 
bemerkt  ist,  gar  keine  Blutentleerung  gemacht ;  2.  habe  ich  den 
Thorax  eröffnet;  3.  wurde  aus  einer  Carotis  der  Blutdruck  ge- 
schrieben. 

In  dem  anderen  Versuche  (21),  der  auf  pag.  127  mitgetheilt 
worden  ist,  wurde,  wie  es  an  dem  Kopfe  des  Versuchsprotokolls 
deutlich  zu  lesen  ist,  aus  der  Caroti  s  und  Pulmonalis  gleich- 
zeitig der  Druck  geschrieben,  womit  implicite  gesagt  ist,  dass 
der  Thorax  eröffnet  war.  Offenkundig  muss  es  also  aus  diesen 
Daten  erhellen,  dass  diese  beiden  Versuche  nicht  in  die  Reihe 
jener  Experimente  zu  setzen  sind,  welche  als  „lebensrettende  In- 
fusionen" bezeichnet  werden.  Ueberdies  habe  ich  über  meine  Ex- 
perimente in  verschiedenen  Capiteln  berichtet,  von  welchen  eines 
^die  Bluttransfasion"  ,  das  zweite  „kymographische  Aufnahme" 
und  das  dritte  „directe  Beobachtungen"  überschrieben  ist.  Die- 
jenigen meiner  Experimente,  über  welche  Herr  Kronecker  be- 
richtet, und  welche  er  als  Infusions-,  respective  Heilversuche 
kritisirt,  sind  sub  titulo  Kymographische  Aufnahmen  und  directe 
Beobachtungen  (des  Herzens)  mitgetheilt  worden. 

Zum  Schlüsse  des  letzten  Capitels,  gleichsam  als  Resultat 
der  directen  Beobachtungen,  führe  ich  an,  dass  darin  (in  den 
Ergebnissen)  eine  nachdrückliche  Mahnung  liege,  die  Transfusionen 
oder  Infusionen  in  nicht  zu  grossen  Mengen  und  bei  geringem 
Drucke  vorzunehmen. 

Um  aber  endlich  jeden  denkbaren  Zweifel  darüber  zu  ver- 
scheuchen, dass  diese  ad  informandum  ausgeführten  Experimente 
nicht  mit  jenen  verwechselt  werden  dürfen,  welche  ich  im  Interesse 
<der  Frage  der  Lebensrettung  angestellt  habe,  werden  die  letzteren 

<8) 


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üeber  den  therapentisclien  Werth  der  Salzwasserinfasion.  173 

auf  pag.  85  in  einer  besonderen  Tabelle  zusammengestellt ,  in 
welcher  jene  ad  informandum  ausgeführten  Versuche  natürlich  keine 
Aufnahme  fanden. 

Herr  K.  umgeht  alle  diese  Daten,  fUhrt  gegen  mich  als 
schwerwiegende  Fehler  bei  lebensrettenden  Versuchen  jene  Versuchs- 
anordnungen an,  die  nur  zu  informativen  Zwecken  ausgeführt 
wurden  und  knüpft  daran  die  der  Wahrheit  absolut  wider- 
sprechende Bemerkung  an,  dass,  „so  viel  er  sieht",  alle  Ver- 
suche derart  angestellt  sind. 

Gegen  eine  solche  Art  der  Berichterstattung  muss  ich  Protest 
einlegen ;  sie  entspricht  nicht  der  literarischen  Gewissenhaftigkeit, 
die  man  von  einem  ernsten  Manne  erwarten  darf. 

Der  Vorwurf,  den  Herr  Krön  eck  er  gegen  meine  Methoden 
erhebt,  der  Vorwurf  nämlich,  dass  ich  unter  zu  hohen  Drücken 
infnndirt  habe,  wäre  an  und  für  sich  belanglos,  wenn  sich  nicht 
daran  die  falsche  Angabe  knüpfte,  dass  ich  unter  solchen  Drücken 
relativ  zu  grosse  Massen  in  relativ  kurzen  Zeiträumen  infundirt 
habe.  Denn  darüber  wird  jeder  Hydrodynamiker  im  Klaren  sein, 
dass,  wenn  ich  in  ein  Reservoir  mit  weichen  nachgiebigen  Wänden 
kleine  Quantitäten  Flüssigkeit,  sei  es  auch  unter  sehr  hohem 
Drucke,  eintrage,  ich  den  Gesanmitdruck  in  dem  grossen  erweiter- 
baren Reservoir  nicht  wesentlich  zu  steigern  vermag.  Anders 
liegt  die  Sache,  wenn  die  Menge  der  unter  grösserem  Druck 
eingetragenen  Flüssigkeit  steigt  und  im  Vergleiche  zu  der  Grösse 
des  Bassins  beträchtliche  Höhen  erreicht.  Denn  dann  ist  es 
selbstverständlich,  dass  diese  Einspritzungen  auch  in  dem  Reservoir 
den  Druck  beträchtlich  zu  erhöhen  vermögen. 

Neben  der  Masse  der.  eingetriebenen  Flüssigkeit  kommt,  wie 
eben  bemerkt  wurde,  die  Zeit,  über  welche  sich  die  Einspritzungs- 
dauer erstreckt,  respective  der  Geschwindigkeit  des  Einströmens 
in  Betracht,  besonders  wenn  das  Bassin,  in  welches  man  ein- 
spritzt, sich  gleichmässig  in  ein  zweites  Bassin  entleert.  Wenn 
ich  die  grössere  Quantität  Flüssigkeit  in  das  Bassin  Nr.  1  so 
langsam  eintrage,  dass  eine  UeberfüUnng ,  wegen  der  Entleerung 
des  Bassins,  Nr.  1  in  das  Bassin  Nr.  2  nicht  eintreten  kann,  so 
kann  auch  im  Bassin  Nr.  1  keine  namhafte  Drucksteigerung  sich 
kundgeben. 


174 


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Ueberblickt  man  nun  die  Tabelle,  in  welcher  ich  meine 
Eochsalzinfosionen  zn  Heilzwecken  in  übersichtlicher  Darstellung 
zusammenfasse,  so  ergibt  es  sich,  dass  ich  in  10  Versuchen  einmal 
die  Quantität  von  400  Cm.,  dreimal  je  300  Cm.,  einmal  200,  zweimal 
löO,  einmal  100,  einmal  nur  50  Cm.  Salzwasser  infundirt  habe. 

Indem  aber  Herr  Eronecker  meine  beiden  ad  informandum 
ausgeführten  Versuche,  in  welchen  900  und  960  Ccm.  infundirt 
worden  sind,  als  die  Typen  meiner  Heilyersuche  hinstellt  und  die 
Bemerkung  anfügt,  dass  soviel  er  sieht,  alle  Versuche  derart  an- 
gestellt worden  sind,  hat  er  nicht  nur  etwas  Unwahres  berichtet, 
sondern  durch  eben  diese  Unwahrheit  den  Werth  meiner  Arbeit 
einen  wesentlichen  Eintrag  zu  thun  angestrebt. 

Dass  sich  in  meiner  Arbeit  die  Angabe  findet,  ich  habe  bei 
einem  Drucke  von  80  Mm.  Hg  infimdirt,  ist  ganz  zutreffend; 
ausdrücklich  habe  ich  aber  hervorgehoben,  dass  dieser  Druck  in 
einem  Seitenrohr  der  zwischen  den  Wasserleitungshahn  und  dem 
Infusionsrohr  eingespannten  Inftisionsflasche  gemessen  wurde.  Ob 
der  gleiche  Druck  auch  in  dem  Venensystem  und,  worauf  es  am 
meisten  ankommt,  speciell  im  rechten  Ventrikel  geherrscht  habe, 
das  ist  eine  ganz  andere  Frage.  Denn  man  muss  bedenken,  dass 
die  Flüssigkeit  aus  meiner  Infusionsflasche  durch  eine  enge 
Canüle  in  die  zum  grossen  Theil  entleerten  schlaffen  Venensäcke 
ausgeflossen  ist.  Dazu  kommt  noch  die  Zeit  in  Betracht,  welche 
die  Infusion  in  Anspruch  genommen  hat.  Denn  es  darf  nicht 
fibersehen  werden,  dass  das  Herz  die  langsam  eingetragenen  Massen 
in  die  Lungen  fortgeschafft  haben  musste,  ehe  der  Druck  in  den 
Venen  namhaft  ansteigen  konnte.  Ueberblicken  wir  meine  Ver- 
suchsprotokolle ,  so  ist  z.  B.  für  den  Versuch  Nr.  8,  pag.  146, 
in  welchem  einem  Hunde  von  9000  Grm.  Hg  400  Ccm.  Na  Cl- 
Lösung  eingetragen  worden  sind,  ausdrücklich  angegeben,  dass 
die  Infusion  3^/«  Minuten  in  Anspruch  genommen  hat,  also  sind 
in  der  Secunde  2  Ccm.  Flüssigkeit  ausgeflossen;  ausdrücklich 
heisst  es  ferner  in  dem  Protokolle,  dass  der  Puls  schon  nach  den 
ersten  100  Ccm.  fühlbar  war. 

In  einem  anderen  Versuche,  den  ich  auf  pag.  157  mit- 
theilte, heisst  es  sogar  ausdrücklich ,  dass  410  Ccm.  Na  Cl-Lösung 
zum  Einfliessen  10  Minuten  in  Anspruch  genommen  haben. 

(10) 


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Deber  den  thanipentischen  Werth  der  SBlzwasBerinfuBion.  \  75 

Im  Versuche  31,  pag.  154,  wird  anBdrüeklich  angegeben, 
(las8  ich  150  Ccm.  Flii^igkeit  in  2  Reprisen  infandirt  habe. 

Ich  sage  also  gewiss  nicht  za  viel ,  wenn  ich  die  Bericht- 
erstattnng  des  Herrn  Kronecker  als  eine  incorrecte  bezeichne. 
Doch  will  ich  über  diesen  Umstand  hinweggehen.  Setzen  wir 
den  Fall,  ich  hätte  all  die  Fehler  wirklieh  begangen,  die  Herr 
Eronecker  namhaft  macbt,  bo  stünde  es  um  seine  Kritik 
immer  noch  schlecht  genug.  Ich  habe  10  Versnobe  von  leben- 
rettenden Kochsalzinfusionen  an  verblutenden  Händen  angestellt. 
Nun  habe  ich  ausdrücklich  erwähnt,  dass  die  Infusion  erst  dann 
begonnen  wurde,  wenn  die  Tbierc  pulslos  waren.  Indem  ich 
femer  durch  die  Protokolle  darthne,  dass  bei  8  Hunden  eine 
Wiederbelebung  stattgefunden  hat,  so  versteht  es  sich  von  selbst, 
dass  ich  durch  die  Infusion  die  Herzthätigkeit  nicht  gelähmt, 
sondern  wieder  angeregt  habe.  In  der  That  lehrt  ja  die  Palpation 
des  Pulses,  dass  mit  der  fortschreitenden  Infusion  der  Puls  immer 
kräftiger  wird.  Diesen  Umstand  (der  Wiederbelebung  nämlich)  habe 
ich  noch  besonders  dadurch  hervorgehoben,  dass  ich  den  Werth 
der  Salzwasserinfusion  nicht  als  vollständig  nichtig  hingestellt, 
sondern  vielmehr  nachdrücklich  betont  habe,  man  kSune  nach 
schweren  Blutungen  die  Herzthätigkeit  anregen,  und  das  Indivi- 
daum  solange  am  Leben  erhalten,  bis  man  es  etwa  vom  Schlacht- 
felde  in's  Hospital  bringen,  nnd  dort  eine  erneuerte  Infusion  von  Blut 
ausführen  könnte.  Kann  nun  irgend  ein  mediciniscb  unterrich- 
teter Mann  ernstlich  daran  glauben,  dass  ein  Thier,  dessen  Puls 
erloschen,  dessen  Herzbewegungen  nur  kaum  wabmelimbar 
waren,  nnd  welchem  ich  unter  einem  Druck  von  80  Mm.  Hg 
Kochsalzlösungen  darch  die  Venen  eingetrieben  habe,  bis 
zu  dem  Grade,  dass  der  Puls  kräftig  geworden,  die  Athmuiig 
BJcb  wiederhergestellt  bat,  Eefiexe  wieder  aufgetreten  sind,  kann 
Jemand  daran  glauben,  dass  ein  solches  Tbier  durch  diese  Infusion, 
respective  durch  den  hohen  Druck  getödtet  worden  sei  ? 

Herr  Kronecker  bericbtet  allerdings  über  seine  Erfahrungen, 
dass  ein  mit  Salzwasser  ausgewaschenes  Herz  scbeintodt  werden 
kann.  Ist  es  aber  nicht  ungereimt,  diese  Erfahrungen  auf  meine 
Versuche  anzuwenden? 


176  Maydl. 

Sind  die  Herzen,  welche  bei  meinen  Infusionen  kräftig  zu 
schlagen  angefangen  und  noch  viele  Stunden  nach  der  Infusion 
kräftig  geschlagen  haben,  durch  meinen  Eingriff  scheintodt  ge- 
worden? Der  Vergleich  mit  den  scheintodt  gemachten  Herzen 
passt  nicht  einmal  auf  jene  Versuche,  welche  ich  zu  Informations- 
zwecken ausgeftihrt  habe.  Denn  es  geht  aus  diesen  Versuchen 
hervor,  dass  es  mir  —  vielleicht  in  Folge  einer  besonderen  Wider- 
standskraft des  Versuchsthieres  —  trotz  der  absichtlichen  MiBshand- 
lung  des  Herzens,  indem  ich  1850  Ccm.  (!)  Na  Cl- Lösung  infundirt 
habe,  nicht  gelang,  das  Herz  zum  Stillstande  zu  bringen,  und 
das  Thier  erst  durch  Einstellung  der  künstlichen  Athmung  ge- 
tödtet  werden  musste. 

Dieser  willkürlichen  Behandlung,  welche  Herr  Krön  eck  er 
den  logischen  Principien  der  Kritik  zu  Theil  werden  lässt,  ent- 
spricht wohl  auch  seine  sachliche  Gontrole.  Herr  Kronecker 
hat  einen  Controlsversuch  angestellt.  Natürlich  am  Hunde,  werden 
die  Leser  vermuthen.  Doch  nein.  Herr  Kronecker  hat  meine 
auf  den  Hund  bezüglichen  Angaben  am  Kaninchen  geprüft.  Er 
hat  einem  Kaninchen  von  2260  Körpergewicht  70  Grm.  Blut 
entzogen,  und  unter  150  Ccm.  Wasserdruck  200  Ccm.  Na  Cl-Lösung 
eingeflösst.  Das  Thier  starb  sofort. 

Einem  zweiten  Kaninchen  wurde  die  Kochsalzlösung  bei 
geringem  Drucke  inftmdirt,  und  dieses  Kaninchen  überlebte  den 
Versuch,  starb  aber  nach  48  Stunden. 

Auf  diesem  letzten  Umstand,  dass  nämlich  auch  dieses 
Thier  gestorben  ist,  legt  Herr  Kronecker,  wie  es  scheint, 
kein  Gewicht. 

Und  er  mag  von  seinem  Standpunkte  aus  Recht  haben. 
Erklärt  er  doch  ausdrücklich,  dass  die  Wissenschaft  (die  Physio- 
logie) steril  werde,  wenn  praktische  Gesichtspunkte  die  Unter- 
suchungen leiten.  Wahrlich  ein  beneidenswerther  Zustand,  in 
welchen  sich  Herr  Kronecker  als  Theoretiker  versetzt  sieht. 
Was  ficht  das  den  Theoretiker,  der  die  praktischen  Ziele  ausser 
Acht  lässt,  weiter  an,  wenn  das  Kaninchen  48  Stunden  nach  der 
Operation  stirbt.  Er  hat  das  Kaninchen  gerettet.  Von  meinem 
praktischen  Gesichtspunkte  aus  muss  ich  die  Sache  allerdings 
anders  auffassen.     Ich   sehe   keinen  von   den  beiden  Fällen  des 

(12) 


üeber  den  therapeutischen  Werth  der  Salzvasseiinftision.  177 

Herrn  Eronecker  als  gebeilt  an.  Das  eine  Thier  ist  auf  dem 
Operationstische,  das  andere  48  Stunden  nach  der  Operation 
gestorben. 

Der  Controlyersuch  an  den  beiden  Kaninchen  ist  also  nicht 
nur  darum  von  geringem  Werthe,  weil  man  von  der  Widerstands- 
kraft des  Eaninchenherzens  keine  Schlüsse  ziehen  darf,  auf 
dje  Widerstandskraft  des  Hundeherzens,  sondern  auch  darum, 
weil  beide  Kaninchen,  sowohl  das  bei  hohem  als  auch  das  bei 
niederen  Druck  infundirte  Kaninchen  gestorben  sind.  Herr 
Kronecker  hätte  schon  aus  diesen  mangelhaften  Versuchen 
entnehmen  können,  dass  sein  Widerspincti  gegen  meine  Be- 
hauptungen nicht  gut  fundirt  sei. 

Ich  wende  mich  nun  zur  Mittheilung  der  Ergebnisse  jener 
Versuchsreihe,  welche  ich  neuerdings  angestellt  habe.  Es  handelte 
sich  hier  zunächst  darum,  zu  untersuchen,  ob  die  Salzwasserinfusion 
in  die  Vene  eines  entbluteten  Hundes  bei  niederem  Druck  günstigere 
Resultate  aufweist  als  bei  höherem  Aussendrucke. 

Zwar  haben  meine  oben  angeführten  Betrachtungen  gelehrt, 
dass  dem  Unterschiede  zwischen  hohem  und  niederem  Drucke 
in  die  Infusionsflasche  nicht  jene  Bedeutung  zukomme,  die  ihm 
Herr  Kronecker  beilegt,  aber  es  war  immerhin  wünschenswerth, 
die  Betrachtung  durch  eine  erneute  Beobachtung  zu  unterstützen. 

Ich  schalte  nun  im  Folgenden  zunächst  die  Mittheilung  über 
eine  Serie  von  neuen  Versuchen  ein,  welche  bei  einem  Infusions- 
druck von  25  Ccm.  Wasser  angestellt  wurden. 

Da  alle  Versuche  an  Hunden  angestellt  worden  sind,  sei 
das  hier  ein  für  allemal  angemerkt. 

Den  Zustand  des  Thieres,  an  welchem  äusserlich  kein  Lebens- 
zeichen wahrzunehmen  ist,  wo  also  die  Reflexerregbarkeit  ge- 
schwunden, die  Athmung  sistirt  ist,  der  Puls  nicht  gefühlt  wird, 
wo  aber  die  Herzbewegungeu  noch  nicht  erloschen  sind,  will  ich 
als  scheintodt  bezeichnen.  Es  mag  mir  diese  Ausdrucksweise 
wenigstens  für  den  Zweck  dieser  Abhandlung  gestattet  sein,  zumal 
sie  mich  der  Mühe  überhebt,  die  gleichen  Daten  in-  mehreren 
Protokollen  zu  wiederholen. 

(13) 


:*-' 


178  Maydl 


I.  Serie. 


Versuche  mit  niederem  Drucke  (25  Ccm.  Wasser)  in  der 
Infusionsflasche : 

Versuch  1  am  16.  Not.  1886.  Körpergewicht  4500,  Blutung 
aus  der  Carotis  bis  265  Gr.  =  5*8^/o  des  Körpergewichtes, 
Puls  geschwunden,  Athmung  sehr  selten ;  Infusion  von  250  Ccm» 
neutralen  0'6®/o  NaCl-Lösung.  Athmung  und  Seflexe  stellen  sich 
wieder  her,  abgebunden  liegt  der  Hund  regungslos  da,  bekommt 
ab  und  zu  Streckkrämpfe. 

Am  18.  November  Tod,  die  Section  ergibt  hochgradige 
Anämie  aller  Organe,  Wunde  nicht  eiternd. 

Versuch  2  am  17.  November.  Körpergewicht  4700,  Blutung 
aus  der  Carotis  290  Gr.  =  6-1%  Kg.,  Puls  nur  eben  fühlbar, 
Athmung  sehr  selten,  Muskelkrämpfe.  Infusion  in  die  Jug.  ext. 
300  Ccm.  NaCl-Lösung.  Puls  wird  sofort  kräftig,  sehr  frequent, 
Athmung  wird  regelmässig.  Nach  dem  Abbinden  liegt  das  Thier 
kraftlos  da.    Nachmittags  stellt  er  sich  schon  auf  die  Beine  auf. 

20.  November.  Wunde  eitert.  Das  Thier  überlebt. 

Versuch  3  am  23.  November  1886.  Körpergewicht  6100  Grm. 
Blutung  aus  der  Carot.  d.  350  Grm.  =  ö'l^/o  Körpergewicht; 
Athmung  sehr  selten,  Puls  geschwunden,  Herzschlag  schwach. 
Infusion  beginnt,  Athmung  und  Puls  treten  zwar  ein,  doch 
schwinden  beide  wieder;  man  steigert  den  Druck  vorübergehend 
auf  50  Cm. ,  worauf  Puls  und  Athmung  wieder  eintreten.  Die 
Infusionsmenge  betrug  300  Ccm.  Das  Thier  tiberlebt. 

Versuch  4  am  24.  November  1886.  Körpergewicht  5340  Grm. 
Blutung  aus  der  Carot.  270  Grm.  =  ö'O^U  Körpergewicht.  Die 
Blutung  sistirt  von  selbst.  Scheintod.  Man  infnndirt  270  NaCl- 
Lösung  bei  25  Ccm.  Wasserdruck.  Puls  und  Athmung  kehren 
wieder.  Abgebunden  zeigt  das  Thier  hochgradige  Dispnoe  und 
Krämpfe,  nach  IV2  Stunden  geht  es  zu  Grunde.  Hochgradige 
Anämie;  sonst  nichts  Abnormes. 

Versuch  5  am  26.  November  1886.  Körpergewicht  6200  Grm., 
entleert  380  Grm.  =  6-lo/o-    Bei  350  Grm.  treten  kurzdauernde 

(14) 


r 


Deber  dsn  therapenlischBa  Werlh  der  SaliwaBaeriafoHion.  179 

Streckkrämpfe  ein,  die  Atlimung  ist  vortibergcliend  sistirt.  Nacli 
Entleerung  weiterer  3ü  Grin.  treten  abeiTnals  Streckkrämpfe  ein. 
Scheintod.  Infiision  von  300  Ccin.  Respiration  und  Puls  kehren 
wieder.  Das  Tbier  gebt  naeli  3  Standen  zn  Grunde. 

Versuch  6  am  27.  November  1886.  Körpergewicht  5900  Grni. 
Man  entleert  Blut  bis  zum  Eintritt  des  Scbeiutodes ,  und  zwar 
3:i6  Grm.  =  .'i-ß"/,  Kürpergewicbt.  Man  infundirt  230  Ccin. 
Na  C3-Lüsnng ;  Puls  und  Atlimung  kehren  wieder,  abgebunden  er- 
hebt sich  das  Thier,  wankt  aber  im  Gehen.  Starb  am  2d.  No- 
vember Morgens. 

Versuch  7  am  29.  November  1 88f).  Körpergewicht  5450  Grm. 
Man  entleert  287  Grm,  lilnt,  es  traten  Streckkrämpfe  ein,  Ath- 
mung  ward  selten,  bessert  sich  aber  bei  stillatebender  Blutung. 
Infusion  von  280  Ccm.  NaCl-Lösung.  Abg;ebuuden  läuft  der 
Hund  einige  Schritte  herum,  wankt  hierbei,  setzt  sich  und  fällt 
endlich  um.  Das  Tbier  überlebt. 

Versuch  8  am  6.  December  1 886.  Körpergewicht  5230  Grm. 
Man  entleert  270  Grm.,  worauf  die  Blutung  von  selbst  aufhört; 
das  Blut  gerann  in  der  Canüle,  Canille  wurde  frisch  eingebunden, 
man  setzte  die  Blutung  fort ,  bis  Streckkrämpfe  eintraten ;  es 
waren  neuerdings  50  Grm,  abgeflossen,  zusammen  320  Grm. 
=  e-l^/o  Körpergewicht.  Scheintod,  Man  infundirt  300  Ccm. 
Na  Ül-Lösung ;  Puls  stellt  sich  her ,  auch  Athmung  tritt  wieder 
ein.  Das  Thier  ist  sehr  matt,  richtet  sich  aber  doch  auf.  Sechs 
Stunden  später  trat  der  Tod  ein. 

Versuch  9  am  27.  December  1886.  Körpergewicht  6300  Grm. 
Man  entleert  332  Grm,  Blut  =  ö'lVo,  bis  Scheintod  eintrat. 
Man  goss  330  Grm.  Na  01-Lösung  ein.  Doch  stellten  sich  Athmung 
nnd  Puls  nicht  wieder  her ;  trotzdem  Uerzcontractionen  nach  Er- 
öSnnng  des  Thorax  noch  vorhanden  waren. 

Versuch  10.  Körpergemcht  8500  Grm.  Man  entleert  aus  der 
Carotis  435  Grm.  Blut  :=  b'VU  Körpergewicht,  bis  Scheintod 
eintrat.  Man  infundirt  450  Grm.  NaCI-Lösung;  Puls,  Athmung, 
Reflexe  kehren  wieder;  der  Hund  läuft  abgebunden  ziemlich 
munter  umher.  Er  starb  in  der  Nacht  vom  29.  auf  den  30.  De- 
cember. 


•V", 


J  *' 


180 


Haydl. 


-'S' 


^. 


n.  Serie. 

Diese  Serie  nmfasst  vier  Versuche,  welche  bei  hohem  Drucke 
in  der  Iijifusionsflasche  angestellt  wurden  (120 — 140  Ccm.  Wasser- 
druck). 

Von  den  yier  Versnefafitbiereii  starben  zwei,  während  zwei 
überlebten;  das  Verhältniss  gestaltete  sich  hier  ganz  so  wie  in 
der  ersten  Serie.  Die  Thiere,  bei  denen  die  Blutung  nicht  bis 
zum  Verlöschen  der  Athmung  getrieben  worden  war,  sind  am 
Leben  geblieben,  die  zwei  anderen  starben  trotz  der  vorüber- 
gehenden Erholung  nachträglich.  Bei  dem  einen  dieser  letzteren 
war  die  Athmung  nach  der  Blutung  nicht  ganz  geschwunden, 
aber  selten  geworden.  Das  Thier  tiberlebte  den  Eingriff  vier  Tage. 
Das  vierte  Thier  wurde  bis  zum  Eintritte  des  Scheintodes  ver- 
blutet, es  starb  trotz  der  vorübergehenden  Wiederbelebung  nach 
einigen  Stunden. 


Versuch  l  am  6.  December.  Körpergewicht  9350  Grm. 
Man  entleert  405  Grm.  Blut  aus  der  Carotis  =  5*l<*/o  Köi-per- 
gewicht.  Puls  geschwunden,  Athmung  dauert  fort,  Blutung  erfolgt 
nur  mehr  bei  der  Exspiration;  Infusion  von  400  Ccm.  NaCi- 
Lösung  unter  140  Ccm.  Wasserdruck.  Keine  Dyspnoe;  das  Thier 
tiberlebt. 

Versuch  2  am  7.  December.  Körpergewicht  6000  Grm. 
Man  entleert  aus  der  Carotis  300  Grm.  Blut  =  b^lo  Körper- 
gewicht, bis  der  Hund  Blasenkrämpfe,  sowie  solche  der  ge- 
sammten  Musculatur  bekommt;  die  Blutung  steht  still.  Athmung 
noch  vorhanden.  Infusion  von  300  Ccm.  NaCl-Lösung  bei  120  Ccm. 
Wasserdruck.  Der  Hund  läuft  nach  Lösung  der  Fesseln  sofort 
herum.  Ueberlebt. 

Versuch  3  am  9.  December.  Körpergewicht  5200  Grm. 
Man  entleert  aus  der  Carotis  270  Grm.  Blut  =  5* 7 o/o  Körper- 
gewicht. Streckkrämpfe,  Puls  geschwunden,  Athmung  selten;  man 
infundirt  nun  unter  einem  Druck  von  1 20  Ccm.  Wasser  250  Na  Cl- 
Lösung.  Puls  kehrt  sofort  wieder;  abgebunden  läuft  das  Thier 
ganz  munter  herum.  Es  starb  am  13.  December. 

(16) 


^ 


üeber  den  UierApentischeii  VerÜi  der  SalsvaBBerinfaafon.  Ig^ 

Versuch  4  am  10.  December.  Körpergewicht  6700  Grm. 
Man  entleert  ans  der  Carotis  445  Grm.  =  d'C/o  Blut  bis  zum 
Scbeintode.  Hierauf  wird  dem  Thier  bei  130  Ccm.  Wasserdrack 
400  Ccm.  NaCl-Lösung  eingegossen;  Puls  und  Athmung  treten 
wieder  eiD,  der  Hand  liegt  kraftlos  da,  aber  mit  lebhaftem  Aos- 
dmck  der  Aagen.  Starb  in  der  folgenden  Nacht.  Section  wies 
hochgradige  Anämie  nach. 

Die  hier  namhaft  gemachteo  Versuche  wären  wohl  nicht 
ansreicbend,  am  daranfhin  neue  weittragende  Anssagen  zn  gründen. 
Da  ich  aber  schon  früher  eine  beträchtliche  Reihe  von  Infdsions- 
versuchen  ausgeführt  habe,  und  die  ErgebniHse  der  jetzt  ange- 
stellten  Experimente ,  insoweit  sie  die  Heilung  betreffen,  in  ihren 
Resultaten  mit  den  früheren  Versuchen  itbereinstimmen,  so  scheint 
es  mir,  dass  eine  weitere  Wiederholang  —  insolange  keine 
neuen  Gesicbtspankte  eingeführt  werd,en  —  nutzlos  sei. 

Diesmal  war,  wie  schon  hervorgehoben  wurde,  mein  Augen- 
merk nur  darauf  gerichtet,  zu  erfahren,  ob  die  Verschiedenheit 
des  Druckes  in  der  Infusionsflasche  innerhalb  der  angegebenen 
Grenzen  auf  die  Erhaltung  des  Lebens  von  irgend  einem  Ein- 
flösse sei.  Die  Antwort,  welche  meine  Experimente  anf  diese 
Frage  geben,  lautet  absolut  negirend. 

Es  hat  sich  in  allen  Versuchen  übereinstimmend  heraus- 
gestellt, dass  tiber  das  Weiterleben  des  Thieres  nicht  die  Höhe 
des  Druckes  in  der  Infosionsflasche ') ,  sondern  die  Grenze ,  bis 
zu  welcher  die  Verblutung  gediehen  ist,  entscheidet.  Zwar  lässt 
sich  in  keinem  Falle  bestimmt  bemessen ,  wie  viel  Blut  in  dem 
Thiere  nach  der  Blntnng  noch  znrfickblcibt.  Wir  kennen  ja  den 
absoluten  Blutgehalt  des  Tbieres  nicht  genau  genug.  Ich  kann 
mich  daher  nur  an  jene  Merkmale  halten,  welche  einen  gewissen 
Grad  der  Blutung  charakterisiren.  Diese  Merkmale  sind  das  Ver- 
halten de«  Pulses,  der  Athmung  und  der  Reflexe.  Der  Puls  ist 
aber  selbstverständlich  von  geringerer  Bedeutung  als  die  Athmung. 
Denn  wenn  der  Puls  aufhört,  so  beisst  das  eigentlich  nur  so 
viel,  als  dass  wir  ihn  nicht  wabmehmen.  Ob  wirklich  keine 
Blutbeweg^iDg  mehr  stattfindet,  ist  damit  noch  nicht  entschieden. 


-)  Natürlich  innertialb  der  discntirtan  Grenzsn. 


182  Maydl. 

Sieber  ist  es,  dass  die  Herzbewegangen  länger  andauern,  als  der 
Puls  wahrnehmbar  ist.  So  lange  aber  die  Herzbewegnngen  vor- 
handen sind,  ist  die  Wahrscheinliehkeit  gegeben,  dass  diese  Be- 
wegungen mit  dem  Einströmen  der  Salzlösung  an  Grösse  gewinnen. 
Wenn  hingegen  die  äusserlich  wahrnehmbaren  Athembewe- 
gungen  aufgehört  haben,  dann  hat  die  Athmung  überhaupt  aufgehört. 
In  der  That  ist  die  äusserste  Gefahr  für  das  Leben  des  Thieres  noch 
nicht  mit  dem  Erlöschen  des  Pulses,  sondern  mit  dem  Aufhören 
der  Athmung  oder,  wie  ich  es  nenne,  mit  dem  Eintritte  des 
Scheintodes  gegeben.  Wird  —  nach  dem  Aufhören  des  Pulses  und 
der  Athmung  —  alsbald  die  Infusion  eingeleitet,  so  werden  die 
Thiere,  so  weit  meine  Erfahrungen  reichen,  in  der  Regel  wieder 
belebt ;  das  Herz  beginnt  kräftig  zu  schlagen,  der  Puls  wird  deut- 
lich tastbar  und  bald  darauf  beginnt  auch  die  Athmung  wieder. 
Aber  das  ist  fiir  das  Fortleben  des  Thieres  noch  nicht  von 
entscheidender  Bedeutung.'  Entscheidend  ist  aber  der  Grad  der 
Anämie.  Ist  die  Anämie  sehr  weit  gediehen,  dann  stirbt  das  Thier 
schon  nach  wenigen  Stunden,  man  mag  bei  höherem  oder  niederem 
Drucke  (in  der  Flasche)  infundirt  haben. 

Herr  Kronecker  bezeichnet  mich  und  Herrn  Schramm^), 
welch  letzterer  ähnliche  Resultate  erzielt  hat  wie  ich,  als  „die 
Herren  Nacharbeiter^  ,  die  unter  ungünstigen  Verhältnissen  ge- 
arbeitet haben.  In  meinen  Versuchen  war  es  der  hohe  Druck,  bei 
Herrn  Schramm  wieder  die  Alkalescenz  der  Infusionsflüssigkeit, 
welche  die  Thiere  getödtet  habe.  Die  Lösung,  welche  Herr 
Schramm  infundirt  hat,  nämlich  1  Grm.  kohlensaures  Natron 
pro  mille  0*6%  Kochsalzlösung,  sei,  sagt  Herr  Krön  eck  er,  für 
das  Thier  nicht  indifferent,  sondern  gefährlich,  und  zwar  gefahrlich 
nicht  gerade  durch  den  Gehalt  an  kohlensauren  Natron,  sondern 
durch  die  Alkalescenz. 

Herr  Kronecker  theilt  in  seiner  Publication  nicht  mit, 
ob  ihm  so  ausreichende  chemische  Untersuchungen  zur  Verfügung 
stehen,  nm  eine  solche  Aussage  vom  chemischen  Standpunkte  aus 
stützen  zu  können.    Da  er  eine   solche  Angabe  nicht  macht,   so 


')  Schramm.  Ueber  den  Werth  der  Eochsalsinfosion  und  Blattransfosion 
etc.  Wiener  med.  Jahrbücher  1885. 
(18) 


Deber  den  therapenti sehen  Werth  der  Salzwasnerinftaidn.  1^3 

bleibt  ims  vorläufig  nichte  anderes  übrig,  als  die  Aeosserungeo 
jener  Aatoritäten  zn  Batbe  zn  ziehen,  welobe  solche  Untersnchungen 
wirklich  angestellt  haben.  Und  bo  erlaube  ich  mir  die  folgenden 
Angaben  Ton  Zuntz^)  zu  citiren: 

„Die  durch  Titriren  leicht  zn  ermittelnde  Alkalescenz  des 
BlntsemmB  entspricht  nach  meinen  nnd  Sctschenofs  (M6m.  de 
l'acad.  de  St.  Petersbonrg.  1879,  XXVI,  Nr.  13,  pag.  9)  Versuchen 
einer  O'l — 0"2'/oigen  Sodalösnng,  die  des  Blutes  etwa  einer  doppelt 
so  starken"  (also  2 — 4  pro  1000  Aq.).  Diesen  Angaben  zufolge 
wäre  die  Kritik  des  Herrn  Kronecker  auch  contra  Schramm 
keine  berecbtigte. 

Herr  Kronecker  bat  aber  vier  Experimente  angestellt, 
und  zwar  infnndirte  er  zweimal  alkalische,  zweimal  neutrale  Koch- 
salzlösung. Der  Verlauf  war  in  den  ersten  beiden  Fällen  tödtlieh, 
während  -die  Thiere  in  den  zwei  zaletzt  genannten  Fällen  am 
Leben  blieben. 

Aber  hier  muss  über  den  Ergebnissen  der  Arbeit  des  Herrn 
Kronecker  irgend  ein  Missgescbick  gewaltet  haben. 

Zwar  dass  zwei  seiner  Thiere,  denen  er  netitrale  Lösungen 
infandirt  hat,  am  Leben  geblieben  sind ,  darüber  wundere  ich 
mich  nicht.  Werden  die  Thiere  nicht  bis  zum  Eintritt  des  Sehein- 
todes entblutet,  dann  überleben  sie  eben  die  Infusion. 

Dass  die  zwei  anderen  Thiere,  denen  alkalische  Flüssig- 
keiten infundirt  worden  sind,  gestorben  sind,  daran  zn  zweifeln, 
fallt  mir  gleichfalls  nicht  bei.  Ob  sie  aber  wegen  der  Alkalescenz 
der  InfusioDsflüssigkeit  gestorben  sind,  daran  wage  ich  zn  zweifeln. 
Ich  habe  nämlich  in  diesem  Sinne  auch  einige  Versnche  angestellt, 
und  diese  Versuche  sprechen  durchaus  gegen  die  Ergebnisse  des 
Herrn  Kronecker  und  im  Sinne  der  oben  citirten  Angaben  von 
Znntz.  Sogar  die  Steigerung  des  Gehaltes  an  kohlensanrem 
Natron  bis  zu  4  Grm.  pro  mille  hat  eich  nicht  als  lebens- 
gefährlich erwiesen. 

Um  aussagen  zu  können,  daBS  die  Alkalescenz  der  Infusions- 
fliissigkeit  das  Thier  getödtet  habe,    muss  man  die  Versuche  zu- 

<)  Zqd  tz,  üeber  Blatgsse,  in  Herrmann's  Handbuch  der  Physiologie, 
paß.  65. 

Ued,  JithrbücliGr.  tSH7.  ^g     dtl] 


1 


184     May  dl.  üeber  den  therapetitisclieii  Werth  der  Salzwasserinfasion. 

nächst  80  anstellen,  dass  sieh  die  Thiere  nicht  auf's  Aensserste, 
d.  h.  nicht  bis  zum  Eintreten  des  Scheintodes  verbluten. 

Denn  wird  bis  zum  Scheintode  entbluteten  Thieren  eine 
alkalische  Solution  infundirt  und  gehen  die  Thiere  zu  Grunde,  so 
bleibt  die  Frage  offen,  ob  die  Todesursache  in  der  Anämie  oder 
in  der  Alkalescenz  der  Infusionsflttssigkeit  gelegen  habe. 

Die  Verblutung  darf  bei  solchen  Thieren  nur  eben  so  weit 
getrieben  werden,  dass  der  Puls  schwindet  oder  nur  eben  fühl- 
bar wird,  die  Athmung  hingegen,  wenn  auch  mit  geringer 
Fi-equenz,  andauert.  In  solchen  Fällen  wird,  wie  meine  Versuche 
lehren,  das  Sterblichkeitsprocent  nach  der  Infusion  der  Sehr  am  m- 
schen  Flüssigkeit  nicht  grösser,  als  wenn  man  neutrale  Lösungen 
einspritzt. 


-m^ 


Draek  von  Oottlieb  Qiitel  ä  Comp,  in  Wien. 
(20) 


WeiuTiiH'aiiüi..laliHni.hi'i\.1uiirtiiiis  IK81. 


VeKag  101  Alfred  Hglder  k.k  UH  ^ainnilats-fuclihiniHa! in 


IX. 

Ueber  Lupus  des  Kehlkopfes,  des  harten  und 
weichen  Gaumens  und  des  Pharynx. 

Von 

Dr.  Michael  Grossmann  in  Wien. 

(Am  24.  Februar  1887  yon  der  Bedaction  übemommen.) 

(Hierzn  Taf.  n  und  m.) 


Es  ist  noch  immer  unentschieden,  ob  die  lupöse  Erkrankung 
im  Kehlkopfe  zu  den  häufigeren  pathologischen  Erscheinungen 
gehöre,  oder  nicht.  Türck%  der  Erste,  der  diese  Erankheits- 
form  im  Larynx  gesehen  und  beschrieben  hatte,  meint ,  dass  der 
Lupus  im  Kehlkopfe  ein  häufigeres  Yorkommniss  sei;  allein  mit 
dieser  Behauptung  steht  die  Thatsache  in  einem  unaufgeklärten 
Widerspruche,  dass  T  ü  r  c  k  bei  seinem  so  reichen  Beobachtungs- 
materiale  im  Ganzen  nur  fünf  Fälle  zu  Gesichte  bekam. 
Ziemssen-"),  Kaposi')  und  Andere   theilen  die  Anschauung 


>)  Klinik  der  Krankheiten  des  Kehlkopfes.  1866,  pag.  425. 
')  Ziemssen's  Handbnch.  Bd.  IV,  I.Hälfte. 

")  Kaposi,  Pathologie  nnd  Therapie  der  Hantkrankheiten  in  Yorlesmigen. 
ürban  &  Schwarzenberg,  1879,  2.  Hälfte,  pag.  651. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  X6      ^^^ 


Xgg  GroBsmann. 

Türck's  bezüglich  der  Häufigkeit  des  Lupus  laryngis.  Es  sind 
zwar  immer  nur  einzelne  Fälle,  die  diese  Autoren  selbst  beobachtet 
haben  und  sie  stützen  ihre  Meinung  zumeist  auf  die  Yermuthung, 
dass  bei  Lupösen  im  Allgemeinen  der  Kehlkopf  viel  häufiger  in 
Mitleidenschaft  gezogen  werde,  als  dies  sonst  geglaubt  wird. 
Thatsache  ist,  dass  man  noch  vor  wenigen  Jahren  die  Zahl  der 
beobachteten  und  in  der  Literatur  verzeichneten  Fälle  von  Lupus 
laryngis  an  den  Fingern  herzählen  konnte,  und  Morell  Mackenzie^) 
wusste  in  seinem  im  Jahre  1880  erschienenen,  von  S  e  m  o  n  über- 
setzten Lehrbuche  aus  der  Gesammtliteratur  blos  über  zehn  Fälle 
zu  berichten '),  aus  seiner  eigenen  so  reichen  Erfahrung  hingegen 
im  Ganzen  nur  zwei  Fälle  hinzuzufügen. 

Die  so  vage  ausgesprochene  Yermuthung,  dass  der  Lupus 
des  Kehlkopfes  bei  Lupösen  im  Allgemeinen  ein  häufigeres  Vor- 
kommniss  sei ,  ist  in  jüngster  Zeit  auf  ihre  Berechtigung  etwas 
genauer  untersucht  worden. 

Die  erste  statistische  Arbeit  zur  Lösung  dieser  Frage  rührt 
von  Nicolai  Holm 5)  her.  Wir  entnehmen  aus  seiner  sorgfältigen 
Zusammenstellung,  dass  von  neunzig  Lupösen,  die  vom  Jahre  1 866 
bis  1877  im  Commune-Hospital  zu  Kopenhagen  zur  Beobachtung 
kamen  und  einer  genaueren  laryngoskopischen  Untersuchung  unter- 
zogen wurden,  eine  gleichzeitige  lupöse  Erkrankung  des  Kehl- 
kopfes nur  in  sechs,  und  wenn  wir  den  einen,  zweifelhaften  Fall 
abrechnen,  nur  in  fünf  Fällen,  also  in  5'5^!q  constatirt  werden 
konnte. 

Chiari  uud  Biehl^)  haben  nach  einer  Zusammenstellung 
aus  den  Protokollen  der  dermatologischen  Klinik  in  Wien,  von 
727  Lupösen,  nur  in  sechs  Fällen,  also  in  0*8°/o  eine  gleichzeitige 
lupöse  Erkrankung  des  Kehlkopfes  verzeichnet  gefunden. 

Hierbei  muss  allerdings  berücksichtigt  werden,  dass  nur  jene 


^)  Die   Erankheiten    des  Halses  and  der  Nase  von  MoreU  Maokenzie. 
Deutsch  von  Felix  Semon.  Berlin  1880,  Aug.  Hirschwald. 

')  In  diesen  zehn  Fällen  ist  der  von  mir  der  k.  k.  Gresellschaft  der  Aerzte 
in  Wien  im  Jahre  1877  vorgestellte  Fall  bereits  inbegriffen. 

^)  Holm, Lnpns affectionens  Forhold  die  Scrophnlosen  etc.  EjÖbenhafn  1877. 

*)  Chiari  nnd  Riehl,    Lnpns    vulgaris   laryngis.    Vierteljahrschr.  für 
Dermat.  nnd  Syphil.  Jahrg.  1882. 
(2) 


üeber  Lupus  d.  Kehlkopfes,  d.  harten  n.  weichen  Ganmens  n.  d.  Pharjnx.     \Q^ 

Kranken,  welche  an  Kehlkopf beschwerden  litten,    einer  genauen 
laryngoskopischen  Untersuchung  unterzogen  wurden. 

Chiari  und  Biehl  haben  überdies  68  Lupöse  der  oben- 
•erwähnten  Klinik,  ganz  ohne  Bücksicht,  ob  von  Seite  des  Kehl- 
kopfes irgendwelche  Beschwerden  vorlagen  oder  nicht,  einer 
genaueren  laryngoskopischen  Untersuchung  unterzogen  und  dabei 
gefunden,  dass  der  Larynx  sechsmal,  also  in  8*8^/0  der  Fälle,  von 
der  lupösen  Erkrankung  in  Mitleidenschaft  gezogen  war* 

Die  statistischen  Besultate  dieser  beiden  letzten  Autoren 
stimmen  demnach  so  ziemlich  mit  jenen  von  Holm  überein. 

So  verdienstvoll  die  beiden  erwähnten  Arbeiten  auch  sind, 
so  erscheinen  sie  doch  nicht  hinreichend  genug,  um  die  Frage 
über  die  Häufigkeit  des  Lupus  laryngis  endgiltig  zu  entscheiden. 
£s  werden  die  diesbezüglichen  statistischen  Arbeiten  noch  lange 
und  sorgfältig  fortgesetzt  werden  müssen  und  insbesondere  müsste 
darauf  gesehen  werden,  dass  man  jeden  Lupuskranken  selbst 
dann  mit  dem  Kehlkopfspiegel  untersuche,  wenn  von  Seite  des 
Larynx  gar  keine  Erscheinung  dazu  herausfordert.  Die  wenigen 
bisher  publicirten  Fälle  lehren  ja  zur  Genüge,  mit  welchen  ge- 
ringen, von  den  Kranken  kaum  beachteten,  subjectiven  Empfin- 
dungen die  Initialstadien  der  lupösen  Erkrankung  des  Kehlkopfs 
sich  einzuschleichen  pflegen. 

Ebensowenig  wie  die  Frage  über  die  Häufigkeit  dieses 
Leidens,  ist  es  noch  bisher  entschieden,  ob  der  Lupus  im  Kehl- 
kopfe primär  vorkommt  oder  nicht.  Der  von  Ziemssen  publi- 
cirte  Fall  steht  in  der  Literatur  noch  immer  vereinzelt  da. 

Jedenfalls  muss  die  Symptomatologie  des  Lupus  im  Kehl- 
kopfe, in  allen  möglichen  Stadien  dieser  Krankheit,  und  zwar  in 
jenen  Fällen,  wo  die  Diagnose  durch  die  Erscheinungen  an  der 
äusseren  Haut  sichergestellt  ist,  noch  sorgfältig  studirt  werden, 
um  verlässliche  charakteristische  Symptome  kennen  zu  lernen, 
die  uns  befähigen  sollen,  den  primären  Lupus  des  Larynx,  wenn 
ein  solcher  überhaupt  vorkommt,  mit  aller  Bestimmtheit  zu  dia- 
gnosticiren. 

Chiari  und  Biehl  haben  in  ihrer  erwähnten  Arbeit  nach 
dieser  Bichtung  zweifellos  werthvoUe  dilferential-diagnostische 
Anhaltspunkte   geboten.    Findet  man,    so   meinen   diese   beiden 

16  ♦     (8> 


Igg  Grossmann. 

Autoren,  papilläre  Exerescenzen  neben  nlcerösen,  oder  einge- 
sunkenen, narbigen  Partien,  so  können  diese,  verschiedene  Phasen 
des  Verlaufs  repräsentirenden  Symptome  kaum  auf  einen  anderen 
Erankheitsprocess  bezogen  werden.  „Eine  ganz  sicher 
stehende  Diagnose  ermöglicht  dagegen  der  Befund 
einer  mit  braunrothen,  eingesprengten  Lupus- 
knötchen  versehenen  Narbe/ 

Obgleich  ich  nun  in  den  von  mir  beobachteten  und  hier  in 
Wort  und  Abbildung  zur  Publication  gelangenden  zwei  Fällen 
die  von  Chiari  und  Riehl  geschilderten  Symptome  ganz  zweifel- 
los gesehen  habe,  und  obgleich  ich  deren  differential-diagnosti- 
schen  Werth  vollinhaltlich  anerkenne  und  endlich,  obgleich  ich 
weiter  unten  einen  ferneren  und  wie  mir  scheint  nicht  werthlosen 
Beitrag  zu  dieser  Differentialdiagnostik  zu  liefern  in  der  Lage 
zu  sein  glaube,  so  würde  ich  es  dennoch  nicht  wagen,  mit  aller 
Bestimmtheit  auszusprechen,  dass  ich  im  gegebenen  Falle,  bei 
dem  derzeitigen  Stand  unseres  diesbezüglichen  Wissens,  den  pri- 
mären Lupus  des  Kehlkopfs,  mit  einer  jeden  Zweifel  aus- 
schliessenden  Sicherheit,  erkennen  würde. 

Ich  habe  es  zweifellos  nur  einem  glücklichen  Zufalle  zu  ver- 
danken, dass  ich  in  meinem  bescheidenen  Wirkungskreise  nunmehr 
zwei  Fälle  von  Kehlkopflupus  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 
Ich  will  nun  zuerst  meinen  zweiten,  der  k.  k.  Gesellschaft 
der  Aerzte  in  Wien  am  8.  October  1886  vorgestellten  Fall 
schildern  und  den  bereits  im  Jahre  1877  derselben  Gesellschaft 
demonstrirten  Fall,  der  noch  bis  zur  Stunde  in  meiner  Beobachtung 
steht,  kurz  anfügen. 

Johann  Wicher  ist  zehn  Jahre  alt  und  das  Kind  einer  armen 
Arbeiterfamilie.  In  seinem  sechsten  Lebensjahre  wurde  er  in  die 
Schule  geschickt,  die  er  auch  ein  volles  Jahr  hindurch,  bei  unge- 
trübter Gesundheit,  ununterbrochen  frequentirte.  In  dieser  Zeit 
wohnten  seine  Eltern  in  einer  dumpfen  feuchten  Wohnung^),  am 
Ufer  des  Wiener-Neustädter  Canales.  In  welchem  desolaten  Zu- 
stande diese  Wohnung  sich  befunden  haben  mochte,  lässt  sich 
daraus  schliessen,   dass  dieselbe,   aus  hygienischen  Rücksichten, 


*)  III.,  Obere  Bahngasse  Nr.  6. 
(4) 


üeber  Lupus  d.  Kehlkopfes,  d.  liarten  u.  weichen  Ganmens  n.  d.  Pharynx.     Ig9 

anf  behördliche   Veranlassung   geräumt  und   das   ganze   Object 
demolirt  werden  musste. 

Der  siebenjährige  Knabe  verliess  diese  Wohnung  mit  einer 
massigen  Anschwellung  einiger  Drüsen  in  seiner  linksseitigen 
Submaxillargegend.  Die  Schwellung  nahm  nur  allmälig  zu,  ver- 
ursachte keine  weiteren  Beschwerden  und  erst  nach  Verlauf  von 
drei  Monaten  hat  eine  Drüse  nach  der  anderen  zu  vereitern  be- 
gonnen. Die  Eltern  wollten  es  durchaus  nicht  zugeben,  dass  der 
Drflsenabscess  durch  das  Messer  geöfihet  werde,  und  verwendeten 
verschiedene  Einreibungen  und  Salben,  um  den  gefttrchteten  opera- 
tiven Eingriff  zu  umgehen.  Als  auf  diese  Weise  dem  Eiter  aus 
zwei  Drüsen  der  freie  Abfluss  geschafft  war,  sah  ich  nach  einigen 
Tagen  die  Haut  an  den  Rändern  der  Abscessmündungen  stark 
geröthet,  geschwellt  und  mit  zahlreichen  dunkelrothen  Knötchen 
besetzt.  Diese  Erscheinung  nahm  von  Tag  zu  Tag  zu,  bald  war 
die  ganze  Haut  der  linken  Submaxillargegend  von  solchen  Knöt- 
chen übersäet  und  das  Bild  eines  Lupus  vulgaris  in  zweifelloser 
Weise  etablirt. 

Zwei  Monate  nach  dem  ersten  Auftreten  der  lupösen  Er- 
krankung an  der  Haut  wurde  das  Kind,  ohne  jedwede  weitere 
Veranlassung,  aber  auch  ohne  die  geringsten  Beschwerden  zu 
haben,  über  Nacht  heiser.  Bei  der  damals  vorgenommenen  laryngo- 
skopischen Untersuchung  fiel  mir  das  Missverhältniss  zwischen 
der  Heiserkeit  und  dem  objectiven  Befunde  auf.  Die  Beweglich- 
keit der  wahren  Stimmbänder  und  der  Glottisverschluss  waren 
in  kaum  merklichem  Grade  beeinträchtigt  und  es  war  ausser  einer 
Hyperämie  sämmtlicher  Kehlkopftheile  nichts  Krankhaftes  nach- 
zuweisen. 

Ich  habe  von  dieser  Zeit  ab  das  Kind  Anfangs  wöchentlich 
2— 3mal,  später,  mit  seltenen  Ausnahmen,  fast  täglich  zu  sehen 
und  laryngoskopisch  zu  untersuchen  Gelegenheit  gehabt. 

Nahezu  zwei  Monate  habe  ich  absolut  nichts  Anderes  als 
die  bereits  erwähnte  Hyperämie,  bei  täglich  zunehmender,  bis  zur 
Aphonie  sich  steigernder  Stimmlosigkeit  beobachten  können.  Der 
Kranke  selbst  hatte  bis  dahin  gar  keine  Beschwerden  von  Seite 
des  Kehlkopfes  und  ich  beschränkte  mich  demnach  blos  auf  Ein- 
blasungen von  Alaun,  dem  ich  erst  dann  etwas  Morphin  beigefugt 

(5) 


190  Grossmann. 

habe,  als  in  der  fünften  Woche  znr  Heiserkeit  ein  heftiger,  krampf- 
artiger Hnsten,  namentlich  Nachts,  sich  gesellte. 

Von  da  ab  änderte  sich  das  laryngoskopische  Bild,  ich  kann 
wohl  sagen,  von  Tag  zu  Tag. 

Ich  vermag  den  damaligen  Befand  nicht  treffender  zn  schildern, 
als  wenn  ich  sage,  dass  die  intensiv  hyperämischen  Theile  des 
Kehlkopfes,  namentlich  aber  die  Schleimhaut  der  Epiglottis  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung,  auf  ihrer  vorderen  und  laryngealen 
Fläche,  sowie  die  über  den  Aryknorpeln  und  aryepiglottischen 
Falten  das  Bild  einer  hochgradigen  trachomatosen 
Conjunctiva  darboten. 

Die  stark  geröthete  Schleimhaut  hat  von  ihrer  Durchsichtigkeit 
bedeutend  eingebtisst  und  ihre  Oberfläche  ist  von  kleinen,  mohn- 
bis  hirsekorngrossen ,  dicht  aneinandersitzenden  Granulationen 
übersäet.  1) 

Schon  nach  wenigen  Tagen,  nachdem  ich  die  oben  geschilderte 


^)  Anmerkung.  Der  oben  geschilderte,  mit  dem  Trachom  der  Conjunctiva 
verglichene  Kehlkopfbeftind  hat  mit  dem  bekannten,  bei  Miliartuberculose  des 
Larynx  vorkommenden  Bilde  nicht  die  entfernteste  Aehnlichkeit,  und  kann  daher 
mit  diesem  Erankheitszustande  nie  verwechselt  werden.  Bei  der  Miliartuberculose 
des  Larynx  schimmern  diese  gelblichen  oder  graugelblichen  Miliarknötchen  durch 
die  zumeist  anämische  und  im  Beginne  noch  glatte  Schleimhaut  hindurch,  und 
erst  bei  zunehmender  Infiltration  wird  diese  immer  unebener,  bis  es  endlich  zum 
Zerfall  der  oberflächlichen  Gebilde,  zu  einem  grösstentheils  rasch  um  sich  greifenden 
Geschwtlre  kommt.  Die  Basis  und  die  Umrandung  dieses  GeschwtLres  zeigen  erst 
recht  die  Anwesenheit  von  Miliarknötchen,  die  erwiesenermassen  selbst  die  tiefsten 
Schichten,  und  ab  und  zu  auch  das  knorpelige  Gerüste  durchsetzen.  Die  er- 
krankten Theile  sind  starr  infiltrirt,  oft  bis  auf  das  Zwei-  und  Dreifache  verdickt 
und  in  ihrer  Beweglichkeit  in  hohem  Grade  beeinträchtigt.  Bei  Berührung  mit 
der  S<)nde  fühlen  sie  sich  steinhart  an  und  verursachen,  insbesondere  wenn  der 
Kehldeckel  oder  die  Aryknorpel  der  Sitz  der  Krankheit  sind,  die  peinlichsten 
Schlingbeschwerden. 

Beim  lupösen  Processe  sind  die  zarten,  schon  von  vorneherein  viel  dichter 
aneinander  und  an  der  Oberfläche  sitzenden  Knötchen  lebhaft  roth,  verleihen 
der  Schleimhaut  eine  zart  granulirende  Fläche  und  unterscheiden  sich  demnach 
schon  durch  die  Farbe  und  Anordnung  von  den  übrigens  allbekannten  und  gar 
nicht  zu  verwechselnden  Bildern  bei  Miliartuberculose.  Ueberdies  scheinen  die 
Theile  beim  Lupus  im  Gegensatze  zur  Tuberculose  an  Beweglichkeit  nur  wenig 
einzubüssen  und  selbst  am  Höhepunkt  des  Processes  keine  Schlingbeschwerden 
zu  verursachen. 
(6) 


üeber  Lupus  cL  Kehlkopfes,  d.  liarten  u.  weichen  Gaumens  n.  d.  Pharynx.     191 

Beobachtung  im  Kehlkopfe  gemacht  habe,  konnte  ich  ganz  dieselben 
Erscheinnngen  am  weichen  und  harten  Gaumen  wahrnehmen,  und 
es  war  mir  nun  ganz  klar,  dass  ich  es  hier  mit  einem  ernsteren 
Leiden  des  Larynx,  des  harten  und  weichen  Gaumens,  zu  thun 
habe,  und  dass  diese  eigenthümliche ,  bei  gar  keinem  anderen 
pathologischen  Processe  beobachteten  Erscheinungen,  bei  dem 
Umstände,  dass  an  der  allgemeinen  Decke  Lupus  vorhanden 
war,  nur  einzig  und  allein  auf  eine  lupöse  Infection  zurück- 
zuführen sei. 

Ich  muss  hier  gleich  bemerken,  dass  ich  von  da  ab,  um 
mir  die  weitere  Entwicklung  des  klinischen  Bildes  nicht  zu  trüben, 
eine  jede  fernere,  locale  Behandlung  unterlassen  habe. 

Der  oben  geschilderte  Zustand  bestand  2 — 3  Wochen  hindurch, 
.  ohne  dass  mir  irgend  welche  Veränderung  aufgefallen  wäre. 

Nach  beiläufig  vier  Wochen  merkte  ich,  wie  der  freie  Band 
der  Epiglottis  immer  unebener,  dicker,  plumper  wurde,  und  dass 
anstatt  der  ursprünglichen,  zart  granulirten  Oberfläche,  an  einzelnen 
Stellen  eine  grössere  Confluenz  dieser  Granulationen  stattfindet. 

Ich  sah,  wie  auf  diese  Weise  an  mehreren  Stellen  des  Kehl- 
deckels stärker  prominirende  und  intensiv  iqjicirte  Knötchen  ent- 
standen. Am  harten  und  weichen  Gaumen,  wo  durch  die  etwas 
blassere  Schleimhaut  wie  Sagokömer  aussehende  Granulationen 
durchschimmerten,  konnten  ganz  dieselben  Erscheinungen  wie  im 
Kehlkopfe  beobachtet  werden,  und  ich  sah  hier  wie  dort  an 
einzelnen  Stellen  die  immer  zunehmende  Confluenz  der  Granula- 
tionen, die  Bildung  der  bereits  geschilderten  Knötchen,  bis  nach 
einigen  Tagen  an  der  Spitze  einer  solchen  prominirenden  Stelle 
ein  Epithelial-  und  wieder  nach  einigen  Tagen  ein  tiefer  Substanz- 
verlust, ein  effectives  Geschwür  sich  etablirt  hat. 

Während  an  einzelnen  Stellen  des  Gaumens  und  des  Kehlkopfes 
diese  Substanzverluste  ohne  weiteres  Hinzuthun  spontan  vernarbten 
(im  Gegensatze  zu  den  tuberculösen  Geschwüren),  tauchten  an 
verschiedenen  anderen  Stellen  neue  Geschwürsbildungen  in  der 
geschilderten  Weise  auf. 

Oft  ereignete  es  sich,  dass  zwei  und  mehrere  solcher  Geschwüre 
sich  nebeneinander  entwickelten,  und  schliesslich  zu  einer  einzigen 
grösseren  Ulcerationsfläehe  sich  vereinigten. 

(7) 


\ 


192  OrossmaniL 

Dieser  Process  der  Gfeschwürsbildang  und  Vemarbang  spielte 
sich  an  den  verscliiedensten  Stellen  des  Kehlkopfes,  des  harten 
nnd  weichen  Gkinmens  ab,  ohne  den  Kranken  beim  Schlacken  oder 
sonstwie  irgendwelche  Beschwerden  zm  verorsachen. 

Nach  nngefähr  einem  Jahre,  nachdem  sämmtliche  Theile  des 
Kehlkopfes,  zumeist  aber  die  Epiglottis  zum  wiederholtenmale  und 
an  den  verschiedensten  Stellen  der  Sitz  von  diesen  Ulcerationen 
gewesen  sind,  den  vorausgegangenen  Process  theils  Narbenreste, 
theils  unregelmässige  an  einzelnen  Stellen,  wie  am  freien  Bande  der 
wahren  Stimmbänder,  zackig  hervorragende  Granulationen  mar- 
kirten,  bekam  der  Kranke  an  der  vorderen  Fläche  der  hinteren 
Larynxwand  eine  von  Tag  zu  Tag  zunehmende  Schwellung,  die 
nach  Verlauf  von  5 — 6  Wochen  wie  ein  Tumor  in  das  Kehl- 
kopfinnere hineinragte  und  über  zwei  Drittel  der  Glottis  deckte. 
Die  dadurch  bedingten  Atbembeschwerden  des  Kranken  waren, 
namentlich  während  des  Schlafes,  ziemlich  bedeutend,  weit  weniger 
im  wachen  Zustande. 

Ich  glaubte  nun,  dass  ich  meine  observative  Methode  nicht 
werde  weiter  fortsetzen  dürfen,  und  hatte  die  Absicht,  wenn 
die  Atbembeschwerden  noch  fernere  Fortschritte  machen  sollten, 
dieselben  dadurch  zu  beseitigen,  dass  ich  nach  vorausgegangener 
Einpinselung  des  Kehlkopfes  mit  einer  20procentigen  GocaYnlösung, 
das  Larynxinnere  mit  einer  50-,  dann  SOprocentigen  Milchsäure- 
lösung ganz  energisch  cauterisire.  Ich  habe  in  diesem  Falle 
deshalb  an  dieses  Causticum  gedacht,  da  ich  bei  diesem  Kranken 
den  Lupus  an  der  Haut,  u.  zw.  ebenfalls  mit  Zuhilfenahme  der 
schmerzstillenden  Wirkung  des  CocaXtis,  mit  der  Milchsäure  bereits 
erfolgreich  behandelt  habe. 

Diese  hochgradige  Schwellung  und  die  dadurch  bedingten 
Athembeschwerden  ereigneten  sich  in  den  Sommermonaten  des 
vorigen  Jahres,  und  ich  zögerte  deshalb  mit  dem  Eingriffe,  da  ich 
die  Absicht  hatte,  den  Kranken  im  Herbste  der  k.  k.  Gesellschaft 
der  Aerzte  in  Wien  vorzustellen. 

Ich  verschob  nun  die  Cauterisation  von  einem  Tage  auf  den 
anderen  und  hatte  dabei  die  unerwartete  Genugthuung,  dass  die 
Schwellung  etwas  geringer  und  die  Athembeschwerden  sich  in 
auffallender  Weise  spontan  besserten,  und  ich  konnte  den  Kranken 

(8) 


üeber  Lupus  d.  Kehlkopfes,  d.  luurten  u.  weichen  Gaiiinens  n.  d.  Pharynx.     1 93 

am  8.  October  1886  in  dem  Zustande  vorstellen,  der  hier  in  den 
Abbildungen  (Tafel  n  und  m,  Fig.  1,  2  nnd  3)  möglichst  natur- 
getreu wiedergegeben  ist. 

Fig.  1  zeigt  die  lupöse  Erkrankung  der  Haut  an  der  linken 
Wange  und  in  der  Submaxillargegend  derselben  Seite. 

Taf.  m,  Fig.  3  zeigt  die  Erkrankung  des  harten  und  weichen 
Gaumens.  Man  sieht  hier  noch  am  vorderen  Abschnitte  des  harten 
Gaumens,  namentlich  am  Processus  alveolaris  der  vorderen  Schneide- 
zahne ausgebreitete  Substanzverluste,  die  sich  zwischen  den  beiden 
vorderen  Schneidezähnen  bis  auf  die  Oberlippe  erstrecken.  An  der 
linken  Ganmenhälfte  sind  zwei  neue  in  Zerfall  begriffene  Eruptionen 
sichtbar  und  genau  in  der  Mitte  des  weichen  Gaumens,  in  der 
Gegend  der  Uvula  befindet  sich  eine  weissgelbliche,  kreuzförmige, 
glatte  Narbe,  in  welcher  ein  Nachschub  von  zwei  neuen  Knötchen 
deutlich  sichtbar  ist  (charakteristisch  fbr  Lupus  nach  C  h  i  a  r  i  und 
R  i  e  h  1).  Ueberdies  ist  in  der  ganzen  Schleimhaut  des  harten  und 
weichen  Gaumens  jene  Sagokömem  ähnliche  Granulation  zu 
bemerken,  deren  ich  bereits,  oben  erwähnt  habe. 

In  Fig.  2,  Taf.  II,  sehen  wir,  dass  an  der  Epiglottis  Narben- 
gebilde und  Substanzverluste  vorhanden  sind.  Die  beiden  wahren 
Stimmbänder,  die  gerötbet,  uneben  und  gewnistet  sind,  tragen  an 
ihren  freien  Rändern  in  die  Glottis  hineinragende,  im  Athmungs- 
strome  frei  flottirende  Granulationen.  Die  an  der  vorderen  Fläche 
der  hinteren  Larynxwand  aufsitzende  Geschwulst  deckt  mehr  als 
die  Hälfte  des  hinteren  Abschnittes  der  Stimmbänder.  Die  Ary- 
knorpel,  sowie  die  aryepiglottische  Falte  stark  intumescirt. 

Ich  will  hier  nur  noch  ergänzend  kurz  hinzufügen,  dass  ich 
seit  der  Vorstellung  des  Kranken  sämmtliche  Ulcerationen  am 
Gaumen,  wie  im  Kehlkopfe,  nach  vorhergehender  CocaKtiisirung 
mit  einer  80procentigen  Milchsäurelösung  behandle  und  mit  dem 
Erfolge  ganz  zufrieden  bin.  Die  krankhaften  Erscheinungen 
schwinden  doch  viel  rascher,  als  wenn  sie  der  Naturheilung  über- 
lassen sind. 

Das  Ausfallen  der  Zähne,  das  Kaposi^)  bei  solchen  Kranken 
hervorhebt,  habe  ich  bei  diesem  Patienten,  bisher  wenigstens,  obwohl 

*)  1.  c. 

9) 


194  GroBsmann. 

der  Process  in  der  Gegend  der  Alveolarfortsätze  nnd  an  der 
Gingiya  (vid.  Tafel  III,  Fig.  3)  in  intensiver  Weise  sich  abwickelte, 
nicht  beobachten  können.  Ebensowenig  konnte  ich  bisher  ein 
Weiterschreiten  des  Processes  gegen  die  Trachea  constatiren,  wie 
dies  VirchowO  iind  Idelsohn*)  gesehen  haben. 

Der  Inpöse  Process  hat  bei  diesem  Kranken  anter  Erschei- 
nungen nnd  in  Folge  eines  Anlasses  begonnen,  die  unwillkttrlich 
an  Scrophulose  erinnern.  Es  müsste  sonst  angenommen  werden, 
dass  die  Intumescenz  und  die  Vereiterung  einer  ganzen  Reihe  von 
Drüsen  in  der  linken  Submaxillargegend  von  vorneherein  durch 
das  Lupusgift  veranlasst  wurde  und  dass  demnach  in  diesem 
Falle  die  Drüsen  zweifellos  der  primäre  Sitz  dieser  Krankheit 
gewesen  sind. 

Es  ist  ja  allbekannt ,  dass  die  Ansicht ,  die  Genese  des 
Lupus  hänge  mit  der  Scrophulose  irgendwie  zusammen ,  eine 
weite  Verbreitung  fand.  So  führt  z.  B.  Fuchs  den  Lupus  unter 
den  Scrophulosen  an;  Wilson  als  Scrophuloderma ;  Plumbe 
als  Strumous  affection  und  die  französischen  Autoren  als  Affection 
scrophuloes,  Scrophelide  tuberculeuse  maligne.  Allerdings  haben  sich 
gegen  diese  Auffassung  viele  wichtige  Stimmen,  wie  Virchow, 
Klebs,  Kaposi  und  noch  Andere,  ausgesprochen.*) 

Einige  Autoren,  wie  Veiel,  Wilson,  zum  Theile  sogar 
H  e  b  r  a,  bringen  den  Lupus  mit  hereditärer  Syphilis  in  Zusammen- 
hang. Diese  Annahme,  der  übrigens  allgemein  widersprochen 
wird,  kann  in  dem  von  mir  oben  geschilderten  Falle  mit  der 
grössten  Wahrscheinlichkeit,  die  man  sich  nur  diesbezüglich  über- 
haupt verschaffen  kann,  ausgeschlossen  werden. 

Wenn  nicht  alle  Anzeichen  trügen,  so  ist  es  der  bacterio- 
logischen  Forschung  vorbehalten,  die  Lupusfrage  endgiltig  zu 
lösen.  Bekanntlich  hat  Koch  nicht  blos  bei  Lepra,  sondern  auch 
in  den  Lupusknoten  den  Tuberkelbacillus  nachgewiesen.  Es  sind 
allerdings  schwer  wiegende,  klinische  Bedenken,  die,  wenigstens 
vorläufig,  gegen  die  Identität  von  Lupus  und  Tuberculose  sprechen 

^)  Virchow,  Die  krankhaften  Geschwftlste.  1864—1865,  II.  Bd.,  pag.  491. 
')  Rosalie   Idelsohn,    lieber  Lnpns    der   Schleimhänte.    1879,    Hemer 
Dissertation. 

')  Kaposi,  1.  c. 

(10) 


lieber  Lupus  d.  Kehlkopfes,  d.  harten  u.  weichen  Gaumens  u.  d.  Phar3mx.     195 

und  Schwimmer 0  markirte  diese,  übrigens  Jedem  geläufige 
DifiFerenz,  gelegentlich  der  vorjährigen  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  und  Aerzte  in  Berlin,  indem  er  folgende  Punkte 
hervorhob:  1.  Die  relative  Seltenheit  der  Hauttuberculose  im 
Vergleiche  zur  Häufigkeit  des  Lupus;  der  verschiedenartige  Ent- 
wicklungsgang beider  Processe.  2.  Das  fast  ausschliesslich  pri- 
märe Auftreten  der  Tuberculose  in  den  Schleimhäuten  mit  nach- 
folgendem Uebergreifen  auf  die  benachbarten  Hautpartien  — 
während  der  Ausbruch  des  Lupus  in  umgekehrter  Richtung  er- 
folgt. 3.  Die  verschiedenartige  Einwirkung  des  tuberculösen  und 
lupösen  Hautprocesses  auf  den  Gesammtorganismus,  —  ersterer 
hat  fast  immer  allgemeine  Tuberculose  zur  Folge,  bei  letzterem 
ist  eine  derartige  Coincidenz  nicht  leicht  zu  beweisen. 

Es  wird  nun  Sache  der  weiteren  Forschung  sein,  zu  prüfen, 
ob  und  in  welcher  Beziehung  der  beim  Lupus  nachweisbare  Spalt- 
pilz zum  Tuberkelbacillus  stehe  und  durch  welche  Momente  die 
Verschiedenheit  der  klinischen  Bilder,  der  differente  Effect  des 
scheinbar  gleichartigen  Virus  bedingt  sei. 

Ich  will  nun  hier  einige  Worte  über  meinen  ersten  Fall 
hinzufügen.  Die  Art  und  Weise,  wie  derselbe  in  meine  Beobachtung 
kam,  ist  nicht  uninteressant  und  ftir  diesen  Erankheitsprocess 
geradezu  charakteristisch ;  —  ich  entdeckte  ihn  in  der  k.  k.  Gesell- 
schaft der  Arzte  selbst. 

Professor  Isidor  Neumann  stellte  nämlich  das  damals 
—  1877  —  22jährige  Mädchen  mit  primärem  Lupus  der  linken 
Conjunctiva  und  des  linken  Bulbus  vor.  Die  Nasenflügel  und  die 
Oberlippe  waren  zu  dieser  Zeit  bereits  in  ausgedehntem  Maasse 
lupös  erkrankt  und  es  kam  bei  dieser  Gelegenheit  zu  einer 
Polemik  zwischen  Professor  Neumann  und  weiland  Professor 
H  e  b  r  a ,  da  letzterer  nicht  zugeben  wollte,  dass  der  primäre  Sitz 
des  Lupus  in  der  Conjunctiva,  respective  am  Auge  gewesen  sein 
soll,  während  Neumann  mit  aller  Entschiedenheit  die  Behauptung 
aufrecht  hielt,  dass  das  Auge  schon  lange  Zeit  hindurch  die  Spuren 
dieser  Krankheit  an  sich  getragen  hat,   bevor  man  noch  an  der 


^)  Ernst  Schwimmer,     Tnbercnlose  der  Haut  nnd  Schleimhäute.  59. 
Yersamml.  deutsch.  Natnrforsch.  u.  Aerzte  in  Berlin. 

(11) 


X96  GroBsmanii. 

Nase  and  Oberlippe  irgend  eine  pathologische  Veränderung  wahr- 
nehmen konnte. 

Als  nun  auch  ich  das  lapös  entartete  Auge  mir  näher  be- 
trachtete, wechselte  ich  mit  der  Kranken  einige  Worte  und  es 
fiel  mir  bei  dieser  Gelegenheit  ihre  heisere  Stimme  auf.  Auf  meine 
Frage,  wie  lange  die  Patientin  die  Heiserkeit  schon  habe,  er- 
widerte sie  mir  ganz  erstaunt,  sie  wisse  gar  nicht,  dass  sie  über- 
haupt heiser  sei. 

Nach  Schluss  der  Sitzung  untersuchte  ich  die  Kranke  noch 
an  Ort  und  Stelle  mit  dem  Kehlkopfspiegel  und  fand  das  Bild, 
welches  Fig.  4,  die  ich  noch  seinerzeit  durch  Dr.  J.  Heitzmann 
anfertigen  liess,  naturgetreu  wiedergibt. 

Ich  konnte  nun  nicht  genug  staunen,  dass  so  eingreifende^ 
krankhafte  Veränderungen  fast  ohne  subjective  Erscheinungen, 
vor  sich  gehen  konnten.  Aehnliches  dürfte  sich  wohl  kaum  bei 
einem  anderen  pathologischen  Processe  ereignen.  Es  war  ein 
grosser ,  herzförmiger  Substanzverlust  in  der  Mitte  der  Epiglottis, 
die  Stimm-  und  Taschenbäder  uneben,  höckerig,  von  einer 
massigen  Granulationsfläche  bedeckt.  Unterhalb  der  vorderen  Com- 
missur  der  Stimmbänder  ragte  ein  Zapfen  von  ähnlichen  Granu- 
lationsgebilden wie  an  den  Stimmbändern  hervor.  An  der  Schleim- 
haut der  Mund-  und  Rachenhöhle  war  damals  ausser  einer  nar- 
bigen Verziehung  der  Uvula  keine  weitere  Abnormität  nachzu- 
weisen. 

War  es  schon  in  diesem  Falle  ein  Gegenstand  der  Contro- 
verse,  ob  Conjunctiva  oder  Nase  det  primäre  Ausgangspunkt  der 
Erkrankung  gewesen  ist,  so  war  es  unter  den  geschilderten  Um- 
ständen noch  weit  schwieriger  zu  entscheiden,  in  welcher  Reihen- 
folge der  Larynx  in  den  lupösen  Process  einbezogen  wurde. 

Als  ich  die  Kranke  seinerzeit  der  k.  k.  Gesellschaft  der 
Aerzte  vorgestellt  und  bezüglich  dieses  Falles  einige  differential- 
diagnostische Momente  hervorgehoben  habe,  machte  ich  darauf 
aufmerksam,  dass  der  Befund  an  den  wahren  und  falschen  Stimm- 
bändern für  sich  allein  an  Carcinom  erinnern  könnte.  Gegen  diese 
Diagnose  würde  jedoch,  ganz  abgesehen  von  dem  narbigen  De- 
feete  an  der  Epiglottis ,  der  Umstand  sprechen,  dass  beim  Krebs 

schon  frühzeitig  eine  vollständige  Lähmung  der  erkrankten  Seite 

a2) 


üeber  Lnpna  d.  KeUkopfes,  d.  harten  n.  weichen  Ganmens  jl  d.  Pharynx.     ]  97 

erfolgt,  während  in  diesem  Falle  die  Beweglichkeit  der  kranken 
Theile  nichts  eingebüsst  hat. 

Taf.  in,  Fig.  b,  einen  Fall  von  Carcinom  der  linken  Glottis- 
hälfte darstellend,  soll  blos  znr  lUastration  der  von  mir  hervor- 
gehobenen AehnUchkeit  and  Differenz  zwischen  Krebs  und  Lnpns 
dienen.  Die  Schiefstellnng  der  Glottis  ist  durch  die  Paralyse  der 
linken  Hälfte  bedingt. 

Es  sind  nun  nahezu  zehn  Jahre,  dass  dieser  Fall  von  lupäser 
Erkrankung  des  Kehlkopfes  von  mir  diagnosticirt  wurde.  Der 
Larynxbefund  hat  seit  dieser  geraumen  Zeit  kaum  eine  Ver- 
änderung erlitten,  dafür  aber  wurde  der  harte  und  weiche  Gaumen, 
namentlich  aber  der  Pharynx  im  Laufe  der  Zeit  in  Mitleiden- 
schaft gezogen.  Es  sind  hier  gegenwärtig  dieselben  Bilder  nur 
etwas  massiger  zu  sehen,  wie  ich  sie  bei  dem  zehnjährigen 
Knaben  geschildert  habe.  Insbesondere  ist  der  Pharynx  von  einer 
geschwellten,  sulzigen,  dicht  und  gleichmässig  granulirten  Schleim- 
haut ausgekleidet. 

Auch  dieser  Fall  wird  gegenwärtig  mit  einer  80%  Milch- 
säurelösung und  allem  Anscheine  nach  mit  gutem  Erfolge  be- 
handelt. 


•H»^ 


(IS) 


X. 

ßartholiüisclie  Drüsen  mit  doppelten  Aus 

führungsgängen. 

Von 

Prof«  Eduard  Lang  in  Innsbruck. 

(Am  8.  März  1887  von  der  Eedaction  übernommen.) 

(Hierzu  Tafel  IV.) 


Die  in  Rede  stehenden  Drüsen  werden  bald  nach  Dnver- 
ney,  Bartholinns  oder  Cowper,  bald  nach  Tiedemann 
benannt.  Schon  hieraas  kann  man  entnehmen,  dass  sie  bei  den 
Anatomen  mannigfache  Schicksale  erfahren  haben. 

J.  Guichard  duVerney  (Duverney  1648 — 1730),  der 
die  Drüsen  zuerst  bei  der  Kuh  gefunden,  zeigte  sie  seinem  Freunde, 
dem  dänischen  Anatomen  Caspar  Bartholinus  (1655— 1733) 
was  dieser  in  seiner  „Diaphragmatis  Structura  nova^  ^)  mit  folgen- 
den Worten  dankend  anerkennt:  „Mihi  primus  mostravit  amicus 
Clarissimus  Josephus  du  Verney,  Regius  Parisiensium  Ana- 
tomicns  vere  industrius.^  Es  ist  begreiflich,  dass  die  Anatomen 
jener  Zeit  bei  dem  Mangel  an  menschlichen  Gadavem  sich  haupt- 
sächlich auf  Sectionen  von  Thieren  beschränken  mussten.  Erst 
später  bekam  GasparBarthoIinus  Gelegenheit,  bei  Obduction 


')  Daniel  Clericns  et  J.  Jacob.  Hangetns,  Bibliotheca  anatomica, 
1699,  T.  I,  pag.  828.  Genevae. 

(D 


200  Lang. 

eines  weiblichen  Cadayers  im  Erankenhanse  S.  Maria  nuova  zu 
Florenz  die  gleichen  Drüsen  zu  finden,  welche  von  Manchen 
wegen  der  analogen  Organe  beim  Manne  anch  mit  dem  Namen 
Cowper^s  belegt  wurden.  Nun  ist  aber  zu  bemerken,  dass  der 
Londoner  Arzt  und  Anatom  William  Cowper  (1666 — 1709) 
die  Drüsen  beim  Weibe  sogar  vergebens  gesucht  hatte.  „It  is  re- 
markable  we  d'ont  find  these  Glands  in  Females  like  those  in 
Males"  gesteht  er  selbst.^)  Den  nach  ihm  benannten  Drüsen  beim 
Manne  hat  er  zwar  eingehende  Untersuchungen  gewidmet,  die 
erste  Kenntniss  derselben  rührt  aber  beim  Menschen  von  J.  Mary 
und  bei  Thieren  von  Malpighi  her.*) 

Der  Sache  nach  blieben  jedoch  die  Bartholinischen 
Drüsen  bei  Zeitgenossen  und  Nachfolgern  sehr  wohl  gekannt,  bis 
auf  —  den  grossen  AlbertHaller,  der  sie  nicht  finden  konnte. 
,,Ego  vero  glandnlas  non  vidi  ....  neque  obscure  dubito,  an 
omnino  glandulae  verae,  certe  constantes,  adsint  . .  .^  erläutert 
er  in  Note  r)  seiner  Explicatio  zur  Tafel  Uterus.  *) 

Die  Anatomen  vernachlässigten  hierauf  die  Drüsen  fast  ganz, 
so  dass  derselben  in  vielen  verbreiteten  anatomischen  Lehrbüchern 
der  ersten  Decennien  unseres  Jahrhunderts  gar  nicht  oder  nur 
in  der  Auffassung  H alleres  gedacht  wird. 

Nicht  so  war  es  bei  den  Praktikern;  diese  schenkten  den 
Drüsen  wegen  mancher  nicht  zu  übersehenden  pathologischen  Ver- 
änderungen immer  wieder  ihre  Aufmerksamkeit.  In  den  Dreissiger- 
Jahren  unseres  Säculums  wurden  sie  klinischerseits  von  Guthrie 
studirt  und  hieran  anreihend  demonstrirte  Taylor  ihre  anato- 
mischen Verhältnisse.  Vollends  restituirt  wurden  sie  erst  durch 
eine  den  Gegenstand  behandelnde  Monographie  Friedrich 
Tiedemann's^),  der  auf  ein  eingehendes  Studium  derselben 
gleichfalls   erst  durch   die   Beobachtung   eines   Praktikers,   des 


^)  An  Acconnt  of  two  Glands  etc.  Philos.  Transact.  Tear  1699,  Vol.  21. 
—  Citirt  nach  Tiedemann. 

*)  L.  Hollstein,  Lelirb.  d.  Anat.  d.  Menschen.  Berlin  1860,  3.  Anfl., 
pag.  607. 

')  Icon.  anatom.  part.  corp.  hnm.  Göttingae  1745,  Fascic.  ü. 

^)  Von  den  Dnyerney'schen,  Bartholin'schen  oder  Oowper'schen 
Drüsen  des  Weibes  etc.  Heidelberg  nnd  Leipzig  1840. 

(2) 


Bartlioliuische  Drüsen  mit  doppelten  Ansfahrnngsgängen.  201 

Hamburger  Krankenhausdirectors  Dr.  Fr  icke,   hingeleitet  wor- 
den war. 

Das  ist  in  kurzen  Zügen  die  wechselvolle  Geschichte  der 
kleinen  Drtisen,  über  welche  seit  jener  Zeit  wichtigere  anatomische 
Bemerkungen  nicht  verzeichnet  wurden. 

Die  im  Jahre  1862  gemachte  Mittheilung  von  0.  A.  Martin 
und  H.  Leger  über  einen  doppelten  Ausführungsgang  der  Bar- 
tholinischen  Drüse  ist  nur  in  wenige  Lehrbücher  der  Anatomie 
übergegangen;  nach  dem  Referate  in  Canstatt's  Jahresb.  1862, 
IV,  pag.  278,  sind  die  Mündungen  beider  Ausführungsgänge  einen 
halben  Centimeter  von  einander  entfernt.  —  Bei  diesem  Anlasse  sei 
mir  jedoch  darauf  zu  verweisen  gestattet,  dass  schon  der  ge- 
nannte Barth  olinusAchnliches  gesehen  hat,  wie  aus  seinem  an 
Gulielmus  Riva,  Anatomen  in  Rom,  gerichteten  Briefe  „De 
ovariis  mulierum  et  generationis  Historia**  entnommen  werden 
muss.  Bei  Beschreibung  der  von  ihm  am  weiblichen  Cadaver  ge- 
fundenen Drüse  lieisst  es  nämlich:^)  „Presso  glandoso  hoc  cor- 
pore viscidus  et  pituitosus  exiit  humor,  ex  una  parte  unicum,  ex 
altera  duo,  forte  in  hoc  subjecto,  patuerunt  ostia." 

In  einem  Falle  bin  ich  in  die  Lage  gekommen,  doppelte 
Ausführungsgänge  der  Bartholinischen  Drüsen  beiderseits 
wahrzunehmen ,  deren  Ostien  einige  Centimeter  weit  auseinander 
gerückt  waren.  Abgesehen  von  dem  anatomischen  Interesse  hat 
der  Befund  wegen  des  gleichzeitig  bestandenen  venerischen  Catarrhs 
auch  für  den  Kliniker  seine  Bedeutung. 

Am  11.  August  1886  gelangte  ein  30  Jahre  altes,  kleines, 
massig  gut  genährtes  Mädchen  (aus  Bayern)  auf  meine  Klinik 
wegen  eitriger  Vaginitis,  Urethritis  und  Bartholinitis,  über  deren 
Vorgeschichte  sie  ebenso  wenig  etwas  zu  erzählen  wusste,  wie 
über  die  Herkunft  einiger  kleiner  auf  der  Brust  zerstreuter  Narben. 
Die  Behandlung  der  venerischen  Catarrhe  dauerte  bis  zum  18.  Sep- 
tember 1886,  an  welchem  Tage  die  Kranke  entlassen  wurde. 

Diese  Kranke  bot  folgenden  bemerkenswerthen  Genitalbefund 
dar.  Beim  Anblick  der  äusseren  Genitalien  in  der  Steinschnittlage 
schien  es,  als  wenn  ausser  den  grossen  Labien  beiderseits  je  zwei 


^)  Daniel  Clericns  et  J.  Jacob.  Mangetns,  1.  c.  pag.  677. 
Zlcd.  Jahrbücher.  1887.  j^y      (s) 


202  Lang. 

kleine  Labien  vorlägen;  es  zog  sich  nämlich  vom  oberen  Theile 
des  Praepntinm  clitoridis  nach  unten  gegen  die  Grenze  zwischen 
dem  unteren  und  mittleren  Drittel  der  Innenfläche  des  grossen 
Labium  eine  Falte,  die  in  ihrem  unteren  Abschnitte  mit  dem 
medialwärts  gelegenen  kleinen  Labium  zusammenfloss  und  letzterem 
fast  vollkommen  glich,  die  aber  beim  seitlichen  Anspannen  (wie 
in  der  Zeichnung  dargestellt)  nahezu  ganz  verstrich ;  auf  der  linken 
Seite  erschien  diese  Falte  viel  weniger  deutlich  ausgeprägt.  An 
der  Innenfläche  des  rechten,  grossen  Labium,  etwas  unter  der 
Mitte,  zwischen  diesem  und  der  geschilderten  Falte  sah  man  die 
Haut  gegen  eine  tiefer  liegende  Oeffnung  trichterförmig  eingezogen, 
aber  ohne  jede  narbige  Veränderung.  Spannte  man  die  Haut  an, 
so  sprang  ein  drehrunder,  spagatdicker  Wulst  in  die  Augen,  der 
sich  hart  anfühlte  und  bis  zur  Bartholini  sehen  Drüse  ver- 
folgen Hess.  Letztere  tastete  man  an  normaler  Stelle  als  mandel- 
grossen  traubigen  Körper.  Wurde  die  Dräse  zwischen  zwei  Fingern 
gedrückt  und  der  Druck  gegen  den  Wulst  und  die  beschriebene 
Oeffnung  streichend  fortgesetzt,  so  entquoll  letzterer  ein  trüber, 
schleimigeitriger  Tropfen;  somit  bestand  kein  Zweifel,  dass  hier 
ein  abnormer  Aus führungs gang  der  Bartholinischen 
Drüse  vorlag.  An  normaler  Stelle  befand  sich  überdies  der  ge- 
wöhnliche Ausführungsgang,  durch  den  man  Drüseninhalt  gleich- 
falls, aber  nicht  so  regelmässig  als  durch  den  abnormen,  entleeren 
konnte;  das  Secret,  mikroskopisch  untersucht,  bestand  aus  Eiter- 
Zellen  und  verschieden  geformten  Epithelien  mit  1 — 3  Kernen  und 
erwies  sich  gleich  zusammengesetzt,  wie  das  dem  abnormen  Aus- 
führungsgange entstammende.  Mit  einer  feinen  Sonde  drang  man 
in  dem  abnormen  Gange  2^/2  —3,  in  dem  normalen  etwa  ^U  Cm. 
weit  vor;  in  beide  Gänge  eingeführte  Sonden  stiessen  nicht  auf- 
einander, hingegen  kam  eine  gefärbte  Flüssigkeit 
(Kali  hypermanganicum) ,  die  durch  den  abnormen  Aus- 
führungsgang eingespritzt  wurde,  bei  dem  nor- 
malen Ausführungange  zum  Vorschein.  Es  muss  somit 
ein  Hauptausführungsgang  vorgelegen  haben,  der  sich  gabelte  und 
dann  an  normaler  und  an  abnormaler  Stelle  mündete. 

Während  auf  der  rechten  Seite  der  abnorme  Ausführungs- 
gang Jedem  auffallen  musste,  konnte  derselbe  auf  der  linken  Seite 

(4) 


Bartholinische  Drfisen  mit  doppelten  AneftUinmgsgängen.  203 

sehr  leicht  überaehen  werden.  Hier  fiel  beim  anfinerksamen 
Sachen  mit  den  Augen  keine  Andentnng  eines  abnormen  Ganges, 
noch  einer  Mündung  auf.  Die  Bartholinische  Drüse,  welche 
an  gewöhnlicher  Stelle  zu  fühlen  war  und  etwas  grösser  zu  sein 
schien  als  rechts,  liess  bei  Dmck  dnrch  die  normal  situirte  Mün- 
dung Secret  entleeren;  setzte  man  aber  den  Druck  streichend 
nach  oben  gegen  das  grosse  Labium  fort,  so  trat  an  analoger 
Stelle  wie  rechts  ein  trüber  Schleimtropfen  zum  Vorschein,  wo- 
durch man  erst  auf  den  abnormen  AusfÜhrungsgang  aufmerksam 
wurde.  Nun  gelang  es  auch  mit  einer  Sonde  in  den  abnormen 
Ansführungsgang  dieser  Seite  einzudringen,  der  sich  im  Uebrigen 
wie  rechts  verhielt,  nur  dass  er  enger  erschien.  Gleichzeitige 
Sondimng  beider  Gänge  liess  ein  Zusammenlaufen  derselben  nicht 
erkennen,  wohl  aber  war  dies  ebenso  wie  rechts 
durch  Injection  einer  gefärbten  Flüssigkeit  fest- 
zustellen. Auch  auf  der  linken  Seite  zeigte  sich  das  Secret 
aus  beiden  Mündungen  gleich  zusammengesetzt,  nur  enthielt  es 
weniger  Eiterkörperchen  als  rechts. 


-♦«h- 


17*     o) 


lieber  das  Yerhalten  der  flüchtigen  Fettsäuren 
im  Harn  des  gesunden  und  kranken  Menschen. 

Von 

Professor  Dr.  Prokop  Freih.  y.  Rokitansky. 

(Au  im  Laboratoriim  fOr  anuBwanittB  medic.  Cbamis  dar  k.  k.  Univeraltit  In  loiskruek.) 

(Am  18.  März  1887  von  der  Bedactlon  ftberaommen.) 


Das  Vorkommen  von  flüchtigen  Fettsäuren  im  Harn  gesunder 
und  kranker  Menschen  wurde  schon  seit  Beginn  dieses  Jahrhunderts 
von  zaUreichen  Forschem  constatirt.  In  jüngster  Zeit  hat  R. 
T.  J  a  k  s  c  h  ^)  Untersuchungen  über  das  qualitative  und  quantitative 
Verhalten  der  flüchtigen  Fettsäuren  im  Harn  von  einem  neuen 
Gresichtspunkte  ausgeführt.  B.  v.  Jak  seh  erhielt  nämlich  bei 
Einwirkung  oxydirender  Substanzen  (welcher,  ist  nicht  angegeben) 
anf  Eiweiss  eine  nicht  flüchtige  stickstofffreie  Säure  (mit  deren 
^weiterer  Untersuchung  v.  J  a  k  s  c  h  beschäftigt  ist),  die  bei  weiterer 
Oxydation  in  A  c  e  t  o  n  und  flüchtige  Fettsäuren,  vor  Allem  in  Essig- 
säure zerfällt.  Auf  Grund  dieser  Beobachtungen  stellte  v.  Jak  seh 
die  Hypothese  auf,  dass  das  bei  mannigfachen  pathologischen 
Zuständen,  am  häufigsten  aber  beim  Fieber  im  Harn  vorkommende 

')  üeber  das  Vorkommen  von  flttcht.  Fettsänren  im  Harn 
unter  physicl.  nnd  pathol.  Verhältnissen.  Tagbl.  der  58.  Ver- 
sammlnng  dentsch.  Naturforscher  and  Aerzte  in  Strassbnrg.  1885i 
pag.  233  nnd  Ueber  physiol.  und  pathol.  Lipacidurie.  Zeitschrift  f. 
phyaiol.  Chemie.  X.,  pag.  536. 

(1) 


206  Bokitansky. 

Aceton  yielleicht  ein  Prodact  des  EiweisBzerfalles  ist.  Diese 
Hypothese  wäre  nun  nach  demselben  gestützt,  wenn  bei  Pro- 
cessen, welche  mit  Vermehrung  der  Acetonausscheidung  einher- 
gehen, auch  eine  grössere  Menge  flüchtiger  Fettsäuren  im  Harne 
aufzufinden  wäre;  demnach  sollte  entsprechend  der  von  ihm  an- 
genommenen physiologischen  Acetonurie  auch  eine  physiologische 
Lipacidurie  und  entsprechend  der  pathologischen  Aceto- 
nurie eine  pathologische  Lipacidurie  nachweisbar  sein. 
Da  es  aber  möglich  wäre,  dass  das  stickstoffireie  Oxydationsproduct 
der  Eiweisskörper,  welches  nach  y.  Jaksch,  wie  oben  erwähnt, 
in  Aceton  und  flüchtige  Fettsäuren  zerlegt  wird,  im  gesunden 
Organismus  als  solches  mit  dem  Harn  ausgeschieden  wird,  so 
sollen  überdies  im  eiweissfreien  Harn  Substanzen  vorkommen, 
welche  bei  Einwirkung  oxydirender  Körper  Fettsäuren  liefern. 

Die  Untersuchungen  von  R.  y.  Jaksch  ergaben  nun,  dass 
der  normale  Harn  nur  Spuren  yon  Fettsäuren  bis  höchstens  0*008 
in  der  Tagesmenge  enthält,  u.  zw.  Ameisensäure  und  Essigsäure ; 
unter  pathologischen  Verhältnissen,  zumal  im  Fieber,  erfährt  die 
Menge  der  Fettsäuren  im  Harn  eine  Steigerung  bis  auf  006  Gramm 
in  der  Tagesmenge;  bei  Affectionen  der  Leber,  besonders  bei 
jenen,  welche  mit  Destruction  des  Leberparenchyms  einhergehen, 
wurden  in  der  Tagesmenge  bis  0*6  Gramm  Fettsäuren  gefunden. 
Demgemäss  stellte  y.  Jaksch  eine  febrile  und  eine  hepatogene 
Lipacidurie  auf. 

Da  nun  der  Nachweis  einer  Steigerung  der  Fettsäuren  bei 
bestimmten  krankhaften  Processen  beitragen  könnte,  unsere  Einsicht 
über  die  Art  und  den  Verlauf  derselben  zu  yermehren,  habe  ich 
es  unternommen,  nach  den  Bedingungen  zu  suchen,  welche  das 
Auftreten  der  im  Harne  yorkommenden  Fettsäuren  in  Bezug  auf 
ihre  Menge  und  auf  ihre  Qualität  beeinflussen. 

Um  jedoch  diese  Untersuchungen  mit  einigem  Erfolg  aus- 
führen zu  können,  hielt  ich  es  yor  Allem  wichtig,  eine  möglichst 
yoUkommene  Abscheidung  der  im  Harn  yorkommenden  Fettsäuren 
zu  erzielen. 

Vergleicht  man  nämlich  die  bisherigen  Angaben  über  die 
Menge  der  im  24stündigen  natiyen  Harn  auftretenden  Fettsäuren, 
so  findet  man  ganz  erhebliche  Unterschiede. 

(2) 


üeber  das  Verhalten  der  flüchtigen  Fettsäuren  im  Harn  etc.  207 

So  fand  £.  Salkowski^),  indem  er  in  35  Liter  Harn  mit 
Weinsäure  destillirte,  0*2230  Oramm  fettsaures  Barytsalz  mit 
einem  Gehalte  von  49-07o/o  Baryum,  also  0*1136  Gramm  freie 
Fettsäure,  d.  i.  ftir  den  Liter  Harn  0*0032  Gramm. 

Thudichum*)  fand  in  einem  Versuche,  bei  dem  er  den 
während  14  aufeinanderfolgenden  Tagen  entleerten  Harn  eines 
gesunden  Mannes  mit  Schwefelsäure  destillirte,  eine  tägliche  Menge 
von  0*288  Gramm  Essigsäure  und  circa  0*05  Gramm  Ameisen- 
säure. V.  Jak  seh,  der,  wie  später  gezeigt  wird,  mit  Phosphor- 
säure destillirte,  erhielt  aus  der  Tagesmenge  des  normalen  nativen 
Harnes  höchstens  0*008  Gramm,  während  ich  nach  dem  später 
zu  schildernden  Verfahren  beim  Destilliren  mit  Schwefelsäure  im 
Durchschnitt  von  zahlreichen  Beobachtungen  0*0545  freie  Fett- 
säuren für  1500  Gem.  Harn  erhielt. 

Die  wenigen  hier  angeführten  Daten  lassen  erkennen,  dass 
die  Resultate  der  einzelnen  Untersucher  in  Bezug  auf  die  M  e  n  g  e 
der  im  nativen  Harne  auftretenden  Fettsäuren  in  hohem  Grade 
von  einander  abweichen.  Da  nun  jeder  der  oben  erwähnten  Autoren 
eine  andere  Methode  der  Abscheidang  der  Fettsäuren  in  Anwendung 
nahm,  so  will  ich  zunächst  das  von  mir  zur  Abscheidung  der  Fett- 
säuren aus  dem  Harn,  nach  dem  Vorschlag  meines  hochverehrten 
CoUegen  W.  F.Loebisch,  geübte  Verfahren  schildern  und  mo- 
tiviren. 

Bei  organisch-chemischen  Untersuchungen  benützt  man  zur 
Abscheidung  der  flüchtigen  Fettsäuren  das  Destilliren  mit  Schwefel- 
säure. Geuther^)  versetzt  das  trockene  Natriumsalz  der  Fettsäuren 
mit  soviel  Schwefelsäure,  als  zur  Bildung  von  Natriumbisulfat  noth- 
wendig  ist.  v.  J  a  k  s  c  h  ^)  destillirte  den  Harn  mit  einer  Phosphor- 
säure von  1*275  Dichte,  von  welcher  er  5  Ccm.  auf  je  10  Ccm.  Harn 
zusetzte.  Er  vermied  die  vonSalkowski  angewendete  Weinsäure 
mit  der  Angabe,  dass  dies  eine  Substanz  sei,  die  relativ  leicht  und 
unter  den  verschiedensten  Bedingungen  Essigsäure  und  Ameisensäure 


0  Beiträge  zar  Chemie  des  Harnes.  Pflüger's  Archiv.  Bd.  2,  pag.  363. 
')  Ueber  Essigsäure,  Ameisensäure  etc.  ans  Henschenham.  Pfläger's  Archiv. 
Bd.  15,  pag.  20 

')  Annalen  d.  Chemie  n.  Pharmac.  Bd.  202,  pag.  291. 
*)  1.  c.  pag.  542. 

(8) 


208  Rokitansky. 

liefern  kann.  (Mit  Sicherheit  ist  die  Entstehung  von  Essigsäure 
und  Ameisensäure  aus  Weinsäure  nur  bei  der  trockenen  Destillation 
derselben  nachgewiesen,  bei  der  Spaltpilzgährung  von  weinsaurem 
Kalk  wurden  überdies  Propionsäure  und  Buttersäure  erhalten.) 

Die  Anwendung  der  Phosphorsäure  zum  Abjagen  der 
Fettsäuren  aus  dem  Harn  wurde  von  Neubauer  i)  mit  der  Mo- 
tivirung  empfohlen,  dass  im  Harn  bei  der  Behandlung  mit  Salzsäure 
namentlich  in  der  Kochhitze,  möglicherweise  „andere  Zersetzungen^ 
stattfinden  könnten.  Damit  wäre  nach  Neubauer  auch  die  An- 
wendung der  Schwefelsäure  ausgeschlossen. 

Jedoch  bei  dem  Stande  unserer  heutigen  Kenntnisse  von 
den  Bestandtheilen  des  Harns  dürfen  wir  fragen,  welche  organische 
Bestandtheile  des  Harnes  sind  es,  die  bei  Behandlung  mit  con- 
centrirter  Schwefelsäure  eine  oder  die  andere  der  flüchtigen  Fett- 
säuren abspalten  könnten? 

Hierbei  kämen  nur  die  von  E.  Baumann^)  als  normale 
Bestandtheile  des  Harnes  nachgewiesenen  aromatischen  Oxysäuren, 
die  Paraoxyphenylessigsäure  und  die  Paraoxyphenylpropionsäure 
(Hydroparacumarsäure)  in  Betracht.  Von  diesen  beiden  Säuren 
konnte  E.  Baumann  aus  240  Liter  Harn  4  Gramm  imreine 
Säure  isoliren,  also  O'0 16  Gr.  pro  Liter.  Berechnet  man  die  Menge 
der  Essigsäure  und  Propionsäure,  welche  durch  Zerlegung  dieser 
Säuren  durch  Kochen  mit  Schwefelsäure  möglicherweise  entstehen 
könnte  —  eine  derartige  Spaltung  aromatischer  Oxysäuren  ist  bis 
jetzt  noch  nicht  beobachtet  und  ist  entsprechend  der  Stabilität  dieser 
Verbindungen  in  sauren  Lösungen  auch  nicht  wahrscheinlich  — 
dann  erhält  man  0*007  Gramm  der  bezüglichen  Fettsäuren  pro 
Liter  Harn. 

Da  auch  experimentell  nicht  erwiesen  ist,  dass  auf  die  hier 
in  Betracht  kommenden  organischen  Hambestandtheile  Phosphor- 
fiäure  gelinder  einwirkt  als  äquivalente  Mengen  von  Schwefelsäure, 
so  wird  es  sich,  um  vergleichbare  Resultate  zu  erlangen,  weniger 
um  die  Qualität  der  Säure,  als  um  die  Menge  derselben  handeln. 

Es  muss  nämlich  in  Rücksicht  auf  die  durch  die  Einwirkung 
verdünnter  Mineralsäuren  bei  höherer  Temperatur  auf  Harnstoff 

')  Annalen  d.  Chemie  n.  Pharmac.  97  Bd.,  pag.  129. 
«)  Zeitschrift  f.  physiol.  Chemie.  4,  304. 
<4) 


üeber  das  Verhalten  der  flüchtigen  Fettsäuren  im  Harn  etc.  209 

bewirkte  Zerlegung  desselben  in  Kohlensänre  und  Ammoniak, 
bebufs  vollständigen  Abjagens  der  flüchtigen  Fettsäuren  soviel 
Schwefelsäure,  resp.  Phospborsäure,  zugesetzt  werden  (Salzsäure 
wendet  mau  aus  bekannten  Gründen  für  diese  Zwecke  nicht  gern 
an),  dass  selbst,  wenn  ein  Theil  der  Säure  durch  das  aus  dem 
Harnstoff  sich  abscheidende  Ammoniak  gesättigt  wird,  immer  noch 
freie  Mineralsäure  zur  Wirkung  kommen  kann. 

Wie  nämlich  schon  Lehmann  und  nach  ihm  viele  andere 
Beobachter  constatirt  haben,  wird  schon  beim  Abdampfen  des 
normalen  sauren  Harnes  der  Harnstoflf  in  Kohlensäure  und  Am- 
moniak zerlegt,  diese  Zersetzung  bewirkt  nach  Lehmann  das 
saure   phosphorsaure    Natron.     Hierbei    entsteht    phosphorsaures 

ONa 
Natron- Amraon  PO  ONa,  welches  jedoch  schon  bei  100<^  Ammoniak 

ONH; 

ONa 
abgibt   und    wieder   Dinatriumphosphat  PO  0  Na  bildet.    Durch 

OH 

diese  Umsetzung  ist  die  bekannte  Erscheinung  erklärt,  dass  beim 
Destilliren  des  nativen  Harnes  das  Destillat  ammoniakalisch  reagirt, 
während  der  Rückstand  sauer  ist.  Setzt  man  nun  dem  Harn  mehr 
Phosphorsäure  oder  Schwefelsäure  hinzu,  dann  wird  sich  wohl  kein 
phosphorsaures  Natron-Ammon  bilden,  sondern  das  Ammon  bleibt 
an  Säuren  gebunden  als  primäres  oder  secundäres  Ammonium- 
phosphat, respective  Sulfat.  In  einem  solchen  Falle  geht  kein 
Ammoniak  in's  Destillat  über,  sondern  es  entweicht  nur  die 
Kohlensäure,  wie  ich  mich  bei  den  Vorversuchen  zu  überzeugen 
die  Gelegenheit  hatte.  Wird  also  einem  Harn  behufs  Destillation 
der  flüchtigen  Fettsäuren  nicht  mehr  Schwefel-  oder  Phosphor- 
saure  zugesetzt,  als  gerade  hinreicht,  das  sich  aus  der  Zerlegung 
des  HamstofiB  entwickelnde  Ammoniak  zu  binden,  dann  tritt,  wie 
ich  mich  überzeugt  habe,  folgende  Erscheinung  auf:  Im  Anfange 
erhält  man  ein  Destillat  von  freien  Fettsäuren,  nach  kurzer  Zeit 
jedoch  geht  nur  Kohlensäure  über. 

Beendet  man  schon  jetzt,  wo  das  Lackmuspapier  vom  Destillate 
nur  vorübergehend  roth  wird  —  die  Erscheinung  kann  mehrere 
Stunden  dauern  —  die  Operation,  so  hat  man  noch  lange  nicht 
sämmtliche  flüchtige  Fettsäuren  aus  dem  Harne  abgeschieden,  man 

(5) 


210  Bokitansky. 

erhält  diese  erst,  wenn  man  dem  Harn  von  Neuem  Schwefelsaure 
oder  Phosphorsäure  zusetzt. 

Hieraus  folgt  aber,  dass  es  zur  Abscheidung  der  flüchtigen 
Fettsäuren  aus  dem  Harne  nicht  genügt,  nur  so  viel  Schwefel- 
oder Phosphorsäure  zuzusetzen,  welche  hinreichen  würde,  die  im 
nativen  Harn  vorkommenden  Basen  in  saure  Salze  umzuwandeln, 
sondern  es  muss  das  aus  der  Zerlegung  des  Harnstoffs  entstehende 
Ammoniak  ebenfalls  als  Base  (Ammoniumhydroxyd)  berechnet  und 
im  Harn  vorhanden  angenommen  werden  und  der  Säurezusatz, 
auf  Grund  der  in  dieser  Weise  enthaltenen  Summe  der  Basen 
zur  Ueberftihrung  derselben  in  saure  Salze,  erfolgen. 

Eine  Angabe  über  die  Menge  der  dem  Harn  behufs  De- 
stillation der  flüchtigen  Fettsäuren  zugesetzten  Säure  finde  ich  in 
der  reichen  Literatur  dieses  Gegenstandes  nur  bei  v.  Jaks  eh. 
Dieser  setzt  auf  je  100  Ccm.  Harn,  wie  schon  oben  erwähnt,  6  Ccm. 
einer  Phosphorsäure  vom  spec.  (Gewichte  1*276  (41*8procentige 
Fhosphorsäure)  zu. 

Berechnet  man  aber  nach  dem  oben  Ausgeführten  die  Summe 
der  Basen  im  Harn,  mit  Einschluss   des  aus  dem  Harnstoff  sich 
abspaltenden  Ammoniaks,   so   erhält   man  im  24stündigen  Harn 
1500  Ccm.  von   1*020  spec.    Gewicht  nach    der   Annahme   von 
30*0  Gramm  Harnstoff  entsprechend  35*0  Gramm  NH*  OH 
3-5       „       KjO  „  417      »        KOH 

6-5       „      NaaO  „  8-38      „       Na  OH 

0-2      „       CaO  „  0-26      „       Ca  (OH), 

0-3       „       MgO  „  0-43      ,        Mg  (OH), 

auf  NH4OH  berechnet  458  Gramm,  demnach  für  1 00  Ccm .  305  Gramm 
NH4  OH.  Nachdem  1  Molekül  Phosphorsäure  (98  Gramm)  3  Mo- 
leküle Ammoniumhydroxyd  (105  Gramm)  sättigt,  so  bedarf  es  allein 
zur  Sättigung  von  3-05  Gramm  NH^  OH  2*8  PO4  H3.  In  5  Ccm.  der 
Phosphorsäure  vom  spec.  Gewicht  1*275  sind  jedoch  nur  2'05  Gramm 
PO4H3  enthalten,  also  nicht  einmal  eine  genügende  Menge,  um 
sämmtliches  aus  der  Zerlegung  des  Harnstoffes  sich  entwickelnde 
NHs  zu  binden.  Man  wird  wohl  einwenden,  dass  sich  das  Ammonium- 
dinatrinmphosphat  bei  der  Kochhitze  dissociirt  und  das  Ammoniak 
ja  in  das  Destillat  übergeht.  Aber  gerade  der  letztere  Umstand 
soll  ja  vermieden  werden,  weil  sonst  das  Destillat  zu  einer 

(6) 


üeber  das  Yerhalten  der  fiflchtigen  Fettsäuren  im  Harn  etc.         211 

Zeit  nicht  mehr  sauer  reagirt,  wo  im  Rückstände 
noch  flüchtige  Fettsäuren  vorhanden  sind.  In  Folge 
dieses  Umstandes  wird  die  Destillation  zu  frühe  abgebrochen  und 
man  erhält  nicht  alle  flüchtigen  Fettsäuren,  welche  im  Harn  an 
Alkalien  gebunden  auftreten. 

Dieser  Uebelstand  kann  nur  vermieden  werden,  wenn  man 
dem  Harn  von  vorneherein  so  viel  Phosphorsäure  oder  Schwefel- 
säure zusetzt,  dass  das  aus  der  Zersetzung  des  Harnstoffs  sich 
entwickelnde  Ammoniak  im  Rückstande  als  Diammoniumphosphat, 
beziehungsweise  als  Ammoniumbisulfat  in  LQsung  bleibt. 

Demgemäss  sind  100  Ccm.  Harn  vor  dem  Destilliren  entweder 
rund  10  Ccm.  einer  Phosphorsäure  vom  spec.  .Gewicht  1*275  zu- 
zusetzen, oder  8*5  Gramm  SO*  Hj  gleich  17-3  Ccm.  einer  Schwefel- 
säure vom  spec.  Gewicht  1*386. 

Aus  einem  nach  diesen  Grundsätzen  angesäuerten  Reactions- 
gemiseh  werden  die  flüchtigen  Fettsäuren  sehr  bald  abgetrieben 
sein.  Ich  destillirte  so  lange,  bis  im  Destillate  das  Auftreten  von 
Salzsäure  nachweisbar  wurde,  auch  habe  ich  mich  überzeugt, 
dass  die  quantitative  Ausbeute  an  flüchtigen  Fettsäuren  die  gleiche 
blieb,  ob  der  Harn  direct  destillirt  oder  die  Destillation  mit  Hilfe 
von  Wasserdampf  ausgeführt  wurde. 

Zum  Nachweis  und  zur  Bestimmung  der  Fettsäuren  wurde 
das  Destillat  mit  Natriumcarbonat  neutralisirt  auf  dem  Wasserbade 
zur  Trockne  verdampft  und  der  Rückstand  mit  absolutem  Alkohol 
vollständig  erschöpft.  Nach  dem  Verjagen  des  Alkohols  bleibt 
ein  weissgelblicher  Rückstand,  bestehend  aus  den  Natronsalzen 
der  flüchtigen  Fettsäuren  und  der  Benzoesäure,  femer  aus  Spuren 
von  Pfuracresol  —  möglicherweise  auch  Phenolnatrium.  Von  den 
flüchtigen  Fettsäuren  Hessen  sich  Ameisensäure,  Essigsäure  und 
Buttersäure  in  bekannter  Weise  nachweisen. 

Zur  Bestimmung  der  Menge  der  flüchtigen  Fettsäuren  ist 
zunächst  eine  Trennung  derselben  von  der  Benzoesäure  nothwendig. 

Während  in  den  Destillaten,  die  ich  erhielt,  Benzoesäure 
niemals  fehlte,  scheint  diese  bei  v.  Jak  seh  nicht  immer  erhalten 
worden  zu  sein.  Ich  schliesse  dies  daraus,  weil  v.  Jaksch  zur 
Gewinnung  der  fettsauren  Salze  in  zur  analytischen  Bestimmung 
genügend  reiner  Form  verschiedene  Verfahren  angibt,  je  nachdem 

(7) 


212  Rokitansky. 

in  das  Destillat  Benzoesäure  übergegangen  war  oder  nicht.  In 
letzterem  Falle  wurde  die  concentrirte  alkoholische  Lösung  der 
Natronsalze  noch  heiss  mit  Aether  gefällt  und  der  sich  hierbei 
ausscheidende  krystallinische  Niederschlag,  eventuell  nach  wieder- 
holtem Lösen  und  Fällen,  ergab  die  Natronsalze  der  Fettsäuren. 

War  beim  Destilliren  Benzoesäure  übergegangen,  dann  ver- 
setzte V.  J  a  k  8  c  h  die  concentrirte  Lösung  des  Natronsalzgemisches 
mit  Phosphorsäure,  filtrirte  von  dem  aus  Benzoesäure  bestehenden 
Niederschlag  ab,  aus  dem  Filtrate  wurden  nun  nach  Neutralisation 
mit  Natriumcarbonat  und  Extrahiren  des  getrockneten  Rückstandes 
mit  absolutem  Alkohol  die  Natronsalze  der  flüchtigen  Fettsäuren 
erhalten. 

Ich  überzeugte  mich  durch  quantitative  Versuche,  dass  die 
Abscheidung  der  Benzoesäure  aus  dem  fraglichen  Salzgemenge 
eine  möglichst  vollkommene  ist.  Ich  versetzte  die  auf  0^  abge- 
kühlte concentrirte  Lösung  des  Salzgemenges  mit  verdünnter 
Schwefelsäure  so  lange^  als  bei  tropfenweisem  Zusatz  noch  ein 
Niederschlag  entstand.  Hierauf  wurde  von  der  abgeschiedenen 
Benzoesäure  abfiltrirt,  mit  eiskaltem  Wasser  nachgewaschen  und 
das  Filtrat  wieder  in  die  Kälte  gestellt,  wobei  wegen  der  Schwer- 
löslichkeit der  Benzoösäure  in  kaltem  Wasser  dieselbe  sich  bis 
auf  Spuren  ausscheidet.  Die  durch  Schwefelsäure  abgeschiedene 
unlösliche  Säure  in  das  Natronsalz  übergeführt,  ergab  ein  Salz, 
welches,  bei  110®  C.  bis  zum  constanten  Gewicht  getrocknet, 
IG'S^lo  Natrium  enthielt,  während  benzoesaures  Natrium  (C7  Hg  Na  Oj 
wasserfrei)  15'95  Na  verlangt. 

O'UO  Orm.  des  fraglichen  Sabses  ergab  0*058  Katriumsnlfat,  entsprechend 
0-0187  Natrium  =  16  37o  Na. 

Die  in  Lösung  gebliebenen  Fettsäuren  ergaben,  in  das 
Natronsalz  übergeführt,  ein  fettsaures  Salz  mit  28'0®/o  Natrium 
(essigsaures  Natron  verlangt  28*04%  Natrium). 

1*365  Crrm.  fettsanres  Katron  lieferte  1'182  Katrinmanlfat,  entsprechend 
0-3828  Natrinm  =  2807o. 

Um  nun  die  Menge  der  im  normalen  nativen  Harn  aus- 
geschiedenen Fettsäuren  zu  bestimmen,  destiUirte  ich  9  Liter 
Harn  von  Individuen  meiner  Klinik,  welche  bei  ganzer  Kost  und 
gemischter  Nahrung  völlig  fieberfrei  waren.  Diesen  wurde  drei 
Tage  vor  Entnahme  des  Versuehshams  auch  der  Wein  entzogen. 

(8) 


üeber  das  Yerhalten  der  flüditigen  Fettsänren   im  Harn  etc.         213 

Aus  dem  Destillate  des  in  der  von  mir  angegebenen  Weise  an- 
gesäuerten Harns  erhielt  ich  0*4548  Grm.  fettsaures  Natron.  Zur 
Bestimmung  der  Qualität  der  Fettsäuren  aus  dem  Natriumgehalt 
wurde  das  Salz  in  neutrales  Natriumsulfat  tibergeführt.  Ich  erhielt 
0-3986  Grm.  SO4  Na,  entsprechend  0-1292  Na  =  :?8-4*/o  Natrium. 
Auf  die  tägliche  Hammenge  von  1500  Ccm.  berechnet  sich  hieraus 
fettsaures  Natronsalz  00760  Gr.  mit  28-4®/o  Natrium,  entsprechend 
0'0545  Gr.  freie  Fettsäuren  in  der  l?48tlindigen  Harnmenge,  demnach 
beinahe  eine  siebenmal  so  grosse  Menge,  als  v.  Jak  seh ,  welcher, 
wie  schon  oben  erwähnt,  im  24stündigen  nativen  Harn  nur  Spuren 
von  Fettsäure  0'008  Gr.  fand.  Nach  den  obigen  Ausführungen, 
s.  pag.  5,  möchte  ich  die  bedeutende  Differenz  in  unserem  Resultate 
darauf  zurückfiihren,  dass  der  Znsatz  von  5  Ccm.  Phosphorsäure 
vom  spec.  Gew.  1*275  für  100  Ccm.  Harn  vor  dem  Distilliren 
des  Harns,  wie  ihn  v.  J  a  k  s  c  h  übte,  nicht  hinreicht,  um  sämmt- 
liche  flüchtige  Fettsäuren  desselben  abzutreiben.  Die  Zusammen- 
setzung des  von  mir  gewonnenen  fettsauren  Salzes  mit  28*4°;o 
Natrium  zeigt,  dass  dasselbe  hauptsächlich  aus  Essigsäure  neben 
minimalen  Spuren  von  Ameisensäure  bestand,  während  v.  Jaksch 
in  einem  Falle  ein  fettsaures  Salz  mit  30'Ö4°/o  Na  hatte,  welches 
demgemäss  hauptsächlich  aus  Ameisensäure  bestand  (Ameisensäure 
verlangt  33'82®/o  Na)  und  ein  anderes  Mal  ein  fettsaures  Salz  mit 
27'73®/o  Na,  welches  möglicherweise  nur  ein  essigsaures  Salz  war. 

Noch  mit  der  Fortführung  der  Untersuchung  beschäftigt, 
möchte  ich  ftlr  diesmal  nur  über  einige  bisherige  Ergebnisse  der- 
selben berichten.  Als  das  wichtigste  Resultat  der  bezüglichen 
Untersuchungen  v.  Jaksch's  muss  wohl  das  Constatiren  einer 
febrilen  Lipacidurie  angesehen  werden. 

V.  Jaksch  findet  bei  Fiebernden  die  relativ  bedeutende 
Menge  von  0*06— 0*1  Grm.  Fettsäuren  im  24sttindigen  Harn.  Da 
diese  Menge  immerhin  grösser  ist  als  diejenige,  welche  ich  in 
der  Tagesmenge  des  normalen  Harns  fand,  so  habe  ich  zunächst 
bei  mehreren  fiebernden  Kranken  die  Menge  der  im  Harn  auf- 
tretenden Fettsäuren  bestimmt.  In  allen  Fällen  wurde  der  Harn 
der  fiebernden  Kranken,  denen  der  Wein,  wie  oben  erwähnt, 
entzogen  war,  von  drei  Tagen  gesammelt,  um  grössere  Ham- 
mengen in  Arbeit  nehmen  zu  können. 

(9) 


214 


Rokitansky.. 


S.S 

1  ^ 
SS 


3  IS 


I 


n 


S&3 

I 


lll 


1.  Plithisis  pnlm.  chron.  25jähr. 
Mann.  Process  seit  angeblich  6  Mo- 
naten. Ganze  Portion 

2.Plitliisi8  pnlm.  chron.  23jähr. 
Mann.  Seit  beiläufig  5  Wochen  Ab- 
magenmg  nnd  zeitweilige  Schweisse. 
Appetit  wechselnd 

3.  Pnenmopyothorax.  4Qjähriger 
Mann.  Angeblich  seit  mehreren  Jahren 
kränklich,  öfters  Blothnsten.  Seit 
4  Wochen  rapide  Abmagerung.  Man- 
gelhafte Appetenz 

4.Cronpöse  Pneumonie  links 
unten.  21jähr.  Mann.  Seit  3  Tagen 
krank.  Massige  Continua  ..... 

5.  Croupöse  Pneumonie.  20jähr. 
Mann.  Seit  2  Tagen  krank.  Aus- 
gedehntes Infiltrat 

e.Typh.  ab  dorn.  23Jähr.  Mädchen. 
21.— 23.  Tag  der  Erkrankung.  Febr. 
remittens 


37-6- 38-4 


37-39 


387— 39-4 


38-7--39-6 


39-5-40 


38-5— 39-6 


2750 

1022 

0-4272 

4200 

1022 

0-2536 

2780 

1019 

0-2608 

1815 

1023 

0-512 

2180 

1030 

2-1088 

2060 

1020 

0-2728 

01424 


00S45 


0-0869 


0-1707 


0.7029 


00909 


Die  obenstehende  Tabelle  gibt  eine  Uebersicht  der 
Resultate.  So  gering  anch  die  Anzahl  der  Fälle  ist,  welche  ich 
zn  Grande  legen  konnte,  so  sind  doch  andererseits  gerade  in  Be- 
ziehung auf  das  Verhältniss  der  Menge,  in  welcher  die  Fettsäuren 
beim  Fieber  auftreten,  die  Ergebnisse  so  eindeutig,  dass  eine  Ver- 
werthung  derselben  wohl  zulässig  ist. 

Es  zeigt  sich  nämlich,  dass  thatsächlich  im  Falle  5,  croupöse 
Pneumonie,  in  welchem  das  Fieber  die  beträchtlichsten  Grade 
erreichte,  die  Menge  der  Fettsäureausscheidung  die  höchsten 
Werthe  erreichte,  nämlich  0*7029  Gr.  fettsaures  Natron  pr  o  di  e,  bei 
Annahme  eines  Natriumgehaltes  von  rund  28%  (siehe  später) 
entsprechend,  0*506 1  freie  Fettsäure,  also  eine  tagliche 
Menge,  wie  sie  v.  J  a  k  s  c  h  nur  bei  der  hepatogenen  Lipacidurie  0 


')  1.  c.  pag.  555. 


(10) 


Ueber  das  Yerlialten  der  flüchtigen  Fettsäuren  im  Harn  etc.  215 

gefunden  hat.  Es  ist  daher  nicht  überflüssig,  hervorzuheben,  dass 
in  diesem  Falle  von  Pneumonie  eine  Affection  der  Leber  nicht 
bestand.  In  einem  Falle  von  croupöser  Pneumonie  (4),  bei  welchem 
das  Fieber  geringer  war,  war  auch  die  Zunahme  der  Fettsäure- 
ausscheidung gegenüber  der  normalen  eine  geringere.  Sie  betrug 
jedoch  mit  0*1228  6r.  freie  Fettsäure  für  den  Tag  mehr  als  in  allen 
jenen  Fällen  der  Tabelle,  in  denen  das  Fieber  keinen  so  hohen 
Grad  erreicht  hat. 

Von  den  Fällen  1,  2,  3  sehen  wir  wieder  bei  dem  stärker 
Fiebernden,  also  bei  Fall  1,  Phthisis  pulm.,  eine  grössere  Menge 
der  fettsauren  Salze.  Andererseits  im  Falle  6  bei  einem  Fall  von 
Typhus  vom  21. — 23.  Tage  der  Krankheit  ebenfalls  nicht  mehr 
fettsaure  Salze  als  in  den  Fällen  2,  3  (Phthisis  pulm.  u.  Pneumo- 
pyothorax). 

Zwei  Bestimmungen  des  Natriumgehaltes  des  aus  dem  Harn 
von  Fiebernden  gewonnenen  Natronsalzes  der  flüchtigen  Fett- 
säuren ergaben  mir  in  dem  ersten  Falle  28*2%  Na,  in  dem 
anderen  Falle  28-35o/o  Na. 

a)  0*326  örm.  fettsaures  Natron  ergaben  0-2337  Grm.  SO»  Na,  =  0*09193  Na 
=  28*2Vo  (Essigsaares  Natron  verlangt  28-047o  Na). 

b)  0*2535  Grm.  fettsaures  Natron  ergaben 022 18  Grm. SO^ Na  =  0-07186 Na 
=  28-35Vo. 

Da  nun,  wie  bekannt,  das  Aceton  sehr  leicht  zu  Essigsäure 
und  Ameisensäure,  beziehungsweise  letztere  wieder  zu  GO2  oxydirt 
wird,  auch  die  qualitative  Analyse  der  aus  dem  Fieberharn  ge- 
wonnenen Salze  der  flüchtigen  Fettsäuren  hauptsächlich  Essigsäure 
neben  Spuren  von  Ameisensäure  erkennen  liess,  so  könnte  man 
wohl  annehmen,  dass  auch  die  Qualität  der  während  des  Fiebers 
in  grösserer  Menge  auftretenden  flüchtigen  Fettsäuren  für  die  An- 
nahme von  Jak  seh  spricht,  dass  eine  febrile  Lipacidurie  eine 
Folge  der  febrilen  Acetonurie  sein  könnte.  Nichtsdestoweniger  ist 
der  Zusammenhang  beider  Erscheinungen  noch  nicht  sicher  fest- 
gestellt. 

Es  bilden  sich,  wie  bekannt,  Essigsäure  und  Ameisensäure 
neben  Buttersäure  und  Milchsäure  bei  den  Fäulnissprocessen  der 
Kohlehydrate  im  Dünndarm  und  Dickdarm,  von  diesen  Säuren 
werden  die  Milchsäure  und  Ameisensäure  sehr  leicht  weiter  zer- 
legt,  die  Buttersäure  zerfällt   in  Essigsäure  und  00^,   von  der 

(u) 


216  Rokitansky. 

Essigsäare  ist  es  bekannt,  dass  die  Spaltung  derselben 
in  CO2  nnd  CH4  sehr  langsam  stattfindet.  1)  Wenn  wir 
daher  bei  Fiebernden  eine  grossere  Menge  von  Essigsäure  im 
Harn  vorfinden,  so  ist  noch  immer  nicht  damit  bewiesen,  dass 
sie  ein  Zerfallsproduct  des  Acetons  und  damit  nach  v.  J  a  k  s  c  h 
des  Eiweisszerfalles  ist,  sie  könnte  auch  als  Zerfallsproduct  der 
Kohlehydrate  im  Darmcanal  zur  Resorption  und  mit  dem  Harn 
zur  Ansscheidung  gelangen.  Man  könnte  sich  ja  vorstellen,  dass 
während  des  Fiebers  durch  das  längere  Liegenbleiben  der  Darm- 
contenta  Gelegenheit  zur  Resorption  der  Fettsäuren  geboten  wird. 
Die  grössere  Menge  der  Fettsäuren  bei  hohen  Fiebertemperaturen 
könnte  man  damit  in  Zusammenhang  bringen,  dass  diese  hohen 
Temperaturen  zu  einer  Zeit  auftreten,  wo  noch  Darmcontenta 
aus  der  präfebrilen  Periode  vorhanden  sind. 

(Ein  Gegenbeweis  für  diese  Ansicht  wäre  erst  dann  geliefert, 
wenn  es  gelänge,  bei  Solchen,  die  längere  Zeit  gefiebert  haben, 
oder  nach  vorheriger  Entleerung  des  Darmes  bei  hungernden 
Fiebernden  ebenfalls  eine  bedeutende  Steigerung  der  Fettsäure- 
ausscheidung nachzuweisen.  Einen  Versuch  in  dieser  Richtung 
werde  ich,  sobald  sich  hierzu  Gelegenheit  bietet,  ausführen.) 

Hat  man  ja  auch  früher  das  vermehrte  Auftreten  der  indigo- 
bildenden Substanz  im  Harn  bei  Fieber  und  bei  vielen  anderen 
Krankheiten  auf  den  vermehrten  Zerfall  von  Eiweiss  zurückführen 
wollen,  bis  Jaff^^)  zeigte,  dass  deren  Ausscheidungsmenge  mit 
der  Durchgängigkeit  des  Darmrohres  und  der  Möglichkeit  der 
Fortbewegung  der  Contenta  in  denselben  zusammenhänge.  Dass 
selbst  V.  Jak  seh  den  Einfiuss  der  Resorption  im  Darmcanal  auf 
die  Menge  der  im  Harn  auftretenden  Fettsauren  anerkennt,  ergibt 
sich  aus  der  Angabe  desselben  8),  dass  „die  Ausscheidung  der  Fett- 
säuren unter  physiologischen  Verhältnissen  sehr  wesentlichen  Schwan- 
kungen unterliegt  und,  wie  es  scheint,  abhängig  ist  von  der  Nahrung". 
Wie  schon  oben  ei'wähnt,  bildet  eine  Quelle  der  Entstehung  der 
Fettsäuren  im  Darme  die  nach  Einfuhr  von  Kohlehydraten  da- 
selbst verlaufende  Buttersäuregährung. 

*)  Hoppe-Seyler,  Physiolog.  Chemie.    I.  Th.  Allg.  Biologie,  pag.  125. 
')  Berichte  der  deutschen  ehem.  Gesellschaft.  12,  pag.  1ü98  n.  119^. 
')  Zeitschrift  f.  phys.  Chemie.  10   Bd.,  pag.  547. 

(12) 


Ueber  das  Verhalten  der  flüchtigen  FettBilnren  im  Harn  etc.  217 

Es  war  daher  von  Interesse,  nachzaseben ,  wie  sieb  naeb 
Einführ  einer  Kost  (bei  Entziehung  von  Wein),  die  ansser  Suppe 
ausschliesslich  aus  Mehlspeisen  besteht,  die  Menge  der  Fettsäuren 
in  dem  in  der  dieser  Nahrungsweise  entsprechenden  Zeit  aus- 
geschiedenen Harn  verhält.  Ich  habe  für  den  Versuch  zwei  völlig 
normale  Individuen  im  Alter  von  25  und  26  Jahren,  die  in 
landesüblicher  Weise  an  Meblnahrung  gewöhnt  waren,  ausgewählt 
und  erhielt  dabei  folgendes  Resultat : 


Dreitägifce 
Hammenge 

Speo.  Gew. 

Oeaammt- 
menge  des  fett- 
sauren  Natron 

Fettsanres 
Natron  inro  Tag 

* 

PaU  I 

,    " 

5700 
6400 

1017 
1017 

1-252 
1-217 

0417 
0-406 

Hieraus  ergibt  sich  zunächst,  dass  auch  durch  eine  Ver- 
abreichung von  Amylaceis  die  Menge  der  ausgeschiedenen  Fett- 
säuren gesteigert  wird,  was  ja  mit  der  obigen  Bemerkung 
v.  Jaksch's  keineswegs  in  Widerspruch  ist.  Viel  interessanter 
scheint  mir  aber  die  Zusanmiensetzung  der  dabei  erhaltenen  fett- 
sauren Salze.  Es  zeigte  nämlich  schon  die  qualitative  Analyse 
derselben  auf  einen  grösseren  Gehalt  an  Buttersäure  hin.  Beim 
Versetzen  der  concentrirten  wässerigen  Lösung  des  Natronsalzes 
mit  englischer  Schwefelsäure  war  der  Geruch  nach  Buttersäure 
deutlich ;  nachdem  das  Reactionsgemisch  einige  Zeit  lang  gestanden 
war,  schieden  sich  ölige  Tropfen  ab,  die,  mit  Filtrirpapier  auf- 
gesaugt, nach  Buttersäure  rochen,  auch  beim  Trocknen  des  Salzes 
für  die  nachstehende  Natronbestimmung  im  Luftbade  war  der 
Geruch  nach  Buttersäure  deutlich.  (Bekanntlich  gibt  buttersaures 
Natron  schon  im  Vacuum  über  Schwefelsäure  Spuren  von  Butter- 
säure ab.) 

Die  Bestimmung  des  Natriumgehaltes  der  fettsauren  Salze 
ergab  denn  auch  diesmal  Zahlen,  welche  auf  das  Vorhandensein 
grosser  Mengen  von  Buttersäure  neben  Essigsäure  in  diesen 
Salzen  hindeuten.  Ein  Gemenge  von  1  Molekül  buttersaurem 
Natron  und  1  Molekül  essigsaurem  Natron  enthält  24*1%  Na. 

Fall  I.  0*3083  Grm.  fettsanres  Natron  ergaben  0*2352  SO^Ka,,  ent- 
sprechend 0*07619  Na  =  24*7%  Na. 

Fall  II.  0-2790  Grm.  fettsanres  Natron  ergaben  0*2084  SO^Na,,  ent- 
sprechend 0*06752  Na  =  24'27o  Na. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  2g     ..^v 


218     Bokitansky.  lieber  das  Veriialten  der  flächtigen  Fettsäuren  etc. 

Das  Ergebniss  dieser  beiden  Versuche  führt  nun  dahin, 
bei  der  Annahme  einer  febrilen  Lipaeidurie  nicht  nur  die  Menge 
der  im  Harn  erscheinenden  Fettsäuren  zu  berücksichtigen,  sondern 
auch  die  Qualität  derselben.  Ich  werde  demgemäss  bei  den 
weiteren  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  mein  Augen- 
merk darauf  richten,  ob  in  allen  Fällen  der  febrilen  Lipaeidurie 
nur  allein  oder  hauptsächlich  die  Ausscheidung  der  Essigsäure 
gesteigert  ist.  Sollte  sich  dieses  Resultat  ergeben,  so  wäre  da- 
durch ftir  das  Auftreten  einer  febrilen  Lipaeidurie  eine  neue 
Stütze  gewonnen,  wobei  jedoch  das  von  mir  oben  hervorgehobene 
Moment,  den  Urin  von  Fiebernden  nach  vorheriger  Entleerung 
des  Darmes  zu  sammeln^  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden  darf. 

Nur  in  Kürze  möchte  ich  noch  erwähnen,  dass  auch  bei 
zahlreichen  Versuchen,  in  denen  ich  die  Ausscheidung  der  Fett- 
säuren bei  Individuen  mit  pleuritischen  Ergüssen,  bei  denen  ich 
zur  Resorption  des  Exsudates  Chlornatrium  in  der  Tagesmenge 
von  5 — 6  Grm.  und  Beschränkung  der  Flüssigkeitszufuhr  ver- 
ordnete, mit  der  vermehrten  Harnausscheidung  auch  eine  Zunahme 
der  fettsauren  Salze  bis  auf  0*505  in  der  täglichen  Menge  von 
2750  Ccm.  Harn  beobachtete.  Bei  diesen  Individuen,  welche 
übrigens  gemischte  Kost  genossen,  ergab  die  Analyse  des  fett- 
sauren Salzes  einen  Natriumgehalt  von  22-95'>/o,  wonach  das  Salz 
in  diesem  Falle,  wo  man  eine  künstliche  gesteigerte  Resorption 
auch  aus  dem  Darme  annehmen  dari,  allerdings  noch  mehr 
Buttersäure  enthielt,  als  das  aus  dem  Harn  der  mit  Amylaceis 
genährten  Individuen  gewonnene  Salz. 

Ich  glaubte  diese  Ergebnisse  aus  der  Untersuchung  von 
mehr  als  50  Hamen  verschiedener  Individuen  mittheilen  zu  sollen. 
Weitere  Untersuchungen  mögen  dann  beitragen,  die  bisherigen 
Befunde  zu  bestätigen  oder  neue  Gesichtspunkte  in  dieser  Frage 
zu  eröffnen. 


>m^ 


Drnck  Ton  QotUieb  Oistel  k  Comp,  in  Wien. 
(14) 


Ifienn-mediiiJi.Jälirbudwr.JahriaiiS  1881 


Itrlsj  m  Alfred  Holder  k  V  f..i-';'i!-f^ir:ii;  fci:c^-ä^i^:l^  *'^f. 


lerlsgvin  Alfred  Holder  k  kUcf-a  l)^m^sll^!J■S^;c^h3^Jl 


ffinuTinrduiiLJahrtMclirT.Jahi^^  IW 


Üig:  b(1li«lin'sd>c  OrÜien.  Li^  Af«  i  t  r^'  m . 

Ytriig  tgi  Alfrtd  Holder  k.k.llDf-a.Uninrsilili-BuchtijidbiiiliM. 


XII. 

Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres:  die  mor- 
phologische Bedeutung  der  Gehörknöchelchen. 

Von 

Dr.  0.  Oradenlgo  aas  Padna. 

(Fortsetzniig.) 

(Aus  dem  Laboratorium  des  Fror.  Schenk  In  Wien.) 

(Im  October  1886  von  der  Redaction  übernommen.) 

(Hiezn  Tafel  V  Ua  IX.) 


II.  Abtheilung. 
Die  Lehre  der  Entwioklniig  des  Ifittelohres. 

Die  Entwickluiig  der  Skeletelemente  des  Olires  im  AUgemeinen 

betrachtet. 

Wenn  wir  auf  Grand  des  Stadinms  der  histologischen  Vor- 
gänge, die  sich  an  die  Entwicklang  der  einzelnen  Elemente  des 
Mittelohres  knüpfen ,  Folgerangen  allgemeiner  Natar  anzastellen 
versachen,  sind  wir  in  der  Lage  einige  Lücken  anszufdllen  and 
einige  Fragen  zu  lösen,  denen  man  noch  in  der  Lehre  über  die 
Entwicklang  des  primordialen  Skeletes  begegnet.  Die  Wichtigkeit 
der  Schlüsse,  welche  wir  daraas  ziehen  können,  steht  zar  Thatsache 
derart  in  Beziehang,  dass  die  Skeletelemente  des  Mittelohres  ans 
ein  Material  bieten,  welches  in  seltener  Weise  sich  zu  dieser 
Art  Stadiam  eignet.  Die  geringen  Dimensionen  erleichtern  die 
genane  mikroskopische  Beobachtung  der  einzelnen  Theile;  die 
Gomplication  der  topographischen  Verhältnisse,  die  Mannigfaltig- 

Med.  Jahrbüolier.  1887.  19    (61) 


220  Gradenigo. 

keit  der  dazu  gehörigen  Gebilde  (Gelenke,  Muskeln)  gestatten,  in 
vollkommenster  Weise  die  nebensächlichen  Vorgänge  in  ihren 
Details  zu  studiren;  die  morphologische  Bedeutung,  welche  den 
proximalen  Enden  zweier  Eiemenbogen  und  einer  Sinneskapsel 
gebührt,  setzt  uns  endlich  in  die  Lage,  auch  bei  höheren  Säuge- 
thieren  und  bei  Menschen  die  Veränderungen  zu  verfolgen,  welche 
allmälig  der  primordiale  Skelettypus,  um  sich  der  höheren  Orga- 
nisation der  Säugethiere  anzupassen,  eingeht. 

Ich  halte  es  für  geeignet,  zu  besserer  Klarheit  der  Darstel- 
lung, zwei  Hauptperioden  in  der  Entwicklung  der  Skeletelemente 
zu  unterscheiden,  nämlich: 

I.  Die  vorknorpeligen  Skeletelemente  (entspricht  dem  I.  und 
II.  Stadium:  Eatzenembryonen  12  und  15 Mm.  Länge). 

II.  Die  knorpeligen  Skeletelemente  (entspricht  dem  III.  und 
rV.  Stadium :  Katzenembryonen  2  Cm.  und  menschliche  Embryonen 
4  Cm.  Länge). 

Ich  will  gleich  ausdrücklich  betonen,  dass  einer  solchen  Unter- 
scheidung nur  eine  theoretische  Bedeutung  zukommt :  in  der  That 
gehen  die  zwei  Perioden  allmälig  in  einander  über,  und  es  ist 
oft  kaum  möglich  zu  bestimmen,  ob  ein  gewisses  Gewebe  als 
Knorpel  oder  nicht  angesehen  werden  darf. 

A. Vorknorpelige  Skeletelemente. 

Die  meisten  Autoren ,  welche  die  embryonale  Entwicklung 
des  primordialen  Skelettes  beschrieben  haben,  erwähnen  aus- 
drücklich eine,  von  einfachen  Zellenanhäufungen  dargestellte,  vor- 
knorpelige Anlage. 

Was  das  Mittelohr  betrifft,  hatte  schon  Reichert^)  diese  An- 
lage genau  beschriebeu  (pag.  167): 

„Zur  Zeit,  als  die  Kiemenspalten  scheu  geschlossen  sind,  kann 
man  eine  knorpelartige,  ziemb'ch  consistente  Masse  herauspräpariren, 
welche  in  den  runden  Knochen  als  der  Vorgänger  der  Knorpeibildung 
zu  betrachten  ist.  Sie  ist  von  den  Umgebungen  noch  nicht  bestimmt 
abgegrenzt,  und  so  noch  zu  kleineren  Formveränderungen  geeignet. 
Man  verfolgt  diese  härtere ,  knorpelartige  Substanz  in  der  Richtung 
und  Lage  der  Visceralbogen  selbst,  und  nur  in  der  vorderen  und 
oberen  Abtheilung  der  ersteren  geht  sie  in  einer  Bildungsmasse  über, 
die  noch  keine  Sonderung  vorgenommen  hat.  So  ist  der  Zusammen- 
hang der  zweiten  Kiemenbogen  mit  der  Basis  des  Schädels  durch  die 

(62) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     22 1 

ElntwickloDg  des  Ohrlabyrinthes  unsicher  und  oft;  zweifelhaft.  Unten 
in  der  Mittellinie  sind  diese  knorpelartigen  Streifen  getrennt,  so  dass 
ihr  Halbgürtel  hier  unterbrochen  ist.  Nirgends  ist  eine  Spnr  von  be- 
ginnender Abscheidung  in  einzelnen  Theilen/^ 

Für  die  Bezeichnung  der  erwähnten  Anlage  benützen  einige 
Autoren  specielle  Ausdrücke.  Reichert^)  braucht,  wie  oben  ersicht- 
lich, das  Wort  knorpelartig;  Eöliiker^^^)  bezeichnet  eine  fthn- 
liehe  Anlage  mit —  „häutig'^,  —  „weich ^^  Die  englischen  Autoren  wenden 
die  Bezeichnungen  kOrniges  Oewebe,  verdicktes  Qewebe, 
(Condensed  tissue,  Huxley)  an,  die  der  histologischen  That- 
sache  nicht  Yollkommen  entsprechen. 

Die  Mehrzahl  der  Autoren  spricht  auch  in  diesem  Stadium  von 
Enorpelgewebe,  obwohl  die  genannten  Zellenanhäufangen  das  Aussehen 
von  Knorpeln  noch  nicht  darbieten.  Parker  und  Bettany  heben 
in  ihrer  Morphologie  des  Schädels^^)  ausdrücklich  hervor 
(pag.  13  und  14)  : 

„Ein  grosser  Theil  des  Mesoblastes,  welcher  das  Oehim  umhüllt 
und  die  Visceralfalten  und  andere  zum  Kopfe  gehörige  Fortsätze 
bildet,  erfährt  eine  allmälige,  aber  sehr  frühzeitige  ümwandlang  in 
Knorpelsubstanz,  welche  bestimmte  Skelettheile  darstellt,  bevor  noch 
Intercellularsubstanz  aufgetreten  ist.^^ 

Aus  Mangel  an  eine  richtige  Bezeichnung  ist  dieses  Stadium 
von  den  nachfolgenden  nicht  gehörig  unterschieden,  wo  nämlich 
das  eigentliche  Knorpelgewebe  sich  zu  zeigen  beginnt. 

Es  ist  nämlich  nicht  zu  leugnen,  dass  diese  Zellenanhäu- 
fungen die  Anlage  des  künftigen  Knorpels  darstellen,  und  dass 
das  Knorpelgewebe  bei  seinem  ersten  Auftreten  ein  neues  histo- 
logisches Element  nicht  bedeutet,  aber  nur,  wie  wir  weiter  unten 
sehen  werden,  einem  bestimmten  Reifegrade  der  genannten  Zellen- 
anhäufungen entspricht.  Nichtsdestoweniger  erachte  ich  es,  zur 
grösseren  Klarheit  der  Darstellung  der  embryonalen  Vorgänge,  als 
nothwendig,  eine  scharfe  Unterscheidung  zwischen  diesen  beiden 
Arten  von  Geweben  festzuhalten.  Zur  Bezeichnung  der  Skelett- 
elemente vor  dem  Auftreten  des  Knorpels  wende  ich  in  der  vor- 
liegenden Arbeit  den  Ausdruck  „vorknorpelige  Anlage^ 
an.  Vom  histologischen  Gesichtspunkte  aus  finde  ich  als  das  Beste 
die  Bezeichnungen:  Zellenanhäufungen  und  Zellenstränge 
zu  wählen. 

Das  Wort  Knorpel  wende  ich  nur  zur  Bezeichnung  eines  Ge- 
webes an,  wo  die  Intercellularsubstanz  schon  dentlich  aufgetreten  ist. 

19  ♦     (68) 


^222  Oradenigo. 

Da  die  histologische  Beschaffenheit ,  die  Modalitäten  des 
Auftretens  und  des  Wachsthums,  die  Anordnung  der  allerersten 
Anlage  der  zwei  eraten  Eiemenbogen  nnd  der  periotischen  Kapsel 
nicht  ganz  für  die  Säugethiere  festgesetzt  erscheinen,  werde  ich 
die  Resultate  meiner  eigenen  diesbezüglichen  Beobachtungen  kurz 
mittheilen  (vergl.  im  I.  Abschnitte,  I.  und  II.  Entwicklungsstadium). 

Histologisches  Verhalten.  Die  erste  Andeutung  einer 
Anlage  der  Skeletelemente  beim  Embryo  ist  von  Zellen  darge- 
stellt, die,  in  Anhäufungen  und  Strängen  zusammentretend,  sich  all- 
mälig  von  den  gewöhnlichen  Zellen  des  embryonalen  Mesoblastes 
differenziren.  Diese  Zellen  sind  rundlich,  weisen  einen  yerhältniss- 
massig  grossen  Kern  oder  kömigen  Inhalt  auf,  besitzen  keine 
Fortsätze  und  färben  sich  intensiv  mit  Hämatoxylin  und  Garmin ; 
während  die  Zellen  des  indifferenten  Gewebes  nicht  so  dicht  an- 
einander gedrängt,  und  meist  von  ovaler  Form  sind  und  zahlreiche 
Processe  besitzen. 

Es  ist  jedoch  zu  bemerken ,  dass  die  Skeletanlage  besser 
als  durch  die  Form  und  die  Grösse  der  einzelnen  Zellen,  durch 
die  Anhäufhngsart  und  den  Färbungsgrad  von  ähnlichen  Zellen- 
anhäufungen zu  unterscheiden  sind.  Derartige  Zellenanhäufungen 
treten  in  der  That,  wenn  sie  mit  schwacher  Vergrösserung  (30  bis 
öOmal)  angesehen  werden,  auf  dem  mikroskopischen  Felde,  ihrer 
lebhaften  Färbung  wegen,  ziemlich  scharf  hervor;  indess,  wenn 
man  die  einzelnen  Zellen  mit  starker  Vergrösserung  betrachtet, 
kann  man  constatiren,  dass  die  Zellen  allmälig  in  der  Randzone 
ihre  charakteristische  Beschaffenheit  verlieren,  und  in  die  Zellen 
des  neugebildeten  Gewebes  tibergehen. 

Das  Verhalten  der  Skeletelemente  wird  daher  in  diesem 
Stadium  besser  mit  schwächerer  als  mit  stärkerer  Vergrösserung 
studirt. 

S  t  ö  h  r  77)  bemerkt  auf  Grund  einer  Reihe  von  Beobachtungen 
über  die  embryonale  Entwicklungsweise  des  Kopfes  von  Fischen 
(Teleostier),  dass  das  Gewebe  ans  dichtgedrängten  rundlichen  oder 
ovalen  Kernen,  welche  in  einer  gemeinsamen  sich  färbenden 
Grundsubstanz  zu  liegen  scheinen,  zweifellos  in  vielen  Fällen  der 
Vorläufer  des  Knorpels  ist;  trotzdem  ist  eine  Deutung  desselben 
als  frühere  Skeletanlage  unmöglich,  u.  zw.  aus  folgenden  Gründen : 

(64) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelofares :  die  morphologische  Bedentnng  etc.     223 

1 .  Zu  einer  gewissen  Zeit  wird  die  ganze  Masse  der  Visceral- 
bogen  nur  von  solchem  Gewebe  dargestellt,  das  demnach  von 
Epithel  zu  Epithel  reicht.  Im  weiteren  Verlaufe  der  embryonalen 
Entwicklung  bilden  sich  die  axialen  Partien  des  genannten  Ge- 
webes zu  Knorpel  um ,  die  peripheren  Theile  dagegen  geben 
Muskeln ,  sowie  dem  indifferenten  Gewebe ,  welches  zwischen 
Knorpel  und  Epithel  der  Kiemenspalten  gelegen  ist,  den  Ursprung. 
Somit  ist  das  fragliche  Gewebe  der  Vorläufer  nicht  nur  des  Knor- 
pels, sondern  auch  anderer   dem  Knorpel  fernstehender  Gewebe. 

2.  Auch  an  Stellen,  in  denen  es  niemals  zu  Knorpelbildung 
kommt,  treten  Anhäufungen  des  gleichen  Gewebes  auf,  z.  B.  im 
Oberkieferfortsatz,  wo  es  das  Muttergewebe  fQr  das  knöcherne 
Maxillare  superius  abgibt. 

3.  Endlich,  ist  die  häufig  vollkommen  fehlende  Abgrenzung 
ein  weiteres  Hindemiss,  das  fragliche  Gewebe  genauen  Beschrei- 
bungen zu  Grunde  zu  legen.  ^ 

Ich  kann  diese  Ansichten  von  Stöhr  nicht  theilen,  weil  es 
mir  scheint,  dass  den  von  ihm  erwähnten  Thatsachen  eine  andere 
Bedeutung  zuzuschreiben  ist. 

Allerdings  darf  nicht  eine  jede  Zellhäuiung  bei  den  ersten 
embryonalen  Stadien  als  der  Vorläufer  des  Knorpelgewebes  ange- 
sehen werden;  aus  meinen  Wahrnehmungen  geht  jedoch  hervor, 
dass  von  ihrem  ersten  Deutlichwerden  an  die  Zellenanhäufungen, 
welche  die  Skeletelemente  darsteUen,  von  den  anderen  Zellen- 
anhäufungen gut  unterschieden  werden  können.  Es  ist  wohl  wahr, 
wie  Stöhr  hervorhebt  (Satz  I},  dass  in  einem  der  allerersten 
Stadien  der  Entwicklung  die  ganze  Masse  der  Visceralbogen  von 
einem  Gewebe  aus  dicht  gedrängten  rundlichen  Zellen  dargestellt 
erscheint;  zu  dieser  Zeit  stellt  jedoch  dieses  Gewebe  nur  das 
embryonale  Mesoblast  und  nicht  irgend  eine  Anlage  von  Skelet- 
theilen dar,  welche  noch  nicht  im  Embryo  angedeutet  sind.  Es  ist 
wohl  wahr,  dass  auch  an  Stellen,  in  denen  es  niemals  zu  Knorpel- 
bildung  kommt,  Anhäufungen  des  gleichen  Gewebes  auftreten ;  aber 
der  Färbungsgrad  und  die  vollkommen  fehlende  Abgrenzung 
lassen,  wenigstens  in  den  meisten  Fällen,  diese  Anhäufungen, 
welche  in  Beziehung  zur  Entwicklung  von  Muskeln,  Bändern  und 
Deckknochen  wahrscheinlich    gebracht  werden  dürften,   von   der 

(65) 


224  Gradenigo. 

Skeletanlage  unterBcheideD.  Nar  bezüglich  der  Ganglien  habe  ich 
im  ersten  Abschnitte  bemerkt,  dass  die  lebhafte  Färbung  der  sie 
zusammensetzenden  Zellen  and  die  ziemlich  scharfe  Begrenzung 
eine  Verwechslung  der  betreffenden  Zellenanhäufdngen  mit  der 
vorknorpeligen  Anlage  der  Skeletelemente  leicht  verursachen 
könnten,  im  Falle  nicht  die  Ganglien  durch  das  innige  Verhalten, 
in  welchen  sie  zu  den  Nervenfasern  oder  Epithelien  stehen, 
charakterisirt  wären. 

Die  vollkommen  fehlende  Abgrenzung  ist  nur  ein  fernerer 
Beweis,  dass  ein  solches  Gewebe  von  der  eigentlichen  Anlage  der 
Skelettheile  genau  unterschieden  werden  muss.  Als  Anlage  der 
Skelettheile  sind,  meines  Erachtens,  nur  die  Anhäufungen  zu  be- 
trachten, welche  mit  schwacher  Vergrösserung  ziemlich  deutlich 
in  ihren  Umrissen  begrenzt  erscheinen.  Falls  ein  scharf  begrenzter 
Zellenstrang  allmälig  in  eine  Zellenmasse  mit  vollkommen  feh- 
lender Abgrenzung  übergeht,  (in  ähnlicher  Weise  wie  die  distalen 
Enden  der  zweiten  Eiemenbogen  bei  Eatzenembryonen  15  Mm. 
Seh.  St.  L.)  darf  diese  Zellenmasse,  wenn  auch  in  Fortsetzung 
einem  deutlich  angelegten  Skeletelemente,  noch  nicht  als  eigent- 
liche Anlage  der  Skelettheile  angesehen  werden;  ich  stimme 
daher  mit  Stöhr  vollkommen  überein,  dass  aus  dieser  Masse 
nicht  nur  Knorpel,  sondern  auch  andere  Gewebe  hervorgehen 
können.  (Siehe:  Schenk,  Embryologie.  1874  Wien.) 

Meiner  Ansicht  nach  ist  nur  eine  intensiv  gefärbte  und 
mit  deutlichen  Grenzen  versehene  Zelenanhäufnng  als  Skelet- 
anlage zu  betrachten. 

DasAuftreten  und  dieAnordnung  der  primordialen 

Skeletelemente  im  Mittelohre. 

Die  Kiemenbogen  und  die  periotische  Kapsel  erscheinen 
nicht  zu  derselben  Zeit  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung. 

Beim  Katzenembryo,  12 Mm.  Länge,  sind  nur  zu  sehen: 
€t)  ein  proximaler  Abschnitt  des  1.  Kiemenbogens ;  b)  eine,  der 
lateralen  unteren  Wand  der  Läbyrinthblase  entsprechende,  An- 
deutung der  periotischen  Kapsel. 

In  einem  späteren  Stadium  (Katzenembryo  15  Mm.) ,  doch 
immer  vor  dem  Auftreten  des  Knorpelgewebes,  kommt  der  ganze 

(»'>6) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolires :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     226 

Mittelabschnitt  des  mandibularen  Bogens  zum  Vorschein;  die 
distalen  Enden  reichen  jedoch  noch  nicht  bis  zar  Mittellinie, 
und  die  proximalen  Enden  gehen  in  das  umgebende  indifferente 
Gewebe  über,  ohne  mit  der  Schädelbasis  in  Beziehung  zu  treten. 

Der  Hjoidbogen  indess  ist  schon  mit  seinem  scharf  be- 
grenzten proximalem  Ende  zu  der  periotischen  Kapsel  in  Be- 
ziehung getreten :  die  distalen  Enden  hören  auf,  gegen  die  Mittel- 
linie gut  begrenzt  zu  sein. 

Die  periotische  Kapsel  bietet  ihre  laterale  Wand 
schon  gut  angelegt  dar,  ist  jedoch  an*ihrer  medialen  Wand  kaum 
angedeutet,  und  zeigt  keine  Spur  von  Labyrinthfenstem. 

Die  vollständige  vorknorpelige  Anlage  dieser  Elemente  ist 
erst  dann  zu  treffen,  wenn  das  Knorpelgewebe  in  manchen  Ab- 
schnitten schon  aufgetreten  ist. 

Es  geht  aus  diesen  Beobachtungen  hervor,  dass  ebenso  die 
periotische  Kapsel  wie  der  erste  Kiemenbogen  in  Form  isolirter 
Zellenanhäufungen  inmitten  des  indifferenten  mesoblastischen  Ge- 
webes beim  Embryo  aufzutreten  beginnt.  Es  ist  sehr  wahrschein- 
lich, dass  auch  der  Hyoidbogen  in  einer  Entwicklnngsperiode, 
welche  den  zwei  von  mir  beobachteten  intermediär  ist,  noch  nicht 
in  Beziehung  zu  der  periotischen  Kapsel  proximal  eingetreten  sei. 

Die  Art  und  Weise  des  successiven  Auftretens  der  Skelett- 
elemente beim  Embryo  sollte,  meines  Erachtens,  zu  deren  respecti- 
ven  morphologischen  Bedeutung  in  Beziehung  gebracht  werden. 
In  der  That  entspricht  die  embryonale  Anordnung  der  vorknorpe- 
ligen Anlage  bei  den  Embryonen  von  Säugethieren  vollkommen 
der  Anordnung,  welche  bei  den  Embryonen  von  anderen  Wirbel- 
thierklassen  anzutreffen  ist.  Das  primordiale  Skelett  der  am  besten 
specialisirten  Thiere  ist  so  einfach  als  dasjenige  der  niedersten 
Wirbelthiere. 

Nach  Parker's  Beobachtungen  bei  Fischen  (Elasmobran- 
chien,  Teleostei)  bleiben  die  zwei  ersten  Kiemenbogen  in  der  ersten 
Entwicklangsperiode  ungegliedert,  und  in  Form  zweier  gut  be- 
grenzter und  isolirter  Cylinder.  Stöhr^^),  welcher  die  Entwick- 
lungsgeschichte  des  Kopfskelettes   der   Teleostier^)    studirt    hat, 

^)  Beobachtungen  über  die  Embryonen  der  Salmo  salar  und  Salmo 
trata. 

(67) 


226  Gradenigo. 

beschreibt  die  primitive  Anordnang  der  zwei  ersten  Eiemenbogen 
bei  den  Embryonen  solcher  Thiere  in  folgender  Weise :  „Der  erste 
Visceralbogen  (Eieferbogen)  besteht  jederseits  aas  einer  ab-  und 
medialwärts  gekrümmten  Enorpelspange,  welche  dorsal,  seitlich 
von  der  Chordaspitze  nnter  dem  vorderen  Ende  der  Ohrblase 
frei  endet,  während  das  ventrale  Ende  gleichfalls  frei,  ohne  sein 
Gegenüber  zu  berühren,  aoslänft.  Der  Hyoidbogen  erscheint  in 
Qestalt  eines  vorknorpeligen  Streifens/ 

Die  Embryonen  der  Amphibien  (Frosch  von  zwei  bis  drei 
Linien  Länge,  ungefähr  zur  Zeit  ihres  Ausschlüpfens)  bieten  ein 
ausserordentlich  einfaches  Aussehen  der  primitiven  Elemente  des 
Schädels  dar.  Die  zwei  ersten  Eiemenbogen  erscheinen  in  Gestalt 
von  Gylindem,  welche  proximal  stumpf  enden,  und  sind  distal  in 
der  Mittellinie  getrennt  (Parker). 

Bei  niederen  Wirbelthieren  erscheint  auch  die  vorknorpelige 
periotische  Eapsel  in  Form  einer  isolirten,  der  lateralen  Wand 
der  Gehörblase  entsprechenden  Lamelle  (Bathke,  Parker ^^), 
S  t  ö  h  r  ^^).  Diese  primitive  Anlage  ist  eine  unvollständige :  bei  dem 
Frosche  z.  B.  fällt  der  obere  äussere  Theil  der  Eapsel  aus  (P  a  r  k  e  r^^). 

Das  Verhalten  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  und  der  perio- 
tischen  Eapsel  bei  den  allerersten  Entwicklungsperioden  erscheint 
leider  bei  Sauropsiden  und  Säugethieren  nicht  entsprechend  ver- 
folgt worden  zu  sein.  Die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  dieses 
primordiale  Skelett  bei  höheren  Wirbelthieren  in  seiner  Anord- 
nung sich  verändert,  und  partielle  Involutionsvorgänge  eingeht, 
erklärt  hinreichend,  wie  das  Studium  dieses  ersten  Entwicklungs- 
stadiums bei  diesen  Thieren  nicht  unbedeutende  Schwierigkeiten 
bietet. 

Es  wäre  in  der  That  die  genaue  Beobachtung  dieser  ersten 
Periode  bei  Säugethieren  diejenige  gewesen,  welche  unzweifelhaft 
eine  Menge  Voraussetzungen  und  Fragen  über  das  Verhalten  der 
proximalen  Enden  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  und  die  Ent- 
stehungsweise der  periotischen  Eapsel  aufgehoben  hätte. 

Auf  Grund  meiner  eigenen  Beobachtungen  bin  ich  im  Stande, 
diese  Lücke  zu  füllen  und  zu  beweisen ,  dass  auch  bei  höheren 
Säugethieren  (Eatze)  das  primordiale  Skelet  im  Ohre  genau  wie 
das    primordiale  Skelet   der   niederen  Wirbelthiere   sich  verhält. 

(68) 


I 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     227 

Bezüglich  der  vorknorpeligen  Skeletanlage  scheint  es  mir 
angezeigt ,  hier  noch  einige  Fragen  allgemeiner  Natur  kurz  za 
besprechen. 

Die  Yorknorpelige  embryonale  Anlage  des  Skelets  wurde 
zumeist  auf  Grund  von  Beobachtungen  über  die  Entwicklungs- 
weise der  Extremitäten  erforscht,  und  zahlreiche  Autoren  erwähnen 
einen  einheitlichen  Körper,  welcher  in  den  allerersten 
Stadien  die  Anlage  der  einzelnen  Enorpe  labschnitte  vertritt. 

Eölliker^")  spricht  sich  folgender  Weise  darüber  aus: 

„Das  ganze  Extremitätenskelet  entsteht  als  eine  von  Anfange 
an  zusammenhängende  Blastemmasse ,  in  der  vom  Rumpf  gegen  die 
Peripherie  zu  Knorpel  um  Knorpel,  Gelenkanlage  nach  Gelenkanlage 
dentlieh  wird.^ 

Henke  und  R  e  y  h  e  r  ^^)  können  nicht  enteoheiden,  ob  die  ein- 
zelnen Knorpelabfichnitte  aus  Zergliederung  eines  einzigen  Primitiv- 
I         Stuckes  hervorgehen,    oder    ob    selbe  primitiv  getrennt  angelegt  sind. 

Schulin 7*)  bemerkt,  dass  in  einem  der  allerersten  Stadien  die 
Skdetelemente  von  Anhaufungen  runder ,  embryonaler  Zellen  ver- 
treten siud.  Doch  meint  er  die  Zellenanhäufungen  nicht  als  eine  zu- 
sammenhangende Masse  ansehen  zu  dürfen. 

Auf  Grund  meiner  Beobachtungen  und  gestützt  auf  die  ana- 
logen Resultate  der  vergleichenden  Anatomie  (Parker  *i)  glaube 
ich  diesbezüglich  folgende  Sätze  aufstellen  zu  können: 

L  Die  Skeletelemente,  welchen  eine  specielle  morphologische 
Bedeutung  zukommt,  sind  von  vornherein  getrennt  angelegt.  Die 
Kiemenbogen ,  die  periotische  Kapsel  treten  durch  directe  Um- 
wandlung des   mesoblastischen  Gewebes  als  isolirte  Gebilde  auf. 

Ich  stimme  daher  vollkommen  mit  Parker  und  Stöhl 
überein ;  ich  soll  indess  N  o  o  r  d  e  n's  ^^)  Behauptung,  nach  welcher 
die  vorknorpelige  Anlage  der  Skelettheile  von  vorneherein  in  Ver- 
bindung mit  der  Chorda  dorsalis  sich  befindet,  entschieden 
ablehnen. 

n.  Jedes  einzelne,  von  Zellensträngen  und  ZeUenanhäufungen 
dargestellte,  morphologische  Element  kann  andererseits  als  ein 
einheitlicher  Körper  angesehen  werden,  weil  er  keine  Andeutung 
der  verschiedenen  Knorpelstücke,  in  welche  er  sich  später  zer- 
gliedert, zeigt. 

Das  Skeletelement  eines  Kiemenbogens  stellt  sich  daher 
ähnlich  wie  die  Anlage  einer  Extremität,  in  dem  vorknorpeligen 

(69) 


228  Oradenigo. 

Zustand  als  eine  zusammenhängende  Blastemmasse,  in  der 
später  die  einzelnen  Enorpelstttcke  deutlich  werden,  (Eölliker, 
Schenk)  dar. 

Noch  genauer  wäre  es  zusagen,  im  Sinne  Schulin's,  dass 
die  künftigen  Skeletabschnitte  den  Gelenken  entsprechend  noch 
nicht  differenzirt  sind,  da  die  Skelettheile  und  die  Gelenke  noch 
von  einem,  dieselben  anatomischen  Charaktere  darbietenden,  Ge- 
webe vertreten  sind. 

Die  einzelnen  Elemente  des  primitiven  Skeletts 
treten  isolirt,  ungegliedert  inmitten  des  mesoder- 
matischen  Gewebes  auf. 

Das  vorknorpelige  Skelet  der  Kiemenbogen  und  der  perio- 
tischen  Kapsel  geht  sehr  frühzeitig  eine  Reihe  von  Veränderungen 
ein,  um  die  complicirte  Gestaltung  der  Skeletttheile  des  Mittelohres 
anzunehmen.  Die  einzelnen  morphologischen  Elemente ,  welche 
die  primordiale  Anlage  darstellen,  verfertigen  ihre  Form,  treten 
zu  den  Nachbartheilen  in  Beziehung  und  einige  Abschnitte  gehen 
sogar  eigentliche  Involutionsvorgänge  ein.  Der  mandibulare  Bogen 
dehnt  sich  in  ventraler  Richtung  aus ,  die  distalen  Enden  ver- 
einigen sich  in  der  Mittellinie;  das  proximale  Ende  schwillt  an, 
und  streckt  sich  allmälig  nach  hinten  zu.  Der  Hjoidbogen  ver- 
einigt sich  distal  mit  dem  Basihyale  (os  hyoideum);  sein 
proximales  Ende  umgibt  die  Arteria  stapedialis,  und  gelangt  in 
immer  inniger  Beziehung  zu  der  periotischen  Kapsel. 

Die  periotische  Kapsel  entwickelt  sich  um  die  Labyrinth- 
blase ;  sie  bietet  jedoch  keine  Labyrinthfenster  dar,  und  zeigt  au 
der  dem  Gehirn  zugewendeten  Fläche  eine  grosse  Lücke. 

Was  die  histologischen  Vorgänge  der  Vergrösserung  und  der 
Ergänzung  solcher^vorknorpeligen  Anlagen  anbelangt,  müssen  wir 
eine  doppelte  Wachsthumsart  annehmen:  interstitielles  und 
appositionelles  Wachsthum. 

Die  Voraussetzung  eines  interstitiellen  Wachsthums, 
welches  schon  a  priori  sehr  wahrscheinlich  vorkommt,  beruht 
auf  der  Thatsache,  dass  die  Zellen,  welche  die  in  Rede  stehenden 
Anhäufungen  zusammensetzen,  bis  zu  einer  gewissen  Periode  klein, 
lebhaft  gefärbt,  nut  kömigem  Inhalt  und  dicht  aneinandergednlngt 
bleiben;   lauter  Charaktere,   welche  als  zu  einer  raschen  Zellen« 

(70) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentang  etc.     229 

wucherang  in  Beziehung  stehend  allgemein  anerkannt  sind«  Pas 
appositioneile  Wachsthum  stellt  gewissermassen  nnr  die 
Fortsetzung  des  primitiven  Entwicklungsvorganges  der  vorknor- 
peligen Anlage  dar.  Wenn  wir  constatirt  haben,  dass  in  einem 
der  allerersten  Stadien  der  mandibulare  Bogen  nur  auf  einer  kurzen 
Strecke  deutlich  begrenzt  ist,  und  dass  später  derselbe  gegen  die 
Mittellinie  zuwächst,  dürften  wir  mit  Recht  annehmen,  dass  solch 
eine  Entwicklung  der  fortschreitenden  Umwandlung  des  meso- 
blastischen  Gewebes  in  Skeletelementen  zuzuschreiben  sei. 

Diese  Ansicht  wird  auch  histologisch  von  der  Thatsache 
bestätigt,  dass  wir  um  die  vorknorpelige  Anlage  herum  einen 
allmäligen  Uebergang  der  sie  zusammensetzenden  Zellen  in  die 
Zellen  des  indifferenten  Gewebes  constatiren  können. 

Wenn  wir  die  hauptsächlichen  Ergebnisse,  welche  aus  dem 
Studium  der  vorknorpeligen  Anlage  der  Skeletelemente  im  Mittelohre 
zu  entnehmen  sind,    kurz  resumiren,    so    ist  Folgendes  zu  bemerken: 

I.  Das  vorknorpelige  primordiale  Skelet  der  Eiemenbogen  und 
der  periotischen  Kapsel  bei  Säugethieren  ist  ganz  dem  primordialen 
embryonalen  Skelet  der  niederen  Wirbelthiere  (Fische  und  Amphibien) 
ähnlich;  das  primordiale  Typus  der  periotischen  Kapsel  ohne  laby- 
rinthische Fenster  entspricht  dem  Typus,  den  die  Fische  durch  das 
ganze  Leb^  beibehalten. 

n.  Die  einzelnen  morphologischen  Elemente,  welche  das  primitive 
Skelet  darstellen,  treten  zuerst  in  Gestalt  von  isolirten  Zellenanhäufnngen 
auf,  welche  später,  durch  interstitielle  Zellen  Vermehrung  und  durch 
Apposition  wachsend,  zu  einander  und  zu  der  Schädelbasis  in  Beziehung 
treten. 

III.  Die  einzelnen  Elemente,  welche  das  primitive  Skelet  dar- 
stellen, bieten  keine  Spur  von  Zergliederung  dar. 

B.  Die  knorpeligen  Skeletelemente. 

In  einem  späteren  Stadium  lassen  die  Zellen,  welche  die 
vorknorpelige  Skeletanlage  zusammensetzen,  deutlich  um  sie  herum 
einen  lichteren  Saum  erkennen.  Eine  homogene,  durchsichtige 
Intercellularsubstanz  wird  jetzt  deutlich  sichtbar;  wir  haben  schon 
vor  uns  die  charakteristischen  Elemente  des  Knorpelgewebes.  — 
In  demselben  Stadium  zeigt  das  embryonale  Bindegewebe  in  seiner 
InterceUularsubstanz  eine  sehr  feine  faserige  Beschaffenheit. 

Obwohl  die  Umwandlung  des  primitiv  angelegten  in  das  de- 
finitive Skelet  des  Mittelohres  sehr  wichtige  Merkmale  aufvveist,  sind 

(71) 


230  Gradenigo. 

in  der  Literatur  die  Angaben  über  die  Art  und  Weise    der  Ver- 
knorpelung  des  Mittelohres  sehr  spärlich  vorhanden. 

Eölliker^^)  bemerkt,  dass  das  Enorpelgewebe  der  Schädel- 
basis wie  aus  einem  Ousse  entsteht:  Hammer  und  Ambos 
seien  zur  Zeit  des  Auftretens  des  Knorpelgewebes  von  einander  ge- 
trennt. 

Sälen sky^^)  hebt  hervor,  dass  die  untere  vordere  Partie  der 
periotischen  Kapsel  ein  jOngeres  Knorpelgewebe  als  die  hintere  dar- 
bietet. Ausserdem  hätte  er  beobachtet,  dass  die  Trennung  des  Am- 
bosses vom  Hammer  allmälig  von  unten  nach  oben  vor   sich  geht. 

ürbantschitsch^^)  hebt  in  einer  werthvoUen  Arbeit  über 
die  embryonale  Bildung  des  Hammer- Ambos-Oelenkes ,  den  Ansichten 
Kölliker's  gegenüber,  hervor,  dass  bei  einem  3  Gm.  langen  Schweins- 
embryo Hammer  und  Ambos  gut  erkennbar  erschienen,  während  der 
Hammer-Ambos-Körper  noch    eine   knorpelige  Verschmelzung  aufwies. 

Ich  werde  nun  die  Resultate  meiner  Untersuchungen  über 
die  Entwicklungsart  des  Knorpelgewebes  der  Kiemenbogen  und 
der  periotischen  Kapsel  kurz  darstellen,  und  dieselbe  in  Beziehung 
zu  der  allgemeinen  Lehre  über  die  Entwicklung  der  Skelettheile 
des  Schädels  und  der  Extremitäten  bringen. 

Bei  den  Katzenembryonen,  2  Cm.  lang  (HI.  Stadium,  lieber- 
gangsstadium),  sind  die  Skeletelemente  entweder  durch  Knorpel- 
gewebe —  welches  durch  seine  Charaktere  dem  Knorpelgewebe 
des  erwachsenen Thieres  näher  tritt  (reifer  Knorpel)  —  oder 
durch  Knorpelgewebe,  welches  durch  seine  histologischen  Charaktere 
an  die  vorknorpelige  Anlage,  aus  welcher  es  hervorgegangen  ist, 
erinnert  (unreifer  Knorpel),  oder  auch  durch  die  Zellenan- 
häufungen, welche  bei  den  zwei  vorhergehenden  Stadien  einzig 
vorhanden  waren  (vorknorpelige  Anlage),  vertreten. 

Demgemäss  darf  die  Behauptung  Kölliker's,  dass  die 
Verknorpelung  aUer  Theile  des  primordialen  Craniums  zu  gleicher 
Zeit  vor  sich  gehe,  wenigstens  mit  Rücksicht  auf  die  Gebilde  des 
Ohres  nicht  im  absoluten  Sinne  acceptirt  werden. 

Die  Thatsacbe  der  Nichtgleichzeitigkeit  der  Verknorpelung 
der  genannten  Gebilde  findet  übrigens  ein  Aehnliches  in  noch 
ausgedehnterem  Maasse  in  der  successiven  Entwicklungsweise  der 
Extremitäten,  wie  dies  auch  von  KöUiker  angenommen  wird. 

Wenn  man  von  einigen,  von  mir  im  ersten  Abschnitte  dieser 
Arbeit  ausführlich  dargestellten  Einzelheiten  absieht,   kann   man 

(72) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelobres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     231 

festsetzen,  dass  der  grössere  Theil  des  mandibularen  Bogens  mit 
dem  Hammer  -  Ambos  -  Körper  and  die  Partie  der  periotiseben 
Kapsel,  welcbe  die  Bogengänge  aufnimmt,  vom  reifen  Knorpel 
repräsentirt  sind;  der  grössere  Theil  des  Hyoidbogens  und  der 
Hammer-Ambos-Fortsätze  —  der  Stapedialring  —  die  Partie  der 
Kapsel,  welche  die  Cochlea  aufnimmt,  in  Form  unreifer 
Knorpel  vorhanden  sind;  das  Stück  des  Hyoidbogens,  welches 
unmitttelbar  unterhalb  des  Annulus  stapedialis  liegt  —  die 
Enden  der  Fortsätze  des  Hammers  und  des  Ambosses  —  die 
Partie  der  periotiseben  Kapsel,  welche  den  Sacculus  und  das 
Anfangsstttck  des  Ductus  cochlearis  aufnimmt  (Pars  vesti- 
bularis),  noch  von  einfachen  Zellenanhäufungen  vertreten  sind. 

Wenn  wir  zur  Aufklärung  der  verschiedenen,  von  den  Skelet- 
elementen  des  Mittelohres  dargebotenen  Entwicklungsgrade,  nur 
das  Kriterium  des  Alters,  d.  h.  der  Zeit  des  allerersten  Auftretens 
der  respectiven  vorbiorpeligen  Anlage  anzuwenden  versuchen, 
sind  wir  im  Stande,  nur  eine  geringe  Zahl  von  Thatsachen, 
welche  die  Entwicklung  der  einzelnen  Theile  des  Hammers  und 
des  Ambosses  betreffen,  gentlgend  zu  erklären.  In  der  That, 
sind  die  Körper  der  zwei  Knöchelchen  diejenigen,  die  zuerst  an- 
gelegt sind,  und  erst  später  entwickeln  sich  der  Hammergriff  und 
der  lange  Ambosschenkel.  Demgemäss  ist  zu  erwarten,  dass  in 
einer  späteren  Periode  die  Körper  der  Knöchelchen  echten  Knorpel 
aufweisen,  während  ihr  Gewebe  allmälig  ein  stets  jüngeres  Aus- 
sehen —  bis  zum  Verlieren  der  Charaktere  des  Knorpels  —  je 
mehr  wir  uns  den  letzten  angelegten  Enden  der  Fortsätze  nähern, 
darbietet. 

Das  Kriterium  des  Alters  allein  ist  aber  nicht  genügend, 
das  Verhalten  der  übrigen  Skelettheile   verständlich   zu   machen. 

Der  Hjoidbogen,  und  insbesondere  sein  proximales  Ende  — 
welches,  sammt  dem  Annulus  stapedialis,  zur  Zeit  wo  das 
proximale  Ende  des  mandibularen  Bogens  in  eine  Zellenmasse 
mit  fehlender  Abgrenzung  überging,  schon  vollkommen  begrenzt 
war  —  ist  indessen  dem  mandibularen  Bogen  bei  der  Entwicklung 
weit  zurückgeblieben:  er  bietet  noch  das  Aussehen  des  unreifen 
Knorpelgewebes  (während  hingegen  der  mandibulare  Bogen  echt 
knorpelig  geworden  ist),  und  ist  im  Durchmesser  nur  halb  so  breit 

(78) 


232  Gradenigo. 

als  dieser.  Ein  Abschnitt  des  Hyoidbogens  ist  sogar  nicht  einmal 
knorpelig  geworden. 

Was  die  periotische  Kapsel  anbelangt,  ist  jetzt  die  zuerst 
angedeutete  untere  vordere  Partie  viel  weniger  entwickelt  als 
die  hintere. 

Es  ist  eben  dem  morphologischen  Kriterium,  dem  wir  uns 
zuwenden  müssen,  um  diese  Thatsachen  ins  Klare  zu  legen;  die 
Verschiedenheiten  in  dem  Entwicklungsgrad  stehen  nicht  nur  im 
Zusammenhang  mit  dem  normalen  Wachsthum  des  Gewebes,  sondern 
hängen  hauptsächlich  von  dem  yerschiedenen  morphologischen 
Werth  der  einzelnen  Skeletelemente  ab.  Die  Phylogenie,  welche 
dem  Auftreten  beim  Embryo  des  primordialen  Skelettypus  vor- 
waltet, leitet  jetzt  die  Umwandlung  dieses  letzteren  in  dem  hoch 
specialisirten  Skelettypus  der  Säugethiere. 

Wir  können  thatsächlich  bemerken,  dass  es  genau  die  Theile 
sind,  welche  wesentliche  Veränderungen  erfahren  müssen,  die- 
jenigen, die  entweder  gar  nicht  knorpelig  werden,  oder  das  Aus- 
sehen von  unreifem  Knorpel  darbieten. 

Die  vestibuläre  Wand  der  Kapsel,  an  welcher  die  zwei 
Labyrinthfenster  —  welche  die  periotische  Kapsel  der  Säuge- 
thiere von  jener  der  Fische  unterscheiden  —  erscheinen  sollen, 
ist  noch  nicht  knorpelig  geworden.  Die  vordere  Partie  der  Kapsel, 
welche  die  Windungen  des  Ductus  cochlearis,  des  vervoll- 
kommneten Vertreters  der  Lagena  der  niederen  Wirbelthiere, 
aufnimmt,  bietet  das  Aussehen  eines  noch  jungen  Knorpels  dar. 
Die  Partie  der  Kapsel  indess,  welche  die  Bogengänge  aufnimmt, 
die  bei  Säugethieren  im  Vergleiche  zu  denjenigen  der  Fische  ver- 
hältnissmässig  wenig  verändert  sind,  ist  schon  echt  knorpelig. 
Das  unmittelbar  unterhalb  des  Stapedialringes  liegende  Stück  des 
Hyoidbogens,  welches  später  in  dem  Skelettypus  der  höheren 
Wirbelthiere  verschwindet,  ist  nicht  einmal  knorpelig  geworden. 
Der  ganze  Hyoidbogen,  welcher  bei  höheren  Wirbelthieren  all- 
mälig  an  seiner  functionellen  Bedeutung  verliert,  ist  in  der  Ent- 
wicklung weit  zurückgeblieben. 

Die  von  den  einzelnen  Skelettheilen  dargebotenen  histolo- 
gischen Charaktere  können  demnach  in  diesem  Entwicklungsstadium 
ganz  entgegengesetzte  embryologische  Bedeutung   besitzen.    Das 

(74) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres ;  die  morphologische  Bedentang  etc.     233 

Stadium  der  späteren  Stadien  zeigt  ans  in  der  That,  dass  von 
den  Skeletelementen ,  die  in  diesem  Uebergangsstadium  vor- 
knorpelige  Gewebe  oder  anreifen  Knorpel  darbieten,  einige  erst 
seit  karzer  Zeit  entstandene,  im  Begriff  sieb  weiter  zu  entwickeln 
sieb  befinden,  andere,  zom  Verscbwinden  bestimmte,  bei  Beginnen 
ihrer  Involation  getroffen  werden. 

Aaf  Grand  dieser  Wahmehmangen  kann  die  Bebaaptang 
Noorden'8(^0  ^i<^b^  ^^  absolutem  Sinne  aufrecht  gehalten  werden, 
nach  welcher  die  Yerknorpelung  immer  da  zuerst  aaftritt,  wo  die 
Zellen  der  vorknorpeligen  Anlage  zuerst  entstanden  sind.  Das 
Verhalten  der  Skeletelemente  des  Mittelohres  zeigt,  dass  vor- 
wiegend der  morphologische  Werth  der  betreffenden  Skeletelemente 
auf  die  Zeit  des  Auftretens  des  Knorpelgewebes  bei  der  primor- 
dialen Anlage  einen  Einfluss  übt.  ^) 

Die  Umwandlungen,  welche  der  primordiale  Skelettypus  er- 
fahrt, finden  bei  den  hohen  Wirbelthieren  in  einer  so  kurzen 
Zeitperiode  statt,  dass  die  meisten  Veränderungen  schon  zur  Zeit 
des  Auftretens  des  Knorpelgewebes  als  vollendet  angesehen 
werden  können. 

Diese  Umwandlungen  können  bezüglich  den  Elementen   des 
Mittelohres 

a)  von  Involutionsvorgängen, 

ß)  von  Gliederungsvorgängen, 

Y)  von  Verschmelzungsvorgängen 
repräsentirt  werden. 

a)  Involutionsvorgänge  (Resorption,  Atrophie).  Re- 
sorptionen von  Abschnitten  der  Elemente  des  primordialen  Skeletes 
finden  ebenso  vor,  als  nach  dem  Auftreten  des  Knorpelgewebes  statt. 

Die  Resorption  eines  Theiles  der  vorknorpeligen  Anlage  der 
Skeletelemente  kommt  dadurch  zu  Stande,  dass  die  oft  erwähnten 
Zellenanhäuftmgen  ihre  Contouren   verlieren;   die   Zellen  wenig 


^)  Der  morphologische  Werth  der  einzelnen  Skeletelemente  des  Ohres  übt 
auch  auf  die  Zeit  der  Ve^knÖchenmg  einen  wesentlichen  Einfluss  aus.  Bs  gehen 
nämlich  diejenigen  Thefle,  welche,  um  den  Skelettypus  einer  gewissen  Familie 
der  S&ugethiere  sich  anzupassen,  bestimmte  Verinderungen  erfahren  müssen, 
zuletzt  die  Yerknöcherang  ein. 

(76) 


234  Gradenigo. 

dicht  eineinander  gedrängt  erscheinen,   und   die  Charaktere   des 
Bindegewebes  bekommen. 

Auf  diese  Art  wird  ein  dem  mnden  Fenster  entsprechender 
Theil  der  vorknorpeligen  Wand  der  periotischen  Kapsel  resorbirt ; 
auf  diese  Art  verschwindet  das  proximale  Stack  des  Hjoidbogens 
unmittelbar  unterhalb  des  Annulus  stapedialis. 

Die  Resorption  einiger  schon  vom  Knorpel  vertretener 
Skeletabschnitte  geht  langsamer  in  einem  späteren  Entwicklungs- 
stadium vor  sich.  Die  Knorpelzellen  scheinen  sich  weiter  nicht 
zu  vermehren,  werden  gross,  mit  geschrumpften  Kernen.  —  Diese 
Zellen  verschwinden  theils  durch  eine  Art  Atrophie,  theils  scheinen 
sich  in  faserigen  Elementen  des  Bindegewebes  umzuwandehi, 
theils  ferner  erscheinen  von  den  faserigen  Elementen  der  Nach- 
bargebilde verdrängt  und  zertrümmert.  —  Manchmal  treten  die 
gegen  das  betreffende  Knorpelelement  zu  verwachsenden  Deck- 
knochen mit  diesem  in  Berührung,  und  scheinen  eine  eigentliche 
Druckatrophie  zu  verursachen. 

Die  knorpelige  Lamina  stapedialis  erfahrt  einen  von 
mir  ausführlich  im  ersten  Abschnitte  dieser  Arbeit  beschriebenen 
partieUen  Involutionsvorgang.  Das  Verschwinden  des  Hecke  Fschen 
Knorpels  und  des  Stückes  des  Hyoidbogens  unterhalb  des  künftigen 
Proc.  stjloideus  findet  grösstentheUs  durch  Atrophie  und  Um- 
wandlung der  Knorpelzellen  in  faseriges  Gewebe  statt. 

Wenn  man  die  Involutionsvorgänge  der  knorpeligen  Skelet- 
theile genau  in  ihren  histologischen  Details  verfolgt,  gewinnt  man 
die  Ueberzengung ,  dass  die  innige  Affinität,  welche  zwischen 
der  vorknorpeligen  Anlage  und  dem  übrigen  mesoblastischen  Ge- 
webe zu  treffen  war,  auch  später  zwischen  den  Knorpelzellen  und 
dem  faserigen  Gewebe  bleibt. 

ß)  Gliederungsvorgänge.  Die  Gliederung  der  einzelnen 
Elemente,  welche  das  primordiale  Skelet  vertreten  (vor knor- 
pelige Anlage),  findet  gewöhnlich  zur  Zeit  des  Auftretens  des 
Knorpelgewebes  statt :  ich  habe  mich  jedocl\  überzeugen  können, 
dass  weitere  Gliederungsvor^nge  bei  einem  einzigen  Knorpel- 
stücke in  manchen  Fällen  zu  beobachten  sind. 


(7© 


I  ■ 

i' 

r 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohrea :  die  morphologische  Bedeatnng  etc.     235 

Die  Autoren  stimmen  sämmtlich  in  der  Annahme  Uberein, 
dass  die  einzelnen  Enorpeltbeile  den  zukunftigen  Gelenksver- 
bindungen  entspreebend  von  einander  getrennt  sind. 

In  der  axialen  Partie  der  vorknorpeligen  Anlage  tritt  ein 
Knorpelkem  für  ein  jedes  Enorpelstück  auf;  so  dass  der  be- 
treffende Kern  in  den  allerersten  Stadien  von  den  Ueberresten 
der  Yorknorpeligen  Anlage,  aueb  den  ktlnftigen  Gelenkober- 
flächen entsprechend,  getrennt  bleibt.  Die  vorknorpelige  Anlage 
schreitet  ihrerseits  in  dem  Wachsthum  fort,  wie  wir  dies  im 
vorigen  Capitel  constatirt  haben;  die  Yerknorpelung  tri£Ft  ge- 
wissennassen einen  Schritt  später  die  zuletzt  angelegten  Skelet- 
tbeile. —  Auf  diese  Weise  sind  die  einzelnen  Enorpelkeme  zur 
Zeit  ihres  ersten  Auftretens  von  einer  ziemlich  breiten  Schichte 
von  vorknorpeliger  Anlage  (der  sogenannten  chondrogenen 
Schichte,  Bernaj's  Grenzschichte)  umgeben;  diese 
Schichte,  die  wir  später  näher  besprechen  werden,  erstreckt  sich, 
indem  sie  schmäler  wird,  zwischen  die  Gelenkflächen  zweier 
danebenliegender  Enorpelstücke. 

Die  Gliederungen,  welche  mit  dem  Auftreten  des  Enorpel- 
gewebes  im  Mittelohre  stattfinden,  sind:  die  Trennung  des 
Stapedialringes  von  dem  proximalen  Endstücke  des  Hjoidbogens 
und  die  partielle  Gliederung  des  Hammers  vom  Ambos. 

Ich  habe  jedoch  wahrnehmen  können,  dass  im  Mittelohre 
auch  nach  erfolgtem  Auftreten  des  Enorpelgewebes  Gliederungs- 
vorgänge sich  ereignen. 

Ueberhaupt  sind  die  Autoren  nicht  geneigt,  eine  Gliederung 
eines  einzigen  Knorpelstückes  anzunehmen. 

Bruch*®-"")  erkennt  die  zeitlich  und  räumlich  getrennte 
und  successive  Anlage  der  einzelnen  Enorpelstücke  an;  nur  aus- 
nahmsweise nimmt  er  die  Gliederung  eines  einzigen  Enorpel- 
stückes  an.  Als  Beispiel  dieser  letzteren  jedoch  führt  er  die 
Trennung  des  Hammers  von  dem  M  e  c  k  e  Fschen  Knorpel  und  die 
des  Processus  stjloideus  von  dem  Os  hjoideum  an.  Nun 
sollen  diese  beiden  Vorgänge,  welche  von  Bruch  als  Beispiel 
einer  Trennung  angegeben  sind,  nicht  als  eigentliche  Gliederungs- 
vor^nge,  sondern  als  Involutionsvorgänge  angesehen  werden. 

Med.  Jahrbücher.  1837.  20    (^7> 


236  Gradenigo. 

Kölliker  erwähnt,  dass  Hammer  and  Ambos  zur  Zeit 
des  Auftretens  des  Knorpels  im  Embryo  schon  getrennt  sind.  Was 
die  Skeletelemente  der  Extremitäten  anbetrifft,  hebt  er  hervor, 
dass  jeder  Knorpel  vom  ersten  Anfange  an  selbstständig  und  ohne 
Zusammenhang  mit  den  Nachbarknorpeln  sich  anlegt,  zugleich 
aber  auch  von  seinem  ersten  Entstehen  an  mit  seinen  Nachbarn 
durch  die  gleichzeitig  mit  ihm  deutlich  werdende  Gelenkanlage 
vereinigt  ist. 

Oliederungsvorgänge  eines  einzigen  Knorpelabschnittes  finden 
meinen  Wahrnehmungen  gemäss  an  zwei  Stellen,  nämlich  an  der 
Lamina  stapedialis  und  an  dem  Hammer-Ambos-Gklenk  statt. 

Bei  menschlichen  Embryonen,  4  und  4V2  Cm.  Länge,  sind 
die  schon  vollkommenen  knorpeligen  Hammer-  und  Amboskörper 
noch  auf  einer  kurzen  Strecke  den  künftigen  Gelenkoberflächen 
entsprechend ,  miteinander  vereinigt  (Urbantschitsch^'), 
Salensky^*),  Gradenigo).  Die  Vollendung  der  Trennung  geht 
in  einem  späteren  Stadium  vor  sich  hin.  ^) 

Auch  die  knorpelige  Wand  der  periotischen  Kapsel  bietet 
nns  einen  wichtigen  Gliederungsvorgang,  welchen  zuerst  G  r  u  b  e  r  ®^) 
bei  den Säugethieren  beobachtet  hat.  Die  Lamina  stapedialis 
differenzirt  sich  rund  herum  bei  menschlichen  Embryonen  von  der 
übrigen  vestibulären  Wand  zur  Zeit  als  diese  Theile  schon  durch 
echtes  Knorpelgewebe  dargestellt  werden. 

Auf  Grund  dieser  Thatsachen  und  auf  die  Resultate  des 
Studiums  der  unteren  Wirbelthiere  gestützt,  wo  öfters  die  Gliederung 
eines  einzigen  Knorpelstückes  vorkommt  (Huxley,  Parke r)> 
scheint  es  mir  berechtigt  zu  sein,  daraus  zu  schliessen,  dass,  ob- 
wohl die  einzelnen  Knorpelstücke  von  ihrem  Auftreten  an  schon 
getrennt  erscheinen,  in  besonderen  Fällen  eine  nachträgliche 
Gliederung  eines  Knorpelabschnittes  stattfindet. 

Y) y er schmelzungs Vorgänge.  Verschmelzungsvorgänge 
der  Skeletelemente  können  vor  und  nach  dem  Auftreten  des  Knorpels 
vorkommen. 

Als  vorknorpelig   angelegte  Skeletelemente  vereinigen  sich 

*)  Das  Verbleiben  einer  partiellen  malleo-innrdalen  Synchondrose  imrde 
Yon  mir  bei  Menachen  auch  in  einem  Entwicklnngsetadinm,  wo  schon  die  beiden 
KnOcbelchen  fast  yollständig  knöchern  waren,  mit  Bestimmtheit  nachgewiesen. 

(78) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohr«s :  die  morphologisclie  Bedentnng  etc.     23  7 

die  distalen  Enden  des  ersten  Kiemenbogens  miteinander,  die 
distalen  Enden  des  zweiten  Kiemenbogens  mit  dem  Basi  hyale 
(Os  hyoideum),  die  proximalen  Enden  des  zweiten  Kiemenbogens 
mit  der  Anlage  der  Kapsel,  die  Anlage  der  periotischen  Kapsel 
selbst  mit  den  Skeletelementen  der  Schädelbasis. 

Was  die  Verschmelzung  von  früheren  getrennten  Knorpel- 
theilen  anbelangt,  sind  die  Autoren  überhaupt  geneigt,  eine 
solche  anzunehmen. 

Bruch  ^*)  drückt  sich  in  folgendem  Sinne  aus:  Das  appo- 
sitionelle  Knorpelwachsthum  führt  öfters  zur  Verschmelzung  zweier 
Knorpelstücke,  z.  B.  entwickeln  sich  die  Domfortsätze  durch 
Verschmelzung  zweier  sich  entgegenwachsenden  Knorpelflächen. 
Ebenso  entsteht  (pag.  16)  das  Brustbein  durch  Verschmelzung  zweier 
seitlicher  Hälften  zu  einem  Knorpelstücke,  desgleichen  der  Schild- 
knorpel (pag.  19)»  Die  Verschmelzung  erfolgt  durch  Entgegenwachsen 
unter  Bildung  einer  bald  verschwindenden  Eaphe. 

Und  Schulin''*)  fügt  hinzu:  Nicht  sich  trennen,  sondern 
vereinigen  wollen  sich  die  Primordialknorpeln.  Sie  erreichen  ihr 
Ziel  aber  nur  in  sehr  verschiedenem  Grade,  vollkommen  bei  Men- 
schen wenigstens  fast  nur  an  den  von  Bruch  angegebenen  SteUen. 

Aus  meinen  Beobachtungen  geht  hervor,  dass  auch  im 
Mittelohre  knorpelige  Verschmelzungs Vorgänge  normal  vorkommen. 
Die  zwei  Knorpelstücke  wachsen  einander  entgegen,  die  Grenz- 
schichten verschwinden  allmälig,  bis  die  eigentlichen  Knorpel- 
gewebe unter  Bildung  einer  Raphe  mit  einander  sich  vereinigen. 
Im  Mittelohre  sind  die  Verschmelzung  des  Stapedialringes  mit  der 
Lamina  stapedialis  und  die  des  übriggebliebenen  proxi- 
malen Stückes  des  Hyoidbogens  (Reich  er  tischen  Knorpels) 
mit  dem  Processus  perioticus  posterior  zu  beobachten. 
Bemerkenswerth  ist  es,  dass  die  Lamina  stapedialis  keine  eigent- 
liche tympanale  Grenzschichte  besitzt,  und  da^s  sie  theilweise 
einen  Involutionsvorgang  eingeht. 

Ich  kann  daher  Bruches  und  Schulin's  Ansichten  ver- 
theidigen,  nach  welchen  das  Vorkommen  von  Verschmelzungen 
zweier  gesonderter  Knorpelstücke  angenommen  wird. 

Es  geschieht  also  durch  eine  Reihe  von  Involutipns- ,  Glie- 
derungs-  und  Verschmelzungsvorgängen,   dass   das   einfache  pri- 

20*   <^^> 


238 


Gradenigo. 


mordiale  Skelettypus  des  Embryos  sich  in  das  complicirte  Typus 
des  erwachsenen  Thieres  umwandelt.  Die  meisten  dieser  Vorgänge 
vollenden  sich  in  einem  vorknorpeligen  Stadium,  einige  beginnen 
jedoch  im  vorknorpeligen  Stadium  und  vervollständigen  sich  erst 
nach  dem  Auftreten  des  Enorpelgewebes ;  nur  ausnahmsweise  be- 
ginnen dieselben  zur  Zeit,  wo  die  Verknorpelung  schon  ent- 
standen ist. 

Wir  können  kurz  die  obige  Darstellung  der  Vorgänge,  die 
im  Mittelohre  stattfinden,  in  folgender  Weise  resumiren: 

UmwandlnngsTorgänge  des  primordialen   Skelettypus  des 

Mittelohres. 


Art  der  um- 

wandliuigsvor- 

g&nge 


Vorknorpelige  Skeletelemente 


Knorpelige  Skeletelemente 


a)  Involntions- 
Yorgftnge 


Resorption : 

a)  Abschnitt  der  periotischen 

Kapsel  dem  mnden  Fenster 

entsprechend. 

b)  Proximales  Stftck  des 
Hyoidbogens  (i  n  t  e  r-h  j  a  1  e). 


Theile  der  Lamina  stape- 

dialis,  des  Hecke  Tschen  und 

Reich  er  t'schen  Knorpels 


ß)Gliedenxng8" 
vergangne 


(Zur  Zeit  der  Yerknorpelnng) 

a)  Trennung  des  stapedialen 

Ringes. 

b)  Partielle  Oliedening   des 
Hammers  vom  Ambos. 


a)  Differenzimng  der  Lamina 

stapedialis. 

b)  YoUendnng  der  Trennung 
des  Hammers  vom  Ambos 


•f)  Verschmel- 
snngsYorgänge 


a)  Distale  Enden  des  ersten 
Kiemenbogens  miteinander. 

b)  Distale  Enden  des  zweiten 
Kiemenbogens  mit  dem 

Basihyale. 

c)  Proximale    Enden     des 
zweiten    Kiemenbogens    mit 

der  Anlage  der  Kapsel. 

d)  Kapsel  mit  der  Schädel- 

basis. 


a)  Annnlus  mit  Lamina 

stapedialis. 

b)  Proximales  Endstück  des 
Hyoidbogens  mit  dem  Pro« 
cessus    perioticns    po- 
sterior 


Wenn   wir   die  erwähnten  Umwandlungen   berücksichtigen, 
dürfen   wir   das  Auftreten   des   eigentlichen  Enorpelgewebes  bei 

<80) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohree :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     239 

den  embryonalen  Skeletelementen  nicht  als  einen  Vorgang  an- 
sehen, welcher  eine  specielle,  von  den  Vorhergehenden  getrennte 
Entwickinngsperiode  auszeichnet,  sondern  blos  als  ein  Kennzeichen, 
dass  die  mehr  axial  gelegenen  Zellen  der  vorknorpeligen  Anlage 
einen  bestimmten  Reifegrad  geworben  haben ;  zwischen  den  ein- 
fachen Zelleuanhäufnngen  und  dem  eigentlichen  Knorpel  gibt  es 
einen  aUmäligen  und  vollständigen  Uebergang. 

Sowohl  vor  als  nach  dem  Auftreten  des  Knorpelgewebes 
wächst  und  verändert  sich  die  Skeletanlage,  sowohl  vor  als  nach 
diesem  Auftreten  bleibt  die  Verwandtschaft  der  Zellen  der  Skelet- 
anlage und  denen  des  Bindegewebes  eine  innige. 

WacbsthuiB  des  Knorpelgewabas.  —  Grenzschiohta  und  chandrogeRe  Zaae. 

Das  Knorpelgewebe  entsteht  in  den  älteren  axialen  Ab- 
schnitten der  vorknorpeligen  Anlage,  welche  keine  Involutions- 
vorgänge erfahren,  als  ob  es  einen  bestimmten  Reifegrad  dieser 
Abschnitte  darstellt;  die  Knorpelzellen  verlieren  sich  allmälig  in 
der  Peripherie  und  gehen  in  die  Zellen,  welche  die  Ueberreste 
der  primitiven  Anlage  bilden,  über.  —  Die  vorknorpelige  Anlage 
selbst  aber,  welche  in  den  allerersten  Entwicklungsstufen  durch 
direete  Differenzirung  des  mesoblastischen  Gewebes  selbst  ent- 
standen ist,  wächst  und  vollendet  sich  fortwährend  auch  in  späteren 
Entwicklungsstadien,  hauptsächlich  durch  Apposition  neues,  peri- 
pherisches Oewebes,  die  Zellen  des  Bindesgewebes  nehmen  allmälig 
die  Anordnung  und  die  Charaktere  der  Zellen,  welche  die  vor- 
knorpelige Anlage  zusammenstellen,  an.  Wir  treffen  daher  um  die 
einzelnen  Knorpelkerne  herum,  zur  Zeit  ihres  ersten  Auftretens, 
eine  besser  gefärbte  peripherische  Schichte,  Grenzschichte; 
und  da  einerseits  die  Zellen  des  Knorpels  in  die  Zellen  der  vor- 
knorpeligen Anlage  und  andererseits  diese  letztere  in  die  Zellen 
des  anliegenden  Bindegewebes  allmälig  übergehen,  können  wir 
in  der  Grenzschichte  einen  Uebergang  von  den  echten  Knorpel- 
zellen zu  den  Bindegewebszellen  constatiren. 

Im  Allgemeinen  stimmen  die  Autoren  in  der  Annahme  tiber- 
ein, dass  das  Wachsthum  des  Knorpelgewebes  in  den  ersten 
embryonalen  Perioden  nicht  nur  durch  interstitielle  Vermehrung 
der  Zellen ;    sondern   auch  durch  eine  Art  Apposition  stattfindet. 

(81) 


240  Gradenigo. 

9 

Brnch  ^®)  meint  sogar,  und  ich  kann  seine  diesbezüglichen  An- 
sichten nicht  theilen,  dass  durch  Intassusception  sich  ausschliess- 
lich die  Intercellolarsubstanz  vermehrt,  und  dass  die  Vermehrung 
der  Zellen  blos  durch  appositionelles  Wachsthum  statthat. 

Je  mehr  in  den  späteren  Entwicklungsstadien  die  Skelet- 
elemente  allmälig  die  Form,  welche  man  beim  Erwachsenen  trifft, 
gewinnen,  vermindert  sich  die  In-  und  Extensität  des  appositio- 
neilen Wachsthums  der  Grenzschichte,  und  der  echte  Knorpel 
dehnt  sich  immer  mehr  aus.  Die  Grenzschichte  wird  daher 
schmäler,  die  sie  zusammensetzenden  Zellen  werden  länglich, 
spindelförmig,  und  nehmen  nach  und  nach  eine  specielle  faserige 
Beschaffenheit  an,  durch  welche,  sowie  von  den  Knorpel-,  als 
auch  von  den  Biudegewebszellen  sie  sich  unterscheiden  lassen. 
Wir  haben  jetzt  schon  die  faserige  Schichte  des  Perichondriums 
angedeutet,  und  können  daher  nicht  mehr  über  ein  appositionelles 
Wachsthum  Bede  halten. 

Kassowitz^'^)  schreibt  in  seiner  wichtigen  Arbeit  über  die 
Verknöcherung  dem  Knorpel  nur  bei  den  ersten  embryonalen 
Perioden  ein  appositionelles  Wachsthum  zu.  —  Sobald  aber  ein- 
mal die  definitive  Form  der  Skelettheile  annäherungsweise  vor- 
gebildet ist,  erfolgt  nach  Kassowitz  das  Wachsthum  des  Skelet- 
knorpels  und  auch  jede  weitere  Formveränderung  ganz  allein 
durch  innere  Vorgänge. 

Wenn  man  in  der  oben  besprochenen  Weise  die  Wachs- 
thumsvorgänge  der  embryonalen  Knorpel  auffasst,  wird  die  B&- 
deutung  der  Grenzschichte  klar,  über  welche  in  der  jüngsten 
Zeit  abweichende  Behauptungen  geäussert  wurden. 

Die  Grenzschichte  wurde  zuerst  von  Henke  und  R  e  y  h  e  r  *®) 
studirt,  welche  sie  nicht  als  eine  Wucherungsschichte  ansahen. 

Bernays*®)  beschreibt  genau  in  einer  wichtigen  Arbeit 
über  die  Entwicklungsgeschichte  des  Kniegelenkes 
des  Menschen  die  Grenzschichte  des  embryonalen  Knorpels 
und  bemerkt  hierbei,  wie  die  Carminreaction ,  insbesondere  mit 
schwacher  Vergrösserung ,  diese  Grenzschichte  gut  zu  markiren 
geeignet  ist.  In  ihr  findet  er  Entwicklungsstufen  von  Knorpel- 
zellen, und  hält  deshalb  diese  sich  unter  Carmin  stark  roth 
färbende  perichondrale  Schichte   als   eine   Wucherungszone,    auf 

(82) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohiei :  die  morpliologische  Bedeutang  etc.      241 

deren  Kosten  der  Knorpel  wäclist.  Er  bezeichnet  diese  Grenz- 
schichte  als  chondrogene  Schichte  und  bemerkt,  dass  diese  bis 
znm  spätesten  embryonalen  Leben  sich  behält. 

N  a  g  e  1  ^^)  theilt  diese  Ansichten  B  e  r  n  a  7  s\  Die  allmäligen 
Uebergänge  der  Knorpelzellen  in  die  anliegenden  indifferenten 
Bindegewebszellen  wurde  auch  von  Stieda^^)  als  ein  Zeichen 
des  noch  immer  fortwährenden  Wachsthums  des  Knorpels  ange- 
nommen. 

Nach  Schulin^^)  indess  stellen  die  Orenzschichten  kdne 
chondrogene  Zone  im  Sinne  Bernays^  dar.  Sie  stellen  vielmehr 
den  Endpunkt  des  appositionellen  Knorpelwachsthums  dar.  —  Man 
findet  sie  auch  im  fertigen  Knorpelgewebe,  welches  im  Gegen- 
satz zum  embryonalen  kein  Carmin  annimmt,  aber  von  einer  sich 
lebhaft  mit  Carmin  färbenden  Grenzschichte  umgeben  ist,  welche 
längliche  Körperchen  enthält  und  den  allmäligen  Uebergang  zu 
benachbartem  Bindegewebe  bildet. 

Die  Erklärung  solcher  bedeutender  Abweichungen  der 
Meinungen  Bernays'  und  Schulin's  dürfte  meines  Erachtens 
im  folgenden  Satze  S  c  h  u  1  i  n's  zu  ersehen  sein  (pag.  257)  : 

i,An  solchen  Stellen,  wo  die  Knorpeln  appositioneil  wachsen, 
findet  man  auch  bei  schwacher  Yergrösserung  nicht  scharf  abgesetzte 
Zonen  mit  kleinen,  rundlichen,  sich  lebhaft  färbenden  Zellen, 
welche  allmälig  in  sehr  kemreiches  Bundzellengewebe  übergehen. 
Wenn  dann  die  Apposition  aufhört,  bildet  sich  als 
Endproduct  die  beschriebene  Grenzschichte." 

Offenbar  bezeichnet  Sc  hui  in  mit  dem  Wort  Grenzschichte 
eher  als  die  Zonen  „mit  kleinen,  rundlichen,  sich  leb- 
haft färbenden  Zellen"  (die  eigentliche  chondrogene 
Schichte  Bernays"),  das  Endproduct  von  diesen,  „welches 
sich  auch  im  fertigen  Knorpelgewebe  vorfindet." 

Nach  solcher  Deutung  entspricht  die  Behauptung  Schul!  n's, 
dass  die  Grenzschichte  keine  chondrogene  Schichte  darstellt,  voll- 
kommen den  Beobachtungsthatsachen.  Diesen  Thatsachen  gemäss, 
gehört  der  Grenzschichte  nur  bei  den  ersten  embryonalen  Stadien 
die  Bedeutung  einer  Wucherungszone,  die  zu  dieser  Zeit  als  die 
Eeste  der  vorknorpeligen  Anlage,  welche  fortwährend  appositioneil 
wächst,  angesehen  werden  kann.    In  diesen  Stadien  ist   in   der 

(83) 


242  Gradenigo. 

That  ein  allmäliger  Uebergang  zwischen  den  Knorpeln  und  des 
Bindegewebszellen  zu  bemerken. 

In  einem  späteren  Stadium,  wenn  die  Knorpelabschnitte 
schon  annähemngs weise  die  Form,  welche  beim  Erwachsenen  tn- 
zntreffen  ist,  darbieten,  verwandelt  sich  die  chondrogene 
Schichte  zn  einer  dünnen  faserigen  Schichte,  dentlich  vom  Knorpel 
als  anch  von  dem  anliegenden  Bindegewebe  gesondert ;  in  diesem 
Stadium  besitzt  sie  kein  chondrogenes  Vermögen. 

Die  Anlagen  dar  fielanke. 

Was  die  Entwicklung  der  Gelenke  anbelangt,  werde  ich 
nur  auf  einige  Thatsachen  hinweisen,  welche  sich  zu  der  ersten 
Gelenkanlage  beziehen,  da  die  Behandlung  ihrer  weiteren  Aus- 
bildung mit  dem  Studium  yon  embryonalen  Stadien,  wo  die  Ver- 
knöcherung  des  primordialen  Skelets  schon  aufgetreten  ist,  zu- 
sammenhängt. 

Im  Mittelohre  treffen  wir  drei  in  etwas  verschiedener  Weise 
sich  entwickelnde  Gelenke,  das  Gelenk  des  langen  Ambosschenkels 
mit  dem  lateralen  Band  des  Annulus  stapedialis,  das  stapedio- 
vestibuläre  Gelenk  und  das  Hammer- Ambosgelenk. 

Zwischen  dem  Ende  des  langen  Ambosschenkels  ^)  und  dem 
stapedialen  Bing  verlängern  sich  noch  vor  dem  Auftreten  des 
Knorpels  die  respectiven  Grenzschichten,  welche  später  allmälig 
dünner  werden  und  faserige  Beschaffenheit  bekommen. 

Die  knorpelige  Lamina  stapedialis  ist  indess  vom 
Anfang  an  Eins  mit  der  übrigen  vestibulären  Wand,  und  um  ihre 
Umrandung  herum  bildet  sich  das  Ligamentum  anulare,  haupt- 
sächlich durch  Hineinbringen  von  faserigen  Elementen  der  nach- 
baren Grenzschichten. 

Das  Hammer- Ambosgelenk ,  bei  welchem  die  Gelenkfläche 
allmälig  nach  dem  Auftreten  des  Knorpels  durch  die  Verlängerung 
der  Grenzschichte  getrennt  werden,  könnte,  was  seine  Entwick- 
lungsart betrifft,  als  intermediäre  zwischen  dem  stapedio-incudalen 
Gelenk  (wo  die  Grenzschichten  von  Anfang  an  die  noch  vorknor- 

')  Ich  wül  eigentlich  betonen,  dass  zn  dieser  Zeit  keine  Spnr  eines  ge- 
trennten Enorpelabschnittes  zn  sehen  ist,  welcher  dem  Os  sylviannm  ent- 
spricht 

(84) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolires :  die  morphologifiche  Bedeutung  etc.     243 

peligen  Skelettheile  trennen)  und  dem  stapedio-yestibnlaren  Gelenk 
(wo  diese  Trennung  erst  nach  der  Verknorpelung  erfolgt),  ange- 
sehen werden. 

Bei  allen  diesen  Gelenken  können  wir  jedoch  constatiren, 
dass  es  die  Elemente  der  Orenzschichte  sind,  welche  die  Anlage 
der  Gelenkkapsel  bilden. 

Die  Oelenkflächen  des  Hanmiers  und  des  Ambosses,  welche 
beim  Embryo  annähernd  die  complicirte  Oestalt,  die  man  beim 
erwachsenen  Individuum  trifft,  darbieten,  würden  allein  genügen 
zu  beweisen,  dass  die  Lehre  F  i  c  k's,  nach  welcher  die  Form  der 
Gelenkflächen  in  Beziehung  zu  den  Muskelwirkungen  zu  stellen 
wäre,  wenigstens  fllr  die  früheren  embryonalen  Perioden,  nicht 
als  anehmbar  betrachtet  werden  kann. 

Die  primitive  Form  der  Gelenkflächen  soll  ausschliesslich 
in  Beziehung  zu  den  autogenetischen  Vorgängen  gebracht  werden. 

Wenn  wir  die  hauptsächlichen  Ergebnisse,  welche  aus  dem 
Studium  der  knorpeligen  Skeletelemente  im  Mittelohre  zu  ent- 
nehmen sind,  kurz  resumiren,  so  ist  Folgendes  zu  bemerken: 

I.  Die  Verknorpelung  der  einzeken  primitiv  angelegten 
Skeletelemente  erfolgt  nicht  zu  gleicher  Zeit. 

n.  Die  Zeit  des  Auftretens  des  Knorpelgewebes  hängt  haupt- 
sächlich von  bestimmten  ontogenetischen  Vorgängen  ab.  —  Die 
Skeletelemente,  welche  in  späteren  Entwicklungsperioden  keine 
merklichen  Veränderungen  eingehen,  werden  zuerst  knorpelig. 

in.  Das  einfache  primordiale  Skelettypus  erfährt  eine  Reihe 
Umwandlungen,  um  die  complicirte  Gestalt  des  erwachsenen 
Skelettypus  anzunehmen.  Die  meisten  dieser  Umwandlungen  voll* 
enden  sich  in  einem  vorknorpeligen  Stadium ;  einige  jedoch  gehen 
auch  zur  Zeit  vor  sich ,  wo  das  Enorpelgewebe  schon  aufge- 
treten ist. 

rV.  Diese  Umwandlungen  des  primordialen  Skelettypus  können 
im  allgemeinen: 

a)  von  Involutions-, 

ß)  von  Gliederungs-, 

Y)  von  Verschmelzungsvorgängen 
repräsentirt  werden. 

(85) 


244  Gradenigo. 

y.  Das  Auftreten  des  eigentlichen  Knorpelgewebes  stellt 
keine  specielle,  getrennte  Entwicklungsperiode  dar :  zwischen  den 
einfachen  Zellenanhäufungen  der  vorknorpeligen  Anlage  und  dem 
echten  Knorpel  gibt  es  einen  allmäligen  Uebergang« 

VI.  Das  Knorpelgewebe  wächst,  bei  den  ersten  embryonalen 
Stadien,  nicht  nur  durch  Vermehrung  der  ihn  zusammensetzenden 
Zellen ,  sondern  auch  wesentlich  durch  Apposition.  —  Die  soge- 
nannte Grenzschichte  soll  nur  in  diesen  ersten  Stadien  als 
eine  Wucherungszone  angesehen  werden  (chondrogene 
Schichte). 

Vn.  Die  Anlage  der  Gelenke  wird  yon  den  Elementen  der 
Grenzschichte  dargestellt.  Die  primitive  Form  der  (^elenkflächen 
soll  ausschliesslich  in  Beziehung  zu  ontogenetischen  Vorgängen  ge- 
bracht werden. 


n. 

Die  Lehre  der  Entwicklcing   des  Mittelohres  und 

der  periotischen  Kapsel. 

Hammer  und  Ambos.  —  Deckknochen. 

Zur  Erklärung  der  Entwicklungsweise  des  Hammers  und 
des  Ambosses  werden  in  der  Literatur  die  verschiedensten  An- 
sichten angestellt. 

Valentin^—^)  unterscheidet  am  proximalen  Ende  des  mandi- 
bularen Knorpels  drei  Abschnitte:  das  hintere  Stück,  welches  mit 
dem  Schädel  verschmilzt;  das  mittlere  Stück,  welches  die  Grundlage 
für  den  Steigbügel  und  den  langen  Schenkel  des  Ambosses  liefert, 
dessen  kurzer  Fortsatz  mit  dem  zweiten  Eäemenbogen  zusammenhängt ; 
die  übrige  Enorpelmasse  geht  dann  in  den  Hammer  und  den  M  eck  ei- 
schen Knorpel  über. 

Reichert^)  hat  in  einer  dassischen  Arbeit  über  die  Meta- 
morphosen der  Kiemenbogen  der  Wirbeltbiere  eine  wich- 
tige Lehre  aufgestellt.  Nach  derselben  lässt  der  mandibulare  Knorpel 
drei  Abschnitte  an  sich  erkennen :  der  hinterste,  mehr  häutiger  Natur 
und  noch  in  formeller  Entwicklung  begriffen,  nimmt  gar  keinen  Antheil 
an  der  Bildung  der  Gehörknöchelchen ;  der  mittlere  bildet  die  Anlage 
fUr  den  Ambos ;  der  zuerst  sich  entwickelnde  lange  Ambosfortsatz  legt 
sich  an  die   äussere  Seite   des   knorpeligen  Hyoidbogens ;  -  der   kurze 

(86) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentung  etc.     245 

Fortsatz  entwickelt  sich  später.  Der  Hammer  geht  aus  dem  dritten 
vordersten  Abschnitte  hervor. 

Magitot  und  Robin ^^)  nehmen  an,  dass  der  Hammer  sich 
aus  dem  ersten  Eiemenbogen  entwickelt.  Sie  betrachten  jedoch  den 
Ambos  als  ein  unabhängig  entwickeltes  Gebilde. 

Huxley,  welcher  zuerst  die  Lehre  Reichert's  angenommen 
hatte  *<>),  kam  später  von  derselben  ab  ^^"2'),  und,  sich  vorzugsweise 
auf  Ergebnisse  des  Studiums  der  vergleichenden  Anatomie  stützend, 
stellte  er  eine  neue  Lehre  auf.  Nach  Huxley  bildet  der  Hammer 
mit  seinem  gegen  unten  gekrümmten  Handgriff  das  proximale  Ende 
des  mandibularen  Bogens.  Der  Ambos  stellt  hingegen  das  proximale 
Ende  des  Hyoidalknorpels  dar. 

Parker 2»—«»)  bestätigt  und  erweitert  die  Lehre  Huxley*s 
auf  Grund  einer  Reihe  erschöpfender  Arbeiten  über  die  vergleichende 
Embryologie,  welche  in  Philosophical  und  Zoological  Trans- 
actio  US  veröffentlicht,  und  später  in  einem  meisterhaftem  Werke 
über  die  Morphologie  des  Schädels  der  Wirbelthiere  resumirt  wurden. 

Semmer*^)  spricht  sich  bezüglich  der  Herkunft;  des  Hammers 
und  des  Ambosses  zu  Gunsten  der  Reichert'schen  Lehre  aus. 

Hunf^^^^^)  ist  geneigt  fOr  den  Ambos  eine  gewisse  Entwick- 
Inngsunabhängigkeit  von  den  Kiemenbogen  anzunehmen. 

Salensky^'^)  nähert  sich  der  Reichert'schen  Ajischauung: 
„Bei  der  Bildung  des  Hammers  und  des  Ambosses  nimmt  allein  der 
erste  Schlundbogen  Theil ;  der  zweite  Bogen,  im  Gegensatz  zu  der  Be- 
hauptung von  Parker  spielt  hierbei  gar  keine  Rolle.  Schon  in 
ziemlich  frühen  Entwicklungsstadien  trennt  sich  von  dem  ersten 
Eiemenbogen  ein  hinterer  Theil  ab,  und  stellt  die  Anlage  des  Ambosses 
dar,  während  der  übriggebliebene  vordere  Theil  zur  Anlage  des  Ham- 
mers nebst  MeckeTschen  Knorpels  wird.^ 

Der  Vorgang,  nach  welchem  Hammer  und  Ambos  sieh  von  dem 
Mandibularbogen  abgliedern,  ist  von  Salensky  folgendermassen  be- 
schrieben : 

„Die  Veränderungen  im  ersten  Visceralbogen  erweisen  sich 
erstens  in  der  Verdickung  und  in  der  Krümmung  des  proximalen 
Endes  desselben,  und  zweitens  in  der  Bildung  von  zwei  Einschnitten, 
welche  die  Grenze  verschiedener  Theile  des  künftigen  Malleus  und 
Incus  bezeichnen.  Durch  diese  beiden  Furchen  theilt  sich  der  proxi- 
male Abschnitt  des  ersten  Visceralbogens  in  drei  Theile,  von  denen 
der  hintere  durch  eine  Art  Ligamentum  mit  dem  entsprechenden  Theil 
des  Reich  er  tischen  Knorpels  verbunden  ist.  Die^  vollständige  Ab- 
trennung lässt  nicht  lange  auf  sich  warten.  Die  Theilung  geht  gerade 
durch  die  hintere  von  den  früher  beschriebenen  Furchen.  Die  Anlage 
des  Ambosses  stellt  somit  in  den  früheren  Stadien,  da  sie  noch  mit 
dem  M  e  c  k  e  Tschen  Ejiorpel  continuirlich  verbunden  ist,  eine  dreieckige 

(87) 


246  Gradenigo. 

Platte  vor,  in  welcher  wir  nur  den  ProcessiiB  longns  und  einen 
Theil  des  Corpus  incndis  erkennen  können.  Nach  der  Abtrennung 
hat  sie  aber  schon  die  Anlage  des  Processus  brevis,  welche  in 
horizontaler  Richtung  vom  Corpus  abgeht,  und  an  der  Ohrkapsel  sich 
befestigt. 

Der  nach  der  Abtrennung  des  Ambosses  noch  gebliebene  Theil 
des  Meokerschen  Knorpels  stellt  die  Anlage  des  Hammers  und  des 
MeckeTschen  Knorpels  dar.  Die  mittlere  Verdickung  des  M  eck  ei- 
schen Knorpels  wächst  jetzt  etwas  nach  unten  zu,  rundet  sich  ab  und 
stellt  nun  eigentlich  die  Anlage  des  Capitulum  und  des  Manu- 
brium  mallei  dar.  Sie  ist  jetzt  durch  eine  schmale  und  ziemlich 
tiefe  Furche  von  der  vorderen  Verdickung  getrennt.  Wie  es  scheint, 
spielt  diese  letztere  bei  der  Bildung  des  Hammers  keine  Rolle  und 
später  wiri  dieselbe  vollkommen  ausgeglichen. ** 

Fräser'^)  vertheidigt,  auf  Grund  embryologischer  Untersuchung, 
die  Lehre  Huzley's. 

Wenn  wir  die  Meinungen  der  verschiedenen  Autoren  über  die 
Derivation  des  Hanmiers  und  des  Ambosses  miteinander  vergleichen, 
so  können  wir  im  Allgemeinen  zwei  Lehren  unterscheiden,  die  sich 
noch  heute  das  Terrain  streitig  machen. 

Nach  der  Einen  entwickeln  sich  aus  dem  ersten  Kiemenbogen 
HammerundAmbos (Valentin,  Reichert,  Semmer,  Salensky); 
nach  der  anderen  geht  der  Hammer  allein  aus  dem  ersten  Kiemen- 
bogen hervor,  und  dessen  Handgriff  repräsentirt  das  proximale  Ende 
dieses  letzteren  ;  der  Ambos  hingegen  stammt  ans  dem  zweiten  Kiemen- 
bogen und  bildet  das  proximale  Ende  desselben  (Huxley,  Parker, 
Fräser). 

Ich  gehe  nun  zu  kurzer  Schilderung  der  Resultate  meiner 
eigenen,  in  der  ersten  Abtheilung  ausführlich  dargestellten  Unter- 
suchungen, über. 

Die  erste  Andeutung  der  Skeletgnmdlage  der  Kiemenbogen 
erscheint  in  der  Form  einer  isolirten  Anhäufung  kleiner,  runder 
Zellen,  zur  Zeit  als  im  Embryo  nur  die  ersten  Andeutungen  der 
Wirbelkörper  und  der  periotisehen  Kapsel  als  Skelettheile  vor- 
handen sind.  Die  Lage  dieser  Zellenanhäufung  lässt  sie  als  den 
Vertreter  eines  proximalen  Stückes  des  ersten  Kiemenbogens  be- 
trachten. In  diesem  Stadium  sind  absolut  keine  deutlichen  Spuren 
des  zweiten  Bogens  bemerkbar. 

Später,  wenn  der  Mandibularzellenstrang  (knorpelartiger 
Visceralstreifen  Reichert's,  häutiger  Bogen  Kölli- 
ker's)  schon  deutlich  in  dem  ganzen  mittleren  Theil  des  betreffen- 

(88) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeatang  etc.     247 

den  Eiemenbogens  gesondert  erscheint,  breitet  sich  sein  proximales 
Ende  ans ,  ohne  jedoch  dentliche  Umrisse  zn  zeigen.  Zu  dieser 
Zeit  ist  der  vorknorpelige  Hyoidbogen  in  seinem  ganzen  Umfange 
ziemlich  scharf  begrenzt  und  sein  mit  der  Anlage  der  perio- 
tischen  Kapsel  in  Verbindung  tretendes  proximales  Ende  lässt 
den  Annnlus  stapedialis  erkennen. 

Namentlich  an  den  Frontalschnitten  kann  leicht  beobachtet 
werden,  dass  eine  Schichte  von  embryonalem  Gewebe  die  zwei 
respectiven  proximalen  Enden  yon  einander  trennt. 

In  einem  späteren  Stadium,  wenn  der  Mandibularbogen  in 
seiner  grössten  Ausdehnung  Charaktere  eines  reifen  Knorpels 
bietet,  lassen  sich  in  der  Gewebsmasse,  welche  im  yorigen  Stadium 
das  proximale  Ende  des  Mandibularbogens  dargestellt  hat,  die 
knorpeligen  Körper  des  Hammers  und  des  Ambosses  erkennen. 
Der  Hammerkörper,  welcher  sich  nach  vorne  in  den  M  eck  ei- 
schen Knorpel  verlängert,  bietet  wie  jener,  das  Aussehen  eines 
reifen  Knorpelgewebes  dar. 

Das  Knorpelgewebe  erscheint  am  Amboskopf  weniger  reif 
als  am  Hammer. 

Zwischen  Hammer  und  Ambos  ist  auch  in  knorpeligem  Zu- 
stande eine  partielle  Vereinigung  der  Gelenkflächen  zu  sehen.  — 
Sowohl  von  dem  Körper  des  Hammers  als  auch  von  jenem  des 
Ambosses  gehen  nach  unten  zwei  Fortsätze  ab:  der  Hammergriff 
und  der  lange  Ambosschenkel,  die  ein  umsoweniger  reifes  Gewebe 
zeigen,  je  weiter  man  unten  gegen  das  Ende  zu  fortschreitet. 

Nach  hinten  von  dem  Körper  des  Ambosses  geht  in  ähnlicher 
Weise  der  kurze  Fortsatz  ab.  Der  lange  nach  unten  und  medialwärts 
gerichtete  Ambosschenkel  biegt  sich  stark  an  seinem  Ende  und  tritt 
in  ein  inniges  Verhältniss  mit  dem  lateralen  Rand  des  aus  dem 
zweiten Kiemenbogen hervorgegangenen  Annulusstapedialis. 
In  diesem  Stadium  ist  keine  Spur  eines  lenticularen 
Abschnittes  (Os.  Sylvianum)  zu  sehen. 

Aus  den  von  mir  gewonnenen  Resultaten  erhellt, 
dass  sowohl  der  Hammer  wie  der  Ambos  als  Deri- 
vate des  ersten  Kiemenbogens  angesehen  werden 
dürfen.  Der  Körper  des  Ambosses  stellt  das  proxi- 
male Ende  des  mandibularen  Bogens  dar. 

(89) 


248  Gradenigo. 

Ich  kann  daher  die  Lehren  Yalentin'B,  Reichert's  nnd 
Salensky's  in  ihren  allgemeinen  Zügen  bestätigen;  ich  sehe 
mich  aber  veranlasst,  einige^  wichtige  Details  anders  aufzufassen. 

Ich  konnte  in  keinem  Eiftwicklnngsstadinm,  weder  vor  noch 
nach  dem  Auftreten  des  Enorpelgewebes ,  die  Gegenwart  jenes 
proximalen  Abschnittes  des  Eiemenbogens  nachweisen,  welcher 
nach  Valentin  und  Reichert  einen  Jnvolutionsvorgang  ein- 
geht, und  an  der  Bildan^^^^«4er  GehSrkoQi^eleheft  keinen  Antheil 
nehmen  soll.  Meine  Upitirsuchungen  haben  ergeben,^  fbuv.  das  pro- 
ximale Ende  des  uMmdibularen  Bogens  seit  seinem  ersten  3|«f- 
treten  von  der  Anlage  der  periotischen  Kapsel  getrennt  ist.  Auch 
kann  von  eineiia  eigentlichen  Zusammenhang  zwischen  dem  Hyoid- 
bogen  und  dem  kurzen  Fortsatze  des  Ambosses  (Valentin)  nicht 
die  Rede  sein. 

.ferner   scheint   die  Erklärung  Säle nsky's   über   die  von 
ihm  beobachteten  Thatsachen  nicht  ganz  richtig  zu  sein.  ^) 

Auf  Orund  meiner  Wahrnehmungen  kann  ich  die  Angabe 
Salensky's,  dass  der  mandibulare  Zellenstrang  sich  an  der 
Anlage  der  periotischen  Kapsel  befestigt,  nicht  bestätigen.  Eben- 
falls konnte  ich  nicht  constatiren,  dass  die  proximalen  Enden 
der  beiden  Bogen  miteinander  durch  embryonales  Gewebe  ver- 
bunden sind.  —  Ein  Blick  auf  die  Fig.  5  und  6  zeigt,  dass  aller- 
dings zwischen  diesen  Enden  eine  Schichte  von  embryonalem 
Bindegewebe  vorhanden  ist ;  dasselbe  kann  aber  absolut  nicht  als 
ein  Verbindungselement  angesehen  werden,  da  es  mit  dem  übrigen 
mesodermatischen  Gewebe  identisch  ist. 

Femer  habe  V^h  die  Einzelheiten  in  der  Trennung  des 
Hammers  vojsi  Ambos,  wie  diese  von  Salensky  aufgefasst 
wordeii  sind  nicht  bemerken  können. 

Schon  die  einfache  Prüfung  der  von  Salensky")  ange- 
gebenen Figuren,  zur  Erklärung  dieser  £^ntwicklungsweise  der 
Gehörknöchelchen,  lässt  den  Verdacht  aufiommen,  dass  die  von 
ihm  erlangten  Resultate  zum  Theil  der  Von  ihm  angewendeten 
Präparationsmethode  zuzuschreiben  seien.  'In  seiner  Fig.  4  z.  B. 


')  Wenn  man  die  Arbeü  S  a  1  e  n  s  k  y's  dnrdmimmt,  mnss  man  annehmen, 
dass  Salensky  anck  die  yorknorpelige  Anlage  als  Knorpel  beseichnet. 

(90) 


Die  embryonale  Anlage  dea  Mittelohrea :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     249 

erscheint  die  ganze  Anlage  des  Hammers  kleiner  als  der  kurze 
Fortsatz  des  Ambosses ;  der  lange  Ambosschenkel  wird  in  Fig.  3 
länger  als  in  Fig.  4  abgebildet,  welche  letztere  eine  spätere  Ent- 
wicklungsperiode darstellt. 

Abgesehen  jedoch  von  einigen  Missverhältnissen  in  den 
Zeichnungen  und  von  der  allzu  schematischen  Darstellung  der- 
selben, ist  andererseits  nicht  zu  zweifehl,  dass  man  durch  die 
anatomische  Pnlparationsmethode,  welche  Salensky  geübt  hat, 
ähnliche  Bilder  bekommen  kann. 

„Die  anatomische  Präparation  stellt  eine  ziemlich  schwierige 
Manipulation  dar^ ,  wie  dies  auch  der  erfahrene  Forscher  selbst 
zugibt.  In  diesen  ersten  Entwicklungsstadien  treten  die  Grenzen 
des  Knorpels  nicht  sehr  scharf  hervor;  das  den  Knorpel  umhül- 
lende embryonale  Bindegewebe  kann  nicht  vollkommen  entfernt 
werden.  Es  kann  in  der  That  auch  dem  vorsichtigeren  Anatomen 
leicht  passiren,  dass  sammt  dem  embryonalen  Bindegewebe  auch 
die  Ueberreste  der  vorknorpeligen  Anlage  um  die  Knorpelkeme 
entfernt  werden. 

Es  war,  meines  Erachtens,  die  anatomische  Präparation, 
welche  den  Autor  zu  einer  mit  meiner  nicht  übereinstimmenden 
Ansicht  ftlhrte. 

Ich  kann  mit  Bestimmtheit  behaupten,  dass  auch  bei  dem 
ersten  Auftreten  des  Knorpels  eine  Verbindung  zwischen  beiden 
Enden  der  Kiemenbogen  mittelst  eines  Bandes,  wie  dies  Sa- 
lensky angibt  und  abbildet,  nicht  nachzuweisen  ist.  In  diesem 
Entwicklungsstadium  ist  der  Reich  er  t'sche  Fortsatz  schon  in 
einem  Involutionsvorgang  begriffen.  Von  seinem  oberen  knorpeligen 
Endstücke,  welches  tiefer  als  der  Steigbügel  liegt,  geht  nur  ein 
Zellenstrang  ab,  der  mit  dem  lateralen  Rand  des  Stapedialringes 
in  Verbindung  tritt  und  sich  zum  Theil  mit  der  nächstliegenden 
vorknorpeligen  Anlage  des  langen  Ambosschenkels  verbindet. 
Dieser  Strang  soll,  meiner  Ansicht  nach,  nur  als  ein  bald  schwin- 
dender Ueberrest  des  Hyoidbogens  angesehen  werden. 

Ich  behalte  mir  vor,  in  dem  Capitel,  welches  von  der  Mor- 
phologie der  Gehörknöchelchen  handelt,  die  namentlich  auf  Grund 
der  in  der  vergleichenden  Anatomie  aufgestellten  Lehren  Hux- 
ley's*»-")  und  Parker's"®^'*)  durchzuprüfen  und  zu  discutiren. 

(81) 


250  Gradenigo. 

Ich  will  nur  hier  zwei  embryologische  Argumente  wider- 
legen, welche  in  einem  jüngsten,  durch  Reichthum  des  Materials 
und  Sorgfalt  der  Details  ausgezeichneten  Werke  Fraser's^^)  zur 
Stütze  der  Huxley'schen  Lehre  angeführt  sind. 

Nachdem  Fräser  den  directen  Zusanmienhang  zwischen 
dem  proximalen  Ende  des  Hjoidbogens  und  dem  langen  Ambos- 
schenkel  nicht  nachzuweisen  im  Stande  war,  so  nimmt  er  nur 
auf  Grund  der  Thatsachen  an,  dass  beide  Skelettheile  in  der- 
selben Richtung  yerlaufen,  und  dass  sie  dieselbe  knorpelige 
Beschaffenheit  aufweisen. 

Diesbezüglich  will  ich  nur  hervorheben,  dass  es  in  ganz 
anderer  Weise  zu  erklären  ist,  warum  der  lange  Ambosschenkel, 
der  mit  dem  lateralen  Rande  des  Annulus  stapediales  zu- 
sammenhängt, beiläufig  in  der  Verlängerung  der  Richtung  des 
Hyoidbogens  zu  liegen  kommt.  In  derThat  hat  sich  dasselbe,  in 
dem  unmittelbar  vorhergehenden  Stadium  bis  zum  benannten 
Rand  des  Ringes  fortgesetzt. 

Zu  Gunsten  der  Lehre  Huxlej's  spricht  auch  die  Thatsache 
nicht,  dass  das  obere  Ende  des  Hyoidbogens  ein,  dem  des  langen 
Ambosschenkels  ähnliches,  Enorpelgewebe  darbietet ;  die  Beschaffen- 
heit des  Enorpelgewebes  steht  nicht  nur  in  Beziehung  zur  Zeit  des 
Auftretens,  sondern  wesentlich  zu  der  morphologischen  Bedeutung 
und  der  späteren  Bestinmiung  der  einzelnen  Enorpelabschnitte. 

Deckknochen. 

lieber  die  Art  des  ersten  Auftretens  der  meisten  Deckknochen 
des  Schädels  sind  noch  unsere  Kenntnisse  sehr  mangelhaft.  Die 
topographischen  Verhältnisse  der  Deckknochen,  welche  zu  dem 
mandibularen  Bogen  in  Beziehung  gebracht  werden  können, 
wurden  von  mir  zur  Zeit  ihres  ersten  Auftretens  bei  menschlichen 
Embryonen  studirt.  Die  Beschreibung  ihrer  weiteren  Entwicklung 
soll  nicht  in  vorliegender  Arbeit,  welche  verhältnissmässig  früh- 
zeitige embryonale  Stadien  berücksichtigt,  Platz  finden. 

Unterkiefer  (vgl.  Fig.  25).    Der  knöcherne  Unterkiefer 
wurde   schon   von   einer   Reihe   hervorragender  Forscher,   unter 
welchen   ich  EöUiker  und  Stieda   nenne,   zum  Objecto  ein- 
gehenden Studiums  gemacht. 
im 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologiscbe  Bedeutung  etc.     251 

Im  GegenBatz  zu  St  reiz  off  8  Behauptung,  nach  welcher  es 
höchst  wahrscheinlich  wäre,  dass  der  ganze  Unterkiefer  im  Knorpel- 
gewebe  präformirt  sei,  kann  ich,  mit  Stieda  übereinstimmend, 
die  Unabhängigkeit  des  Knochengewebes  von  dem  M  e  c  k  e  Tschen 
Knorpel  hervorheben. 

Der  Unterkiefer  erscheint  im  Embryo  sehr  frühzeitig.  Dieser 
ist  in  seinem  vorderen  Abschnitte  (pars  alveolaris)  zuerst 
durch  eine  lange  Strecke  von  zwei  knöchernen,  unten  vereinigten 
Lamellen  (mediale  und  laterale)  vertreten,  welche  einen 
nach  oben  geöffneten  Winkel  begrenzen.  In  diesem  Winkel  liegen 
die  Zahnkeime,  die  Arteria  und  Nervus  alveolaris,  und 
erscheinen  in  einem  Gewebe  eingebettet,  welches  durch  seine 
Zartheit  von  dem  umgebenden  faserigen  Bindegewebe  sich  differen- 
zirt.  Die  mediale  Lamelle  ist  bei  Menschen  mit  ihrer  Krümmung 
concentrisch  zu  der  äusseren  convexen  Fläche  des  M  e  c  k  e  Fschen 
Knorpels  angeordnet  und  bleibt  von  dieser  in  einer  fast  constanten 
Entfernung. 

Sowohl  dem  distalen,  als  auch  dem  proximalen  Ende  des 
MeekeTschen  Knorpels  entsprechend,  verschwindet  nach  und  nach 
die  mediale  Lamelle;  die  Portio  coronoidea  und  condy- 
loidea  des  Unterkiefers  wird  ausschliesslich  durch  die  laterale 
Lamelle  vertreten.  Sehr  frühzeitig  tritt  ein  Yerknöcherungspunkt 
in  dem  Meckel'schen  Knorpel  neben  der  Mittellinie  ein.  Zur 
Bildung  der  knorpeligen  Gelenkfläche  hat  der  M e  ck  e  Tsche  Knorpel 
gar  keinen  Antheii. 

Os  squamosum  (vgl.  Fig.  26).  Das  Os  squamosum 
kommt  in  einer  frontalen  Ebene  gleich  hinter  der  Pars  condy- 
loidea  des  Unterkiefers  und  hinter  dem  Os  jugale  zum  Vor- 
schein, welches  letztere  als  isolirte  knöcherne  Lamelle  erscheint 
Das  Os  squamosum  wird  gegen  vorne  von  zwei  Lamellen 
repräsentirt,  die  eine  horizontal,  concentrisch  der  oberen  lateralen 
Fläche  des  M  e  c  k  e  Tschen  Knorpels  gelegen,  die  andere  vertical, 
sich  mit  der  ersten  unter  Bildung  eines  fast  rechten  Winkels  ver- 
einigend, gestellt.  Die  horizontale  Lamelle  trägt  später  zur  Bildung 
des  Temporo-maxill.  Gelenkes  bei.  An  der  Stelle,  wo  der  Man- 
dibularbogen  in  den  Körper  des  Hammers  sich  fortsetzt,  vereinigen 
sich  die  zwei  Lamellen  zu  einer  einzigen,  welche  mit  ihrer  Con- 

Med.  Jahrbücher.  1887.  21     (-'8) 


252  Gradenigo. 

cavität  der   äusseren  oberen  Fläche  den   Hammer- Amboskörp  er 
lateralwärts  begrenzt. 

Annulns  tympanicus  (vgl.  Fig.  26).  Der  tympanale 
Bing  erscheint  in  Form  eines  Kreises,  welcher,  gegen  oben  und 
hinten,  den  Körpern  der  zwei  grösseren  Knöchelchen  entsprechend, 
nnterbrochen  erscheint.  Dieser  Bing  ist  in  fast  sagittaler  Bichtong 
zwischen  dem  nach  hinten  aufsteigenden  oberen  Stücke  des 
MeckeFschen  Knorpels  und  dem  oberen,  nach  vorne  und  oben 
gekrümmten  Abschnitte  des  Beichert'schen  gelegen. 

Wir  können  zur  Klarheit  folgender  Darstellung  drei  Ab- 
schnitte an  der  Umrandung  des  tympanalen  Binges  unterscheiden : 
einen  Abschnitt,  welcher  unmittelbar  unterhalb  des  proximalen 
Stttckes  des M e c k e Fschen Knorpels  zu  liegen  kommt  (vorderer 
oberer  Bogenabschnitt);  einen  Abschnitt,  welcher  parallel 
mit  dem  letzten  Stücke  des  Beichert'schen  Knorpels  verläuft 
(hinterer  Bogenabschnitt),  und  einen  dritten  Abschnitt,  welcher  die 
zwei  erstgenannten  vereinigt  (vorderer  unterer  Bogen- 
abschnitt). 

Es  scheint  mir,  dass  bis  jetzt  nicht  die  entsprechende  Auf- 
merksamkeit der  schon  bekannten  Thatsache  (M  a  g  n  u  s  ^^), 
Baraldi^^),  Schwalbe)  geschenkt  wurde,  dass  gerade  der 
unmittelbar  unterhalb  des  MeckeFschen  Knorpels  gelegene 
Abschnitt  des  Annulus  sich  durch  Grösse  und  Gestaltung  deut- 
lich von  der  übrigen  Umrandung  des  Binges  differenzirt.  Dieser 
Abschnitt  erscheint  thatsächlich  in  Form  einer  gekrümmten,  mit 
der  Concavität  der  unteren  Oberfläche  des  M  e  c  k  e  Fschen  Knorpels 
gewendeten  und  in  einer  bestimmten  Entfernung  von  dieser  ge- 
legenen Lamelle.  Gegen  hinten  zu  endet  diese  Lamelle  unmittelbar 
vor  der  Stelle,  wo  der  MeckeFsche  Knorpel  in  den  Hanoumer 
übergeht,  frei;  und  vorne  setzt  sie  sich  iheils  mit  einer  ziemlich 
ausgesprochenen  Wendung  in  den  vorderen  unteren,  zwischen  dem 
mandibularen  und  hjoidalen  Knorpel  gelegenen  Abschnitt  des 
Binges  fort;  theils  begleitet  sie  noch  auf  kurze  Strecke  den 
Mecke  Fschen  Knorpel.  Die  beschriebene  Lamelle  dürfte  wegen 
ihrer  topographischen  Lage  in  Beziehung  zum  mandibularen  Bogen 
gebracht  werden. 

(94) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentxmg  etc.     253 

Der  dünne  dazwischen  liegende  Abschnitt  des  Ringes  ist 
verhältnissmässig  knrz,  da  die  proximalen  Enden  der  zwei  Kiemen- 
knorpel  nnr  wenig  von  einander  entfernt  sind. 

Der  Hyoidknorpel  convergirt  proximal  nach  oben  und  vorne 
gegen  den  mandibularen.  Der  Abschnitt  des  Ringes,  welcher  vor 
dem  R  ei  eher  tischen  Knorpel  nachläuft,  führt  zu  diesem  parallel 
eine  Krümmung  gegen  oben  aus  und  endet  selbst  frei,  ungefähr 
in  der  Höhe,  wo  der  Knorpel  aufhört. 

Dieser  hintere  Abschnitt  des  Ringes  dürfte  trotz  seiner  topo- 
graphischen Lage  nicht  ohne  weiteres  in  Beziehung  zu  dem 
Reicher  tischen  Knorpel  gebracht  werden,  weil : 

a)  Er  sich  nicht  durch  (restaltung  und  Durchmesser  von 
dem  intermediären  Abschnitt  des  Ringes  unterscheidet  und  yorne 
in  diesen  übergeht; 

b)  er  nicht  gegen  die  Oberfläche  des  Knorpels  concay,  wie 
es  bei  den  anderen  Deckknochen  der  Fall  ist,  erscheint. 

c)  er  bei  manchen  Thierembryonen  (Hundeembryonen)  in  einer 
ziemlich  ansehnlichen  Entfernung  vom  Reich  er  tischen  Knorpel 
bleibt. 

Der  Annulus  tympanicus  sollte,  meines  Erachtens,  als 
einziges  Skeletelement  angesehen,  und  ausschliesslich  zu  den 
Meckel'schen  Knorpel  in  Beziehung  gebracht  werden.  In  ähn- 
licher Weise  als  der  andere  von  uns  bis  jetzt  beschriebene  Deck- 
knochen (Unterkiefer,  Os  squamosum),  besteht  er  aus  einer  Lamelle 
welche  durch  Gestaltung  und  topographische  Lage  sich  in  Be- 
ziehung zu  den  MeckeTschen  Knorpel  bringen  lässt,  und  aus 
einem  Theile,  welcher  in  Fortsetzung  mit  dieser  Lamelle  sich 
befindet.  ^) 

Processus  folianus  seu  gracilis  mallei  (vergl. 
Fig.  26).  Der  Processus  folianus  stellt  ein  noch  wenig  be- 
kanntes Gebiet  der  Anatomie  des  Hammers  dar. 

Robin  und  Magitot^*)   halten  ihn  als  knorpelig  präformirt. 


')  Gegen  die  Behanptaiig  einiger  Autoren  (Hagenbach,  Baraldi^') 
bemerke  ich,  dass  in  keinem  Entwicklnngsstadinm  der  Ann.  tymp.  in  directe 
Berfihmng  mit  dem  Heck.  Knorpel  tritt  nnd  somit  keinen  Druck  anf  lets- 
teren  ans&ben  kann. 

21  •    m 


254  Gradenigo. 

Hageobach  bemerkt  dass  der  lange  Hammerfortsatz  unab- 
hängig entsteht,  nnd  dass  das  beträchtlichste  Wachsthum  desselben  zu 
einer  Zeit  erfolgt,  wo  der  MeckeTsohe  Knorpel  zu  verschwinden 
beginnt. 

Reichert*)  scheint  diesen  Fortsatz  als  einen  Theil  des 
MeckeTschen  Elnorpels  zu  betrachten,  er  drückt  sich  in  der  That 
in  folgender  Weise  aus: 

„J.  F.  Meckel,  C.  H.  Weber,  S.  Valentin  u.  A.  führen 
an,  dass  der  MeckeTsche  Knorpel  über  den  Processus  folii  liegend, 
von  ihm  selbst  ganz  zu  trennen  sei.  Doch  kann  ich  mir  diese  Angabe 
nicht  anders  erklären,  als  dass  es  in  seltenenFällen  wegen  der 
mangelhaften  Ossification  vorkommt,  dass  dieselbe  von  den  verknöcherten 
Anfange  nur  einseitig  vorschreite  und  so  Knochen  und  Knorpel  von 
einem  und  demselben  Theile  nebeneinander  liegen.^ 

Magnus  ^^)  hebt  hervor,  dass  der  Processus  gracilis  inten- 
siver als  die  Knöchelchen  wächst  und  an  dem  unteren  Umfange  des 
MeckeTschen  Knorpels,  jedoch  ohne  allen  Zusammenhang  mit  dem- 
selben, bleibt.  Nach  ihm  liegt  der  Fortsatz  in  der  Nähe  des  Annulus 
tympanicus,  jedoch  nicht  zusammenhängend,  unter  oben  vorsprüng- 
lichen  Leistchen,  welches  den  Hals  des  Hammers  aufnimmt  (dieses 
Leistchen  wird  von  mir  als  vorderer  oberer  Abschnitt  des 
Annulus  tympan.  bezeichnet). 

Nach  KöUiker^^)  entwickelt  sich  unmittelbar  vor  dem 
Annulus  tympanicus  von  vorne  nach  hinten  ein  Stück  von  verknöchertem 
Bindegewebe,  welches,  obwohl  in  einer  gewissen  Entfernung  von  dem 
MeckeTschen  Knorpel,  in  einer  gemeinsamen  faserigen  Hülle  mit 
diesem  umgeben  ist. 

Aus  meinen  Wahrnehmungen  geht  hervor,  dass  der  Processus 
gracilis  bei  seinem  Auftreten  im  menschlichen  Embryo  vorne  nicht 
ganz  bis  zum  vorderen  Rand  des  Annulus  reicht  und  hinten  frei 
in  der  Frontalebene  des  vordersten  Theiles  des  Hammerkörper,  ohne 
mit  dem  Annulus  tympanicus  oder  mit  dem  Hammer  in  Ver- 
bindung zu  treten,  endet.  Er  ist  in  Form  einer  isolirten  knöchernen 
Leiste,  leicht  concav  gegen  die  untere  mediale  Fläche  des  M  eck  ei- 
schen Knorpels. 

Hammer  und  Ambos  entwickeln  sich  aus  dem  proximalen  Ende 
des  mandibularen  Rogens. 

Unterkiefer,  Os  squamosum,  Annulus  tympanicus  und  Pro- 
cessus gracilis  mallei  können  als  Deokknoohen  in  Beziehung  zum 
mandibularen  Knorpel  gebracht  werden. 


(M) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohr  es  :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     255 


Steigbügel.  —  Periotische  Kapsel. 

SteigbQgel. 

Wenn  die  Anschauungen  schon  über  die  Entwicklungsweise 
des  Hammers  und  des  Ambosses  so  auseinandergehen,  so  lässt 
sich  erwarten,  dass  die  Anschauungen  über  die  Entstehungsart 
des  Steigbügels  —  welcher  wegen  seiner  geringen  Dimensionen 
und  seiner  tiefen  versteckten  Lage  der  Untersuchung  schwer 
zugänglich  ist  —  noch  verschiedenartiger  seien. 

Valentin^'")  bringt  den  Steigbügel  mit  dem  ersten  Eiemen- 
bogen  in  Beziehung. 

Nach  Huschke^)  sollen  hingegen  beide  EDorpel  der  zwei 
ersten  Eiemenbogen  mit  der  Verschmelzung  ihrer  proximalen  Endeu 
zur  Bildung  des  Stapes  führen. 

Burdach  ^)  lässt  den  Stapes  aus  der  Labyrinth  wand  entstehen. 

Nach  Reichert  1^)  stammt  dieses  Element  aus  dem  zweiten 
Eiemenbogen  und  ist  durch  eine  lockere  Substanz  von  dem  Zungen- 
beinstück des  zweiten  Bogens  getrennt.  Diese  lockere  Substanz  wandelt 
sich  spater  in  den  Musculus  stapedius  um,  während  der  hyoidale 
Enorpel  als  Eminentia  pyramidalis  der  PankenhOhle  angehört. 

Nach  Gü  n  t  h er  ^^'  ^')  sollte  der  Steigbügel  nicht  aus  dem  zweiten, 
sondern  aus  dem  ersten  Eiemenbogen  entstehen. 

M  a  g  i  1 0 1  und  R  o  b  i  n  ^^)  nehmen  sowie  für  den  Ambos,  als  auch 
für  den  Stapes  eine  gewisse  Entwicklungsunabbängigkeit  an. 

Nach  Bruch^'"  ^^)  soll  der  Stapes  aus  dem  oberen  Ende  des 
Hyoidknorpels  entstehen. 

Parker""")  vertritt  die  Ansicht,  besonders  auf  Grund  der 
vergleichenden  Anatomie,  dass  auch  bei  den  höheren  Säugethieren  der 
Steigbügel  aus  der  knorpeligen  periotischen  Eapsel  hervorgeht. 

Nach  Semmer**)  erscheint  der  Stapes  in  Form  eines  Zellen- 
haufens dem  proximalen  Ende  des  Hyoidbogens  entsprechend.  S  e  m  m  e  r 
hält  es  für  wahrscheinlich,  dass  der  Stapes  aus  dem  zweiten  Eiemen- 
bogen sich  herausbildet:  er  kann  dieses  jedoch  nicht  mit  voller  Be- 
stimmtheit behaupten. 

Hunt^'"*^)  theilt  nicht  die  Parker'scheu  Ansichten  und  ist 
geneigt,  die  Unabhängigkeit  des  Steigbügels,  sowohl  von  den  Eiemen- 
bogen, als  auch  von  der  capsularen  Wand  anzunehmen. 

Gruber  ®0'  *i)  nimmt  an,  dass  der  Steigbügel,  nicht  aus  dem 
knorpeligen  zweiten  Eiemenbogen,  sondern  aus  dem  Eopfwirbel,  und 

(97) 


256  Gradenigo. 

zwar   ans    derselben  Bildungsmasse  entsteht,    aus   welcher   sieh   die 
Labyrinthkapsel  entwickelt. 

Nach  Salensky^^)  entwickelt  sich  der  Stapes  unabhängig 
Ton  den  anderen  Gehörknöchelchen.  Der  Steigbflgel  erscheint  in  Form 
eines  Zellhanfens  um  einen,  von  ihm  als  Arteria  mandibularis 
bezeichneten,  arteriellen  Ast,  bekommt  später  die  Form  einer  trapezoiden 
Platte,  welche  sich  hiemach  in  eine  fünfeckige  und  endlich  in  eine 
glockenförmige  yerwandelt. 

Die  Arteria  mandibularis  biegt  sich  um  eine  rinnen- 
f^rmige  Aushöhlung  des  Torderen  Stapesschenkels  und  durchlöchert  den 
Stapes.  Nach  Salensky  trägt  das  proximale  Ende  des  Hyoidbogens 
zur  Bildung  des  Stapes  nicht  bei,  es  ist  indess  mittelst  eines  Ligaments 
mit  den  proximalen  Ende  des  ersten  Eiemenbogen  verbunden. 

Nach  Fräser^*}  erscheint  der  Stapes  in  Form  eines  gefärbten 
ein  Oefäss  umgebenden  Ringes,  und  ist  somit  von  der  Labyrinthwand 
und  Ton  dem  zweiten  Eiemenbogens  unabhängig. 

Eölliker^^)  spricht  sich  nicht  zu  Gunsten  einer  bestimmten 
Theorie  aus,  wie  aus  dem  folgenden  Satze  henrorgeht  (pag.  478) :  „In  erster 
Linie  bemerke  ich,  dass  ich  nach  meinen  bisherigen  Wahrnehmungen 
Parker's  und  J.  Oruber's  Angaben,  denen  zufolge  der  Steigbflgel 
mit  dem  knorpeligen  Labyrinthe  ursprünglich  eins  sein  soll  und  erst 
in  zweiter  Linie  von  derselben  sich  abgrenze,  nicht  zu  stützen  vermag. 
Bei  Kaninchen  derselben  Grösse,  wie  diejenigen,  die  Grub  er  unter- 
suchte, und  bei  noch  etwas  jüngeren  fand  ich  den  Steigbügel 
schon  deutlich  vom  knorpeligen  Labyrinthe  abgegrenzt  und  habe  ich 
überhaupt  bisher  kein  Stadium  gefunden,  in  dem  Labyrinth  und  Steig- 
bügel im  ELnorpelzustande  eins  gewesen  wären.  Dagegen  ist  allerdings 
zugegeben,  dass  Labyrinth  und  Stapes  vom  Zeitpunkte  des  ersten 
Deutlichwerdens  beider  Theile  an,  durch  eine  ganz  dünne  Faserlage 
so  miteinander  verbunden  sind,  wie  etwa  die  Anlage  der  knorpeligen 
Hippen  und  Wirbel  oder  diejenigen  von  Hammer  und  Ambos,  so  dass, 
wenn  auch  nicht  im  Enorpelzustande,  so  doch  möglicherweise  in  der 
ersten  weichen  Anlage  beide  Theile  zusammenhängende  Gebilde  sind. 
Auf  der  anderen  Seite  ist  es  mir  bis  anhin  auch  nicht  geglückt,  eine 
Verbindung  des  Bteigbügels  mit  dem  Reich  er  tischen  ELnorpel  zu 
finden,  vielmehr  kann  ich  mit  voller  Bestimmtheit  behaupten,  dass 
eine  solche  beim  knorpeligen  Zustande  der  Theile  nicht  einmal  durch 
Bandmasse  statthat,  wenn  auch  Steigbügel  und  oberes  Ende  des 
Reich  er  t'schen  E^norpels  sich  sehr  nahe  liegen/ 

Wenn  wir  die  einzelnen  Ansichten  über  die  Entstehungsart 
des  Steigbügels  zusammenfassen,  so  können  wir  sie  In  folgenden 
Gruppen  vereinigen: 

<98) 


Die  embryonale  Anlage  des  MittelohreB :  die  morphologische  Bedentong  etc.     257 

I.  Der  Stapes  entwickelt  sich  unabhängig  von  den  Eiemen- 
bogen  und  der  Labyrinthkapsel  (Hagitot  et  Bobin,  Hunt, 
Salensky,  Fräser). 

n.  Der  Stapes  entwickelt  sich  aus  dem  Eiemenapparate, 
und  zwar: 

a)  Aus  der  Verschmelzung  der  proximalen  Enden   der  beiden 
Eiemenbogen  (Huschke). 

b)  Aus  dem  ersten  Eiemenbogen  jCValentin,  G-ünther). 

o)  Aus  dem  zweiten  Eiemenbogen  (R  e  i  c  h  e  r  t,  B  r  u  c  h,  Semmer). 

m.  Der  Stapes  geht  aus  der  Labyrinthwand  hervor  (B  u  r  d  a  c  h, 
Parker,  Gruber). 

Inmitten  so  verschiedener  Theorien  sind  es  zwei  Lehren, 
diejenigen,  welche  wegen  ihres  speciellen  Werthes  um  den  Sieg 
kämpfen,  die  Eine,  die  wir  die  Reicher  f  sehe  Lehre  bezeichnen 
möchten  und  nach  welcher  der  Steigbügel  aus  den  zweiten  Eiemen- 
bogen hervorgeht;  die  Andere  (Parker*s  und  Grub er's  Lehre), 
wonach  der  Steigbügel   aus  der  Labyrinthwand  sich  entwickelt. 

Die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  zeigen,  dass  der 
Entwicklungsvorgang  des  Steigbügels  in  Wirklichkeit  viel  com- 
plicirter  ist,  als  es  die  verschiedenen  Autoren  in  ihren  vieUfältigen 
Hypothesen  hatten  ausdenken  können,  und  dass  die  beiden  er- 
wähnten Lehren  nur  zum  Theile  den  embryologischen  Thatsachen 
entsprechen  und  einer  gegenseitigen  Ergänzung  bedürfen. 

Wenn  wir  die  im  ersten  Theile  der  vorliegenden  Arbeit  aus- 
führlich beschriebenen  Vorgänge  resumiren,  so  gelangen  wir  dahin 
festzustellen,  dass  der  Steigbügel  des  Menschen  und  der  höheren 
Säugethiere  aus  zwei  embryologisch  und  morphologisch  ganz  ver- 
schiedenen Elementen  hervorgeht,  und  zwar: 

a)  erstens  aus  dem  von  dem  zweiten  Eiemenbogen  gebildeten 
Annnlus  stapedialis, 

b)  zweitens  aus  der  von  der  Wand  der  Labyrinthkapsel  sich 
differenzirenden  Lamina  stapedialis. 

Zur  Zeit  als  im  Embryo  das  eigentliche  Enorpelgewebe  noch 
nicht  vorhanden  ist  und  die  einzelnen  Skelettheile  durch  Stränge 
und  Anhäufungen  runder,  dicht  aneinanderliegender  Zellen  dar- 
gestellt erscheinen,  umgiebt  das  proximale  Ende  des  mit  der 
Anlage  der  Gehörkapsel  in  Verbindung  tretenden  hyoidalen  Zellen- 

(99) 


258  Gradenigo. 

Stranges  einen  arteriellen  Gefassast  (Art.  stapedialis)  nnd  bildet 
somit  einen  vollständigen  Zellenring  (Annnlns  stapedialis). 
DieserBing  istyon  dem  proximalen  Ende  desmandi- 
bnlaren  Zellenstranges  dnreh  eine  Schichte  von 
indifferentem  embryonalem  Gewebe  getrennt.  Er 
befindet  sich  an  der  Seite  der  Labyrinthblase  nnd  hängt  medial- 
wärts  mit  der  Anlage  der  Labyrinthkapsel  zusammen,  liegt  hinter 
der  Carotis,  vor  dem  VIL  (d.  h.  Facialis)  und  vor  der  Vena 
jngnlaris.  Die  Vena  jngnlaris,  die  in  diesem  Stadium 
seitwärts  von  der  Labyrinthblase  vorüberzieht,  trennt  den  Stapedial- 
ring  von  der  Anlage  des  äusseren  Bogenganges. 

In  einer  späteren  Entwicklungsphase,  in  welcher  sich  schon 
Enorpelgewebe  vorfindet  und  die  Jugularvenen  beiläufig  jene 
Lage  eingenommen,  die  sie  beim  Erwachsenen  beibehält,  differenzirt 
sich  die  Stelle  der  Geht$rkapsel ,  an  welcher  der  mediale  Rand 
des  Kinges  sich  anlegt,  allmälig  von  der  übrigen  capsularen 
Wand,  und  bildet  eine  Knorpelplatte  mit  einer  Concavität,  die 
dem  medialen  Bande  des  ihr  anliegenden  Ringes  entspricht, 
Lamina  stapedialis.  Die  DilSerenzimng  erfolgt  zuerst  durch 
eine  besondere  Anordnung  der  Zellen  und  später  auch  durch  das 
Hineindringen  von  Bindegewebselementen  von  der  tympanalen 
Seite  her  in  das  capsulare  Gewebe.  Die  Lamina  stapedialis 
füllt  die  künftige  Fenestra  ovalis  aus,  und  um  ihren  Rand  herum 
bildet  sich  das  Stapediovestibulargelenk  aus. 

Die  sogenannte  Platte  des  Steigbügels  wird  demnach  durch 
das  Aneinanderlegen  eines  Theiles  des  stapedialen  Ringes  und 
eines  Theiles  der  periotischen  Kapsel  gebildet. 

Die  Zellen  der  Lamina  stapedialis  besitzen  ganz  und 
gar  nicht  die  cariokinetische  Thätigkeit,  welche  die  Zellen  der 
anliegenden  Partie  des  Ringes  auszeichnet.  Der  Ring  vertieft  sich 
nach  und  nach  in  das  Gewebe  der  Lamina;  dieselbe  erscheint 
dadurch  dünner,  ihre  Zellen  werden  gedrängt  und  zum  Theil 
atrophisch.  Andererseits  tragen  die  Bindegewebsfasern,  welche, 
entsprechend  dem  künftigen  Ligamentum  annulare,  von 
der  tympanalen  Seite  her  in  das  Gewebe  eindringen,  dazu  bei, 
einen  Theil  der  Zellen  zu  verdrängen.  Obwohl  nun  die  beiden 
anliegenden  Knorpelstücke  in  directe  Berührung  treten,  dürfte  eine 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolires :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     259 

innige  VerBchmelzang  der  entsprechenden  Gewebe  nor  in  be* 
Bchränktem  Maassstabe  stattfinden ;  die  Lamina  stapedialis  scheint 
sogar  einen  Involationsvorgang  einzugehen. 

Der  Steigbügel  geht  also  nicht  ausschliesslich,  wie  Reichert 
lehrt,  ans  dem  zweiten  Eiemenbogen  und  auch  nicht  ausschliess- 
lich, wie  Parker  und  Grub  er  behaupten,  aus  der  Labyrinth- 
wand hervor;  der  Steigbügel  ist  vielmehr  das  Resultat  dieser 
beiden  Elemente,  und  die  genannten  Lehren  müssen  eben  in  diesem 
Sinne  abgeändert  werden.  Was  nun  jenen  Theil  betriflft,  welcher 
aus  dem  Eiemenbogen  hervorgeht,  kann  ich  mit  voller  Bestimmt- 
heit behaupten,  dass  er  von  dem  Zeitpunkte  seines  ersten  Deutlich- 
werdens in  Form  eines  von  der  Arteria  stapedialis  durch- 
löcherten Ringes  erscheint. 

Es  ist  wohl  wahr,  was  Eölliker,  Semmer  u.  A. 
angeben,  dass,  nämlich  beim  knorpeligen  Zustande  der  Theile 
das  proximale  Ende  des  Hyoidbogens  nicht  bis  zum  Annulus 
stapedialis  verfolgt  werden  kann ;  aber  ich  muss  betonen,  dass 
in  einem  vorhergehenden  Stadium,  zur  Zeit  als  sich  Enorpel- 
gewebe  noch  nicht  vorfindet,  der  betreffende  Zellenstrang  bis  zum 
Annulus  reicht.  Ich  habe  mich  davon  überzeugen  können  bei 
15  Mm.  langen  Eatzenembryonen,  sowohl  in  horizontaler  Schnitt- 
serie (vergl.  Fig.  1  bis  4^),  als  auch  in  sagittaler  Schnittserie 
(vergl.  Fig.  5,  öA,  6)  und  in  frontalen  Schnitten. 

Bei  den  in  Rede  stehenden  Embryonen  sind  die  distalen 
Enden  des  mandibularen  Zellenstranges  von  einander  ziemlich 
weit  abstehend.  In  der  Gehörblase  findet  man  nun  die  erste  An- 
deutung des  Sacculus.  Der  mediale  Rand  des  Ringes  hängt 
bei  seinem  vorknorpeligen  Zustande  mit  der  Anlage  der  Eapsel 
zusammen,  jedoch  nicht  durch  faseriges  Gewebe,  welches  zu  dieser 
Zeit  noch  nicht  aufgetreten  ist,  sondern  nur  durch  Verschmelzung 
der  betreffenden  Zellenanhäufungen.  Desgleichen  kann  auch  in 
diesem  Stadium  von  einer  Verbindung  des  Ringes  mit  dem  ersten 
Eiemenbogen  gar  nicht  die  Rede  sein,  erst  in  einem  späteren 
Stadium  steigt  der  lange  Ambosschenkel  gegen  den  lateralen  Rand 


^)Die  ausführliche  Erklänmg  dieser  Abbildungen  ist  in  der  ersten  Abtheilnng 
zu  sehen. 

(101) 


260  Gradenigo. 

des  Ringes  herab,   nnd  yereinigen   sieh   die  Grenzsehichton   der 
naheliegenden  Theile. 

Anlangend  die  Form  des  Ringes,  habe  ieh  in  Ueberein- 
stimmnng  mit  Fräser  constatiren  können,  dass  sie,  wenigstens 
in  den  ersten  Stadien,  einem  vollkommenen  Kreise  entspricht.  Da 
der  Ring  gegen  die  Horizontalebene  von  vorne  nach  hinten  und 
von  innen  nach  aussen  herabsteigt,  so  trifft;  ihn  ein  horizontaler 
Schnitt  in  schiefer  Richtung.  In  den  untersten  geführten  Schnitten, 
bekommt  man  nur  seinen  hinteren  und  äusseren  Rand  zu  sehen, 
in  den  mittleren  Schnitten  kann  man  den  ganzen  Ring  schief 
getroffen  erhalten  (s.  Fig.  7). 

In  den  oberen  Schnitten  kommt  nur  der  obere  mediale  Rand 
zum  Vorschein. 

Nur  durch  Vergleich  der  aufeinander  folgenden  Schnitte  ist 
es  möglich,  eine  richtige  Idee  über  die  Gestaltung  des  Ringes  zu 
gewinnen,  und  umso  besser,  wenn  man  die  in  verschiedenen  Rich- 
tungen geführten  Schnitte  miteinander  vergleicht.  So  kommt  es 
vor,  dass  die  unregelmässige  Gestaltung  des  von  Salensky  in 
seiner  Fig.  IIa  abgebildeten  Ringes,  dem  Umstände  zugeschrieben 
werden  muss,  dass  der  Ring  schief  getroffen  wurde. 

Auch  in  meiner  Fig.  7  erscheint  der  Ring  nicht  vollkommen 
kreisft^rmig ;  die  leichten  Unregelmässigkeiten  seiner  Contouren 
können  jedoch  mit  der  schiefen  Richtung  der  Schnittebene  in 
Beziehung  gebracht  werden;  der  hintere  äussere  Rand  erscheint 
in  seinem  obersten  Theile,  der  vordere  mediale  in  seinem  untersten 
Theile  getroffen. 

Auch  das  Aussehen  des  Ringes  bei  den  Frontalschnitten 
kann  zu  Missdeutungen  Anlass  geben.  Eine  der  häufigsten  Erschei- 
nungen, welche  zu  irrthttmlichen  Auffassungen  führen  kann,  ist 
das  Bild  des  undurchlöcherten  Stapes,  welches  man  erhält,  wenn 
der  Schnitt  auf  den  hinteren  oder  vorderen  Schenkel  fällt,  ohne 
das,  in  diesem  Stadium  relativ  enge.  Loch  zu  treffen.  In  späteren 
Stadien  behält  der  Ring  eine  ziemlich  regelmässige  Form.  Bei 
Menschen  kann  man  die  Ueberzeugung  gewinnen,  dass  in  einer 
Phase,  wo  die  Involution  der  Arteria  stapedialis  fast  vollständig 
ist,  der  Ring  eine  ziemlich  gleiche  Dicke  an  seinem  lateralen 
und  medialen  Rande  aufweist. 

(102) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     26 1 

Das  ist  in  Fig.  9  und  10  (Ann.  st)  deutlich  za  sehen,  bei 
welchen  der  Bing  frontal  geschnitten  erscheint. 

Vergleiche  man  hingegen  Fig.  11  (Menschen)  und  Fig.  8 
(Katze),  so  findet  man,  dass  die  Bänder ,  schief  getroffen ,  eine 
verschiedene  Dicke  aufweisen. 

Bei  seiner  weiteren  Ausbildung  yertieft  sich  der  Bing  all- 
mälig  in  die  Lamina  stapedialis,  welche  dünner  wird  und 
verschmilzt  bald  mit  den  Besten  desselben.  Erst  in  diesem  Stadium 
fängt  es  an,  die  typische  Form  des  Steigbügels  der  Erwachsenen 
anzunehmen. 

In  Bezug  auf  den  Verlauf  der  Gefässe  bei  dem  ersten 
embryonalen  Stadium,  vermag  ich  nicht,  die  Siwlensky'schen 
Anschauungen  zu  bestätigen. 

Jenes  Gefäss,  welches  dorsal  von  dem  stapedialen  Bing  und 
von  dem  Facialis  liegt,  ist,  nach  Uebereinstimmung  aller  Autoren 
(Fräser,  Eölliker,  Parker)  nicht  die  Carotis,  sondern 
die  Vena  jugularis. 

Wie  aus  meiner  topographischen  Darstellung  hervorgeht, 
verläuft  die  Carotis  in  diesem  Stadium  längs  der  hinteren  Darm- 
wand zu  beiden  Seiten  der  Mittellinie  und  entspricht  dem  Gefasse, 
welches  als  Art.  mandibularis  in  den  Salensky'schen 
Figuren  dargestellt  ist. 

Die  Carotis  ist  in  meinen  Figuren  1  bis  4  mit  C  a  bezeichnet. 
In  der  Höhe  der  Labjrrinthblase  sendet  die  Carotis  nach  hinten 
und  lateralwärts  ein  kurzes  Gefässästchen  ab,  welches  unmittelbar 
unterhalb  des  Annulus  stapedialis  sich  in  zwei  Aeste  ver- 
zweigt: der  eine  wendet  sich  nach  oben,  geht  durch  den  Bing 
hindurch  um  dann  nach  vorne  gegen  das  Ganglion  Gasseri 
und  das  Auge  hin  zu  verlaufen  (Art.  stapedialis),  der  zweite 
Ast  begleitet  gegen  unten  den  Hyoidbogen  und  verläuft  lateral- 
wärts von  dem  Ganglion   des  neunten  Nervens  (Art.  hyoidea). 

Fast  in  der  Höhe  des  gemeinsamen  Astes  der  Arteria 
stapedialis  und  der  Arteria  hyoidea,  trennt  sich  von  der 
Carotis  eine  Arterie  ab  (Arteria  mandibularis),  die  mit 
einer  Wendung  um  das  hintere  Ende  des  tubotympanalen  Baumes, 
die  Chorda  tympani  begleitet,  und  mit  derselben  dann  in  das 
Gewebe  des  ersten  Eiemenbogens  eintritt. 

(108) 


262  Gradenigo. 

Indem  der  cochleare  Abschnitt  der  Labyrinthblase  sich  nach 
vorne  entwickelt,  wird  der  Stamm  der  Carotis  von  demselben 
nach  unten  und  vorne  gedrängt.  Zuerst  ändern  sich  die  vascu- 
lären  Verhältnisse  in  merklicher  Weise.  Die  A.  hyoidea  und 
mandibularis  gehen  sehr  frühzeitig  einen  vollständigen  In- 
volutionsvorgang ein.  Auf  diese  Art  verschwindet  der  gemeinsame 
Ast  der  Art.  stapedialis  und  hyoidea,  welcher  früher  fast 
in  der  Höhe  des  Stapedialringes  aus  der  Carotis  entsprang,  und 
die  länger  gewordene  Art.  stapedialis  entspringt  jetzt  isolirt 
aus  der  Carotis  unten  und  vorne  von  der  Labyrinthkapsel. 
Diese  zweite  Art  des  Verlaufes  der  Arteria  stapedialis  ent- 
spricht der  voo  Fräser  beschriebenen. 

Auch  Salensky  schreibt  einen  derartigen  Verlauf  der  von 
ihm  bezeichneten  Arteria  mandibularis  zu,  welche  der 
Arteria  stapedialis  entspricht;  aber  Salensky  lässt  sie 
von  einem  Gefässe  abstammen,  welches,  wie  wir  oben  gesehen, 
als  Vena  jugularis  anzusehen  ist. 

Indem  ich  mir  vorbehalte,  später  die  Arteria  stapedia- 
lis vom  morphologischen  Standpunkte  aus  zu  besprechen^),  will 
ich  hier  nur  hervorheben,  dass  es  nicht  richtig  ist  zu  sagen,  dass 
die  Arteria  s t a p e d i a  1  i s  den  Zellhaufen  durchlöchert,  welcher 
die  erste  Anlage  des  Steigbügels  darstellt.  In  der  That  ist  das 
proximale  Ende  des  Hyoidbogens  dasjenige,  welches  von  seinem 
ersten  Deutlichwerden  an  sich  um  die  Arteria  herumwindet  und 
auf  diese  Art  den  Ring  bildet ;  und  da  es  sich  von  hinten,  unten 
und  aussen  gegen  vorne,  oben  und  innen  herumwindet,  um  mit 
der  Anlage  der  periotischen  Kapsel  in  Verbindung  zu  treten,  so 
kommt  damit  die  oben  erwähnte  schiefe  Lage  des  Ringes  zu  Stande. 

Die  Arteria  stapedialis  erleidet,  ähnlich  wie  die  Ar- 
teria mandibularis  und  die  Vena  jugularis,  einen  In- 
volutionsvorgang. 

Indessen  habe  ich  bei  den  von  mir  untersuchten  Embryonen 
nicht  constatiren  können,  dass  das  Ringloch  Hand  in  Hand  mit 
dem  Verschwinden  der  Arteria  enger  geworden  wäre,  wie  dies 
der    glockenförmig   abgebildete   Stapes  Salensky's   vermuthen 


*)  Vergl.  V.  B.  d. 

(104) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentnng  etc.     263 

lässt.  Ich  habe  vielmehr  gefunden,  dass  die  Involntion  der  Arteria 
keinen  Einfioss  auf  die  Gestaltung  des  Steigbügels  ausübt. 

Die  von  mir  constatirte  Thatsache,  dass  die  Ärteria  sta- 
pedialisin  einem  der  ersten  Entwicklungsstadien  aus  der  Carotis 
gemeinsam  mit  einer  Arteria  entspringt,  welche  längs  des 
zweiten  Eiemenbogens  herabsteigt  (Arteria  hjoidea),  und  dass 
in  einem  späteren  Stadium  die  Arteria  stapedialis  mit  der 
hyoidea  einen  und  denselben  Stamm  bildet,  berechtigt  uns, 
diese  Gefässe  als  analog  zu  jenen  des  III.  und  IV.  Eiemenbogens 
und  zu  der  rudimentären  Arteria  mandibularis  des  I.  an- 
zusehen. Demnach  ist  es  die  Arteria  des  zweiten  Eiemenbogens 
selbst,  welche  den  Stapes  durchgeht  und  das  wäre  ein  weiterer 
Grund,  wenn  es  noch  eines  solchen  bedürfen  sollte,  für  den  Be- 
weis des  innigen  Zusammenhanges  zwischen  Stapediaking  und 
zweiten  Eiemenbogen. 

Lamina  stapedialis.  Die  Lamina  stapedialis  ist 
derjenige  Theil  des  Stapes,  welcher  sich  aus  der  Labyrinthwand 
entwickelt. 

Der  histologische  Vorgang  der  Differenzirung  findet  beim 
menschliche  Embryo  zur  Zeit  statt,  als  der  betreffende  Abschnitt 
der  Enorpel  schon  das  Aussehen  eines  ziemlich  reifen  Enorpel- 
gewebes  bietet ;  die  Differenzurung  beginnt  zuerst  oben  und  hinten. 
—  Wir  haben  hierin  das  Beispiel  der  Trennung  eines  einzigen 
Enorpelstückes  während  der  embryonalen  Entwicklung. 

An  der  Peripherie  der  Lamina  bildet  sich  später  das  Stapedio- 
yestibulargelenk ;  das  Ligamentum  annulare  entsteht  nicht 
nur  durch  Hineindrängen  von  faserigem  Gewebe  in  den  Knorpel, 
sondern  auch,  was  besonders  deutlich  bei  Eatzen-  und  Eaninchen- 
embryonen  zu  sehen  ist,  durch  directe  Umwandlung  der  zunächst 
liegenden  Enorpelzellen  in  faseriges  Gewebe. 

In  Betreff  auf  die  Form  und  der  Anordnung  des  Ligamen- 
tum a  n n u  1  a r e  bei  Menschen  kann  ich  die  Angabe  Ey  sei Fs  und 
Buck's  bestätigen. 

Reichert'scher  Knorpel. 

Das  proximale  Endstück  des  Hyoidbogens,  unmittelbar  unter- 
halb des  Annulus  stapedialis  wird   nie  knorpelig  und  ver- 

(105) 


264  Gradenigo. 

schwindet  in  einem  späteren  Stadium  ganz.  Das  übriggebliebene 
proximale  Stück  des  Hyoidbogens  reicht  kaum  bis  znr  flöhe  des 
Promontoriums  und  wird  alsBeicher  f  scher  Knorpel  bezeichnet, 
da  Reichert  zuerst  in  exacter  Weise  diesen  Knorpel  beim 
Embryo  beschrieben  hat.  —  Nach  Reichert  wandelt  sich  ein 
proximaler  Abschnitt  des  Hyoidknorpels  in  den  Musculus  sta- 
pedius  um,  und  der  übrig  gebliebene  Theil  gehört  als  Em i- 
nentia  pyramidalis  der  Paukenhöhle  an. 

Bei  einer  von  Fräser  angegebenen  Figur  verbindet  sich 
mittelst  faserigen  Oewebes  das  obere  Ende  des  Bei  eher  tischen 
Knorpels  mit  der  unteren  Fläche  eines  periotischen  Fortsatzes. 

Aus  meinen  Wahrnehmungen  habe  ich  die  Ueberzengung 
gewonnen ,  dass  das  obere  Ende  des  Reicher  tischen  Knorpels 
nicht  in  allen  Fällen  ein  gleiches  Verhalten  aufweist. 

Bei  einem  8  Cm.  langen  menschlichen  Embryo  endet  der 
Knorpel  stumpf  und  frei,  und  es  ist  nicht  seine  Spitze,  sondern 
seine  laterale  Fläche,  welche  mittelst  faserigen  Gewebes  mit  dem 
periotischen  Fortsatze  verbunden  ist  (vergl.  die  in  Figur  14 — 18 
dargestellte  aufsteigende  Schnittserie,  wo  man  das  plötzliche  Auf- 
hören des  Knorpels  constatiren  kann). 

Bei  4  und  4^/a  Centimeter  langen  menschlichen  Em- 
bryonen, ebenso  wie  in  einer  Reihe  von  Kaninchenembryonen, 
habe  ich  unzweifelhaft  constatii-en  können,  dass  der  R  e  i  c  h  e  r  t'sche 
Knorpel  mit  dem  periotischen  Fortsatze  knorpelig  verschmilzt, 
manchmal  unter  Bildung  einer  deutlichen  Raphe.  Dieses  darf, 
meines  Erachtens,  als  der  häufigste  Fall  angesehen  werden. 

Politzer^ ^)  gebührt  das  Verdienst,  das  Verhalten  und  die 
topographische  Lage  des  Reicher fschen  Ejiorpels  bei  neuge- 
borenen und  erwachsenen  Menschen  untersucht  zu  haben. 

Es  würde  mich  zu  weit  fuhren ,  alle  von  ihm  gewonnenen 
wichtigen  Resultate  auch  blos  zu  resumiren.  Ich  will  nur  bemerken, 
dass  nach  Politzers  Untersuchungen  sowohl  bei  Neugeborenen 
als  auch  bei  Erwachsenen  die  Existenz  eines  bis  in  die  Trommel- 
höhle reichenden  oberen  Abschnittes  des  Processus  styloi- 
deus  nachgewiesen  werden  kann.  Der  Knorpel,  welcher  vom 
Steigbügelmuskel  und  dem  Facialis  durch  eine  verschieden  dicke 
Knochenlamelle  getrennt  ist,   wird   von   einer   starken  faserigen 

(106) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolires :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     265 

Bindegewebshülle  nmgeben;  das  Gebilde  lässt  sich  ans  seiner 
Hülle  vollständig  ansschälen.  Der  kolbige  Kopf,  welcher  in  einer 
gmbigen  Vertiefting  unterhalb  der  Eminentia  pyramidalis 
lagert,  geht  in  einen  seitlich  zusammengedrückten  Hals  über,  von 
welchem,  jedoch  nicht  constant,  nach  vorne  ein  kurzer  Fortsatz 
abgeht,  unter  welchem  das  untere,  stiftförmige,  zugespitzte  Ende 
beginnt  *) 

Wie  bekannt,  hat  Reichert  und  dann  auch  Huxley  den 
Musculus  stapedius  als  den  Vertreter  des  intermediären 
Theiles  des  Hyoidbogens  zwischen  Annulus  stapedialis  und 
Reich  er  tischen  Knorpel  angesehen. 

Leider  kann  ich  nicht  auf  Grund  meiner  Beobachtungen  diese 
Ansichten  theilen. 

Die  Anlage  des  Musculus  stapedius  ist  beim  Embryo 
schon  zu  der  Zeit  zu  sehen,  wo  das  erwähnte  intermediäre  Stück 
des  Hyoidbogens  noch  durch  einen  Zellenstrang  repräsentirt  er- 
scheint. Auch  später  kommt  der  Musculus  stapedius,  was 
seine  Lage  betrifft,  nicht  in  der  Richtung  des  Re  ich  er  f  sehen 
Knorpels  zu  liegen,  sondern,  von  der  vorderen  Fläche  des  perio- 
tischen  Fortsatzes  entspringend,  reicht  er  weiter  unten  als  das 
Ende  des  R  e ich erfschen  Knorpels  und  bleibt  an  dessen  hinteren 
medialen  Seite  (vergl.  Fig.  14 — 18).  Die  Form  des  Muskels  ist 
auch  nicht  geeignet,  eine  solche  Auffassung  zu  bestätigen. 

Periotische  Kapsel. 

Was  die  Entwicklungsweise  der  periotischen  Kapsel  betrifft, 
sind  die  Angaben  in  der  Literatur   sehr  spärlich.    Sie  wurde  in 

')  Bei  Menschen  steUt  der  von  Politzer  beschriebene  Proc.  styloidens 
genetisch  die  knorpelige,  resp.  knöcherne  Verscbmelznng  zweier  morphologisch 
yerschiedener  Skeletabschnitte  dar.  Es  vereinigt  sich  nämlich  beim  Embryo  nach 
erfolgter  Abtrennung  des  Ann.  8t ap ed.  (hyo-mandibnlare)  nnd  Resorption 
des  daxwischenliegenden  Abschnittes  (inter  ^hjale)  der  üeberrest  des  proxi- 
malen Endes  des  II.  Eiemenbogen8(stilo-h7ale)  mit  dem  unteren  Ende  eines 
Fortsatzes,  welcher  ans  der  hinteren  Partie  der  periotischen  Kapsel  abgeht  (Pro- 
cessnsperiot.  pos  t.).  Ans  meinen  diesbezfiglichen  üntersnchnngen  geht  hervor, 
dass  der  Theil  des  Processus  styl.  Politzer's,  welcher  die  hintere  Wand 
der  TnmuBeih5hle  yorwAlbt,  nicht  wie  Reichert  behauptet,  dem  hyoidalen, 
sondern  dam  periotischen  AbBcbaitt  desselben  angehört. 

(107) 


266  Gradenigo. 

der  That  bei  der  ErforschuDg  der  Entwicklung  des  inneren 
Ohres  gewöhnlich  nicht  genügend  berücksichtigt,  and  auch  wenig 
beim  Studium  der  Entstehungsweise  der  Skeletelemente  des  Mittel- 
ohres. 

Zur  eingehenden  Besprechung  der  Einzelheiten,  welche  die 
periotische  Kapsel  in  ihrem  Entwicklungsgang  aufweist,  wäre  es 
nothwendig,  im  Voraus  die  Entstehungsweise  der  epithelialen 
Labyrinthblase,  auf  welche  die  Kapsel  sich  modellirt,  ausführlich 
zu  schildern.  Diese  Besprechung  würde  mich  zu  weit  von  dem 
von  mir  vorgenommenen  Thema  führen.  —  In  der  vorliegenden 
Arbeit  will  ich  nur  einige  wichtige,  mit  der  Entwicklung  der 
Skeletelemente  des  mittleren  Ohres  in  Verbindung  stehende  That- 
sachen  hervorheben. 

Ich  habe  mich  bei  Säugethieren,  ähnlich  wie  Parker  und 
S  t  ö  h  r  bei  niederen  Wirbelthieren,  gegen  die  Behauptung  P  a  r  k  e  t's 
überzeugen  können,  dass  die  sehr  frühzeitig  auftretende  Anlage 
der  periot.  Kapsel  beim  Embryo  in  Form  einer  ganz  isolirten 
Zellanhäufung  an  der  unteren  lateralen  Wand  der  Gehörblase 
erscheint.  Erst  in  späteren  Entwicklungsstadien  erfolgt  die  Ver- 
einigung der  Kapsel    mit   den  Skeletelementen  der  Schädelbasis. 

Die  periotische  Kapsel  lässt  betreffs  ihrer  embryonalen 
Entwicklungsweise  drei  Abschnitte  an  sich  unterscheiden :  nämlich 
eine  hintere  obere  Partie,  welche  die  Bogengänge  aufnimmt 
(Pars  canalium  semicircularium);  eine  vordere  untere, 
welche  den  Sacculus,  den  Canalis  reuniens  inferior, 
und  das  Anfangsstück  der  basilaren  Windung  des  Ductus 
cochlearis  aufnimmt  (Pars  vestibularis),  und  eine  vor- 
dere obere,  welche  die  eigentliche  Cochlea  einschliesst.  Zur 
Zeit,  wenn  die  hintere  Partie  eine  echte  Knorpelmasse  stellt,  in 
welcher  die  häutigen  Bogengänge  eingebettet  sind,  erscheint  die 
cochleare  Partie  als  eine  von  unreifem  Knorpelgewebe  repräsen- 
tirte  dünne  Lamelle,  welche  die  Windungen  des  Ductus  cochle- 
aris und  die  cochlearen  Ganglien  und  Nerven  im  embryo- 
nalen Bindegewebe  eingebettet,  umgibt,  und  die  vestibuläre  Partie 
von  einer  kaum  knorpelig  gewordenen  Lamelle  vertreten. 

Die  periotische  Kapsel  weist  die  Labyrinthfenster  noch 
nicht  auf. 

(108) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     26  7 

Diese  Abschnitte  gehen  ineinander  über;  eine  deutliche 
Eaphe  kommt  nur  zor  Bildung,  dem  hinteren  unteren  und  lateralen 
Theil  der  cochlearen  Partie  entsprechend.  In  der  That^  setzt  sich 
die  Lamelle,  welche  an  der  tympanalen  Seite  die  häutige  Cochlea 
begrenzt,  in  die  vestibuläre  Lamelle  nicht  fort,  sondern  sie  biegt 
sich  gegen  das  Gentrum  der  Cochlea,  (d.  h.  nach  vorne,  medial- 
wärts  und  oben),  dem  Baume  zwischen  Basal-  und  Mittelwindung 
entsprechend.  Zwischen  dieser  Lamelle  und  der  vestibulären  La- 
melle entsteht  auf  diese  Weise  eine  Raphe,  welche  oberhalb  des 
künftigen  ovalen  Fensters  zu  liegen  kommt,  und  in  späteren 
Stadien  mit  dem  differenzirten  oberen  Rand  der  Lamina  sta- 
pedialis  verwechselt  werden  kann. 

Was  die  Entstehungsweise  der  Labyrinthfenster  anbelangt, 
wäre  es  nicht  genau  im  Sinne  Eölliker^s,  zu  behaupten,  dass 
die  zwei  Fenster  von  Anfang  an  Stellen  sind ,  wo  das  Knorpel- 
gewebe  fehlt. 

Bei  der  Beschreibung  der  Entstehungsweise  der  Lamina 
Stapedialis  haben  wir  constatirt,  dass  bei  keinem  Entwicklungs- 
stadium, dem  ovalen  Fenster  entsprechend,  die  vorknofpelige 
Anlage  oder  das  Enorpelgewebe  fehlt ;  vielmehr  setzt  sich  direct 
die  knorpelige  Lamelle  anfangs  in  die  übrige  vestibuläre  Wand 
weiter  fort. 

Vor  dem  Auftreten  des  Knorpelgewebes  ist  auch  keine  Spur 
von  runden  Fenstern  zu  sehen;  die  vorknorpelige  Anlage  der 
Kapsel  erscheint  auch  dem  Fenster  entsprechend  ununterbrochen. 
Zur  Zeit  des  Auftretens  des  Knorpels  wird  der  entsprechende  Ab- 
schnitt der  vestibulären  Wand  nicht  knorpelig,  und  bald 
treffen  wir  statt  einer  Anlage  von  Skeletelementen  einfaches  Binde- 
gewebe, welches  durchaus  vom  Gewebe  der  übrigen  tympanalen 
Höhle  nicht  differenzirt  ht 

Die  Membrana  tympani  secundaria  erscheint  durch 
ihre  Lage  fast  als  Fortsetzung  des  inneren  Perichondriums  der 
vestibulären  Lamelle,  so  dass  dieselbe  auf  dem  Boden  eines  kurzen 
Canals,  welcher  an  Länge  ungefähr  der  Dicke  der  vestibulären 
Wand  gleich  zu  stehen  kommt. 

Der  Stapes  geht  aus  zweierlei  morphologischen  Elementen  hervor 
und  zwar :  1.  aus  dem  vom  zweiten  Kiemenbogen  gebildeten  Annu- 

Med.  Jahrbücher.  1887.  22  (^09) 


268  Oradenigo. 

Iu8  stapedialis  und  2.  aus  der  von  der  Wand  der  Labyrintli- 
kapsel  sich  differenzirenden  Lamina  stapedialis. 

Der  Hyoidbogen  verliert  bald  jede  Beziehung  zumAnnulus 
stapedialis  und  tritt  in  ein  inniges  VerbältDiss  zu  einem 
periotiscben  Fortsatz,  welcher  von  dem  vestibulären  Ab- 
schnitt der  Kapsel  abgeht. 

IV, 

Der  tubo-tympanale  Raum. 

Die  Entstehungsweise  des  tubo-tympanalen  Raumes  wird  von 
den  einzelnen  Autoren  in  yerschiedener  Weise  erklärt. 

V.  Baer^)  betrachtet  diesen  Raum  als  eine  von  Schleimhaut 
ausgekleidete  Ausstülpung  der  Rachenhöhle,  welche  dem  Ohre  ent- 
gegenwächst.  v.  Baer  hebt  ausdrücklich  hervor,  dass  diese  Ausstül- 
pung erst  dann  beginnt,  sobald  die  erste  Eiemenspalte  sich  geschlossen 
hat,  und  zwar  an  derselben  Stelle. 

Hutschke«),  Rathke«),  Valentin^-»)  ^  Reichert»), 
Bisch  off,  Günther^')  nehmen  hingegen  an,  dass  der  tubo-tym- 
panale Raum  aus  einem  Theile    der   ersten  Eiemenspalte    hervorgeht. 

Reichert  beschreibt  den  Entwicklungsvorgang  folgendermassen : 

„Es  verlängert  sich  nämlich  die  innere  Abtheilung  derVisceral- 
spalte,  welche  durch  Zwischenlagerung  von  Substanz  von  der  äusseren 
getrennt  ist,  durch  die  Entwicklung  der  umliegenden  Bildungsmasse 
in  einen  Canal.  Derselbe  wird  von  der,  zwischen  dem  zweiten  und 
dritten  Visceralbogen  entstehenden,  dann  aber  nach  vorne  gegen  den 
ersten  Visceralfortsatz  verwachsenden  Labyrinthanlage  des  Ohres  in 
der  Nähe  der  verwachsenen  Stelle  eingeengt,  und  die  ausserhalb  der 
Einengung  des  Canals  gelegene  Partie  zur  Paukenhöhle  umgebildet, 
während  der  übrig  gebliebene  Theil  als  Tuba  Eustachii  sich  verlän- 
gert. —  Wobei  jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  die  letztere  nicht,  wie 
Valentin  anführt,  in  ihrem  Umfange  abnimmt,  sondern  wenn  die 
Yisceralspalte  an  ihrem  unteren  Ende  etwas  verwachsen,  als  innere 
Oeffiiung  der  Eustachi'schen  Trompete  sich  offenbart,  wegen  der  ein- 
facben  Form  des  Theiles  selbst  an  den  Evolutionen  der  umliegenden 
Bildungsmasse  wenig  theilnebmend,  einer  rückgängigen  Bildung  unter- 
worfen scheint,  während  sie  jedoch  jedenfalls  an  dem  allgemeinen 
Wachsthum  des  Embryo  Antheil  hat.  Die  Richtung  der  Eustachi'schen 
Trompete  ist  gleich  anfangs  etwas  von  aussen  und  vorn  nach  innen 
und  hinten  geneigt,  und  verbleibt  auch  in  dieser  Lage.** 


0  Carl  Ernst  v.  Baer.  üeber  die  Entwicklungsgeschichte  der  Thiere.  1828. 

(110) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelobres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.      269 

Hunt^®)  ist,  nach  seinen  Untersuchungen  über  die  Embryologie 
des  Schweines,  der  Ansicht,  dass  die  Eustaohi'sche  Röhre  eine  Aus- 
stülpung der  Schlundschleimhaut  sei. 

Nach  Urbantschitsch  ist  die  Anlage  des  Mittelohres  keines- 
wegs von  den  ersten  Eiemenspalten  abzuleiten,  sondern  ausschliesslich 
in  den  beiden  Seitenbuchten  der  gemeinschaftlichen  Mund-Nasen-Rachen- 
höhle zu  suchen.  Jener  Abschnitt  der  Mundhöhle,  welcher  die  beiden 
Seitentheile  derselben  ausmacht ,  metamorphosirt  sich  in  der  Weise, 
dass  er  nur  durch  einen  schmalen  Verbindungsspalt  mit  der  Mund- 
höhle in  Conmiunication  bleibt  und  auffällig  erweitert  wird.  Die  Aus- 
kleidung sämmtlicher  dieser  Höhlen  ist  vom  äusseren  Keimblatte  gebildet. 

Moldenhauer^^)  beschreibt  auf  eine  andere  Weise  den  Ent- 
wicklungsvorgang  der  Tuba :  Schon  zu  einer  Zeit,  wo  die  Eiemenspalten 
noch  geöffnet  sind,  erhebt  sich  an  der  inneren  Seite  des  ersten  Bogens, 
nicht  fem  von  seiner  Insertion  an  die  Schädelbasis  beiderseits  ein 
Wulst,  den  Moldenhauer  wegen  seiner  späteren  Beziehungen  zum 
Oaumenapparat  alsColliculus  palatinus  bezeichnet.  Derselbe 
nimmt  die  ganze  Breite  des  Bogens  ein,  indem  er  vom  Oberkiefer- 
fortsatz beginnend,  bis  zur  ersten  Spalte  hinabstreicht.  Durch  Entstehen 
dieses  Wulstes  wird  zwischen  ihm  und  der  hinteren  Wand  des  Yorder- 
darmes  eine  Rinne  gebildet,  deren  unterer  oder  hinterer  Theil,  wie 
die  weitere  Entwicklung  lehrt,  als  erste  Anlage  des  Mittelohres  zu 
betrachten  ist,  und  der  daher  als  Sulcus  tubo-tympanicus 
benannt  werden  kann.  Denn,  nachdem  die  beiden  ersten  Bögen  mit- 
einander verwachsen  sind,  wird  die  Rinne  nicht  etwa  dadurch  ver- 
tieffc,  dass  zwischen  dem  Bogen  der  der  Rinne  benachbarte  Abschnitt 
der  Spalte  sich  offen  erhält,  sondern  dadurch,  dass  die  Wülste  mehr 
und  mehr  nach  dem  Lumen  des  Darmes  vordrängend,  allmälig  das 
dorsalwärts  vor  ihnen  gelegene  Stück  desselben  von  dem  übrigen 
Abschnitte  trennen.  Durch  weitere  Wachsthumvorgänge  wird  die  früher 
grosse  spaltförmige  Communication  der  Tuben-Paukenhöhlenanlage  mit 
dem  Darm  nach  und  nach  verengt  und  zuletzt  bis  auf  eine  kleine 
Oeffiiung  —  die  vordere  Tubenmündung  —  geschlossen.  Dieselbe  ist 
zwar  in  der  Oegend  der  früheren  ersten  Kiemenspalte  gelegen;  sie 
aber  als  unverschlossene  innere  Mündung  derselben  auffassen  zu  wollen, 
ist  nach  Moldenhauer  nicht  statthaft." 

K  ö  1 1  i  k  e  r  ^^)  vertheidigt  die  R  e  i  c  h  e  r  t'sche  Lehre :  Die  Pauken- 
höhle und  die  Tuba  Eustachi!  entwickeln  sich  unzweifelhaft  aus  dem 
medialen  Theil  des  hinteren  Abschnittes  der  ersten  Kiemenspalte, 
welche  jedoch  nicht  ohne  weiteres  und  unmittelbar  zu  diesen  Theilen 
sich  umbildet,  sondern  in  einen  nach  aussen,  oben  und  hinten  gerich- 
teten Fortsatz  auswäehst,  der  wesentlich  zur  Paukenhöhle  sich  gestaltet, 
und  daher  nach  Analogie  einer  von  Moldenhauer  angewandten 
Bezeichnung  Canalis  tubo-tympanicus  genannt  werden  kann.*^ 

22*  (111) 


270  Gradenigo. 

Und  weiter  unten:  „Stimme  ich  darin  mit  Moldenhaner 
überein,  dass  ich  die  Hohlräome  des  mittleren  Ohres  nicht  einfach 
aus  den  wenig  veränderten  inneren  Resten  der  ersten  Kiemenspalte 
ableite,  sondern  eine  Verlängerung  derselben  an  der  äusseren  Seite  der 
Cartilago  petrosa  nach  oben   und  hinten  annehme.^ 

Wenn  man  die  verschiedenen  Ansichten  über  die  Ent- 
wicklungsweise  des  tubo-tympanalen  Raumes  durchprüft,  so  gewinnt 
man  nur  mit  Schwierigkeit  eine  richtige  Idee  über  die  eigentliche 
Auffassung  der  Autoren. 

Die  hauptsächlichste  Ursache  hiervon  ist,  meines  Erachtens, 
eine  unzureichende  Terminologie. 

Das  was  KöIIiker  Ganalis  tubo-tympanicus  be- 
zeichnet, hat  absolut  nichts  zu  schaffen  mit  dem  Sulcus  tubo- 
tympanicus  Moldenhauer^s;  was  Urbantschitsch  eine 
seitliche  Ausstülpung  der  Mundrachenhöhle  nennt,  hat 
eine  ganz  andere  Bedeutung  als  die  seitliche  Ausstülpung 
der  hinteren  Darmwand  im  Sinne  v.  Baer's  und  Molden- 
h  a  u  e  r's. 

Wenn  man  bei  der  Unbestimmtheit  der  gebrauchten  Aus- 
drücke Sorge  trägt,  die  Ansichten  der  Autoren  richtig  aufzufassen, 
80  gelangt  man  zur  Aufstellung  dreier  verschiedener  Lehren,  die 
die  Entstehungsweise  des  tubo-tympanalen  Raumes  erklären  sollen : 

I.  Der  tubo-tympanale  Raum  geht  aus  einer  gegen  das  Ohr 
wachsenden  Ausstülpung  des  Darmcanals  hervor  (v.  Baer, 
Hunt,  Holdenhauer). 

n.  Der  tubo-tympanale  Raum  bildet  sich  aus  der  offen  ge- 
•bliebenen  inneren  Hälfte  der  sogenannten  Hyomandibularspalte 
{erste  Eiemenspalte)  (Reichert,  Kölliker). 

ni.  Der  tubo-tympanale  Raum  entsteht  aus  dem  Abschnitte 
des  Darmcanals,  welcher  zu  den  Seiten  des  Schädels  an  der 
Basis  des  ersten  Eiemenbogens  zurückbleibt  und  vielleicht  auch 
zum  Theile  aus  einem  kleinen  Abschnitte  unterhalb  derselben 
(Urbantschitsch). 

Um  einen  klaren  Begriff  über  die  Topographie  des  fraglichen 
Raumes  zu  erlangen,  halte  ich  es  für  nöthig,  die  Aufmerksamkeit 
der  Leser  auf  das  Schema  in  Fig.  19  zu  lenken.  Dieses  Schema 
«teilt  in  frontaler  Ansicht  jenen  Raum  dar,    welcher   bei  einem 

<tl2) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentnng  etc.     271 

Eatzenembryo  zu  beiden  Seiten  des  Schädels ,  medialwärts  der  zwei 
ersten  Eiemenbogen  zurückbleibt,  zur  Zeit  als  der  mittlere  Theil 
der  ersten  Eiemenspalte  im  Begriffe  ist^  sich  zu  schliessen.  a  be- 
zeichnet den  Yereinigungspunkt  der  zwei  gegeneinanderliegenden 
Flächen  der  Eiemenbogen  (vergl.  auch  Fig.  20  A),  b  und  c  ver- 
anschaulichen die  Insertionsstelle  des  ersten  und  zweiten  Eiemen- 
bogens  an  der  Basis  des  Schädels;  die  Linie  ah  bezeichnet  die 
untere  innere  Fläche  des  ersten  Eiemenbogens ;  ac  die  innere 
obere  Fläche  des  zweiten ;  bc  die  Wand  der  Schädelbasis. 

Aus  diesem,  den  natürlichen  Verhältnissen  vollkommen  ent- 
sprechenden Schema,  ist  zu  entnehmen,  dass  die  innere  Hälfte 
der  ersten  Eiemenspalte  von  dem  zwischen  den  inneren  Flächen 
der  Eiemenbogen  und  der  Schädelbasis  entstandenen  Räume  gar 
nicht  unterschieden  werden  kann ;  die  beiden  Flächen,  welche  die 
Eiemenspalte  begrenzen,  gehen  durch  eine  Erümmung  in  die 
innere  Fläche  der  Eiemenbogen  über. 

Dessenungeachtet  ist  es  geboten,  eine  Unterscheidung  zum 
besseren  Verständniss  der  Verhältnisse  festzustellen. 

Der  mit  adf  bezeichnete  Baum  kann  als  die  innere  Hälfte 
der  ersten  Bronchialspalte  angesehen  werden,  der  zurückbleibende 
grössere  Raum  dfcb  wird  von  den  inneren  Flächen  der  Eiemen- 
bogen und  von  der  Schädelbasis  begrenzt.  In  diesem  Raum  kann 
das  mit  dem  Mandibularbogen  im  Zusammenhang  stehende  Seg- 
ment dbe  als  Mandibularspalte,  und  das  zu  dem  zweiten 
Eiemenbogen  in  Beziehung  tretende  Segment  fce  als  Hyoidal- 
spalte  betrachtet  werden.  In  dem  in  Fig.  19  abgebildeten  drei- 
eckigen Räume  können  wir  neben  der  hyomandibularen 
Spalte  (eigentliche  Eiemenspalte)  die  mandibulare  und  die 
hyoidale  Spalte  unterscheiden. 

Nach  Reichert  und  Eölliker  soll  sich  der  Raum  adf^ 
nach  Urbantschitsch  hingegen  den  Raum  dbcf  in  die 
Cavitas  tympanica  umwandeln.  Hunt  undMoldenhauer 
sprechen  indessen  diesem  ganzen  Raumabschnitte  jeden  Werth  an 
der  Bildung  der  Eustachi 'sehen  Röhre  und  der  tympanalen 
Höhle  ab. 

Die    Resultate    meiner    eigenen     Untersuchungen     führen 
mich  zur  Unterscheidung   von  zwei  Phasen   in  der  embryonalen 

(118) 


272  Gradenigo. 

Entwicklang  des  tabo  tympanalen  Raumes.  In  der  ersten  Phase, 
zur  Zeit  als  die  Entwicklung  der  anliegenden  Skelettheile  erfolgt, 
erleidet  dieser  durch  das  Wachsthum  der  genannten  Theile  ver- 
engerte Raum  einen  partiellen  Involationsgang.  Sobald  aber  ein- 
mal die  definitive  Form  der  Skelettheile  annäherungsweise  vor- 
gebildet ist,  schreitet  erst  in  der  zweiten  Phase  der  tubo-tympanale 
Raum  in  seiner  Entwicklung  fort,  und  breitet  sich  sein  hinteres 
Ende  zu  einer  eigentlichen  Höhle  aus. 

Der  Einengungsvorgang  des  tubo-tympanalen  Raumes  findet 
hauptsächlich  nach  zwei  Richtungen  statt,  in  der  einen  von  Seite 
zu  Seite,  d.  i.  nach  der  frontalen  Richtung,  und  in  der  anderen 
von  hinten  gegen  vorne,  d.  i.  in  sagittaler  Richtung  hin. 

Die  Involutionsphase  umfasst  die  Zeit  von  dem  ersten  Deut- 
lichwerden der  Anlage  der  Skelettheile  bis  zu  ihrer  annäherungs- 
weisen  Ausbildung,  und  kann  in  drei  Stadien  unterschieden  werden : 

Das  erste  Stadium,  bei  welchem  nur  die  erste  Andeutung 
der  Skelettheile  anzutreffen  ist  (Fig.  20  und  20  A). 

Das  zweite,  wo  sich  vorwiegend  das  proximale  Ende  des 
zweiten  Eiemenbogens  ausbildet  (Fig.  21  und  21 A). 

Das  dritte,  bei  welchem  sich  das  proximale  Ende  des  ersten 
Eiemenbogens  entwickelt  und  das  Ende  des  Hyoidbogens  einen 
Involutionsvorgang  eingeht  (Fig.  22  und  22  A). 

Bei  dem  ersten  Stadium  entsprechen  die  Form  und  die  Be- 
ziehungen des  tubo-lympanalen  Raumes  der  in  dem  Schema 
(Fig.  19)  mit  vollen  Contouren  dargestellten  und  von  mir  schon 
besprochenen  Grenzen. 

Bei  dem  zweiten  Stadium  erfolgt  die  Einengung  von  einer 
zur  anderen  Seite,  hauptsächlich  dadurch,  dass  durch  Wachsthum 
der  cochlearen  Partie  der  Eapsel  und  ^es  Promontoriums 
die  mediale  Wand  lec  nach  aussen  vorgedrängt  wird.  Der 
Punkt  e  geht  in  e^  über,  und  die  früher  dreieckige  Form  des  Quer- 
schnittes des  tubo-tympanalen  Raumes  erhält  das  Aussehen  zweier 
in  einander  zusammenfliessender  Spalten,  abe^^  aee\  In  der 
Richtung  von  hinten  nach  vorne  ist  es  das  proximale  Ende  de^ 
Hyoidbogens,  welcher  durch  seine  Wendung  nach  vorne  und  innen 
das  hintere  Ende  der  betreffenden  Hyoidalspalte  verschliesst.  In 
diesem  Stadium   ist  die  Tuba  gegen  hinten   zu  nur   durch   die 

(114) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morplioIogiBclie  Bedentnng  etc.     273 

mandibulare  Spalte   und   einen   Theil   der   ersten  Eiemenspalte 
repräsentirt  (vergl.  Fig.  21  und  21A). 

Bei  dem  dri  tt  en  Stadium  gehen  der  Hammergriff  und  der 
lange  Ambosschenkel  von  dem  proximalen  Ende  des  mandibularen 
Bogens  (Hammer-  und  Amboskörper)  nach  abwärts,  und  indem 
sie  gegen  das  Labyrinth  zu  wachsen,  üben  sie  einen  beträchtlichen 
Druck  auf  die  Wand  der  mandibularen  Spalte  dem  Punkte  d  ent- 
sprechend aus.  Der  Punkt  d  räckt  in  Folge  des  weiteren  Wachs- 
thums  der  obgenannten  Fortsätze  in  di  ein,  so  dass  die  gegenüber- 
liegenden Wände  an  dieser  Stelle  in  Berührung  kommen.  Es 
erfolgt  hier  ein  eigentlicher  Schluss  des  betreffenden  Abschnittes 
der  mandibularen  Spalte.  Beim  Menschen  setzt  sich  diese 
VerSchliessung  nach  unten  gegen  den  oberen  Theil  der  Hyoidal- 
spalte  fort,  wo  sie  bedingt  wird  durch  den  Druck  des  Promon- 
toriums auf  den  mittleren  Abschnitt  des  Hyoidbogens.  Ueberdies 
Tenrollständigt  sich  der  Verschluss  des  mittleren  Abschnittes  der 
ersten  Eiemenspalte,  so  dass  der  in  a  befindliche  Winkel  sich 
abrundet,  und  der  Punkt  a  mit  a^  zusammenfällt.  Was  die  Ein- 
engung von  hinten  nach  vorne  in  diesem  Stadium  betrifft,  so 
erhält  sich  nach  hinten  die  von  den  beiden  Fortsätzen  oben- 
erwähnte bedingte  Verschliessung,  während  der  Rückgangsprocess, 
den  das  proximale  Ende  des  zweiten  Eiemenbogens  erfährt, 
neuerdings  die  Verlängerung  des  untersten  Abschnittes  der  Hyoid- 
spalte  gestattet. 

In  diesem  Stadium  ist  also  der  tubo-tympanale  Baum  durch 
die  Hyoidspalte  und  das  unterste  Segment  der  Mandibularspalte 
vertreten.  Das  oberste  Segment  dieses  letzteren  und  die  erste 
Eiemenspalte  sind  verschlossen. 

Es  ist  in  diesem  Stadium  bemerkenswerth,  dass  sowohl  das 
proximale  Ende  des  mandibularen  Enorpels,  als  auch  das  des 
Hyoidknorpels  zu  Bildung  zweier  Wülste  Anlass  geben. 

Die  Anschwellung  des  proximalen  Endes  des  Mandibular- 
bogens,  aus  welcher  Hammer  und  Ambos  hervorgehen,  liegt  in 
einem  höheren  Niveau  als  das  obere  Segment  der  mandibularen 
Spalte  und  unmittelbar  lateralwärts  und  hinten  von  der  hinteren 
Darmwand. 


274  Oradenigo. 

Dieses  proximale  Ende  bedingt  eine  Einstülpang  der  Wand 
in  Form  eines  Wnistes  (Collicnlns  mandibnlaris^),  der, 
wie  wir  später  sehen  werden,  dem  Collicalns  palato-pba- 
ryngens  Moldenbauer's  entspricht.  Das  knorpelige  Ende 
des  Hyoidbogens  (resp.  des  Reicher  tischen  Knorpels)  veran- 
lasst eine  ähnliche  Ausstülpung  an  dem  hintersten  Abschnitt  der 
Hyoidspalte  (Colliculus  hyoidalis).  Diese  beiden  Wülste 
bestehen  ans  mesoblastischem  Gewebe,  da  die  betreffenden  Enorpel- 
abschnitte  in  einer  gewissen  Entfernung  von  den  Epithelüberzng 
der  Höhlen  bleiben. 

Bezüglich  der  ersten  Entwicklnngsphase  können  wir  also 
mit  Recht  behaupten,  dass  der  tubo-tympanale  Raum  einen  Rück- 
gangsproeess  erleidet,  und  wenn  auch  nicht  im  absoluten  Sinne, 
weil  die  Wände,  die  ihn  begrenzen,  sich  an  dem  allgemeinen 
Wachsthum  des  Embryo  betheiligen,  so  geschieht  dies  doch  in 
relativem  Masse. 

In  einer  zweiten  Entwicklungsphase,  sobald  einmal  die 
definitive  Form  der  Skelettheile  annäherungsweise  vorgebildet  ist, 
beginnt  der  tubo-tympanale  Raum  sich  auszubreiten«  Um  den 
Hammergriff  und  um  die  reflexe  Partie  des  Musculus  tensor 
dehnt  sich  zuerst  die  Trommelhöhle  aus,  verlängert  sich  dann 
gegen  hinten  und  aussen  längs  des  künftigen  Trommelfelles  und 
reicht  bis  zum  hinteren  Rand  des  Annulus  tympanicus  und 
dem  aufsteigenden  Abschnitt  des  Reicher  tischen  Knorpels. 

Das  mesoblastische  Gewebe  um  den  langen  Ambosschenkel, 
um  den  Stapes  und  neben  den  beiden  Labyrinthfenstem  ver- 
schwindet zuletzt. 

Der  Vorgang,  durch  welchen  der  Hammergriff  die  Ver- 
SQhliessung  des  tubo-tympanalen  Raumes  bedingt,  verdient  wegen 
seines  constanten  Auftretens  hervorgehoben  zu  werden.  So  viel 
mir  bekannt,  ist  er   bisher  von  Niemanden  beschrieben   worden. 

Wenn  wir  genau  bei  starker  Vergrösserung  die  histologischen 
Einzelnheiten ,  welche  an  der  Berührungsstelle  der  zwei  gegen- 
überliegenden Wände  vor  sich  gehen,    studiren,    so  finden   wir, 

^)  Ich  wende  die  Bezeidmong  Collie,  mandib.,  anstatt  der  Coli, 
palato-phar.  in  Anbetracht  des  zweiten  von  mir  als  hyoidalis  bezeich- 
neten Collicnlns  an. 

(116) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeatnng  etc.     275 

dass  die  entsprechenden  Epithelzellen  anfangs  zu  einander  in 
innige  Beziehung  treten  und  später  allmälig  verschwinden,  ohne 
dass  irgend  welche  Spur  eines  Epithelüberzuges  an  der  betreffenden 
Stelle  zurückbleibt. 

Bei  der  Besprechung  eines  analogen  Vorganges,  und  zwar  die 
Verschliessung  der  Eiemenspalte  betreffend,  stellt  Moldenhauer 
Betrachtungen  an,  die  auch  für  unseren  Fall  passen. 

,Die  Verwachsung  zweier  sich  einander  berührender  Epithel- 
flächen hat  überhaupt  im  ersten  Augenblick  immer  etwas  Befremd- 
liches, wenigstens  fbr  denjenigen,  welcher  mit  fertigen,  erwachsenen 
Epithelien  zu  rechnen  gewohnt  ist,  denn  Epithel  und  Epithel 
scheinen  vorhanden  zu  sein,  zwei  Gewebemassen  von  einander 
zu  trennen.  Im  embryonalen  Zustande  aber  hat  dieses  Verhältniss 
keine  durchgehende  Geltung.  Oefter,  sogar  in  den  wichtigsten 
Fällen,  sehen  wir  hier  bekanntlich  Verwachsung  von  Epithelplatten 
(Verschliessung  des  Medullarrohres,  der  Labyrinthblase,  der  secun- 
dären  Augenblase  u.  s.  w.).^ 

Die  Physiopathologie  des  Mittelohres  ist  noch  zu  wenig 
bekannt,  um  die  embryonale  Verwachsung  dieser  beiden  Epithel- 
schichten mit  speciellen ,  bei  den  Erwachsenen  vorkommenden 
Vorgängen  in  Zusammenhang  bringen  zu  können. 

Meine  Resultate  bestätigen  im  Allgemeinen  die  Lehre  von 
Urbantschitsch.  Das  was  er  Seitenbuchten  oder  Seitenspalten 
der  gemeinschaftlichen  Mund-Nasen-Rachenhöhle  nennt,  ist  mit 
den  von  mir  als  mandibulare  und  hyoidale  bezeichneten 
Spalten  identisch;  nur  ist,  nach  meinen  Untersuchungen,  der  die 
künftige  Tuba  und  Trommelhöhle  repräsentirende  Raum  an  der 
Seite  des  Schädels  erst  umfangreicher  als  Urbantschitsch  an- 
nimmt; und  umfasst  den  ganzen  Raum  an  der  inneren  Seite  der 
xmteren  Hälft»  des  Mandibularbogens  und  der  oberen  des  Hyoid- 
bogens.  Auch  die  Umwandlungsart  dieses  Raumes  in  Ohrtrompete 
und  Trommelhöhle  ist  viel  verwickelter  als  bis  jetzt  beschrieben 
worden  ist 

Aus  diesen  Thatsachen  geht  hervor,  dass  von  einer  gegen 
das  Ohr  zu  allmälig  sich  bildenden  Ausstülpung  in  dem  Sinne 
Baer's  und  Moldenhauer's  nicht  die  Rede  sein  kann. 

(117) 


276  Gradenigo. 

Der  tnbo-tympanale  Raum  ist  von  yorneberein  von  einem, 
relativ  viel  ^össeren  Raum  repräsentirt ,  welcher  später  einen 
partiellen  Involationsvorgang  eingeht. 

Der  CoUicnlus  palato-pharyngeus  s.  mandibularis 
steht,  wenigstens  bei  den  von  mir  nntersnchten  höheren  Sänge- 
thieren,  nicht  in  directer  Beziehung  zu  der  Tuba,  Tielmehr  mit 
dem  proximalen  Ende  des  mandibularen  Bogens,  welches  durch 
seine  Anschwellung  die  Einstülpung  der  naheliegenden  hinteren 
Wand  der  Mundbucht  veranlasst. 

Die  Tubenspalte  reicht  nach  oben  hin  nur  bis  zur  Basis  des 
Colliculus  und  setzt  sich  nach  unten  auf  eine  gewisse  Strecke 
fort,  wo  der  Colliculus  nicht  mehr  vorhanden  ist. 

Ein  Vordrängen  des  Wulstes  mehr  und  mehr  nach  dem 
Lumen  des  Darmes,  im  Sinne  Moldenhauer's,  konnte  ich  nicht 
beobachten. 

Der  Colliculus  mandibularis  findet  sein  Analogen  in 
einem  zweiten  Colliculus,  der  von  dem  proximalen  Ende  des 
zweiten  Eiemenbogens  bedingt  vnrd  (Coli,  hyoidalis). 

V. 

Die  morphologische  Bedeutung  der  Gehör- 
knöchelchen. 

Durch  die  Ergebnisse  der  vorliegenden  embryologisehen  Unter- 
suchongen  wird  festgestellt,  dass  bei  Menschen  und  bei  höheren  Säuge- 
thieren  drei  ganz  verschiedene  morphologische  Elemente  zur  Bildung 
der  Gehörknöchelohenkette  beitragen:  das  eme,  mandibulares 
Element,  aus  dem  ersten  Eiemenbogen  abstammend,  welches  Hammer 
und  Ambos  bildet;  das  zweite,  hyoidales  Element,  ans  dem 
zweiten  Kiemenbogen  abstammend,  welches  den  Annulus  stape- 
dialis  bildet;  das  dritte,  periotisches  Element,  aus  der  perio- 
tischen  Kapsel  abstammend,  welches  der  Lamina  stapedialis 
Ursprung  gibt.  Der  Steigbügel  geht  aus  der  Verschmelzung  dieser 
zwei  letzteren  Elemente  hervor. 

Diese  fundamentalen  Thatsachen  vorausgesetzt,  ist  es  von  höchster 
Wichtigkeit,  aus  diesem  neuen  Standpunkte  in  der  weiten  und  viel- 
fiütigen  Reihe  der  Wirbelthiere  die  complicirte  Morphologie  der  proxi- 
malen Enden  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  und  der  periotischen  Kapsel 
durchzuprüfen,    und   zu  trachten ,    auf   Grund   der   oben    erwähnten 

(118) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     27  7 

Kriterien   in    das    dunkle    und   verwickelte  Feld    der  vergleichenden 
Anatomie  etwas  mehr  Licht  zu  bringen. 

Ich  halte  für  geeignet,  zuerst  zu  untersuchen,  welche  Skelet- 
elemente  bei  den  niederen  Wirbelthierclassen  als  Vertreter  der  Gehör- 
knöchelchen der  Säugethiere  angesehen  werden  dürfen,  und  alsdann 
die  verschiedenen  morphologischen  von  den  einzelnen  Säugethier- 
gattungen  dargebotenen  Typen  der  Gehörknöchelchen  durchzunehmen. 

A.  Morphologie  der  proximalen  Enden  der  zwei  ereten  Klemen- 
bogen  und  der  periotischen  Kapsel  bei  den  WIrbeithieren. 

Eriteritim  der  Homologie. 

Der  Begriff  der  Homologie  der  Skeletelemente  beruht  auf  der 
Thatsache,  dass  in  einer  bestimmten^  embryonalen  Entwicklungsperiode 
bei  den  verschiedenen  Wirbelthieren  ein  primoMiales  Skelet  existirt, 
welches  in  einem  Zustande  höchster  Einfachheit  bei  diesen  allen 
gleiche  Charaktere  aufweist.  Es  ist  erst  bei  der  ferneren  Entwicklung 
des  Embryos,  dass  das  primordiale  Skelet  Veränderungen  erf^lhrt, 
durch  welche  dieses  alhnälig  die  individuellen,  dem  erwachsenen  Thiere 
eigenen  Charaktere  annimmt.  Ich  habe  so  z.  B.  constatiren  können, 
dass  das  primordiale  Skelet  der  Kiemenbogen  und  der  periotischen 
Kapsel  bei  höheren  Säugethieren  sich  dem  von  Parker  und  St  Öhr 
bei  den  Fischen  (Teleostiern)  beschriebenen  ganz  ähnlich  verhält. 

Um  zu  bestimmen ,  ob  ein  gewisses  Skeletelement  bei  Säuge- 
thieren das  Homologon  eines  anderen  bei  den  übrigen  Wirbelthieren 
darstellt  oder  nicht,  ist  es  nöthig,  beide  auf  den  primordialen  Skelet- 
typus  zurückzuführen.  Als  wesentliches  Kriterium,  um  die  Homologie 
festzustellen,  sollte,  meines  Erachtens,  die  embryonale  Derivation  an- 
gesehen werden. 

Die  Bedeutung,  welche  den  embryologischen  Studien  zukommt, 
um  die  Thatsachen  der  vergleichenden  Anatomie  zu  bestimmen,  war 
schon  im  Jahre  1837  von  Reichert^)  hervorgehoben,  als  er  in  seiner 
classischen  Arbeit  folgende  Bemerkungen  niederlegt  hat: 

„Ohne  Sohmälerung  der  Rechte  der  eomparativen  Anatomie  muss 
man  zi^eben,  dass  ihr  bei  der  Bestimmung  der  Kopftheile  nach  dem 
ürtypus  zu  viele  Hindemisse  in  den  Weg  gelegt  sind,  theils  durch 
die  Yerschiedenartigkeit  der  Köpfe  der  Wirbelthiere  selbst  und  dann 
auch  vorzugsweise  dadurch ,  dass  sie  es  eben  mit  dem  Skelet  im 
knöchernen  Zustande  zu  thun  hat.  Wer  mit  der  Entwicklungsgeschichte 
vertraut  ist,  weiss,  wie  schon  bei  der  BUdung  des  Knorpelskelets 
Modificationen  und  Abänderungen  von  der  Urform  des  serösen  Blattes 
eintreten.  Aber  nur  vollends  bei  dem  letzten  Individualisationsacte  des 
Embryo,  bei  der  Ossification,  wirken  viele  und  verschiedenartige  ur- 
sächliche Momente  ein,  um  das  knöcherne  Gepräge  des  Individuum  dar- 

(119) 


278  Gradenigo. 

zustellen.  Die  Enoehenbildimg  zeigt  gerade  das  Bestreben,  die  ein- 
fachen orsprünglichen  Wirbelfonnen  der  Individualität  des  Thieres 
anzueignen  und  nach  ihr  abzuändern ;  aus  diesem  Grunde  hat  die  com- 
parative  Anatomie  bei  der  Zurückführung  der  Kopfknoehen  auf  die 
Urform  die  grösste  Vorsicht  nöthig,  um  hier  nicht  fehl  zu  gehen.^ 
(Reichert»),  pag.  120.) 

Die  Homologie  zweier  Organe  kann  nicht  aus  der  Thatsacfae 
festgesetzt  werden,  dass  diese  Organe  beim  erwachseneu  Thiere  dieselbe 
Function,  oder  durch  Gestaltung,  Dimensionen  und  topographische  Lage 
Analogie  darbieten;  dies  sind  lauter  täuschende,  zufällige  Kriterien. 
Damit  ein  Organ  als  das  Homologen  eines  anderen  betrachtet  werden 
kann ,  ist  es  noch  überdies  erforderlich ,  dass  beide  einen  gleichen 
embryonalen  Ursprung  darbieten. 

Die  oben  angeführten  Betrachtungen  geben  den  Grund  an, 
wesshalb  diejenigen  Autoren,  welche  auf  das  Studium  des  erwachsenen 
Thieres  gestützt,  die  Homologie  der  Skeletelemente  festzustellen  ver- 
sucht haben,  trotz  sorgfältiger  Beobachtung  und  scharfer  Kritik  sich 
meistens  vergebliche  Mühe  gegeben  haben,  und  warum  ihre,  auf  un- 
richtige Basis  aufgestellten  Theorien  dunkel  und  sich  widersprechend 
hervorgegangen  sind. 

Diesbezüglich  könnte  ich  die  verschiedenen  Lehren  anfahren, 
welche  in  Bezug  auf  die  Homologie  der  Derivaten  der  zwei  ersten 
Kiemenbogen  von  berühmten  Forschem  successive  aufgestellt  worden 
sind.  Bei  der  vorzüglichen  Monographie  von  Baraldi  über  die  Homo- 
logie der  Nebenorgane  der  Athmung  der  Fische  und  der  Nebenorgane 
des  Gehörs  der  Säugethiere  ^^)  findet  sich  eine  kurze  Uebersicht  solcher 
Lehren. 

Ich  will  nur  erwähnen,  dass  das  Hyomandibulare  (Huxlej) 
der  Fische ,  welches ,  wie  wir  unten  sehen  werden  ,  den  proximalen 
Abschnitt  des  Hjoidbogens  darstellt,  dann  und  wann  von  Cuvier 
als  Os  temporale,  von  Hallmann  als  Os  Quadratum  der 
Reptilien  und  der  Vögel,  von  Agassiz  als  Os  mastoideum 
angesehen,  und  vonOwenEpitympanicum,  vonGeoffroy-Saint- 
HilairealsSerrial  bezeichnet  wurde.  —  Die  Gehörknöchelchen  der 
Säugethiere,  welche,  wie  bekannt,  in  Knorpel  präformirt  sind,  wurden 
sogar  von  Spix  und  Geoffroy-Saint-Hilaire  zu  den  Oper- 
cularia  der  Fische  gegenübergestellt,  welche  letztere  hingegen  von 
Agassiz  als  modificirte  Schuppen,  folglich  dem  dermaligen  System 
gehörend  angesehen  worden  sind. 

Im  Allgemeinen  sind  die  Autoren,  welche  bei  der  Feststellung 
der  Homologie  der  Skeletelemente  deren  Entstehungsweise  nicht  be- 
rücksichtigt haben,  in  eine  Reihe  von  Missdeutungen  und  Irrthümer 
gerathen. 

(120) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentung  etc.     279 

Als  Eriterium  der  Homologie  musste  man  die  topographischen, 
bei  erwachsenen  Thieren  zutreffenden,  Verhältnisse  nehmen;  man  ver- 
mied häufig,  zwei  Theile,  welche  verschiedene  Functionen  erfüllten, 
als  homolog  zu  betrachten ;  und  wurden  schliesslich  in  sonderbarer 
Weise  die  Knochen ,  welche  aus  dem  primordialen  Skelet  entstehen, 
mit  den  Deckknochen,  welche  aus  directer  Umwandlung  des  Binde- 
gewebes hervorgehen,  verwechselt.    ' 

Aber  auch  die  Autoren,  welche,  von  einem  wissenschaftlicheren 
allgemeinen  Standpunkte  abgehend,  das  Eriterium  der  Homologie  in 
der  Abstammung  der  einzelnen  Skeletelemente  gesucht  haben,  sind  in 
vielen  Fällen  nicht  bis  zum  eigentlichen  primordialen  Skelet  gelangt, 
und  haben  desshalb  nicht  ganz  erfreuliche  Folgerungen  gezogen.  Man 
hat  in  der  That  als  primordiales  Skelet  der  Säugethiere  das  von  den 
knorpeligen   Skeletelementen  vertretene  Typus  angesehen. 

Da  nun  bei  höheren  Wirbelthieren  das  knorpelige  Skelet  merk- 
liche Unterschiede  im  Vergleiche  zu  dem  primitiv  angelegten  Skelet 
darbietet ,  eignet  es  sich  nur  zum  Theil ,  die  erste  Derivation  der 
Skeletelemente  erkennen  zu  lassen.  Aus  meinen  Wahrnehmungen  geht 
hervor ,  dass  bei  Säugethieren  die  primordialen  Skeletelemente  zur 
Zeit  des  Auftretens  des  ELnorpelgewebes  schon  wesentliche  Modifica- 
tionen  erfahren  haben. 

Die  Ursache ,  weshalb  das  eigentliche  primordiale  Skelet  bei 
höheren  Wirbelthieren  nicht  genug  untersucht  worden  ist,  liegt  an  der 
Schwierigkeit,  die  das  Studium  dieses  Skeletes  bietet.  Die  vorknorpe- 
lige Skeletanlage  bei  höheren  Wirbelthieren  (Sauropsiden  und  Säuge- 
thieren) stellt  wegen  der  Zartheit  der  sie  zusammensetzenden  Elemente 
und  wegen  der  raschen  Umwandlungen,  welche  sie  eingeht,  eine  der 
schwierigsten  Beobachtungsmaterialien  dar.  Ein  Beweis  daftlr  sind  die 
vielfältigen  über  die  Derivation  des  Steigbügels  und  des  Ambosses 
angestellten  Hypothesen ,  welche  durch  die  directe  Beobachtung  des 
primordialen  Skelets  aufgehoben  worden  wären. 

Um  die  Homologie  der  einzelnen  Skeletelemente 
bei  den  verschiedenen  Classen  der  Wirbelthiere  fest- 
zustellen, ist  nur  die  Entstehungsweise  der  betref- 
fenden Skeletelemente  aus  der  vorknorpeligen  embryo- 
nalen Anlage  als  massgebend  zu  betrachten. 

Allgemeines  über  Eiemenskelet.  *) 

Die  verschiedenen  Wirbelthierclassen  stellen  in  Bezug  auf  Orga- 
nisationsgrad keine  regelmässig  aufsteigende  Reihe  dar,  sondern  bieten 
einige  Typen,  bei  denen  in  jedem  die  Oi^anisation  aus  einem  Minimum 

^)  Diese  allgemeinen  Bemerkungen  sind  nach  Balfour,  Oaneatrini 
und  Gegenbaur  dargestellt. 

(181) 


280  Gradenigo.  . 

von  Vollkommenheit  abgeht,  mn  sich  breit  in  einer  bestimmten  Rich- 
tung bei  den  höheren  Gliedern  eines  und  desselben  Typus  zu  entwickeln. 

Es  kann  jedoch  constatirt  werden ,  dass  diese  verschiedenen 
Typen  alle  untereinander  innig  zusammenhängen,  und  dass  der  oben 
erwähnte  primordiale  Skelettypus,  welcher  in  den  ersten 
embryonalen  Stadien  vorkommt,  immer  mehr  auffallende  Abänderungen 
erleidet,  je  mehr  man  von  den  Fischen  nach  den  Säugethieren  auf- 
steigt. 

Die  Eiemenbogen,  welche  bei  den  Fischen  in  Beziehung  zum 
Athemapparat  das  ganze  Leben  stehen,  und  bei  den  übrigen  Wirbel- 
thieren  blos  im  Embryo  in  ihrer  primordialen  Gestaltung  vorkommen, 
stellen  die  Enderscheinung  eines  Reductionsprocesses  dar,  die  wahr- 
scheinlich an  einer  viel  beträchtlichen  Bogenzahl,  bei  nicht  mehr 
lebenden  Thierformen  begann.  Das  Eiemenskelet  der  Cranioten  wäre 
denmach  der  Ueberrest  eines  an  Bogen  ursprünglich  viel  reicheren 
Apparates.  Die  mit  der  Aenderung  seiner  Verrichtung  wahrnehmbaren 
Umwandlungen  des  Eiemenskeletes  geben  ein  sprechendes  Beispiel  ab 
für  den  mächtigen  Einfluss  der  Anpassung  an  äussere  Lebensbedin- 
gungen auf  die  innere  Organisation.  ^) 

Das  Eiemenskelet  wird  in  seinem  ursprünglichen  Typus  bei  den 
lebenden  Thierformen  aus  einer  Reihe  von  durch  Querbalken  mit  ein- 
ander verbundenen,  in  einem  oberflächlichen  subdermalen  Gewebe  ent- 
wickelten ELnorpelstreifen  repräsentirt  (äusseres  Eiemenskelet 
bei  Petromizontidae). 

Bei  den  höheren  Formen  wird  dieses  System  durch  eine  Reihe 
von  in  den  tieferen  Theilen  des  Mesoblastes  entwickelten  Enorpel- 
stäben  ersetzt,  die  man  als  Eiemenbogen  bezeichnet,  und  die  so  gelegen 
sind,  dass  sie  den  hintereinander  folgenden  Eiementaschen  zur  Stütze 
dienen.  Die  ersten  zwei  Bogen,  Mandibular- und  Hyoidal-,  treten 
bei  allen  Wirbelthiergattungen  auf;  die  folgenden  Bogen,  als  eigent- 
liche Eiemenbogen  bezeichnet,  kommen  nur  bei  den  Ichthio- 
psiden  zur  vollen  Ausbildung. 

Die  zwei  ersten  Kiemenbogen. 

Der  erste  und  zweite  Eiemenbogen  bieten  in  der  ganzen  Thier- 
reihe  functionelle  und  anatomische  Merkmale,  wodurch  sie  sich  von 
den  übrigen  Eiemenbogen  unterscheiden;  sie  wandeln  sich  allmälig 
aus  Nebenorganen  der  Athmung  bei  Fischen  zu  Nebenorganen  des 
Gehörs  bei  den  besser  specialisirteu  Thieren  um. 

Die  Art,  nach  welcher  die  proximalen  Enden  der  zwei  ersten 
Eiemenbogen  sich  modificiren,  um  sich  an  Functionen  anzupassen,  die 


')  Gegenbanr,  Vergleickende  Anatomie,  pag.  493. 

(182) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     28 1 

von  den  nrsprttnglichen  ganz  yerschieden  sind,  bildet  eines  der  lehr- 
reichsten   und    interessantesten  Capitel    der  vergleichenden  Anatomie. 

Bei  den  Fischen  nnd  manchen  Amphibien  wird  die  Athmnngs- 
fiinction  nnr  von  den  eigentlichen  Eiemenbogen  bewerkstelligt  Der 
erste  Bogen  hat  in  allen  Fällen  bei  den  lebenden  Formen  diese 
Function  verloren;  während  der  zweite  bei  manchen  Formen  seine 
Eiemenfdnction  nnr  zum  Theile  beibehält.  Ueberdies  sind  in  der  ganzen 
Sängeihierreihe  die  ersten  zwei  Bogen  zum  Sttttzskelete  des  Mundes 
geworden. 

Bei  den  höheren  Formen  sind  bei  dem  Verschwinden  der 
Kiemenathmnng  die  eigentlichen  Eiemenbogen  secnndär  geändert,  nnd 
gehen  grösstentheils  zn  Grunde. 

Seit  dem  ersten  Auftreten  des  ovalen  Fensters  (bei  manchen 
Amphibien)  treten  die  proximalen  Enden  der  zwei  ersten  Eiemen- 
bogen zu  dem  inneren  Ohre  in  Beziehung,  und  wandeln  sich  bei  den 
Säugethieren  in  die  Gehörknöchelchen  um. 

Die  Art  und  Weise,  nach  welcher  im  Embryo  das  primordiale 
Skelettypus  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  bei  den  verschiedenen 
Wirbelthierclassen  sich  allmälig  verändert,  um  die  individuellen,  jeder 
Thierdasse  eigenen  Charaktere  anzunehmen,  ist  heutzutage  in  manchen 
Seiten  zu  ungenügend  bekannt,  um  mit  Bestimmtheit  eine  vollständige 
Lehre  der  Homologie  der  einzelnen  Skeletelemente  feststellen  zu  können. 
In  der  That  kann  durch  zahlreiche  Beobachtungen,  unter  welchen  die 
Huxley's,  Parker's,  Pouchet's,  Stöhr's  hervorgehoben  werden 
mttssen,  das  Verhalten  der  zwei  ersten  Eiemenbogen  und  der  perio- 
tischen  Eapsel  bei  niederen  Wirbelthieren  (Fische,  Amphibien,  Rep- 
tilien) in  seinen  Hauptzügen  als  ziemlich  bekannt  angesehen  werden. 
Dasselbe  kann  nicht  betreffs  des  primordialen  Skeletes  der  höheren 
Wirbelthiere  (Vögel  und  Säugethiere)  gesagt  werden. 

Eben  aus  diesem  Grunde,  kann  ich  in  vorliegender  rascher 
üebersicht  der  Morphologie  der  proximalen  Enden  der  zwei  ersten 
Eiemenbogen  und  der  periotischen  Eapsel  die  Resultate  meiner  eigenen 
Beobachtungen  auf  die  Säugethiere  nur  mit  dem  was  überhaupt  über 
das  Verhalten  des  primordialen  Skeletes  bei  niederen  Wirbelthieren 
bekannt  ist,  vergleichen.  Was  Reptilien  und  Vögel  anbelangt,  wäre 
ich  gezwungen,  einfache  Hypothesen  vorzulegen,  welche  die  vielen, 
schon  zu  diesem  Objecto  aufgestellten  vergebens  vermehren  würden, 
und  vielleicht  auserkoren  sein  würden,  von  der  einfachen  Beobachtung 
der  embryonalen  Thatsachen  bald  vernichtet  zu  werden. 

Wir  haben  schon  oben  erwähnt,  dass  sowohl  bei  den  niederen 
Wirbeldiieren  als  auch  bei  den  Säugethieren  das  Verhalten  des  pri- 
mordialen Skelettypus  der  Eiemenbogen  und  der  periotischen  Eapsel 
ein  Gleiches  ist.  (Siehe  in  dieser  Arbeit  H.  Abth.,  I,  A.) 

(188) 


282  Gradenigo. 

Die  zwei  ersten  Eiemenbogen  erscheinen  zuerst  in  Form  von 
ungegliederten,  an  der  Seite  des  Schädels  gelegenen  Stäben,  welche 
frei  distal  und  proximal  enden. 

Die  periotische  Kapsel  ist  gewöhnlich  bei  ihrem  ersten  Deutlich- 
worden unvollständig ,  und  zeigt ,  der  künftigen  Vestibnlarwand  ent- 
sprechend, keine  Spur  von  Fenstern. 

Was  die  Veränderungen  dieser  primordialen  Skeletelemente  bei 
den  verschiedenen  Wirbelthierclassen  anbetrifft,  ist  Folgendes  hervor- 
zuheben : 

Fische.  Die  periotische  Kapsel  weist  durch  das  ganze 
Leben  keine  Spur  von  Labyrintlifenstem  auf. 

Der  Mandibular  bogen  zerfällt  bei  manchen  Gattungen  in 
zwei  Abschnitte ,  welche  den  Ober-  und  Unterkiefer  bilden  (Elasmo- 
branchien);  bei  anderen  geht  der  Oberkiefer  nicht  mehr  in  seiner 
ganzen  Ausdehnung  aus  dem  mandibularen  Bogen  hervor,  sondern 
er  wird  von  einem  selbstständig  entwickelten  Knorpelstreifen  vervoll- 
ständigt (Parker). 

Von  dem  proximalen  Ende  des  Hyoidbogens  trennt  sich  ein 
Knorpelelement  ab,  welches  einen  grossen  morphologischen  Werth 
besitzt,  der  sogenannte  hyo-mandibulare  Abschnitt. 

Derselbe  entspricht  in  manchen  Fällen  dem  Endstücke  des  Hyoid- 
bogens (Scyllium,  Raja),  in  anderen  dessen  vorderem,  der  Länge 
nach  getrennten  Abschnitte  (Lachs). 

Der  Hyomandibulare  verlässt  später  den  Hyoidknorpel, 
mit  welchem  er  in  einigen  Fällen  mittelst  eines  dazwischen  liegenden 
Knorpeltheils  verbunden  bleibt  (i  n  t  e  r  h  y  a  1  e),  und  tritt  in  inniges  Yer- 
hältniss  zu  dem  Mandibularbogen  einerseits  und  zu  der  periotisohen 
Kapsel  andererseits.  Der  hyomandibulare  Abschnitt  bildet  also  auf 
diese  Art  eines  der  wichtigsten  Befestigungsmittel  des  Mandibularbogens 
an  den  Schädel.  ^) 

Bei  Fischen  können  wir  constatiren,  dass  ein  Ab- 
schnitt des  proximalen  Endes  des  Hyoidbogens  (Hyo- 
mandibulare) in  inniges  Verhältniss  zu  dem  proximalen 
Ende  des  Mandibularbogens  tritt. 

Amphibien.  Das  Verhalten  des  proximalen  Endes  der  zwei 
ersten  Kiemenbogen  bietet  bei  dieser  Thierolasse  ein  erhöhtes  Interesse. 


^)  Wir  können  mit  Huxley  drei  Hanptfonnen  der  Befeatignng  des  Man- 
dibularbogens an  dem  Schädel  unterscheiden.  Entweder  wird  der  Unterkiefer 
ausschliesslich  durch  Yermittlnng  des  Hyoidbogens  an  den  Schädel  befestigt 
(hyostylisch,  Scyllinm);  oder  aber  befestigt  sich  der  Mandibularbogen  nicht 
nur  mittelst  des  Hyoidbogens,  sondern  auch  direct  an  den  Schädel  (amphi- 
styl  lach);  oder  endlich  erfolgt  die  Befeatigang  ohne  Yermittlung  des  Hyoid- 
bogens (autostylisch).  Diese  letztere  Yerbindungsart  kommt  bei  den  Amphi- 
bien und  den  Cranioten  vor. 

(1S4) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  fiedeatong  etc.     283 

Bei  einem  nnd  demselben  Individuum  weist  das  Eiemenskelet 
die  bewnndenmgswflrdigsten  Verftndernngen  in  den  versohiedenen  Ent- 
wicklnngsstadien  auf;  ausserdem  tritt  uns  zum  ersten  Male  die 
Fenestra  oyalis  in  ihrem  primitiven  Typus  entgegen. 

Dureh  die  Untersuchungen  Parker's  und  Huxley's  sind  wir 
zu  einer  genauen  Eenntniss  des  Axolotl  und  des  gemeinen 
Frosches  gelangt,  die  man  als  Typus  der  Urodelen,  respective  der 
Anuren  hinstellen  kann. 

Axolotus.  In  einem  ersten  Stadium  ist  die  periotische  Kapsel 
nur  an  der  Basis  und  der  äusseren  Fläche  knorpelig.  Später  vervoll- 
ständigt sie  sich,  und  es  bleibt  nur  an  ihrer  unteren  Fläche  lateral- 
wärts  eine  halbmondförmige  Spalte  zurück  (Fenestra  ovalis).  Diese 
wird  mit  der  weiteren  Entwicklung  mehr  gegen  aussen  gedrängt  und 
von  ihrem  vorderen  Rande  geht  gegen  hinten  eine  dünne  knorpelige 
Lamelle  ab,  die  in  Form  eines  Lides  an  dem  Fenster  anliegt.  Diese 
Lamelle  ist  vorne  und  lateralwärts  mittelst  eines  breiten  Isthmus  mit 
der  periotischen  Kapsel  verbunden;  bald  gliedert  sie  sich  ab,  und 
isolirt  sich  als  ein  lanzettförmiger  Abschnitt  mit  nach  hinten  gerichteter 
Spitze  (Stapes  nach  Parker). 

Später  erhält  der  Stapes  die  Form  eines  Zapfens,  welcher  mit 
seinem  breiten  Ende  das  ovale  Fenster  besetzt  hält.  Was  den  man- 
dibularen Bogen  betrifft,  so  hängt  er  einerseits  mit  dem  Schädel, 
andererseits  durch  zwei  Fortsätze  (Processus  oticus  und  Huxley's 
Pediculus)  mit  dem  vorderen  Segment  der  periotischen  Kapsel  zu- 
sammen. Ueberdies  ist  er  mittelst  eines  Ligamentum  mit  dem  Stapes 
verbunden.  Der  Hyoidbogen  stellt  einen  Elnorpelstab  dar,  welcher 
vorne  mit  dem  Quadratabschnitte  des  Mandibularbogens  in  Gelenk- 
verbindung tritt,  und  welcher  durch  Bänder  sowohl  am  Quadratum 
als  auch  am  Schädel  befestigt  ist. 

Frosch.  In  einem  der  ersten  Stadien  ist  die  periotische 
Kapsel  von  den  anderen  knorpeligen  Elementen  scharf  unterschieden ; 
das  proximale  Ende  des  Mandibularbogens  liegt  fest  an  der  Oehör- 
kapsel  an.  An  dem  unteren  Theil  der  Kapsel  beginnt  bald  die 
Diffbrenzirung  einer  Spalte,  welche  sieh  hierauf  in  eine  unregelmässig 
zugespitzte  Lücke  ausbreitet,  und  sich  mit  zarten  Zellen  indifferenten 
Gewebes  fUlt.  Später  verknorpelt  dieses  Gewebe  und  stellt  uns  den 
Stapes  mittelst  Band  an  dem  Fenster  befestigt  dar.  Das  proximale 
Ende  des  Mandibularbogens  hängt  durch  zwei  Fortsätze,  welche  mit 
denjenigen  bei  den  Axolotl  erwähnten  homolog  sind,  mit  der  perioti- 
schen Kapsel  zusammen.  Ein  Theil  des  Processus  oticus  gliedert 
flieh  ab,  und  verwandelt  sich  später  in  denAnnulus  tympanicus, 
4er  mehr  als  dreiviertel  Kreis  umfasst. 

Der  Hyoidbogen  ist  zuerst  durch  Gelenkverbindung,  später  nur 

Ued.  Jahrbftcher.  1887.  23   ^^^^ 


284  Grftdenigo. 

mittelst  einem  Ligamentum  an  dem  Quadratnm  befestigt,  und  hftngt 
anoh  loeker  mit  dem  Schädel  zusammen. 

Bei  dem  jungen  Frosche  kann  man  einen  bestimmten  Zug  von 
körnigem  Gewebe  vom  Stapes  aus  nach  vorne  und  lateralwärts  ver- 
folgen ;  der  siebente  Nerv  verläuft  oberhalb  desselben.  Nach  Ablauf  von 
ungefähr  einem  Monat  kommt  in  diesem  Gewebe  ein  zarter  keulen- 
förmiger Knorpelstab  zum  Vorschein,  dessen  verbreitetes  Ende  in  den 
vorderen  zugespitzten  Theil  des  ovalen  Fensters  hineindringt,  welches 
nicht  vollständig  von  dem  Stapes  erfüllt  ist.  Die  Enorpelzellen  des 
vordersten  Endes  dieser  rudimentären  Columella  gehen  unmerklich  in 
die  Bindegewebszellen  über.  Zwei  Monate  darauf  ist  die  Columella 
vollkommen  ausgebildet.  Das  hintere  Ende  ist  in  Form  einer  knor- 
peligen ovalen  Masse  abgegliedert  (Interstapedialis).  Das  Mittel- 
stück, welches  von  einer  knöchernen  Hülle  umgeben  ist,  wird  meso- 
stapedial  genannt.  Der  vordere  Abschnitt(Extrastapedialis)  ist 
gegen  aussen  zu  abgerundet,  und  liegt  an  der  hinteren  Seite  der  oberen 
Hälfte  des  Quadratums.  Das  Extrastapediale  ist  breiter  und  mehr  ab- 
geplattet als  das  Mesostapediale  und  tritt  in  innige  Beziehung  zu 
dem  faserigen  Gewebe,  welches  das  Trommelfell  repräsentirt. 

Bemerkenswerth  ist  die  verschiedene  Art  der  Entwicklung  des 
Stapes  bei  dem  A  z  o  1  o  1 1  und  dem  Frosche.  Bei  dem  ersteren  gelangt 
der  Stapes  erst  secundär  in  das  ovale  FeDster  hinein,  während  er 
beim  Frosche  schon  von  vorneherein  diesen  Platz  besitzt.  Femer  ver- 
dient hervorgehoben  zu  werden,  dass  beim  Axolotl  eine  eigentliche  Colu- 
mella mangelt,  es  wäre  aber  genau  zu  sehen,  ob  nicht  ein  Hyoidelement 
an  der  Bildung  des  erwachsenen  Stapes  theilnimmt.  Bei  dem  Meno- 
branchus  ist  der  Hyoidbogen  durch  sein  oberstes  Ende  mit  dem 
Stapes  verbunden  (Huxley**),  pag.  186). 

Reptilien.  Natter.  Das  ovale  Fenster  ist  durch  eine  mem- 
branöse  Lamelle  verschlossen ,  welche  später  mit  dem  Hyoidbogen  zu- 
sammen ein  einziges  Enorpelstflck  bildet.  Hinten  von  dem  ovalen 
Fenster  lässt  sich  ein  Anhang,  die  Anlage  des  runden  Fensters,  erkennen, 
welches  später  vermöge  eines  Elnorpelstreifens  von  dem  ovalen  Fenster 
sich  trennt.  Das  proximale  Ende  des  Mandibularbogens  hat  sich  als 
Quadratum  von  dem  M  e  o  k  e  l'schen  Knorpel  abgegliedert,  und  an  die 
lateralen  Seite  der  periotischen  Kapsel  gelagert.  Sein  Processus 
oticus  reicht  ungefähr  bis  zum  hinteren  Bogengänge,  der  Pediculus 
ist  kaum  angedeutet.  Das  proximale  Ende  des  Hyoidbogens  verbindet 
sich  mit  der  Lamella  stapedialis  des  ovalen  Fensters,  der  Rest 
des  Hyoidbogens  bleibt  hinten  als  isolirter  Absohnitt  (Stilohyale)  zurück. 

Vögel.  Die  zarte  Columella  wurde  vorzugsweise  bei  dem  Haus- 
huhn und  der  Cheliden  nrbica  mehr  in  Bezug  auf  ihre  complicirte 
Gestaltung,  als  auf  ihre  embryonale  Abstammung  studirt.  Sie  reprä- 
sentirt  ein    äusserst  zartes  Element ,    welches   mit   einer  knöehernen 

(126) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedentnng  etc.     285 

ovalen  Platte  in  der  Fenestra  ovalis  sitzt.  Gegen  aussen  zu 
wird  sie  knorpelig,  und  setzt  sich  an  das  Trommelfell  fest.  Wir  können 
an  ihr  drei  Fortsätze  unterscheiden,  den  Superstapedials,  welcher 
an  die  obere  Wand  der  Trommelhöhle  sich  befestigt;  einen  Extra- 
stapedialis,  welcher  in  Beziehung  zu  dem  Trommelfell  tritt,  und 
einen Infrastapedialis,  welcher  wahrscheinlich  ein  gegen  unten  zu 
gewendetes  Hyoidelement  darstellt.  Auch  bei  dieser  Columella  ist  ein 
Mandibularelement  nicht  sicher  festzustellen. 

Säugethiere.  Aus  meinen  Untersuchungen  geht  hervor,  dass 
bei  den  Säugethieren  drei  morphologische  Elemente  in  der  Gehör- 
knöchelchenkette zu  unterscheiden  sind.  Das  eine,  das  ovale  Fenster 
ausfüllend,  stammt  aus  der  periotischen  Kapsel  (Lamina  stapedialis) ; 
das  andere  bildet  sich  aus  dem  zweiten  Kiemenbogen  (Stapedialring) 
und  verschmilzt  bei  dem  erwachsenen  Thiere  mit  dem  ersteren,  um  so  den 
Stapes  herzustellen ;  das  dritte  endlich  rflhrt  vom  Mandibularbogen  her 
(Hammer,  Ambos).  Eine  solche  Auffassung  gestattet,  in  sehr  zufrieden- 
stellender Weise  die  complicirtesten  Probleme  zu  lösen ,  welche  sich 
uns  bei  den  morphologischen  Umwandlungen  der  Kiemenbogen  durch 
die  ganze  Wirbelthierreihe  entgegenstellen. 

Der  Annulus  stapedialis  würde  als  das  Homologen  des 
Hyomandibulare  der  Fische  zu  betrachten  sein;  wenn  die  An- 
gabe Parker'S;  dass  der  ganze  Stapes  bei  Amphibien  und  Sauro- 
psiden  aus  der  periotischen  Kapsel  hervorgeht,  bestätigt  wäre,  würde 
folglich  der  Stapes  dieser  Thiere  nur  einen  Theil  des  zusammen- 
gesetzten Stapes  der  Säugethiere,  d.  h.  die  Lamina  stapedialis, 
darstellen. 

Inmitten  der  Mannigfaltigkeit  der  Typen,  nach  welchen  die  proxi- 
malen Enden  der  Kiemenbogen  sich  umstalten,  können  wir  das  Ver- 
halten der  drei  erwähnten  Elemente  veifolgen. 

Bei  den  Fischen,  wo  wegen  Mangel  des  ovalen  Fensters  das 
periotische  Element  sich  noch  nicht  differenzirt  hat,  und  andererseits 
das  Kiemenskelet  in  seiner  grösseren  Einfachheit  uns  entgegentritt,  tritt 
das  vollständig  isolirte  hyoidale  Element  im  unmittelbaren  Zusammen- 
hang zu  4cm  noch  nicht  differenzirten  Mandibularelement. 

Bei  den  Amphibien  tritt  schon  das  periotische  Element  auf, 
und  setzt  sich  sofort  mit  dem  hyoidalen  Element  in  Verbindung.  Die 
Bedeutung  der  ColumeUa  bei  dem  erwachsenen  Frosch  ist  noch 
immer  Gegenstand  gegentheiliger  Meinungen. 

Mit  Kttcksicht  auf  die  bei  den  Fischen  vorkommenden  Vorgänge 
und  die  von  mir  bei  den  Säugethieren  beobachteten  Thatsachen,  dürfte 
die  Columella,  die  sich  einerseits  mit  den  Stapes,  andererseits  mit 
dem  Mandibularbogen  in  Verbindung  setzt,  ein  hyodales  Element  ent- 
halten, analog  dem  Hyomandibular  der  Fische  und  dem  Sta- 
pedialring der  Säugethiere. 

23*  ^^^ 


286  Gradenigo. 

Wenn  auch  Pa  rker  die  Herkunft  der  Columella  aus  dem  Hyoid- 
bogen  nicht  zu  constatiren  im  Stande  war,  so  hält  er  doch  die  ganze 
Columella  für  das  Homologen  des  Hyomandibulare.  Die 
Aehnlichkeit  zwischen  ihr  und  dem  Hyomandibulare  in  ihrem  Verhalten 
zu  den  Nerven  wird  von  Parker  als  kräftiger  Beweisgrund  zu 
Ounsten  semer  Ansicht  hervorgehoben. 

Meines  Erachtens  kann  nicht  mit  Bestimmtheit  entschieden 
werden,  ob  die  ganze  Columella  oder  nur  ein  Theil  derselben  dem 
Hyomandibulare,  respective  demAnnulus  stapedialis  entspricht. 
Jedenfalls  kann  ich  mich  den  Ansichten  Balfour's  nicht  anschliessen, 
welcher  das  mit  dem  Quadratum  frühzeitig  in  Zusammenhang  tretende 
obere  Ende  des  primitiven  Hyoids  als  das  hyomandibulare 
Element  ansieht. 

Auch  bei  der  Columella  der  Natter  stellt  der  hintere,  von  dem 
Hyoidbogen  herrührende  Abschnitt,  welcher  mit  der  periotischen 
Lamina  stapedialis  in  Verbindung  tritt,  das  Homologen  des 
Hyomandibulare  der  Fische  und  des  Annulus  stapedialis  der 
Säugethiere  dar.  Das  vordere  Ende  der  Columella  sollte,  sammt  dem 
l^uadratum  im  Zusammenhang  mit  dem  Mandibularbogen  gebracht  werden. 

In  der  Columella  bei  den  Amphibien,  Reptilien  und  Aves  bleibt 
das  periotisohe  Element  bis  zu  einem  gewissen  Orade  getrennt,  und 
«s  ist  höchst  wahrscheinlich,  da  ganz  bestimmte  Kenntnisse  in  diesem 
Oegenstande  noch  fehlen,  dass  die  zwei  Kiemenelemente,  das  h  y  o  i  d  a  1  e 
und  mandibulare  beim  erwachsenen  Thiere  innigst  miteinander 
verschmolzen  sind.  Als  Beweis  daftlr  dürften  gewissermassen  die  Beob- 
achtungen Dollo's,  nach  welchen  das  mandibulare  Element  in  Form 
des  Hammers  als  isolirtes  Oebilde  schon  beiLacertilla  wahrzunehmen 
wäre,  besonders  hervorgehoben  werden. 

Bei  den  Säugethieren  hingegen  findet  die  Verschmelzung  sehr 
frühzeitig  zwischen  dem  hyoidalen  und  dem  periotischen  Elemente 
statt,  während  das  mandibulare  immer  getrennt  in  Form  des  Hammers 
und  des  Ambosses  bleibt. 

Aus  den  erwähnten  Tbatsacben  ist  Folgendes  ersicMlicli : 
I.  um  die  Homologie  der  Derivate  der  proximalen  Enden 
'  der  zwei  ersten  Eiemenbögen  und  der  periotisclien  Kapsel  fest- 
stellen zu  können,  muss  man  dieselben  zu  der  embryonalen  pri- 
mitiven vorknorpeligen  Skeletanlage  zurüokfiiliren ,  welcbe  nacb 
Parker  und  mir  ein  ähnliokes  Verhalten  bei  den  niederen,  sowie 
bei  den  höheren  Säugethieren  aufweist. 

n.  Bei  den  Säugethieren  tragen,  um  die  Gehörknöohelchenkette 
zu  bilden,  drei  morphologische  Elemente  bei :  Mandibular-  (Hammer 
und  Ambos),  Hyoidal-  (Annulus  stapedialis),  und  periotisches  Element 

(128) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     287 

(Lamlna  stapedialis).  Das  periotisohe  Element  versclimilzt  mit  dem 
hyoidaleD. 

m.  Das  periotisclie  Element  feUt  als  isolirtes  Gebilde  bei 
den  Fiscben  nnd  beginnt  erst  bei  manchen  Amphibien,  sicli  von 
der  periotisolien  Kapsel  zu  differenziren ;  es  würde  nach  P  a  r  k  e  r 'a 
Darstellung,  bei  Amphibien  nnd  Reptilien  dnrch  den  ganzen. 
Stapes  repräsentirt  sein. 

IV.  Bei  den  Vögeln  ist  nnr  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit 
anzunehmen,  dass  in  der  Golumella  alle  drei  obenerwähnten  Elemente 
miteinander  verschmolzen  sind. 

V.  Ich  will  noch  hervorheben,  dass  das  hyoidale  Element^ 
welches  sich  nach  meinen  Wahrnehmungen  bei  Embryonen  von 
höheren  Säugethieren  fur's  erste  deutlich  wird,  auch  das  erste 
ist,  welches  in  der  aufsteigenden  Reihe  der  Wirbelthiere  zum 
Vorschein  kommt,  und  dass  das  periotische  Element,  welches  zu- 
letzt bei  Embryonen  von  höheren  Säugethieren  sich  düferenzirt» 
auch  zuletzt  in  der  Reihe  der  Wirbelthiere  auftritt. 

B.  Morphologie  der  Gehörknöchelchen  bei  den  Säugethieren. 

Höchst  wichtig  ist  es,  in  der  ganzen  Säugethierreihe  die 
Art  und  Weise  zu  verfolgen,  wie  die  Gehörknöchelchen,  der 
Vervollkommnung  des  Gehörvermögens  entsprechend,  zur  vollen 
Ausbildung  kommen.  Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Typen  können 
wir  die  drei,  die  Gehörknöchelkette  zusammensetzenden  morpho- 
logischen Elemente  verfolgen,  und  niemals  stossen  wir  auf  eine 
anatomische  Thatsache,  welche  im  Gegensatze  zu  der  von  mir 
aufgestellten  embryonalen  Lehre  stehen  würde. 

An  der  Hand  einer  erschöpfenden  Arbeit  Doran^s^^), 
welcher  in  einer  Reihe  von  wohlgelungenen  Tafeln  die  Gehör- 
knöchelchen der  hauptsächlichen  Säugethiergattungen  abgebildet 
hat,  ist  eine  solche  Durchprüfung  wesentlich  erleichtert.  Aus  dem 
Studium  der  verschiedenen  von  den  Gehörknöchelchen  in  der  Säuge-- 
thierreihe  dargebotenen  morphologischen  Charaktere  sind  wir  in 
der  Lage  Folgerungen  zu  ziehen,  welche  in  inniger  Beziehung 
mit  den  embryonalen  Entwicklnngsvorgängen  der  Gehörknöchel- 
chen stehen. 

(12») 


388  Oradenigo. 

Wir  können  in  der  That  constatiren: 

I.  Dass  die  Art  und  Weise,  nach  welcher  sich  der  Typus 
der  Gehörknöchelchen  von  den  niederen  bis  zu  den  höheren 
Giassen  der  Wirbelthiere  ausbildet,  vollkommen  mit  der  Art, 
nach  welcher  dieselben  Enöchelchen  bei  den  Embryonen  der 
höheren  Säugethiere  zur  Ausbildung  kommen,  übereinstimmt. 

n.  Dass  zahlreiche  anatomische  Thatsachen,  welche  uns 
beim  Studium  der  Gehörknöchelchen  der  Wirbelthiere  entgegen- 
kommen, vollkommen  mit  der  von  mir  aufgestellten  Lehre  der 
embryonalen  Entwicklung  übereinstimmen ,  während  sich  die- 
selben nicht  mit  der  Huxley^schen  Lehre  in  Zusammenhang 
bringen  lassen. 

L  Die  Haupt^pen  der  Qehörknöohelohen  bei  Sängethieren. 

Bei  der  vergleichenden  Prüfung  der  Gestaltung  der  Gehör- 
knöchelchen bei  Sängethieren  können  leicht  mehrere  Haupttypen 
unterschieden  werden,  von  denen  einige  als  primitive,  niedere, 
andere  als  besser  ausgebildete,  höhere  Typen  angesehen  werden 
dürfen. 

Die  eingehende  Untersuchung  zeigt,  dass  wenn  auch  in 
den  meisten  Fällen  die  Enöchelchen  eines  gewissen  Thieres 
Charaktere  darbieten,  welche  im  Allgemeinen  der  Lage  dieses 
Thieres  in  der  zoologischen  Scala  entsprechen,  nicht  selten  der 
von  den  Gehörknöchelchen  dargebotene  Typus  nicht  zu  dieser 
Lage  in  Beziehung  steht.  Dieses  ist  auch  daraus  ersichtlich, 
dass  zuweilen  bei  einer  und  derselben  Familie  einige  Thierord- 
nungen  sehr  niedere,  andere  verhältnissmässig  höhere  Charaktere 
der  Enöchelchen  darbieten  (Insectivora,  Marsupi alia^). 

Es  ist  nochmals  auf  Grund  der  embryonalen  Entwicklungs- 
art bewiesen ,  dass  wir  feststellen  können ,  welche  bei  den 
Gehörknöchelchen   die   Charaktere  von  Superiorität   sind.   Dem 

')  Bei  Insectivora  treffen  wir  fnöchelchen,  welche  den  niederen  der 
Marsnpiftlia  ähnlich  sehen,  nnd  zuweilen  die  Charaktere  der  Knöchelchen 
der  Primaten  darbieten. 

Auch  bei  Marsupialia  finden  wir,  neben  Rnöchelchen,  welche  ausge- 
sprochene niedrige  Charaktere  besitzen,  andere,  welche  einen  ziemlich  hohen 
Typus  yertreten. 

(180) 


/ 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morpliologisclie  Bedeatnng  etc.     289 

entsprechend,  was  beim  Embryo  der  höheren  Wirbelthiere  vor- 
kommt, wo  die  complicirten  individuellen  morphologischen  Cha- 
raktere alhnälig  in  einer  verhältnissmässig  späten  Entwicklungs- 
periode  zum  Vorschein  kommen,  dürfen  auch  bei  der  Wirbel- 
thierreihe  die  Specialisirung  der  Form,  die  Bildung  der  einzelnen 
Fortsätze  als  Vollkommenheitsvorgänge  angesehen  werden. 

Auf  ein  solches  Kriterium  gestützt,  können  wir  constatiren, 
dass  der  morphologische  Typus  nicht  allein  mit  der  zoologischen 
Lage,  sondern  auch  mit  functionellen  Höryerhältnissen  des  Thieres 
in  Beziehung  steht.  —  So  z.  B.  die  C  e  t  a  c  e  a  und  manche  R  o- 
dentia,  welche  ziemlich  hoch  organisirt  sind,  besitzen  sehr 
niedere  Formen  der  Gehörknöchelchen,  da  ihre  Lebensverhält- 
nisse nicht  die  eigentliche  Function  der  Knöchelchen,  die  [Jeber- 
tragung  der  Schallwellen  von  der  Luft  auf  das  innere  Ohr,  be- 
günstigeh. 

Hammer.  Der  Hammer  wird  nebst  dem  künftigen  Ambos 
beim  Embryo  in  seiner  primordialen  Gestaltung  durch  das  kolbig 
angeschwollene  proximale  Ende  des  ersten  Kiemenbogens  ver- 
treten: erst  später  entwickelt  sich  der  Handgriff,  der  kurze 
Fortsatz,  der  musculare  Fortsatz.  —  In  einem  noch  späteren 
Stadium  vereinigt  sich  mit  dem  Hammerkörper  der  direct  aus 
der  Umwandlung  des  Bindegewebes  entstandene  Processus 
FolianuB. 

Auf  Grund  dieser  embryonalen  Vorgänge  betrachte  ich  als 
primitiv  den  von  Cetacea  dargebotenen  Typus  des  Hammers. 
Der  Hammer  ist  bei  diesen  Thieren  sozusagen  nur  als  Hammer- 
körper, fast  als  eine  Fortsetzung  des  mandibularen  Knorpels  vor- 
handen; keine  Spur  von  Griff,  kaum  eine  Andeutung  des  Pro- 
cessus muscularis. 

Diesbezüglich  stimme  ich  mit  Doran  nicht  überein, 
welcher  als  primordialen  Typus  des  Hammers  die  Form, 
welche  bei  dem  Macropus  anzutreffen  ist,  betrachtet,  d.  h. 
kurzer  Hals,  kurze  Lamina,  massig  entwickelter  Handgriff  u.  s.  w. 
Diese  Primitivform  soll  sich  nach  Doran  nach  zwei  Haupt- 
richtungen hin  ausbilden:  die  eine  Richtung  ist  durch  die 
starke  Entwicklung  einer  nach  vorne  gewendeten  knöchernen 
Lamina   und   des   Hammergriffes  (Carnivora),   die  andere  durch 

(ISD 


290  Gradenigo. 

die  Entwicklang  des  Körpers  und   des  Kopfes   (Homo  und  Qaa- 
dnunana)  gekennzeichnet 

Ich  stehe  indessen  nicht  an ,  für  den  niedersten  Typus  des 
Hammers  die  vom  Haifisch  nnd  Delphinns  dargebotene  Form  zu 
betrachten ;  ansser  dem  embryonalen  Kriteriam,  welches,  wie  ich 
meine,  als  vollkommen  massgebend  anzusehen  ist,  finde  ich  mich 
in  dieser  Behanptnng  von  folgenden  Betrachtangen  gestützt : 

1.  Es  ist  gerade  bei  den  Cetacea,  welche,  wie  die  Fische, 
im  Wasser  leben,  dass  die  Hauptfanction  der  Grehörknöchelchen 
(die  Uebertragong  der  Schallwellen  von  der  Laft  auf  das  innere 
Ohr)  fehlt;  weshalb  der  Hammer  einen  primitiven  Typus  dar- 
stellen dürfte. 

2.  Bei  der  Cetacea  zeigen  auch  andere  Theile  des  Mittel- 
ohres sehr  deutlich  ausgesprochene  niedere  Charaktere;  nämlich 
die  niedere  Gestaltung  der  zwei  übrigen  Knöchelchen,  die  Anky- 
losis  des  Hammers  mittelst  dem  Proc.  gracilis  mit  dem 
Annulus  tympanicus,  das  häufige  Vorkommen  einer  stapedio- 
vestibulären  Ankylosis  u.  s.  w. 

Die  Entwicklung  der  verschiedenen  Hammer- 
fortsätze dürfte  als  ein  Vervollkommnungsprocess 
angesehen  werden. 

Bei  den  Carnivora  und  den  Buminantia  weist  der 
Hanmier  im  Allgemeinen  einen  kleinen  und  abgeplatteten  Kopf> 
und  eine  gut  ausgesprochene,  nach  vorne  gerichtete  knöcherne 
Lamelle  auf.  Bei  Menschen  und  Quadrumana  sind  Kopf  und 
Hals  verhältnissmässig  gut  ausgebildet;  die  Lamina  fehlt  ^nz- 
lich,  und  wird  nur  vom  Processus  gracilis  ersetzt.  —  Ich 
schliesse  mich  an  Doran's  Meinungen  an,  nach  welchen  der 
Typus,  wo  Kopf  und  Hals  am  besten  ausgebildet  erscheinen,  als 
Vertreter  der  höheren  Form  betrachtet  wird,  und  dies  nicht  nur, 
weil  dieser  Typus  bei  Menschen  vorkommt ,  sondern  auch ,  weil 
der  Typus  laminatus  sich  durch  die  Form  des  Kopfes  und 
des  Halses  niederen  Typen  (Kanguroo)  nähert.  Bei  manchen  Thier- 
Ordnungen,  wo  der  Typuslaminatus  vorwiegt,  trifit  der  partielle 
oder  vollständige  zufällige  Mangel  der  charakteristischen  Lamina 
oft  mit  einer  vermehrten  Entwicklung  des  Kopfes  und  einer  grösseren 
Stärke  des  Halses  zusammen  (Herpestes  und  Suricata). 

(18») 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelolures :  die  morphologische  Bedentnng  etc.     29 1 

Beim  RhinoceroB,  Priodon  und  Eangaroo  finden  wir  eine 
Mittelform  zwischen  den  zwei  oben  erwähnten  Typen,  nnd  neben 
einer  mittelmässigen  Entwicklung  des  Kopfes,  des  Halses  nnd 
des  Hammergriffes  existirt  anch  noch  eine  ziemlich  entwickelte 
Lamina. 

Ambos.  Der  Ambos  stellt  zuerst  beim  Embryo  nebst  dem 
Hammer  das  proximale  Ende  des  ersten  Eiemenbogens  dar: 
seine  Fortsätze  entwickeln  sich  in  einem  späteren  Stadium. 

In  ähnlicher  Weise  wie  für  den  Hammer  finden  wir  auch 
fdr  den  Ambos  einen  primitiven ,  vorwiegend  von  deren  Körper 
vertretenen  Typus ;  der  lange  Ambosschenkel  ist  jedoch  im  Gegen- 
satze zu  dem  Verhalten  des  Hanunergriffes  bei  dem  primitiven 
Typus  des  Hammers,  als  die  Fortsetzung  nach  unten  des  Ambos- 
körpers,  ziemlich  gat  angedeatet  (Cetacea). 

Bei  den  höheren  Wirbelthierclassen  erscheint  der  Ambos- 
körper  immer  besser  von  den  Fortsätzen  begrenzt,  der  kurze 
Fortsatz  besser  entwickelt,  der  lange  Ambosschenkel  dünner  und 
besser  differenzirt. 

Sonderbar  ist  die  Thatsache,  dass  man  auch  bei  niederen 
Typen  eine  verhältnissmässig  ansehnliche  Entwicklung  des  Os 
lenticulare  trifit  (Sirenia),  welches,  wie  wir  in  dem  embryo- 
logischen Theil  gesehen,  nicht  ein  specielles  morphologisches 
Element,  sondern  nur  das  in  späten  Entwicklungsstadien  abge- 
sonderte Endstück  des  langen  Ambosschenkels  darstellt.^) 

Auch  für  den  Ambos  kann  man  eine  Reihe  intermediärer 
Typen  unterscheiden. 

Steigbügel.  Der  Stapes  geht  beim  Embryo  aus  der  Ver- 
schmelzung eines  hyoidalen  (An.  stapedialis) ,  und  eines  perioti- 
schen  Elementes  (Lamina  stapedialis)  hervor. 

Ich  war  bei  meinen  Untersuchungen  nicht  im  Stande,  ein 
Stadium  zu  finden ,  bei  welchem  das  hyoidale  Element  nicht  als 
Bing  die  Arteria  stapedialis  umgibt.  Ich  halte  jedoch  für 
höchst   wahrscheinlich,    dass   bei    Säugethieren    in   einem   sehr 


^)  Es  ist  noch  zn  bemerken,  dass  bei  den  Sirenia,  wo  das  Os  lenti- 
culare mächtig  entwickelt  ist,  die  Function  des  Incns  anf  ein  Minimum  redncirt 
sein  dfirfte,  da  der  kurze  Ambosschenkel^  bleibend  mit  dem  Os  petrosum 
anchylosirt  ist. 

(188) 


292  Gradenigo. 

kurzen,  den  von  mir  untersuchten  intermediären  Stadium  das 
proximale  Ende  des  hjoidalen  Bogens  nicht  in  Beziehung  zu  der 
Kapsel  steht,  sondern  frei  endet,  wie  dieses  auch  bei  den 
Fischen  constatirt  worden  ist,  und  wie  es  fbr  den  ersten  Kiemen- 
bogen  stattfindet.  Mit  der  weiteren  Ausbildung  nimmt  der  Stapes 
die  individuellen  Charaktere  des  erwachsenen  Thieres  allmälig 
an;  der  Bing  vertieft  sich  nach  und  nach  in  das  Gewebe  der 
Lamina  und  verschmilzt  mit  dieser,  welche,  gegen  das  Labyrinth 
vorgedrängt,  dünner  wird,  so  dass  zuletzt  die  Ränder  des  An- 
nulus  nicht  mehr  in  dem  Centrum  der  Lamina,  sondern 
gegen  die  Peripherie  zu  liegen  konmien.  Die  Lamina  nimmt 
eine  mehr  ovale  Form  an;  der  vordere  und  hintere  Rand  des 
Ringes  nehmen  die  Form  und  die  Charaktere  der  Stapesschenkel 
an ;  das  Loch  wird  grösser ;  der  Kopf  und  der  Hals  des  Knöchel- 
chens treten  besser  hervor. 

Das  Studium  der  Grestaltung  der  Stapes  bei  Säugethieren 
bietet  uns  ein  erhöhtes  Interesse,  indem  es  uns  in  der  Reihe  der 
morphologischen  Typen  dieselbe  Abstufung  in  den  Ausbildungs- 
charakteren zu  constatiren  gestattet,  welche  wir  bei  der  embryo- 
nalen Bildung  des  Steigbügels  treffen. 

Stapes  columelliformis.  Im  Gregensatze  zu  dem,  was 
ich  beim  Embryo  wahrnehmen  konnte,  treffen  wir  bei  Säuge- 
thieren eine  ganz  primitive  Grestaltung  des  Stapes:  den  Stapes 
columelliformis,  sauropsidea,  den  undurchlöcherten  Stapes. 
An  Stelle  der  zwei  ein  Loch  begrenzenden  Schenkel  haben  wir 
eine  Art  Säule,  welche  meistens  im  Centrum  einer  circulären  La- 
melle sich  anheftet;  ihre  Höhe  misst  manchmal  nur  die  Hälfte 
des  Durchmessers  der  Lamina,  wie  sich  das  in  Manis  Dal- 
manii  (Squamata  edentata)  vorfindet. 

Ich  stimme  auf  Grund  der  embryologischen  Kriterien  dies- 
bezüglich mit  Doran's  Ansichten  überein,  welcher  den  Colu- 
melliformis stapes  der  Säugethiere  als  Vertreter  nur  eines 
Theiles  der  Columella  der  Vögel  hält.  Wenn  es  nun,  wie  es 
scheint,  anzunehmen  ist,  dass  die  Columella  der  Vögel  die  Ver- 
schmelzung der  drei  Elemente,  welche  bei  Säugethieren  die  Ge- 
hörknöchelchen bilden ,  repräsentirt  — ,  so  vertritt  der  Stapes 
columelliformis   nur   zwei,    das   hyoidale   und   das   perio- 

(IM) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedeutung  etc.     293 

tische ,  verschmolzene  ElemcDt ,  während  das  isolirte  mandibu- 
lare Element  von  Hammer  und  Ambos  bei  Säugethieren  ver- 
treten wird. 

Der  Stapes  columelliformis  findet  sich  bei  manchen 
niederen  Wirbelthierfamilien  (Marsupialia,  Monotremata, 
Edentata  [Manus])  vor.  Bei  manchen  Didelphya  (Thyla- 
cinus  cynocephalus)  zeigt  die  Basis  des  Columelliformis 
Stapes  eine  eiförmige  Gestaltung,  welche  einen  höheren  Typus 
bedeutet. 

Stapes  bicruratus.  Bei  anderen  Thieren  ist  die  Säule 
des  Stapes  im  Begriff  sich  zu  spalten,  oder  sie  zeigt  ein  verhältniss- 
mässig  enges  Loch.  Bei  Macrorhynus  proboscideus,  bei 
manchen  Didelphya  ist  die  Divergenz  der  Schenkel  nur  gering, 
und  bei  anderen  Thieren  dehnt  sich  die  Spalte  bis  zu  kurzer  Ent- 
fernung von  der  Lamina  aus  (Hystricomorpha,  Ro- 
de n  t  i  a).  —  Bei  den  S  i  r  e  n  i  a  gehen  die  Crura  sehr  wenig  aus- 
einander, besitzen  verschiedene  Dicke,  so  dass  der  vordere  Schenkel 
nur  die  Hälfte  der  Dicke  des  hinteren  aufweist.  —  Die  Basis  ist 
convex  gegen  den  Vorhof.  —  Auch  bei  anderen  Cetacea  be- 
grenzen die  dicken  Cmra  eine  sehr  schmale  Oeffnung,  welche 
manchmal  fast  obliterirt  erscheint. 

Bei  höheren  Säugethieren  ist  der  Typus  des  Stapes  mehr 
erhöht;  die  Lamina  ist  oval,  nicht  zu  sehr  convex  gegen  das 
Vestibulum,  die  Crura  gehen  weit  auseinander,  und  heften  sich  an 
die  Peripherie  der  Lamina  an.  Das  Köpfchen  des  Stapes  ist 
deutlich  von  den  übrigen  Enöchelchen  abgegrenzt. 

Es  ist  bemerkenswerth ,  dass  in  manchen  Fällen,  wo  der 
sehr  grob  gebaute  Stapes  niedere  Charaktere  aufweist,  und  wo 
seine  BewegungsfsLhigkeit  wegen  Ankylosis  der  Basis  mit  den 
Rändern  des  ovalen  Fensters  aufgehoben  erscheint  (Walfisch),  ein 
knöcherner  Fortsatz  zur  Anheftung  des  M.  stapedius  an  dem  Kopf 
des  Enöchelchen  gut  ausgesprochen  ist. 

Arteria  stapedialis.  Die  A.  stapedialis,  welche  beim 
Embryo  der  höheren  Säugethiere  einen  vollständigen  Involutions- 
vorgang eingeht,  verbleibt  bei  manchen  Thieren  das  ganze  Leben 
hindurch. 

(186) 


294  Gradenigo. 

Otto')  beschrieb  zuerst  die  Arteria  stapedialis  beim  Er- 
wachsenen. Er  fand  sie  bei  Winterschlaf  haltenden  Thieren  nnd 
nahm  an,  dass  es  eine  Beziehnng  zwischen  dem  Yerlanf  dieses  Ge- 
fasses  nnd  der  Function  der  Hibernation  geben  könnte. 

Hyrtl")  beschrieb  sie  bei  Cheiroptera,  Insecti- 
vora,  Lemurida  und  bei  manchen  Rodentia;  er  nannte  sie 
Art.  stapedialis;  er  wies  nach,  dass  dieselbe  einen  Theil  des 
Gehirns,  die  Augenhöhle  und  ihren  Inhalt  und  den  ganzen  Ober- 
kiefer mit  Blut  versorgt.  Er  gibt  als  Homologe  dieses  Grefasses 
bei  Menschen  an :  a)  Arteria  accessoria  meningea  med.ia, 
mit  einem  ungewöhnlichen  Verlauf;  b)  die  Arteria  stjlo- 
mastoidea  und  c)  einen  dünnen  Ast  der  Anastomosen,  welche 
sich  zwischen  der  Arteria  mastoidea  und  der  Arteria 
Vidiana  zu  bilden  pflegen. 

Die  Arteria  stapedialis  wurde  von  MeckeP)  bei 
Erinaceus  L.  und  Mjoxis  beschrieben  (Insectivora  un[d 
Bodentia),  und  als  Carotis  interna  angesehen. 

Die  Arteria  wird  oft  in  ihrem  Durchgehen  durch  den  Stapes 
von  einem  knöchernen  Canal  umgeben,  welcher  somit  beide  Gmra 
verbindet. 

Fräser^«)  beschreibt  in  seiner  werthvollen  Arbeit  die 
bleibende  Arteria  stapedialis  bei  der  erwachsenen  Maus  in 
folgender  Weise: 

Die  Carotis  communis  theilt  sich  in  der  Höhe  des 
obersten  Abschnittes  der  Trachea  in  zwei  Aeste :  der  laterale  Ast, 
auf  den  Unterkiefer  verlaufend,  gibt  die  Arteria  facialis, 
der  mediale  ist  ein  kurzes  Grefäss,  welches  sich  in  zwei  Aeste 
theilt,  wovon  einer  zwischen  der  tympanalen  Bulla  und  dem 
Sphenoideum  basilare durchgeht  (Carotis  interna),  und 
der  andere,  breitere  in  die  lympanale  Höhle  eindringt,  den  Stapes 
durchgeht,  unterhalb  dem  Ramus  maxillaris  des  5.  Nerves 
verläuft  und  mit  Aesten  in  dem  Gesicht  endet. 

Do  ran  ^®)  bemerkt,  dass  die  Anordnung  der  Gefässe,  welche 
aus  der  Arteria  stapedialis  abstammen  und  die  Strecke, 
längs  welcher  die  Arteria  vom  knöchernen  Canale  umgeben  ist 
bei  den  einzelnen  Familien  verschieden  sind. 

(1S6) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeatnng  etc.     295 

Nach  meinen  UnterBnchongen  würde  die  bleibende  A  r  t  e  r  i  a 
stapedialis  die  Bedeutung  eines  rudimentären  Abschnittes 
einer,  dem  zweiten  Eiemenbogen  gehörigen  Arteria  branchialis 
(hyoidale  Arterie)  besitzen. 

In  ähnlicher  Weise,  zu  dem  was  man  im  Embryo  zu 
beobachten  bekommt,  ist  das  Maass  der  Breite  der  stapedialen 
Oeffnung  nicht  zum  Vorhandensein  dieser  Arteria  in  Beziehung 
zu  bringen.  Bei  Lemuriden,  wo  sich  auch  ein  knöcherner  Canal 
vorfindet,  gehen  die  Crura  wenig  auseinander.  Es  ist  anderer- 
seits nicht  zu  leugnen,  dass  bei  Thieren,  welche  einen  durch- 
löcherten Steigbügel  besitzen,  eine  Arteria  stapedialis  bei 
der  embryonalen  Entwicklung  vorhanden  ist. 

II.  Anatomische  Merkmale  der  Qebörknöchelchen,  welche  sich 
zur  Entwieklungsweise  derselben  in  Beziehung  bringen  lassen. 

Die  anatomischen,  von  den  Gehörknöchelchen  dargebotenen 

Thatsachen  können: 

a)  zu  dem  mandibularen  Element, 

ß)  zu  dem  hyoidalen  und  periotischen  Element 

in  Beziehung  gebracht  werden. 

a)  Mandibulares  Element. 

Wir  finden  Thatsachen,  welche  als  Beweis  betrachtet  werden 
können,  dass  der  Ambos  innig  in  seiner  Entwicklungsart  mit  dem 
Hammer,  und  nicht  mit  dem  hyoidalen  Element  zusammenhängt. 

1.  Malleo-incudalis  Ankylosis. 

Bei  der  embryonalen  Entwicklung  vollzieht  sich  die  Trennung 
des  Hammers  vom  Ambosse  in  einem  verhältnissmässig  späten 
Stadium,  und  zwar  nach  dem  Auftreten  des  Enorpelgewebes.  Nun 
kommt  bei  manchen  niederen  Säugethieren  eine  solche  Trennung 
normal  nie  zu  Stande. 

So  kann  bei  Echidna  (Monotremata)  normal  eine  An- 
kylosis des  Hammers  mit  Ambos  constatirt  werden.  —  Eine  solche 
Ankylosis  kommt  manchmal  auch  bei  erwachsenen  Individuen  von 
Ornithorhynchus  vor. 

Auch  bei  manchen  Gattungen  der  Rodentia  ist  der 
Hammer  mit  dem  Ambosse  ankylosirt;    eine   Malleo  •incudalis 

(187) 


296  Gradenigo. 

Ankylosis  zeigt  sich  häufig  bei  Dypus  und  yielleicht  stets  bei 
Pedetes. 

Beim  Stachelschwein  (H  y  s  t  r  i  c  i  d  e  n)  ist  die  Yerscbmelzungs- 
fläche  der  zwei  Enöchelchen  sehr  ausgebreitet,  und  die  Trennungs- 
linie  kaum  bemerkbar.  Bei  den  Octotontiden  (Anlacodus 
Bwinderuianus)  ist  die  Trennungslinie  fast  verschwommen. — 
Bei  dem  Capromys  pilorides  ist  die  Verschmelzung  der  zwei 
Enöchelchen  so  vollständig,  dass  hinten  die  Trennungslinie  ver- 
schwunden ist. 

Eine  Malleo  -  incudalis  Ankylosis  lässt  sich  überdies  bei 
Myopotamus  (Hyrtl),  Ghinchillidae  (Chinchilla  lani- 
gera  Rodentia)  und  Dasiproctidae  (Rodentia)  nach- 
weisen. Die  Begrenzugslinie  zwischen  Hammer  und  Ambos  wäre 
bei  diesen  letzten  Thieren  nach  Doran  besser  oben  und  vorne 
ausgesprochen.  Das  würde  auch  mit  meinen  Wahrnehmungen  beim 
Embryo  übereinstinmien,  wo  sich  zuletzt  die  unteren  und  hinteren 
Abschnitte  der  Gelenkflächen  trennen. 

Nach  Hyrtl  indess  wäre  die  Begrenzungslinie  besser  gegen 
unten  zu  bemerkbar. 

2.  DerAmbosmodificirt  sich  in  ähnlicher  Weise 
wie  der  Hammer. 

Beim  Embryo  entwickelt  sich  der  Ambos  in  ganz  ähnlicher 
Weise  wie  der  Hammer,  und  tritt  erst  in  einem  secundären 
Stadium  im  Yerhältniss  zu  dem  hyoidalen  Element  (Annulus 
stapedialis).  Demgemäss  constatiren  wir,  dass  die  morpho- 
logischen von  dem  Ambosse  dargebotenen  Charaktere  im  AUge- 
gemeinen  denjenigen  vom  Hanuner  aufgewiesenen  entsprechen; 
und  dass  der  von  den  zwei  ersten  Knöchelchen  dargebotene  Typus 
sehr  abweichend  vom  Typus  des  Stapes  sein  kann. 

Bei  dem  Crysochloris,  wo  der  Körper  des  Hammers  so 
mächtig  entwickelt  ist,  dass  derselbe  als  ein  viertes  Ejiöchelchen 
angesehen  wurde,  erscheint  der  mit  einem  sehr  langen  Körper 
versehene  Ambos  in  analoger  Weise  modificirt,  während  der  Stapes 
keine  speciellen  Charaktere  aufv^eist. 

Bei  Manis  (Edentat a)  sind  Hanuner  und  Ambos  genug 
entwickelt,  der  Stapes  absolut  columelliformis.  —  Bei  Thyla- 
cinus  cynocephalus  (Didelphya)  ist  der  Stapes  columelli- 

(188) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologisclie  Bedentong  etc.     297 

formis,  während  Hammer  und  Ambos  mit  gut  ausgesprochenen 
Fortsätzen  versehen  sind  und  daher  einen  yiel  höheren  Typus 
repräsentiren. 

Bei  den  Cheiropteren  (Vesperigo  serotinus)  ist 
indess  der  Bicruratus  Stapes  mit  einer  breiten  Oeffiiung 
interessant,  wenn  man  den  niederen  von  den  übrigen  zwei 
Enöchelchen  dargebotenen  Typus  beachtet.  Auch  bei  Mäusen 
stellt  der  Stapes  einen  sehr  höheren  Typus  als  Hammer  und 
Ambos  deutlich  dar. 

3.  Ankylosis  des  Hammers  mit  dem  Os  tympa- 
nicum. 

Bei  der  Beschreibung  des  Annulus  tympanicus  bei 
Menschen  habe  ich  bemerkt,  dass  derselbe  durch  seine  Ent- 
stehungsweise zu  dem  mandibularen  Knorpel  als  Deckknochen  in 
Beziehung  hätte  gebracht  werden  können.  —  Die  Thatsache,  dass 
bei  Walfisch  (Cetacea),  Myogale  moschata  (Insectivora) 
und  Kanguroo  der  Hammer  mittelst  dem  Processus  gra- 
c i  1  i s  mit  dem  Os  tympanicum  ankylosirt  ist,  könnte  vielleicht 
mit  dem  erwähnten  embryonalen  Zustande  in  Zusammenhang  ge- 
stellt werden. 

ß)  Hyoidales  und  periotisches  Element,  welche  beim  Erwachsenen 

in  Stapes  verschmelzen. 

1.  In  manchenFällen  sindauch  bei  erwachsenen 
Individuen  mehr  oder  weniger  deutliche  Spuren  der 
Verschmelzung  zu  bemerken. 

Der  Stapes  entsteht  durch  die  Verschmelzung  des  A  n  n  u  1  u  s 
mit  der  Lamina  stapedialis;  die  Spuren  solcher  Verschmel- 
zung verlieren  sich  allmälig  mit  der  Ausbildung  des  Enöchelchens. 

Wir  können  ausnahmsweise  auch  bei  erwachsenen  Thieren, 
bei  Menschen  sogar  deutliche  Spuren  dieser  Verschmelzung  con- 
statiren. 

Urbantschitsch^)  bemerkt,  wie  bei  Menschen  der  obere 
Band  beider  Schenkel  sich  mitunter  in  einer  Crista  fortsetzt,  welche 


')  Zur  Anatomie  der  Gehörknöchelchen  des  Menschen.  Arch.  f.  Ohrenhlk. 
XI.  Band. 

(189) 


298  Gradenigo. 

die  Crara  stapedis  miteinander  verbindet,  oder  diese  Crista 
ist  nnr  an  der  Basis  beider  Schenkel  vorhanden,  und  verliert  sich 
aUmälig  gegen  die  Mitte  der  Platte.  Diese  von  Urbantschitsch 
erwähnte  Grista  ist  als  Rest  des  medialen  Bandes  des  Annalas 
Stapedialis  za  betrachten.  —  Bei  den  Typen,  welche  den  Ueber- 
gang  von  der  colamelliformis  za  dem  breiten  bicraraten 
Stapes  der  höheren  Säagethiere  darstellen,  kann  man  bemerken, 
dass  die  wenig  auseinandergehenden  Schenkel  nicht  an  die  Peri- 
pherie, sondern  gegen  das  Gentrum  der  Platte  sich  anheften ;  die 
Basis  behält  auf  solche  Weise  auch  bei  erwachsenen  Thieren  eine 
specielle  Individualität  bei. 

2.  Stapes  bullatus. 

Bei  dem  embryonalen  Entwicklungsgang  des  Stapes  vertieft 
sich  der  mediale  Rand  des  Annulus  nach  und  nach  in  das  Ge- 
webe der  Lamina,  so  dass  diese  convex  gegen  das  Labyrinth 
vorgedrängt  wird.  Nun  existiren  Spuren  solcher  Convexität  bei  allen 
Typen  des  erwachsenen  Stapes ;  in  manchen  Fällen  ist  sogar  eine 
förmliche,  gegen  das  Vestibulum  vorgedrängte  Bulla  zu  be- 
obachten (Stapes  bullatus). 

Urbantschitsch^)  bemerkt  in  seiner  oben  erwähnten 
Arbeit  Folgendes:  „Die  Steigbügelplatte  ist  bei  Menschen  gegen 
den  Yorhof  meistens  schwach  convex  (Huschke),  und  zeigt 
manchmal,  entsprechend  der  Ansatzstelle  beider  Schenkel,  kleine 
buckelige  Vorsprünge.  Die  äussere  Seite  der  Platte  ist  in  der 
Regel  napfförmig  vertieft  (Cassebohm).  Die  Gestalt  der  Ränder 
(der  Steigbügelplatte)  kann  zum  Theil  von  der  Art  und  Weise 
des  Ueberganges  der  beiden  Schenkel  in  die  Platte  abhängig 
sein.  Nur  selten  bildet  die  Basis  der  Schenkel  gleichzeitig  das 
vordere,  beziehungsweise  hintere  Ende  der  Platte,  sondern  ist  von 
diesen  meistens  durch  einen  schmalen  Enochensaum  getrennt, 
welcher  häufig  verdickt  und  den  Schenkeln  wieangeschmolzen 
erscheint.  ^ 

Oft  wandelt  sich  die  Gonvexität  der  Stapesplatte  zu  einer 
eigentlichen  blasenförmigen  Anschwellung  um.  Bei  Roden tia 
fossilia  (Geomys)  drängt  die  Stapesplatte  fast  wie  Bulla  in 


')  1.  c. 

(140) 


Die  embryonale  Anlage  des  liittelolires :  die  morpliologisclie  Bedeutung  etc.     299 

das  ^estibalnm.  Auch  bei  Spalax  ist  die  Stapesplatte  sehr 
convex.  Bei  Phalangista  Cookii  erscheint  bei  den  Gola- 
melliformes  Stapes  eine  breite,  angeschwollene,  gegen 
den  Vorhof  gewendete  Bulla,  welche  schon  von  Hyrtl  er- 
wähnt wurde. 

Einem  Stapes  bullatus  gebührt  eine  grosse  morpho- 
logische Bedeutung,  weil  er,  möchte  ich  sagen,  sporadisch  bei 
anderen  Thierordnungen  Mustella  (Carnivora)  —  Hyrax 
(Pachydermata)  —  zum  Vorschein  kommt  (Doran). 

3.  Ankylosis  der  Stapesplatte  mit  der  vesti- 
bularenWand,  und  des  Annulus  stapedialis  mit  dem 
Hyoidbogen. 

Die  Lamina  stapedialis  entsteht  aus  der  periotischen 
Kapsel,  der  Annulus  aus  dem  Hyoidbogen.  Bei  manchen  Thieren 
ist  eine  solche  Entstehungsweise  noch  durch  directe  Verbindung 
der  respectiven  anatomischen  Elemente  zu  sehen.  Die  Stapesplatte 
ist  in  der  That  knöchern  mit  der  vestibulären  Wand  bei  den 
Cetacea  ankylosirt,  und  andererseits  setzt  sich  der  Annulus 
stapedialis  durch  Knochengewebe  in  den  Hyoidknochen  fort 
(Hatteria,  Zealand,  Lizard).  ^) 

B.  Aus  erwähnten  Thatsachen  können  nachstehende  Folge- 
rungen gezogen  werden: 

I.  Die  verschiedenen  morphologischen  Typen  der  Gehör- 
knöchelchen bei  den  Säugethieren  können  auf  Qrund  von  aus  der 
embryonalen  Entwicklungsart  gezogenen  Kriterien  classificirt  werden. 

1.  So  wie  beim  Embryo,  stellen  auch  bei  der  Säugethierreihe 
die  Entwicklung  und  die  bessere  Ausbildung  der  einzelnen  Fort- 
sätze des  Hammers  und  Ambosses  Vervollkommnungsvorgänge  eines 
primitiven  Typus  dar. 

2.  So  wie  beim  Embryo  stellt  auch  bei  der  Säugethierreihe 
bezflglich  des  Typus  des  Stapes  die  Vollendung  der  Verschmelzung 
der  zwei  den  Stelgbflgel  zusammensetzende  morphologische  Elemente 
VeryoUkommnungsvorgänge  dar. 

H  Bei  Gehörknöchelchen  in  der  Säugethierreihe  sind  ana- 
tomische Merkmale  zu  treffen ,  welche  an  die  embryonalen  Ent- 
wioklungsvorgänge  erinnern. 


*)  Vergl.  Günther,  Phüos.  Transact.  1867,  pag.  595—629. 
Ued.  Jahrbücher.  1887.  24  (^^i) 


300  öradenigö. 

a)  Die  innige  Affinität  des  Hammers  nnd  des  Ambosses  als 
Derivaten  des  mandibularen  Bogens  wird  repräsentirt : 

1.  von  dem  häufigen  Vorkommen  einer  Malleo-incndalis-An- 
kylosis ; 

2.  von  dem  gleicben  Verhalten  der  Charaktere  des  Hammers 
nnd  des  Ambosses,  während  der  Stapes  ein  specielles  Verhalten 
aufweist. 

ß)  Die  Zusammensetzung  des  Stapes  aus  zwei  morphologischen 
Elementen  wird  repräsentirt : 

1.  vom  Verbleiben  deutlicher  Spuren  auch  bei  erwachsenen 
Thieren,  und  sogar  bei  Menschen,  der  erwähnten  Verschmelzung; 

2.  vom  Vordrängen  der  Stapesplatte  gegen  den  Vorhof; 

3.  von  der  manchmal  auftretenden  Ankylosis  der  Stapesplatte 
mit  den  Rändern  des  ovalen  Fensters  und  des  Annulus  stapedialis 
mit  dem  Hyoidknorpel. 

Anhang. 

Beziehnngen  der  embryonalen  Entwicklungsvorgänge  zu  der 
Teratologie  nnd  Pathologie  des  Ohres. 

Die  von  mir  in  dieser  Arbeit  dargestellten  embryonalen  Ent- 
wicklungsvorgänge hängen  innig  mit  einer  Reihe  Fragen,  welche  uns 
die  Teratologie   und   die  Pathologie   des  Ohres  darbietet,   zusammen. 

Die  Grenzen,  welche  ich  mir  bei  dieser  Arbeit  vorgeschrieben 
habe,  gestatten  es  mir  nicht,  eine  ausführliche  Rede  über  so  wichtige 
Gegenstände  zu  halten ;  ich  will  dieses  Thema  jedoch  nur  kurz  andeuten, 
indem  ich  mir  vorbehalte,  den  Gegenstand  in  einer  umfangreicheren 
Publication  zu  behandeln,  für  welche  ich  jetzt  die  Materialien  sammle. 

A.  Was  die  Teratologie  betrifft,  können  wir  die  Entwicklungs- 
anomalien der  Trommelhöhle  bei  Seite  stehen  lassen,  weil  deren  Ent- 
stehungsweise  nach  den  verschiedensten  embryologischen  Theorien  leicht 
erklärt  werden  kann. 

Da  Hammer  und  Ambos  aus  einem  und  demselben  morphologischen 
Element  hervorgehen,  sind-  die  combinirten  Defecte  oder  die  abnormen 
Verhältnisse  dieser  zwei  Enöchelchen,  welche  Anomalien  oft  mit  einer 
Verkleinerung  des  Unterkiefers  zusammengehen,  gut  und  völlig  zu  er- 
klären, während  der  Stapes  in  solchen  Fällen  vollkommen  gut  aus- 
gebildet vorzukommen  pflegt. 

Die  oft  auftretende  Ankylosis  dieser  zwei  Enöchelchen  findet 
ihren  Grund  in  der  Art,  nach  welcher  sich  die  Trennung  beider 
Enöchelchen  beim  Embryo  vollzieht,  und  bietet  bei  Menschen  ein 
ähnliches  der  bei  manchen  Thieren  normal  vorkommenden  Verhältnisse. 

(142) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     30 1 

Das  Auftreten  bei  Measchen  des  Columelliformis  oder  dos 
gegen  den  Vorhof  blasenförmig  angeschwollenen  Stapes  (Stapes 
bul latus),  bei  vollkommen  ausgebildetem  Hammer  und  Ambos,  lässt 
sich  ganz  gut  in  Einklang  mit  den  von  mir  dargestellten  morpho- 
logischen und  embryonalen  Vorgängen  bringen.  Alle  diese  Thatsachen 
lassen  sich  nach  Huxley'scher  Lehre  absolut  nicht  erklären. 

B,  Was  die  Pathologie  betrifft,  will  ich  nur  einige  allgemeine 
Thatsachen  betonen. 

Bei  dem  Gehörorgan  können  wir,  vom  embryologisohen  Stand- 
punkte aus,  einen  ectodermatischen,  von  den  Derivaten  der  primitiven 
Labyrinthblase  repräsentirten  Abschnitt  (häutiges  Labyrinth), 
und  einen  mesodermatischen ,  von  den  Derivaten  des  mesoblastischen 
Gewebes,  welches  die  primitive  Labyrinthblase  umgibt,  vertretenen 
Abschnitt  (äusseres  und  mittleres  Ohr,  periotische  Kap- 
sel) unterscheiden. 

An  der  Entstehung  des  äusseren  und  mittleren  Ohres  nehmen 
auch  epitheliale  Gebilde  theil.  Nach  solcher  Auffassung  wird  eine 
grosse  Partie  des  im  anatomischen  und  klinischen  Sinne  genannten 
„inneres  Ohr",  von  einem  Gewebe  gebildet,  welches  dieselbe  Ent- 
stehungsweise wie  die  Gebilde  des  Mittelohres  anerkennt.  Diese  That- 
sache  bietet  eine  grosse  klinische  Bedeutung,  weil  zwischen  dem  mitt- 
leren und  inneren  Ohre  eine  innige  Verbindung,  nicht  nur  durch 
Blutgefässe,  sondern  auch  durch  die  Lymphräume  des  Bindegewebes 
festgestellt  wird.  Solche  Verbindung  übt  jedenfalls  einen  Einfluss  auf 
den  Verlauf  der  pathologischen  Vorgänge  des  Ohres  aus. 

Wenn  man  im  Sinne  C  o  h  n  h  e  1  m's  die  Theorie  der  physiologischen 
Widerstandsfähigkeit  der  Gewebe  und  des  Antagonismus  der 
Entwicklung  zwischen  Bindegewebselementen  und  functionirenden . 
Epithelien  annimmt,  auf  deren  Grund  ich  in  einer  vorhergehenden 
Arbeit  die  Pathogenie  einer  schweren  Muskelkrankheit  vom  embryo- 
nalen Ursprung  festzustellen  versucht  habe  ^),  findet  die  oben  erwähnte 
Unterscheidung  eine  wichtige  Application  auf  die  Pathologie  des  Ohres. 

Die  Otitis  media  sclerotica  s.  hyperplastioa  stellt  eine 
sehr  schwere  Krankheit  dar,  welche  zugleich  das  Mittel-  und  innere  Ohr 
trifft.  Diese  Krankheit,  welche  vor  keinem  Alter  RQcksicht  trägt,  welche 
keine  occaslonelle  Ursache  erkennen  lässt,  deren  unmerkbarer  Anfang, 
deren  fatal  vorschreitender  Verlauf  jeder  Behandlung  widersteht,  bietet 
alle  Charaktere  einer  Krankheitsform  embryonalen  Ursprungs  dar. 

Die  Symptome,  die  sich  diesem  schleichenden  Leiden  anknüpfen, 
sind  zu  wenig  charakteristisch,  um  zu  gestatten,  dass  man  es  von 
einer  Reihe  anderer  Adhäsionsprocesse  vom  klinischen  Standpunkte 
unterscheiden  kann,  welche  nach  eigentlichen  Entzündungsvorgängen 
secundär  eintreten. 


')  Contribozione  alla    Patogenesi  della  Psendoipertrofla    mnscalare   pro- 
gi-essiva.  Annali  Univ.  di  Med.  Vol.  265;  Deutsche  Medicinal-Zeitung.  18.  »ett.  1881. 

24*  (WB) 


302  Gradenigo. 

Bei  der  anatomiBchen  Untersuchung  trifft  man  Hypertrophie  und 
diffuse  Sclerosis  der  Bindegewebselemente  des  mittleren  und  inneren 
Ohres,  mit  secundären  Veränderungen  der  functionirenden  epithelialen 
Elemente.  Ein  fast  charakteristisches  Merkmal  dieser  Affection  liegt 
darin,  dass  das  ovale  Fenster  und  die  umgebenden  Theile  des  Mittel- 
ohres einen  Lieblingssitz  der  obgenannten  Erankheitsvorgänge  sind. 
Die  Auffassung  der  embryonalen  Pathogenie  dieser  Krankheit  wird 
von  allen  erwähnten  Symptomen  gestützt;  ein  mächtiger  Beweis  zu 
Gunsten  einer  solchen  Hypothese  wird  von  der  Thatsache  geboten, 
dass  gerade  da,  wo,  nach  meinen  Wahrnehmungen  in  einer  der  ersten 
embryonalen  Perioden  verwickelte  Gliederungs-  und  Verschmelzungs- 
Vorgänge  vor  sich  gehen,  auch  mit  grösserer  Häufigkeit  charakteristiche 
Veränderungen  zu  constatiron  sind. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  noch  eine  Reihe  von  nicht  in  ihrer 
Physiopathologie  genug  bekannten  Krankheitsvorgängen  des  Mittelohres 
in  Beziehung  zu  den  embryonalen  Entwicklungsvorgängen  gebracht 
werden  dürften. 


Ich  habe  versucht,  nur  auf  Grand  der  Resultate  eigener  Be- 
obachtungen und  in  Anbetracht  der  hauptsächlichen  über  diesen 
Gegenstand  bisher  aufgestellten  Theorien  eine  vollständige  Lehre 
über  die  erste  Anlage  und  die  ersten  embryonalen  Entwicklungs- 
stadien  des  Mittelohres  und  der  periotischen  Kapsel  zusammen- 
zustellen. Alle  Sorgfalt  wurde  darauf  verwendet,  die  Resultate 
meiner  Wahrnehmungen  mit  den  Thatsachen  der  vergleichenden 
Anatomie  und  der  Pathologie  in  Vergleich  zu  stellen:  die  voll- 
ständige Uebereinstimmung  der  einen  mit  den  anderen  dürfte, 
meines  Erachtens,  als  eine  schätzenswerthe  Bestätigung  der  er- 
zielten Lehre  angesehen  werden. 

Die  hauptsächlichsten  Resultate  meiner  Arbeit  lassen  sich 
wesentlich  in  folgenden  Sätzen  resumiren: 

I.  Bei  Menschen  und  höheren  Wirbelthieren  tragen  drei 
morphologische  Elemente  bei,  die  Gehörknächelchenkette  zu  bilden, 
nämlich:  a)  mandibulares  (Hammer  und  Ambos),  b)  hyoidales 
(Annulus  stapedialis),  c)  periotisches  Element  (Lamina  stapedialis). 
Der  Stapes  geht  aus  der  Verschmelzung  der  zwei  letzteren  Elemente 
hervor. 

n.  Die  drei,  die  Gehörknöchelchenkette  zusammensetzenden 
Elemente  können  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  morphologischen 
Typen  bei  den  verschiedenen  Familien  der  Säugethiere  und  bei 
den  übrigen  Wirbelthieren  verfolgt  werden. 

(144) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittclohrea :  die  morphologische  Bedent-ing  etc.     303 

III:  Die  tubo-tympanale  Höhle  geht  aus  dem  seitlichen  Ranme 
hervor,  welcher  zwischen  den  zwei  ersten  Kiemenbogen  und  der 
Schädelbasis  entsteht. 


Bibliographie. 

Man  vergleiche  ausser  den  unten  bezeichneten  Werken  die  Handbächer 
Balfonr's,  Politzer's,  Grnber's,  ürbantschitscVs  u.  A. 

1.  1824.  Hutschke,  Beiträge  znr  Physiologie  nnd  Naturgeschichte.  Weimar. 

2.  1826.  Otto,  Koya  Acta  Academiae  Caesar.  Leopold.  Carola.  T.  XIÜ,  pag.  25 

(Arteria  stapedialis). 

3.  1828.  Meckel,  Carotis  nnd  Steigbügel.  Mäller*s  Archiy. 

4.  —    Bnrdach,  Physiologie.  Leipzig.  II,  pag.  456—465. 

5.  1832.  Rathke,  Ueber  den  Kiemenapparat  und  das  Zungenbein  der  Wirbel- 

thiere.  Riga,  Dorpat. 

6.  —    Hutschke,  Meckel's  Archiv. 

7.  1835.  Valentin,   Lehrbuch  d.  Physiologie  d.  Menschen.    2^  Bd.,  III.  Abt. 

8.  —    Valentin,  Lehrbuch  d.  Entwicklungsgeschichte.  Berlin  1835. 

9.  1837.  Beichert,  Ueber  die  Visceralbogen  der  Wirbelthiere  im  AUgemeinen 

und  deren  Metamorphosen  bei  den  Vögeln  und  Säugethieren.  Meckel's 
Archiv.  1837,  pag.  120. 

10.  —    Hall  mann,  Die  vergleichende  Osteologie  d.  Schl&fenbeins.   Mttllers 

Archiv. 

11.  1839.  H.  Rathke,  Entwicklung  des  Nattern.  Königsberg. 

12.  1842.  Günther,   Beobachtungen   über  die  Entwicklung  des  Gehörorgans. 

Leipzig. 

13.  1845.  Hyrtl,   Vergleichende  Untersuchungen  über  das  innere  Gehörorgan 

des  Menschen  und  der  Säugethiere.  Prag. 

14.  —    Hyrtl,  Medidnische  Jahrb.  d.  k.  k.  österreichischen  Staates.  Bd.  X. 
15-  1855.  Bruch,  Beiträge  zur  Entwicklungsgeschichte  des  Knochengewebes. 

16.  —    Bruch  (1863—67),  Untersuchungen  über  die  Entwicklung  der  Gewebe 

bei  den  warmblütigen  Thieren.  Frankftirt  a.  M. 

17.  1861.  Magnus,  Virchow's  Archiv.  XX. 

18.  —    Bathke,  Entwicklungsgeschichte  d.  Wirbelthiere.  Leipzig  1861. 

19.  1862.  Magitot  u.  Robin,  Annales  des  sdences  naturelles.  Serie  IV,  XVm, 

pag.  213. 

20.  1864.  Huxley,  Lectures  of  the  Elements  of  Comparative  Anatomie.  London. 

21.  1867.  Peters,  Gehörknöchelchen  d.  Schnabelthiere.  Monatsberichte d.  Aka- 

demie d.  Wissenschaft.  Berlin  1867. 

22.  —    Günther,  Phil.  Transactions,  pag.  595  (Zealand  Lizard)  [Hatteiia]. 

23.  Huxley.  1869.   Of  the  rappresentatives   of  the  MaUeus  a.  Incus  of  the 

Mammalia  in  the  other  Vert-ebrata.  Proceed.  Zoolog.  Society.  1869, 
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24.  —     1871.  The  Anatomie  of  Vertebrated  Animals.  London  1871.  Deutsche 

Uebersetzung  von  F.  Ratzel.  Breslau  1873. 


304  Gradenigo. 

25.  Huxley.  1874.  Procoed.  zool.  Society  (Melobraachua). 

26.  —     1876.  On  Ceratodus  Forsten.  Proceed.  Zoolog.  Society. 

27.  —    1876.  The  Natnre  of  the  craniofacial  Apparatos  of  Petromyzon.    Journ. 

of  Aiiat.  a.  Phys.  Bd.  X. 

28.  W.  K.  Parker.  1869.  On  the  stmctare  and  developpement  of  the  sknll  in 

the  6 alias  Domes ticns.  Phllos.  Trans. 

29.  —    1871.  The  skull  of  Rana  temporaria  (Frosch).  Ibidem. 

30.  —    1873.  The  skoU  of  salmo   salar.   Backerian  Lectnre.  Phil.   Transact. 

31.  —     1874.  The  sknll  of  Sas  schrofa  (Schwein).  Ibidem. 

32.  —     1876.  The  skull  in  the  Batrachia.  Philos.  Trans.  11.  Theil. 

33.  Parker  u.  Bettany,  The  Morphologie  of  the  skull.  London  1877. 

34.  Parker.  1877.  The  sknll  in  Urodelous  Amphibia.  Philos.  Trans.  UI.  TheiL 
36.      —     1878.  Tropidonotus  natrix.  Ibidem. 

36.  —     1878.  The  sknll  in  Sharks  a.  Skates.  Transactions  Zoolog.  Society.  Bd.  X. 

37.  —    1879.  The  skull    of  LacertiUa.  Philos.  Trans. 

38.  —    1879.  The  develloppement  of  the  Green  Tmthe  in  the  Zoologie  of  the 

voyage  of  H.  M.  S.  ChaUager.  Bd.  I,  V.  Th. 

39.  —    1882.  Proceed.  zool.  Society. 

40.  1870.  Eysell,  Archiv  f.  Ohrenheilk.  Bd.  V,  pag.  237  (stapediovestibulares 

Gelenk). 

41.  1872.  0.  Baraldi,  Alcune  osservazioni   suila  craniogenesi  dei  mammiferi. 

Giomale  della  R.  Accademia  medica  dl  Torino,  adunauza  25.  Ottobre. 

42.  —    Strelzoff,  üeber  die  Bildung  des  Knochengewebes.  Leipzig. 

43.  —    C.  Gegenbaur,    Untersuchungen    zur   vergleichenden   Anatomie   d. 

Wirbelthiere.  III.  Heft.  Das  Kopfskelet  d.  Selachiem.  Leipzig. 

44.  —     Semmer,  Unters,  über  d.  Entw.  d.  Meckerschen  Knorpels  n.  seiner 

Nachbargebilde.  Dorpat. 

45.  1873.  Consult  sommary  an  the  end  of  Prof.  Parker*»  mcmoir.  Phil.  Trans. 

1873. 

46.  —    Zuckerkandl,  Zur  Entwicklung  des  äusseren  Gehörganges.  Monatsch . 

f.  Ohrenh.  Nr.  3. 

47.  1874.  Politzer,  Proc.  Styloideus  in  Beiträge  z.  Anat.  n.  Physiol.  Als  Fest- 

gabe Carl  Ludwig  zum  15.  October  1874  gewidmet.  Vogel,  Leipzig 
I.  Heft,    pag.  XXX.    —   Archiv  f.  Ohrenh.    Bd.  X.  —  Handb.  d. 
Ohrenheilk. 
47  a.  —    Schenk,  Lehrb.  d.  vergl.  Embryologie.  Wien  1874. 

48.  —    Henke  u.  Beyher,  Studien  Über  die  Entwicklung  d.  Extremitäten 

d.  Menschen,  besonders  d.  Gelenke.  Sitzungsbericht  d.  Wiener  Akad. 
d.  Wissenschaften    October-Heft. 
49«      —    Peters,  Ueber  die  Gehörknöchelchen  und  ihr  Verhalten  zumZungeu- 
beinbogen  bei  Sphenodon.  Berliner  Monatsberichte. 

50.  1875.  AI.  Götte,  Entwicklungsgeschichte  d.  Unke.  Leipzig  1875. 

51.  —     Baraldi,    Omologia  fra  gli  organi   accessori   della   respirazione  dei 

pesci,  e  gli  organi  accessori  dell'  udito  degli  altri  vertebrati.  Atti 
della  Societa  Toscana  di  Scienza  Naturali    Yol.  3,  Fase.  I. 

Hiß) 


Die  embryonale  Anlage  des  Kit telolires :  die  morpliologiäclie Bedentnng  efe.     305 

52.  1875.  Stieda,   Entwicklang   des   Unterkiefers   n.  Meckerschen   Knorpels. 

Archiv  f.  mikrosk.  Anat  Bd.  XI,  pag.  243. 

53.  —    Steudener,    Beiträge  zur  Lehre  von  der   Knochenentwicklnng  nnd 

dem  Knochenwachsthnm. 

54.  1876.  Gegenbauer,  Canalis  Falloplae.  Morphol.  Jahrb.  2i  pag.  436. 

55.  —    Brnnner,  Beiträge  znr  Anat.  n.  Histologie  des  mittleren  Ohres.  1876. 

56.  —    Kölliker,    Entwicklungsgeschichte    d.  Menschen   und    d.    höheren 

Thiere  (vergl.  auch  die  kleine  Ausgabe  1884). 

57.  —    Hunt,  Transactions  of  the  international  Otological  Congress. 

58.  —     C.  E.  Hoffmann  (Tnbo - tympanaler  Kaum),    Archiv   f.  mikroskop. 

Anat.  Bd.  XXIII,  pag.  525-536. 

59.  1877.  Wieder s heim,  Morphol.  Jahrb.  Bd.  in. 

60.  —     Gruber,    Beitrag   zur  Entwicklungsgeschichte   des  Steigbügels   und 

ovalen  Fensters.  Monatsschrift  f.  Ohrenheilkunde.  Nr.  12.  —  Mit- 
theil, aus  Prof.  Schenk's  embryolog.  Institute.  II.  Heft.  — Be- 
richt der  50.  Naturforscherversamml.  München. 

61.  —     G ruber.  Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Hörorganes  der  Säugethiere 

und  des  Menschen.  Monatsschr.  f.  Ohrenh.  1878,  Nr.  5. 

62.  —    Moldenhauer:  Morpholog.  Jahrb.  Bd.  III,  pag.  106. 

63.  —    ürbantschitsch,    Üeber  die   erste  Anlage    des  Mittelohres  u.  des 

Trommelfells.  Schenk's  Mittheilungen.  1877,  1.  Heft. 

64.  —    Hunt,  American  Journal  of  the  Medical  Sciences. 

65.  1878.  Löwe,  Medizinisches  Gentralblatt.  Nr.  30. 

66.  —  Doran,  Linnean  Society  Trans.  1878.  Vol.  1. 

67.  —  Bernays,  Morph.  Jahrb.  Bd.  IV,  pag.  403. 

68.  —  Gegenbauer,  Vergleich.  Anat.  1878,  pag.  561  u.  493. 

69.  —  Nagel,  Die  Entwicklung  d.  Extremitäten  d.  Säugethiere.  Inaugnral- 

Dissertation.  Marburg. 

70.  —     S.  Pouchet,   Du   d^veloppement  du  squelette  des.  poissons  osseux. 

Joum.  de  l'anat.  et  de  la  phys. 

71.  1879.  Parker  u.  Bettany,  Morphologie  d.  Schädels.   Deutsch  v.  Vetter. 

Stuttgart. 

72.  —     Ürbantschitsch,    Beobachtungen   Über   die   Bildung  d.  Hammer- 

Ambos-Gelenkes.  Mittheil,  aus  dem  emViryol.  Instit.  d.  Prof.  Schenk, 
in.  Heft. 

73.  —    Schulin,  Archiv  f.  Anat.  u.  Physiol.  Anat.  Abtheil. 

74.  —    Kassowitz,  Normale  Ossification  u.  s.  w.    Stricker's  Medic.  Jahrb. 

III.  u.  IV.  Heft. 

75.  1880.  Salensky,  Morphologisches  Jahrb.  Bd.  VI,  pag.  413. 

76.  —    Salensky,  Zoologischer  Anzeiger.  11.  Jahrg.,  Nr.  28,  pag.  250. 

77.  —    Stöhr,    Zur  Entwicklungsgeschichte  des  £op£skeletes  der  Teleostier. 

Festschrift  zur  dritten  Säcularfeier  der  Alma  JuUa  Maximiliana  v. 
med.  Facultät  zu  Würzburg.  Bd.  IL 

78.  1881.  H  i  s ,    Archiv  f.  Anatomie  u.  Physiologie.    4.,  5.  Heft,  pag.  319  u.  ff. 

79.  1882.  Fräser,  Philosoph.  Transactions. 

(147) 


306  Öradenigo. 

80-  1882.  Rfldinger;  Zar  Anatomie  des  Gehörorgans. 

81.  1883.  No  Orden,   Ardiiv  f.  Anat.  n.  EntwicklungsgeBcliichte.  Anat.  Abt 

1883,  pag.  235-265. 

82.  —    Dollo,  On  the  Mallens  of  the  Laceriilia  and  die  Malar  a.  Quadrat 

Bones    of  Manunalia.     Qnaterly    Jonmal   of   mikrosk.    Sdenoes. 
N.  S.  XCn,  pag  579. 


Erldarong  der  Abbildimgen. 

Aue  Figoren  warden  Präparaten,  welche  nach  den  im  allgemeinen  Theile 
dieser  Arbeit  angegebenen  Methoden  yorbereitet  worden  sind,  entnommen.  Die 
bsieichneten  Vergrössemngen  beziehen  sich  anf  die  folgenden  Reichert'schen 
Systeme: 

Vergr.    24  =  Object  2    Oc.  H,     \ 
„        30  =      „      2     „    III.    I  Bei  135  Mm. 
«      200 »      „      5      «    UI,     I  Tnbnslänge. 
„        25=      ,      la    ,    HI.    ) 

Die  Bachstaben  beziehen  sich  in  allen  Figoren  anf  die  lateinischen  Be- 
nennungen. 

Mn,  =  I.  Kiemenbogen,  mandibularer  Zellenstrang  respeetive  Knorpel, 
Meckel'scher  Knorpel. 

Hff.  =  11.  Kiemenbogen,  hyoidaler  Zellenstrang  resp.  Knorpel;  Reicher t- 
scher  Knorpel. 

Pr.  Or,  3=  Processus  orbitalis  des  1.  Kiemenbogens. 

Cap,  la.  »  Periotische  KapseU 

Ca.  ca.  8,  =:  Der  Abschnitt  der  periotischen  Kapsel ,  welcher  die  Bogen- 
gänge enthält. 

Pr,p.  s  Processus  perioticus. 

Ch.  d,  =  Chorda  dorsalis. 

M.  SS  Hammer. 

Ca.  Ma,  sss.  Hammerknpf. 

Ma.  Ma,  =  Hammergriff. 

/.  =  Ambos. 

7.  pr,  l,  =  Langer  Ambosschenkel. 

Lpr.br.  SB  Kurzer  Ambosschenkel. 

St.  =  Steigbfigel. 

An.  8t,  =s  Stapedialring. 

La.  8t.  ssLamina  stapedialis. 

Lig,  a.  3x  Ligamentum  annulare. 

Fm.  r.  SS  Rundes  Fenster. 

M.  8t.  =  Steigbügers  Muskel. 

Te,  ty,  =  Musculus  tensor  tympani, 

M.  temp.  =  Musculi  temporales. 

An,  ty.  ^ssi  Annulus  tympanicus. 
<U8) 


Die  embryonale  Anlage  des  Mittelohres :  die  morphologische  Bedeutung  etc.     307 

Ca,v.^=  Verticale  Bogengänge. 

Ca.  8, 8.  =  Oberer  Bogengang. 

Ca.  8.  ex.  s=  Aensserer  Bogengang. 

Ca,  coch.  SS  Dnctos  s.  canalis  cochlearis. 

Sac.  =  Sacoulns. 

D.E.=i  Dnctos  endolymphaticns. 

B.  =  Baphe  zwischen  vestibnlarem  nnd  cochlearem  Abschnitte  der  perio- 

tischen  KapseL 

Ca.  tu.  ty.  SS  Tnbo-tympanaler  Banm. 
Ca.  a.  ex.  si  Aensserer  Geh5rgang. 
Ca.  t.  SS  Darmcanal. 
Ca.  ac.  i.  asa  Canalis  acosticns  intemns. 
FIT.  s  Facialis  N. 
Ch.  ty.  SS  Chorda  tympani. 
I  V*,V\  s:^  Zweiter,  resp.  dritter  Ast  des  N.  Trigeminns. 

I 

G.  G.  aes  Ganglion  Gasserü 

VIII,  s=  K.  acnsticns. 

IX.  aB  N.  glossopharyngens. 
Ju.  SS  Vena  jngolaris. 
Ca.  SS  A.  carotis. 
A,  mn.  SS  Arteria  mandibnlaris. 
A,8t.  =^  Arteria  stapedialis. 
A.  hy.  =  Arteria  hyoidea. 
V.  SS  Gefäss. 
0.  =  Ange. 
La.  SS  Labyrinthblase. 
M.  La,  m.  =  Mandibnla,  lameUa  medialis. 
Ma.  la,  l.  s=  Mandibnla,  lamella  lateralis. 
A,  a.  SS  Arteria  alveolaris. 
N.  a.  SS  Keryns  alveolaris. 
D,  SS  Zahnkeime. 
Su.  Li,  =s  Snlcns  lingnalis. 
L,  i,  8.  =  Lamella  inferior  ossis  sqnamosis. 
L,  V,  8.  s=i  LameUa  verticalis  ossis  squamosi. 
P.  g.  m.  SS  Frocessns  gradlis  mallei. 

FlflT*  1 — 4.  Horizontale  Schnitte,  Beihe  von  nnten  nach  oben,  dnrch  den  zweiten 
Kiemenbogen,  bei  einem  Katzenembryo  15  Km.  St.-Sch.-Länge.  In  dieser 
Schnittserie  ist  das  Verhalten  der  proximalen  Enden  des  Hyoidbogens,. 
beziehnngsweise  die  Entstehnngsart  des  Annnlns  stapedialis  zu 
sehen.  Vergr.  30. 

Fig«  Sy  6  QBd  6  A.  Sagittale  Schnittserie,  von  anssen  beginnend,  bei  demselben 
Embryo.  Sind  die  Krfimmnng  des  proximalen  Endes  des  n.  Kiemenbogens,. 
der  Annnlns  stapedialis,  einige  topographische  Verhältnisse  der 
Kopfgebüde  ersichtlich.  Pig.  5  nnd  6  Vergr.  30 ;  Fig.  6 A  Vergr.  25. 

Med.  Jahrbncher,  1887.  05  (149; 


308  Gradenigo.  Die  embiyonale  Anlage  des  Kittelohres  etc. 

Flg.  7«  Beinahe  horisontaler  Schnitt  dnrch  den  Kopf  eine6  2Cm.  langen  Katzen- 
embryo. AnnnlQB  stapedialis.  Yergr.  30. 

Pig.  8.  Frontalschnitt  durch  den  Kopf  eines  2  Cm.  langen  Katzenembryo  im 
Niveau  des  ovalen  Fenstern.  Das  proximale  Ende  des  Hyoidbogens,  zur 
Zeit  wo  der  Involutionsvorgang  beginnt.  Die  punktirte  Linie  deutet  den 
Verlauf  des  K.  facialis  au.  Yergr.  30. 

Fig»  9  lud  10«  Frontalschnitt  duroh  den  Kopf  eines  4  Cm.  langen  mensch- 
lichen Embiyos.  In  Fig.  9  ist  das  Loch  des  Annulus  staped.,  in  Fig.  19 
sein  hinterer  Schenkel  getroffen.  Yergr.  30« 

Pig*  11.  Frontalschnitt.  Annulus  und  Lamina  stapedialis  bei  einem  4Vt  ^'■'^ 
menschlichen  Embryo.  Yergr.  200. 

Fig.  12«  Frontalschnitt.  Lamina  und  Annulus  staped.  bei  einem  8  Cm.  langen 
menschlichen  Embryo.  Yergr.  30. 

Fig«  Um  Das  Gewebe  des  Annulus  und  des  Lamina  staped.  bei  einem  8  Cm. 
langen  menschlichen  Embryo.  Yergr.  200. 

Flg.  14 — 18.  Horizontale  Schnittserie  von  unten  bei  einem  8  Cm.  menschlichen 
Embryo,  um  das  Yerhalten  des  proximalen  knorpeligen  Endes  des  zweiten 
Kiemenbogens  zu  zeigen.  Yergr.  24. 

Fig«  19.  Schema,  um  die  Entstehungsweise  des  tubo-tympanalcn  Baumes  dar- 
zustellen, a  b  mediale  untere  Fläche  des  mandibularen  Bogens,  a  e  mediale 
obere  Fläche  des  zweiten  Bogens,  bec  Schädelbasis.  Die  punktirte  Linie 
deutet  die  Umwandlungen,  welche  der  Baum  abc  eingeht. 

Flg.  20  und  20A,  21  uid  21A,  22  und  22 A  stellen  die  Gestaltung  des 
tubo-tympanalen  Baumes  bei  den  von  mir  als  I,  II  und  in  bezeichneten 
Stadien  der  Entwicklung  dar.  —  Alle  Figuren  repräsentiren  frontale 
Schnitte;  die  mit  A  bezeichneten  Figuren  beziehen  sich  auf  weit  nach 
hinten  gelegene  Ebenen.  Yergr.  24. 

Fig«  23«  Der  Hammergriff  und  der  tubo-tympanale  Baum  bei  einem  3Vs  Cm. 
langen  Schweinsembryo.  Frontalschnitt.  Yergr.  24. 

Fig.  24.  Die  Anordnung  des  knöchernen  Unterkiefers  bei  einem  6  Vs  Cm.  mensch- 
lichen Embryo.  Yergr.  25.  (Beichert,  Object  la,  Ocular  HI,  135  Mm. 
Tubuslänge.) 

Fig.  25«  Die  topographische  Lage  des  M  eck el'schen  Knorpels,  des  Os  squa- 
mosum,  des  Processus  gracilis  mallei,  des  Annulus  tympa- 
nicus  bei  einem  menschlichen  Embryo,  4Vs  Cm.  Länge.  Yergr.  25. 


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XIII. 

Zur  Frage  der  Blutung  nach  Tonsillotomie. 

Von 

Dr.  Otto  Znekerkaiidl^ 

Operationszögling  an  Prof.  Al'bert's  Klinik. 
(Am  31.  März  1887  von  der  Bedaction  übernommen.) 

(Hierzu  Tafel  X.) 


Das  üTsprüngliche  Verfahren  der  Tonsillarampntation  des 
schon  vorhippokratischen  Alterthnms  war  der  Schnitt;  dieser  wurde 
späterhin  dnrch  die  Ansreissnng  mit  dem  Finger  (Celsus),  Ab- 
bindnng  nnd  Zerstörung  durch  Aetzmittel  und  Ferrum  candens, 
verdrängt,  welche  Verfahren  jedoch  nach  längerem  oder  kürzerem 
Bestände  schliesslich  wiederum  dem  Schnitte  weichen  mussten, 
der  nun  seit  Langem  bei  genannter  Operation  ausschliesslich  zur 
Verwendung  gelangt. 

Ich  habe  nicht  die  Absicht,  die  Geschichte  dieser  Operation 
näher  zu  besprechen ,  sondern  möchte  blos  bemerken ,  dass  das 
Fahnenstoc  kusche,  von  Velpeaux  modificirte  Guillotineninstru- 
ment Ende  der  Dreissiger- Jahre  dieses  Jahrhunderts  erfunden, 
und  gleich  bei  seinem  Erscheinen  von  der  Mehrzahl  der  Chirur- 
gen in  Verwendung  genommen  wurde,  auch  gegenwärtig  noch, 
durch  geringe  Modificationen  verbessert,  fast  ausschliesslich  ver- 
wendet wird.  Eine  Minderzahl  blieb  bei  der  von  Muzeux 
empfohlenen  Methode  der  Abkappung   der   mittelst    Hakenzange 

Med.  Jahrbncher.  1887.  26      U) 


310  Zackerkandl. 

aas  der  Zwischenbogennische  vorgezogenen  Mandel  durch  das 
geknöpfte,  nach  der  Fläche  gekrümmte  (BelTsche)  Messer. 

Den  Chirurgen  Frankreichs  gebührt  das  Verdienst,  dnrch 
zahlreiche  Publicationen,  die  sich  mit  der  Methodik  nnd  Indication 
der  besagten  Operation  beschäftigten  und  zwischen  den  Dreissiger- 
und  Fünfziger-Jahren  dieses  Jahrhunderts  erschienen,  auf  den 
Nutzen  und  die  leichte  Ausftihrbarkeit  der  Operation  der  Ton- 
sillotomie auftnerksam  gemacht  und  ihr  zu  allgemeiner  Aner- 
kennung verholfen  zu  haben. 

Der  erste  und  auffalligste  Mangel  der  Operation,  der  sich  bei 
der  nun  folgenden  allgemeinen  Anwendung  herausstellte,  war  die 
Thatsache,  dass  auf  eine  gewöhnliche  nach  den  Regeln  der  Kunst 
ausgeftihrte  Tonsillotomie  eine  Blutung  folgen  könne,  die  zu 
bedrohlichen  Erscheinungen  von  Anämie  des  Individuums  zu  ftlhren 
vermöge  und  zu  deren  Stillung  der  ganze  hämostatische  Apparat  der 
Chirurgie  herbeigeholt  werden  müsse.  Durch  das  Unvorhergesehene 
einer  solchen  Blutung  würden  ihre  Schrecken  nur  vermehrt. 

H  a  t  i  n,  ein  französischer  Arzt,  war  der  Erste,  der  eine  der- 
artige Blutung  in  einem  offenen  Briefe  an  Malgaigne  in  der 
Eevue  m6d.  chir.  (1847)  beschrieb,  worin  er  auch  erwähnte,  dass 
die  meisten  Schriftsteller  solche  Blutungen  nicht  geradezu  ableugnen, 
sie  aber  mehr  in  das  Gebiet  der  Theorie  verweisen  und  für  die 
Praxis  in  Abrede  stellen.  Hat  in  hatte  bei  einer  30jährigen  Frau 
beide  hypertrophische  Tonsillen  in  einer  Sitzung  mittelst  Fahnen- 
stock entfernt.  Die  primäre  Blutung  war  unbedeutend.  Nach  zwei 
Stunden  geholt,  fand  er  die  Frau  wachsbleich,  nahezu  pulslos. 
Aus  einer  der  Amputationswunden  stürzte  das  Blut  in  Strömen 
heraus.  Nach  mehreren  vergeblichen  Versuchen  mittelst  Alaun, 
Lapis  die  Blutung  zu  stillen,  gelang  dies  durch  Compression 
mittelst  Zange. 

Als  Antwort  auf  diesen  Brief  kam  die  Frage  der  Blutung 
nach  Tonsillotomien  in  der  Gesellschaft  ftir  Chirurgie  zu  Paris 
im  October  1847  zur  Discussion.  Es  zeigte  sich,  dass  Hatin's 
Fall  nicht  vereinzelt  dastehe;  Chassaignac  hatte  einmal, 
Guersant  dreimal  heftige  Blutung  nach  Tonsillotomie  auftreten 
gesehen.  Chassaignac  machte  in  jener  Sitzung  auf  die  bedenk- 
liche Nähe  der  Carotis  interna  zur  Tonsille  aufmerksam. 

(2) 


Zur  Frage  der  Blutung  nach  Tonsillotomie.  311 

Von  hier  aus  überging  diese  irrige  Angabe  in  alle  damali- 
gen Lehrbücher  der  Chirurgie;  die  Carotis  interna  hiess  es,  ist 
Ton  der  Tonsille  blos  durch  die  dünne  Wand  des  Schlundkopf- 
schnürers  geschieden.  Es  sei  also  bei  Operationen  in  dieser  Gegend 
die  höchste  Vorsicht  angezeigt.  £s  wurden  aus  der  älteren  Literatur 
tödtliche  Fälle  von  Blutungen  nach  Tonsillotomie  als  Belege  citirt. 

Es  sind  dies  folgende:  Beclard  sah  in  Angers  einen 
Mann  verbluten,  dem  ein  fahrender  Chaiiatan  mittelst  spitzem 
Bistouri  eine  hypertrophische  Mandel  abgetragen  hatte.  Nach 
wenigen  Minuten  war  der  unglückliche  Patient  eine  Leiche.  Der 
Operateur  war  entflohen.  Die  Section  ergab  eine  Verletzung  der 
Carotis  interna.  South  erwähnt  eines  Falles  von  Watson,  wo 
sich  an  eine  Tonsillotomie  eine  in  wenigen  Minuten  zum  Tode 
fbhrende  Blutung  angeschlossen  hatte.  Andere  Fälle,  die  damals 
als  Belege  angeflihrt  wurden  (Portal,  Allan  Bums,  Caytan), 
sind  tödtliche  Blutungen  nach  Eröffnung  von  Tonsillarabscessen, 
gehören  also  nicht  hierher, 

L  in  hart  trat  zuerst  mit  anatomischen  Gründen  gegen  die 
allgemein  herrschende  Furcht  wegen  Carotisverletzung  auf.  In  der 
Zeitschrift  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  zu  Wien  aus  dem 
Jahre  1849  findet  sich  eine  anatomische  Arbeit  Linharfs  über 
die  active  Lage  der  Mandel  zu  den  Carotiden,  in  der  er  nach- 
weist, dass  die  Tonsille  nicht,  wie  allgemein  geglaubt  werde, 
blos  durch  die  Pharynxwand  von  der  Carotis  interna  getrennt 
wäre,  sondern,  dass  sich  zwischen  der  Seitenwand  des  Schlund- 
kopfes ,  dem  Musculus  pterygoideus  internus  und  den  obersten 
Halswirbeln  ein  zellstoffiger  Raum ,  Spatium  pbaryngo-maxillare 
befinde,  in  dessen  hinterstem  Theile  die  grossen  Gefässe  liegen. 
Dieser  Theil  entspricht  nach  Linhart  dem  Theile  der  seitlichen 
Pharynxwand,  der  rückwärts  vom  Arcus  palato-pharyngeus  gelegen 
ist.  Sticht  man  hier  horizontal  nach  aussen,  so  verletzt  man  die 
Carotis  interna,  das  Instrument  kommt  unter  dem  Ohrläppchen 
heraus. 

Die  Mandel  hingegen  entspricht  dem  vorderen  Theil  des 
Spatium,  wo  kein  Gefäss,  kein  Nerv  gelegen  ist. 

Es  sei  also  bei  kunstgerechter  Tonsillotomie  eine  Verletzung 
der  Carotis  interna  ausgeschlossen. 

26  *      (8) 


312  Znckerkandl. 

L  i  n  h  a  r  t  fUhrt  anch  ausdrücklich  an ,  dass  durch  das 
Vorziehen  der  Mandel  ans  ihrer  Nische  die  grossen  Gefässe 
nicht,  wie  man  geglaubt  hatte,  mitgezogen  würden,  sondern, 
dass  vielmehr  durch  einen  solchen  Vorgang  die  Distanz  zwischen 
pharyngealem  Pol  der  Tonsille  und  der  Art.  Carotis  vergrössert 
würde. 

Luschka  bestätigt  in  seinem  Werke  über  den  Schlund- 
kopf des  Menschen  yollkonmien  die  Befunde  Linhart's.  Nach 
Luschka  liegt  die  Carotis  interna  1*5  Cm.,  die  Carotis  externa 
2  Cm.  nach  hinten  und  aussen  vom  äusseren  Pol  der  Mandel 
entfernt. 

Dies  sind  die  beiden  einzigen  Orte,  wo  die  Topographie 
der  Regio  retrotonsillaris  näher  gewürdigt  wird.  In  den  übrigen 
Lehrbüchern  begegnet  man  entweder  der  eben  erwähnten  Ansicht 
oder  einer  anderen  ihr  gerade  widersprechenden.  Hyrtl  z.  B. 
sagt  in  seiner  topographischen  Anatomie :  ^Nach  aussen  und  hinten 
grenzt  jede  Mandel  an  die  Carotis  interna,  von  welcher  sie 
nur  durch  den  Ursprung  des  Constrictor  pharyngis  superior  ge- 
schieden ist. 

R ü dinge r  sagt  in  seiner  topogr.  chir.  Anatomie  des 
Menschen : 

„In  der  Nische  .  .  .  liegt  die  Tonsille,  sie  wird  nach  aus- 
wärts von  den  Tharynxmuskeln  begrenzt,  und  diese  trennen  bei 
mageren  Individuen  dieselben  von  den  grossen  Gefassen. 

Die  Beziehung  dieser  Gefässe  zur  Schlundkopf  wand  und  zu 
hypertrophischen  Tonsillen  verdient  Berücksichtigung.  Wird  mit 
Fahne nstock'schem  Tonsillotom  operirt,  so  dürfte  die  äussere 
Grenze  der  Drüse  weniger  leicht  überschritten  werden ,  als  bei 
der  Abschneidung  mit  dem  Scalpell,  wobei  die  Tonsille  stark  nach 
einwärts  gezogen  wird.^ 

Dies  die  Angaben,  die  mit  jenen  L  u  s  c  h k  a's  und  L  i  n  h  ar  t's 
keineswegs  übereinstimmen.  Nirgends  finde  ich  in  neuerer  Zeit 
einen  Versuch  unternommen,  diesen  strittigen  Punkt  aufzuklären. 

Ich  habe,  um  über  die  Topographie  der  Regio  retrotonsillaris, 
die  mir  zu  wenig  erforscht  schien,  Aufklärung  zu  erhalten,  an 
zahlreichen  Leichen  Zergliederungen  der  genannten  Gegend  vor- 
genommen und  bin  zu  folgenden  Resultaten  gelangt. 

(4) 


Zur  Frage  der  Blntimg  nach  Tonsillotomie.  313 

Die  Tonsille  liegt  zwischen  den  beiden  Gamnenbögen,  deren 
vorderen  sie  bei  normaler  Grösse  wenig,  deren  hinteren  gar  nicht 
überragt.  Die  Schleimhaut  der  Ganmenbögen  übergeht  unmittelbar 
auf  die  vordere  Fläche  der  Mandel.  Will  man  die  rückwärtige,  von 
der  Mundhöhle  abgewendete  Fläche  der  Mandel  zu  Gesichte  be- 
kommen ,  so  muss  man  etwa  drei  Viertel  ihrer  Peripherie  mit 
einem  Schnitt  umkreisen  und  sodann  die  Mandel  stumpf  aus 
ihrer  Nische  heraushebeln.  Bei  dieser  Präparation  zerreisst  man 
Muskelfasern,  die  in  der  äusseren  Tonsillarwandung  endigen.  Es 
sind  dies  die  von  Luschka  beschriebenen  Mm.  amygdalo-glossus 
und  stylo-tonsillaris.  Hat  man  diese  abpräparirt ,  so  präsentirte  sich 
die  laterale  pharyngeale  Tonsillarwand.  Diese  stellt  eine  aus 
Verfilzung  derber  straffer  Bindegewebsstränge  gewebte  fibröse 
Haut  dar,  die  auf  dem  Durchschnitt  als  etwa  I  Mm.  dick 
erscheint  und  von  der  Septa  in's  Innere  des  Tonsillarparenchyms 
eindringen. 

Präparirt  man  im  Grunde  der  Fovea  retrotonsillaris  weiter, 
so  gelangt  man  auf  den  Theil  des  Schlundkopfschnürers  der  die 
Tonsille  von  aussen  umgibt.  Es  sind  dies  Partien  des  M.  pterygo- 
und  bucco-pharyngeus. 

Die  Aussenseite  dieses  Muskels  wird  von  der  vom  Lig. 
pterygo  -  mandibulare  entspringenden  Fascia  bucco  -  pharyngea 
überkleidet.  Hat  man  auch  diese  durchtrennt,  so  befindet  man 
«ich  im  Cavum  pharyngo-maxillare  der  Autoren. 

Li n hart  beschreibt  diesen  Raum  und  dessen  anatomische 
Ausdehnung  folgendermassen :  Zwischen  der  Seitenwand  des  Schlund- 
kopfes, dem  Pterygoideus  internus  und  den  obersten  Halswirbeln 
ist  nach  hinten  zu  ein  mit  Fett  und  Zellgewebe  erfüllter  Raum, 
in  dessen  hioterstem  Theile  die  grossen  Gefässe  liegen.  Dieser 
Theil  entspricht  dem  Theile  der  Seitenwand  des  Pharynx,  der 
nach  rückwärts  vom  hinteren  Gaumenbogen  liegt. 

Diese  Beschreibung  anerkennt  Luschka  rückhaltlos. 

Die  Leichenbefunde  widersprechen  aber  dieser  Angabe. 
Hat  man  die  Fascia  bucco-pharyngea  durchschnitten ,  so  kommt 
man  in  einen  mit  Fett  erfüllten  Raum;  derselbe  wird  nach 
aussen  vom  Musculus  pterygoideus  internus  begrenzt,  erstreckt 
sich  aber  nicht  bis   an  die  Wirbelsäule,  sondern  wird   von   der 

(6) 


314  Znckerkandl. 

von  hinten  aussen  nach  vorne  innen  ziehende  Grnppe,  der  vom 
Griffelfortsatz  entspringenden  Muskeln  zweigetheilt.  Speciell  die 
Mm.  stylo-glossus  und  stylo-pharyngeus  bilden  eine  Fläche ,  die^ 
nach  Yome  abwärts  und  einwärts  abdachend,  derart  in  das  Cavurn 
pharyngo-maxillare  eingeschoben  ist,  dass  sie  zwischen  lateralen 
Mandelpol  und  Carotiden  zu  liegen  kommt;  dadurch  zerfällt  das 
Cavum  in  zwei  Räume,  in  einen  am  Querschnitt  dreieckigen 
Raum,  der  begrenzt  wird  nach  aussen  vom  M.  pterygoideus,  nach 
innen  von  der  der  Tonsille  auflagernden  Pharynxwand  und  nach 
hinten  schliesslich  von  den  beiden  erwähnten  Griffelmuskeln.  Der 
zweite  Raum  nach  rückwärts  vom  vorerwähnten  befindet  sich 
zwischen  hinterer  Pharynxwandung  und  Wirbelsäule  und  beher- 
bergt in  seinem  hintersten  Theile  die  grossen  Gefässe  und  Nerven 
Carotis  intenia,  Vena  jugularis-intema,  Nervus  vagus). 

Beide  Räume,  mit  Fett  und  lockerem  Zellgewebe  erfüllt, 
communiciren  mit  einander  durch  einen  Spalt,  der  sich  zwischen 
M  stylo-glossus  und  M.  stylo-pharyngeus  sich  befindet.  Dieses 
Mnskelinterstitium  bezeichnet  demnach  die  Grenze,  durch  welche 
Gefässe  und  Nerven,  sowohl  von  der  Kopf-  als  der  Haisseite  her, 
an  die  äussere  Wand  des  obersten  Antheiles  des  Schlundkopf- 
schnürers  gelangen  können  (Art.  palatina  ascendens,  Nerv,  glosso- 
pharyngeus). 

Hat  man  diesen  Spalt  passirt  und  präparirt  man  direct  nach 
rückwärts  gegen  die  Wirbelsäule  zu ,  so  stösst  man  auf  die 
Carotis  interna. 

Hält  man  sich,  wenn  man  das  Interstitium  der  erwähnten 
Griffelmuskel  passirt  hat ,  nach  aussen,  so  gelangt  man  an  eine 
Schlinge  der  Carotis  externa,  die  constant  hinter  dem  Kieferaste 
sich  vorfindet  und  von  der  Carotis  externa  gebildet  wird,  bevor 
diese  in  die  Maxillaris  interna  und  Temporaiis  zerfallt. 

Geht  man  aus  der  Fovea  retrotonsillaris  längs  des  M.  pt^ry- 
goideus  internus  nach  hinten,  so  gelangt  man  in  die  Fovea  retro- 
maxillaris. 

Im  Bereiche  der  Mandel  fanden  wir  also  die  Carotis  interna 
nach  vorne  zugedeckt,  also  geschützt  durch  die  erwähnten  Griffel- 
muskeln. In  ihrem  obersten  Antheile,  wo  sich  die  Carotis  in  das 
medial   vom  Griffelfortsatz   gelegene  Foramen  caroticum   begibt, 

(6) 


Zur  Frage  der  Blatimg  nach  Tonsillotomie.  315 

fällt  natürlich  dieser  Schutz  der  Muskeln  weg  und  liegt  die 
Carotis  hier  unmittelbar  der  äusseren  Pharynxwand  an;  doch 
kommt  bei  Mandelexstirpation  der  oberste  Theil  der  Carotis  nicht 
mehr  in  Betracht. 

Was  die  Projection  der  Carotis  interna  anbelangt,  so  wurde 
angegeben ,  dass  man  sie  durch  eine  Nadel ,  die  nach  rückwärts 
vom  Arcus  palato-pharyngeus  durch  die  Pharynxwand  nach  aussen 
gestossen  wurde,  stets  verletzte. 

Versuche,  die  ich  in  dieser  Richtung  unternahm ,  ergaben 
ein  negatives  Resultat;  als  ich  um  diese  Thatsache  erklären  zu 
können,  ein  Diagramm  der  Gegend  auf  dieses  Verhalten  unter- 
suchte, so  fand  ich,  dass,  wenn  man  unmittelbar  hinter  dem 
Gaumen-Schlundkopfbogen  horizontal  nach  aussen  eine  Linie  zieht, 
diese  entweder  das  musculäre  Diaphragma  des  Interstitium 
pharyngo-maxillare  oder  den  Raum  unmittelbar  hinter  diesem 
passirt.  Die  Linie  geht  also  etwa  2  Cm.  vor  der  Carotis  interna 
nach  aussen,  kann  aber  die  Carotis  externa  verletzen  und  kommt 
schliesslich  nach  Durchbohrung  des  inneren  Flügelmuskels  an  die 
mediale  Fläche  des  Kieferastes.  Selbst  eine  Linie,  die  in  der  Ebene 
der  rückwärtigen  Pharynxwand  nach  aussen  gezogen  wird,  passirt 
das  Spatium  vor  der  Carotis  interna  (Fig.  1). 

Es  erhellt  aus  allen  diesen  Befunden  die  Thatsache,  dass 
das  Cavum  pharyngo-maxillare  nicht  einen  continuirlichen  Raum 
darstellt,  sondern  dass  in  der  Regio  retrotonsillaris  nebst  Pharynx- 
wand und  Fett  eine  Muskelschicht  als  Schutzwall  vor  der  Carotis 
interna  liegt.  Mag  die  Mandel  noch  so  sehr  vorgezogen  werden,  so 
wird  dieser  Vorgang,  wie  die  Betrachtung  des  abgebildeten  Dia- 
gramms ergibt,  niemals  irgend  einen  Einfluss  auf  die  geschützte 
Lage  der  Carotis  int.  auszuüben  im  Stande  sein.  Es  ist  vollständig 
ausgeschlossen  und  unmög  lieh  mag  man  mit  Tonsillotom  oder  mit 
geknüpftem  Messer  arbeiten,  die  Carotis  interna  zu  verletzen. 

Möglieh  wäre  eine  solche  Verletzung  blos,  wenn  mit  einem 
spitzen  Messer  operirt  würde,  dessen  Spitze  bei  einer  brüsken 
Bewegung  des  Patienten  mit  dem  Kopfe,  tief  gegen  die  Wirbel- 
säule vordringen  könnte  (Beclard's  Fall).  Ebenso  unbegründet 
ist  die  Furcht  vor  Carotisverletzung  beim  Scarificiren  der  Ton- 
sillen oder  bei  Eröffnung  eines  Tonsillarabscesses. 

(7) 


316  Zuckerkandl. 

Denkbar  wäre  aber  eine  Verletzung  der  Carotis  interna  bei 
Eröffnung  eines  retropharyngealen  Abscesses,  da  sie  hier  direct  vom 
Eiter  umspült  wird. 

Thatsächlich  fehlt  auch  in  der  neueren  Literatur  dieses 
Gegenstandes  ein  Fall,  wo  nach  kunstgerechter  Tonsillotomie  eine 
tödtliche  Blutung,  wie  sie  eine  Verletzung  der  Carotis  interna 
an  so  verborgener  Stelle  zur  Folge  haben  mttsste,  erfolgt  wäre; 
tödtlich  wäre  eine  solche  Verletzung,  weil  eine  Unterbindung  in 
loco  auf  unüberwindliche  Hindemisse  stiesse,  eine  Compression  aber 
der  Tonsillarwunde  gegen  den  Kieferast  die  Carotis  in  keiner 
Weise  tangiren  würde. 

Die  Blutungen  nach  Tonsillotomie,  die  seit  der  Verallge- 
meinerung der  Operation  stetig,  wenn  auch  in  geringer  Anzahl, 
zur  Publication  gelangen,  sind  dennoch  bisweilen  recht  schwere; 
um  dies  zu  erhärten,  braucht  blos  bemerkt  zu  werden,  dass  als 
letztes  Auskunftsmittel  in  einigen  später  zu  beschreibenden  Fällen 
zur  Unterbindung  der  Carotis  communis  geschritten  werden  musste. 
Das  Bild   einer  solchen  Hämorrhagie  gestaltet   sich  verschieden. 

Der  eine  Typus  ist  der  folgende :  Unmittelbar  im  Anschlüsse 
an  die  Operation  oder  kurze  Zeit  nach  Vollendung  derselben 
stürzt  aus  der  Wunde  ein  Blutstrom,  der  theils  aus  der  Mund- 
höhle abfliesst,  theils  in  denLarynx  und  Pharynx  aspirirt  wird. 
Es  kommt  zu  Hustenparoxysmen ,  bei  denen  gewaltige  Mengen 
Blutes  spritzend  entleert  werden;  daneben  wird  Blut  auch  er- 
brochen. Es  tritt  Blässe,  Ohnmacht  ein,  der  Puls  wird  frequent 
und  klein. 

In  anderen  Fällen  werden  Arzt  und  Patient  auf  eine  statt- 
gehabte Blutung  nur  durch  gewaltige  Mengen  erbrochenen  Blutes 
aufmerksam  gemacht.  Das  Blut  war  längs  der  hinteren  Pharynx- 
wand  allmälig  in  den  Magen  gerieselt.  Untersucht  man  die  Wund- 
fläche, so  sieht  man  bald  ein  spritzendes  Gefässlumen,  bald  sickert 
das  Blut  in  dickem  Strome  heraus;  auffallend  ist  das  häufige 
Recidiviren  solcher  Hämorrhagien. 

Es  lässt  sich  auch  nicht  einmal  annähernd  feststellen,  in 
wie  vielen  Fällen  auf  Tonsillotomie  stärkere  Blutung  folgt;  Schuh 
sah  in  seiner  langen  Praxis  einen  derartigen  Fall,  P  i  t  h  a  keinen. 
Warren  hat  unter  1000  Tonsillotomien  niemals  schwere  Blutung 

(8) 


Zar  Frage  der  Blatrmg  nach  Ton&dllotomie.  317 

beobachtet.  Voss  sab  anter  347  Tonsillotomien  siebzehnmal  die 
Blutung  wiederkehren ;  in  diesen  mussten  styptische  Mittel  ange- 
wandt werden.  In  einem  Falle  war  die  Blutung  eine  schwere. 
Zur  Stillung  derselben  bedurfte  man  der  Arbeit  von  sechs  Stunden. 

Dass  aber  Fälle  solcher  Blutung  existiren  und  stets  wieder- 
kehren, zeigt   ein  Blick  auf  die  Literatur   dieses    Gregenstandes. 

Beschrieben  wurden  solche  Blutungen,  von  der  Verallgemeine- 
rung jener  Operation  beginnend,  bis  in  die  jüngste  Zeit 

Hatin  (1847)  regte  in  dem  bereits  erwähnten  Briefe  an 
Malgaigne,  der  Erste  diese  Frage  an.  Er  stillte  die  Blutung  durch 
ein  improvisirtes  Compressorium.  In  VidaFs  Lehrbuch  finde  ich 
einen  Fall  erwähnt,  wo  bei  einem  Manne  eine  heftige,  wiederholt 
recidivirende  arterielle  Blutung  nach  Tonsillotomie  beobachtet 
wurde. 

Aus  dem  Jahre  1861  finde  ich  einen  von  Weinlechner 
an  Schuh's  Klinik  beobachteten  Fall.  In  diesem  kehrte  die 
Blutung  am  fünften  Tage  post  operationem  wieder,  ebenso  zwei 
Tage  nach  diesem  Termine. 

Weinlechner  erwähnt ,  dass  im  diesem  Falle  die 
Ursache  der  Blutung  in  der  Disposition  des  Individuums  zu 
suchen  war. 

1868  wurde  an  B  i  1 1  r  o  t  h's  Klinik  ein  Fall  von  erschreckender 
Blutung  nach  Tonsillotomie  beobachtet.  Die  Blutstillung  gelang 
durch  digitale  Gompression  der  Carotis  am  Halse. 

Günther  in  Salzburg  unterband  (1872)  wegen  unstillbarer 
Blutung  aus  einer  nach  Tonsillotomie  entstandenen  Wunde  die 
Arteria  carotis  communis. 

Voss  berichtet,  1877,  über  eine  reiche  Erfahrung  von  Ton- 
sillotomien. Er  nimmt  an,  dass  die  Blutungen  der  Arteria  tonsillaris 
entstammen  müssen,  die  er  aus  der  Arteria  pharyngea  acsendens 
entspringen  lässt.  Im  Jahre  1880  beobachtete  Hadar  Liden 
bei  einer  Frau,  der  er  eine  Mandel  mit  dem  Bistouri  abgetragen 
hatte,  eine  sofort  nach  der  Operation  eintretende  nicht  besonders 
heftige  Blutung.  Trotz  angewandter  styptischer  Mittel  stand  die 
Blutung  keineswegs,  sondern  nahm  vielmehr  an  Intensität  zu.  Drei 
Stunden  post  tonsillotomiam  war  der  Zustand  der  Patientin  so 
bedenklich  geworden,  dass  sich  der  Operateur  zur  Unterbindung 

(9) 


318  Znckerkandl. 

der  Carotis  communis  entschloss.  Dieselbe  wurde  mit  Erfolg  aus- 
geführt. Patientin  bot  keine  Zeichen  von  Hämophylie. 

Die  letzte  derartige  Beschreibung  stammt  aus  dem  Jahre  1882. 
G.  M.  Leffert  berichtet  in  diesem  Jahre  über  zwei  Fälle  von 
lebensgefährlichen  Blutungen,  wie  er  sie  nennt.  In  dem  einen 
Falle  sah  er  in  der  Tiefe  der  Wunde  ein  mächtig  spritzendes 
Gefäss ,  welches  zu  ligiren  ihm  mit  Mühe  gelang.  In  einem  zweiten 
ähnlichen  Falle  stillte  er  die  Blutung  durch  stundenlang  anhaltende 
Digitalcompression  der  Wundfläche.  (Keinerlei  Zeichen  von  Hämo- 
phylie.) Dieser  Autor  erwähnt  auch  mehrerer,  länger  dauernder 
Blutungen  nicht  bedenklicher  Art,  die  er  auf  Verletzung  der  in 
den  chronisch  geschwellten  Tonsillen  neugebildeten  Venen  zu- 
rückführt. 

Dass  diese  Blutungen  kein  blosses  Spiel  des  Zufalles  sein 
können,  war  von  vorneherein  klar,  da  die  Blutungen  auch  bei  nicht 
hämophylen  Individuen,  mag  mit  dem  Messer  oder  dem  Tonsil- 
lotome  operirt  worden  sein,  eintraten.  Meiner  Meinung  nach  muss 
die  Ursache  dieser  Blutungen  in  anatomischen  Details  an  dem 
Tonsillargefässe  liegen,  die  eine  zur  spontanen  Blutstillung  noth- 
wendige  Retraction  und  Contraction  besagter  Gefässe  zu  verhindern 
im  Stande  sind.  Bevor  ich  diese  Behauptung  durch  anatomische 
Befunde  begründe,  möge  es  mir  gestattet  sein,  die  in  dieser 
Richtung  bestehenden  Hypothesen  zu  erwähnen. 

Vor  Allem  wurde  die  Methode  der  Operation  beschuldigt. 
Zieht  man,  so  hiess  es,  die  Tonsille  aus  dem  Interstitium 
arcuarium  vor,  so  werden  die  grossen  Gefässe  als  Schlingen  mit- 
gezogen und  können  in  den  Bereich  des  Schnittes  fallen  und 
abgekappt  werden.  Diese  irrige  Annahme  fusste  in  der  mangel- 
haften anatomischen  Eenntniss  der  Details  jener  Gegend  und 
wurde  schon  von  L inhart  zurückgewiesen;  trotzdem  kehrt  diese 
Anschauung  in  neueren  Büchern  wieder.  Ich  glaube  im  ersten 
Theil  dieser  Arbeit  die  anatomische  Unmöglichkeit  eines  Vor- 
ziehens der  Carotis  zur  Genüge  erwiesen  zu  haben.  Bei  dieser 
Gelegenheit  sei  auch  bemerkt,  dass  bei  Hypertrophie  der  Tonsille 
die  Distanz  zwischen  dem  lateralen  Pol  der  Mandel  und  deren 
Mittelpunkt  sich  nicht  in  gleicher  Weise,  wie  die  des  medialen 
oralwärts  gerichteten,  vergrössere,  dass,  mit  anderen  Worten,  bei 

(10) 


Zur  Frage  der  Blutimg  nach  Tonsillotomie.  319 

Hypertrophie  die  Mandel  sich  blos  gegen  die  Mundhöhle  vorwölbt, 
während  der  pharyngeale  Pol  seine  Lage,  also  auch  sein  Ver- 
halten zu  den  Garotiden,  vollständig  unverändert  beibehält. 

Führer  betont,  dass  die  Carotis  externa  bei  starker  Schlingen- 
bildung mit  der  Convexität  einer  solchen  Schlinge  der  Phamyx- 
wand  nahe  kommen  und  vielleicht  verletzt  werden  könnte. 

Es  besteht  nun  thatsächlich  constant  eine  Schlinge  der 
Carotis  externa ,  die ,  hinter  dem  Aste  des  Unterkiefers  gelegen, 
mit  ihrer  Convexität  nach  einwärts  vorspringt.  Diese  Schlinge 
erreicht  man  bei  der  Präparation  von  der  Mundhöhle  her,  wenn 
man  nach  Darstellung  der  Fovea  retrotonsillaris  den  Zwischen- 
raum zwischen  stylo-glossus  und  stylo  pharyngeus  stumpf  erweitert 
und  lateralwärts  vordringt ;  bisweilen  entspringt  die  Tonsillararterie 
von  dieser-  Schlinge  (Fig.  2).  In  einem  solchen  Falle  mag  es, 
wenn  bei  Tonsillotomie  der  Stamm  der  Arteria  tonsillaris  verletzt 
wurde,  in  Folge  des  nahen  Abganges  aus  einem  so  starken  Ge- 
fässe,  wie  es  die  Arteria  carotis  externa  darstellt,  zu  einer  heftigen 
arteriellen  Blutung  kommen. 

Hyrtl  beschreibt  eine  Varietät,  der  er  für  die  Erklärung 
der  Blutung  nach  Tonsillotomie  eine  hohe  Bedeutung  zuschreibt 
Die  Arteria  palatina  ascendens  vertritt  die  Arteria  maxillaris  in- 
terna, d.  h.  ist  von  der  Dicke  einer  solchen  und  gibt  deren  Aeste 
ab.  Bei  der  enormen  Seltenheit  dieser  Varietät  kann  dieselbe  blos 
als  interessanter  anatomischer  Beitrag,  nicht  aber  als  ein  Er- 
klärungsmoment  betrachtet  werden. 

Die  Angabe  Linhart's,  dass  die  Blutung  den  durch  Ent- 
zündung vergrösserten  Tonsillararterien  entstamme,  widerspricht 
den  anatomischen  Befunden  an  exstirpirten  Tonsillen,  indem  nie- 
mals klaffende  Grefässlumina  am  Durchschnitte  erblickt  werden 
können. 

Dass  klaflFende  Gefösse  bei  Exstirpation  fibrös  degenerirter 
Tonsillen  (S  c  h  e  e  d  e)  heftige  Blutung  unterhalten,  ist  wahr,  doch 
ist  dabei  zu  berücksichtigen,  dass  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Fälle  einfache  Hyperplasien  der  Tonsille  ohne  jede  fibröse 
Degeneration   die  Ursache  der  Abtragung  bilden. 

Dass  die  Verletzung  der  der  Tonsille  eigenen  Arterien  und 

Venen  so  heftige  Blutungen   zu   veranlassen   vermöge,    erschien 

(11) 


320  Znckerkandl. 

—  obwohl  schon  frühzeitig  erwähnt  —  bei  der  Kleinheit  der  er- 
wähnten Gefässe  unwahrscheinlich.  Die  Tonsille  bezieht  ihr  Blut 
aus  der  Carotis  externa.  In  der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle 
ist  es  äie  Ärteria  palatina  ascendens,  die,  entweder  aus  der 
Maxillaris  externa  oder  direct  aus  der  Carotis  entspringend,  auf- 
steigt und  den  Zwischenraum  zwischen  Musculus  stylo-pharyngeus 
und  stylo-glossus  durchdringend,  unmittelbar  an  die  äussere  Fläche 
des  Pharynx  kommt. 

Präparirt  man  von  der  Mundhöhle  her,  so  sieht  man  nach 
Wegnahme  der  Tonsille,  das  aus  dem  genannten  Muskelspalte 
nahezu  senkrecht  aufsteigende  Grefass.  Dieses  ist  von  der  Tonsille 
noch  getrennt  durch  das  das  Spatium  erfüllende  Fett,  einer  Fort- 
setzung des  Fettes  der  Backengrube.  Diese  Arterie  ist  von  einer 
Vene  gleichen  Calibers  begleitet  (Fig.  3).  In  der  Höhe  der  Ton- 
sille theilt  sich  das  Gefäss  in  zwei  Aeste:  in  einen  Ast,  der  im 
Bogen  zur  Tubenmündung  hinzieht,  um  dort  in  der  Schleimbaut 
zu  endigen,  und  in  einen  zweiten  Ast  (Arteria  tonsillaris),  der  quer 
durch  das  Fett  des  Spatiums  zum  äusseren  Pol  der  Tonsille 
sich  begibt. 

Dies  das  Verhalten,  wie  ich  es  am  häufigsten  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatt«.  In  anderen  Fällen  entspringt  die  Arteria  ton- 
sillaris direct,  wie  schon  früher  erwähnt,  aus  der  Carotis  externa 
oder  aus  der  Maxillaris  externa,  in  welchem  Falle  die  Art.  pala- 
tina ascendens  also  blos  auf  den  Ast  zar  Tonsille  reducirt  ist. 
Bisweilen  findet  man  die  Tonsille  von  mehreren  Arterien  versorgt. 
Es  kann  neben  der  Art.  tonsillaris  der  palatina  ascendens,  noch 
eine  direct  aus  der  Carotis  ext.  stammende  Tonsillararterie  ge- 
fanden werden.  Diese  letztere  entsteht  entweder  aus  demCarotis- 
stamm ,  dort ,  wo  dieser  die  Art,  maxillaris  abgibt,  oder  sie  wird 
von  der  zwischen  den  Grifielmuskeln  vorspringenden  Schlinge  der 
Carotis  ext.  abgegeben. 

In  Ausnahmsfällen  wird  die  Art.  tonsillaris  von  der  Art. 
pharyngea  ascendens  abgegeben;  ist  dies  der  Fall,  so  theilt 
sich  diese  Arterie  etwa  hinter  dem  Eieferwinkel  in  zwei  Aeste. 
Der  eine  Ast  zieht  in  typischer  Weise  längs  der  Wirbelsäule 
gegen  die  Schädelbasis,  während  der  andere  durch  das  Muskel- 
interstitium   in   den    oben    beschriebenen   Vorraum    des    Cavum 

(12) 


Zur  Frage  der  Blntung  nach  Tonsillotomie.  321 

pharyngo-maxillare  kommt  mid  in  typischer  Weise  zm*  Tonsille 
sich  hinbegibt. 

Nach  Passirnng  dieses  mit  lockerem  Fett  und  Zellstoff  ge- 
füllten Banmes  gelangt  die  Arterie  in  allen  Fällen  an  die  pharyn- 
geale Begrenzung  der  Tonsille ;  hat  das  (refUss  diese  derbe  fibröse 
Wand  passirt,  so  theilt  es  sich  sofort  in  seine  fadenförmigen 
Endäste. 

An  der  Kapsel  der  Tonsille  konnte  ich  ein  zweifaches  Ver- 
halten der  Arterien  beobachten.  In  dem  einen  Falle  tritt  das 
Gefäss  an  die  Tonsille  herap  und  durchbohrt  in  gerader  oder 
schiefer  Richtung  die  fibröse  Wand,  um  in  das  Parenchym  ein- 
zudringen. Die  Verbindung  zwischen  den  peripheren  Gefäss- 
schichten  und  der  fibrösen  Kapsel  ist  eine  innige. 

Im  anderen  Falle  tritt  das  Gefäss  an  die  Mandel,  bricht 
aber  nicht  sofort  durch  die  Kapsel,  sondern  legt  sich  an  diese 
und  tritt  erst  nach  Bildung  mehrerer  Schlingungen  und  Windungen 
in  die  Mandel  ein.  Auch  in  diesem  Falle  besteht  eine  innige  Ver- 
filzung zwischen  Gefässhäuten  und  der  Mandelhttlle. 

Hat  die  Art.  tonsillaris  die  Kapsel  passirt,  so  löst  sich  das 
etwa  millimeterdicke  Gefkss  in  ein  Bündel  fadenförmiger  Aeste 
auf,  die  sich  bald  der  Präparation  mit  Pincette  und  Scheere  ent- 
ziehen. Die  Tonsillararterie  als  Stamm  hat  nach  Passirung  der 
pharyngealen  Tonsillarwand  aufgehört. 

Aus  dem  Innern  der  Tonsille  treten  ein  oder  zwei  Venen- 
stämmchen  aus,  die  sich  zu  der  erwähnten,  der  Art.  palatina 
ascendens  entsprechenden  Vene  hinbegeben,  und  ihr  Blut  durch 
diese  in  die  Vena  jugdaris  interna  ergiessen. 

Das  erwähnte  Verhalten  der  Tonsillararterien  zur  fibrösen 
Hülle  der  Mandel  halte  ich  für  das  Zustandekommen  von  Blu- 
tungen für  wichtig,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen. 

Wird  eine  Arterie  quer  durchschnitten,  so  zieht  sie  sich 
vermöge  ihrer  elastischen  Spannung  in  das  Gewebe  zurück,  gleich- 
zeitig  verengert  sich  das  Lumen  des  Gefässes  wegen  Zusammen- 
ziehung der  Bingmuskelschichte  (Retraction  und  Gontraction). 
Ein  Vorgang,  der  die  Menge  des  in  der  Zeiteinheit  ausge- 
worfenen Blutes  verringert  und  durch  Bildung  eines  in  Folge 
Retraction   der  Arterie  in's  Gewebe   entstandenen  Trichters  zur 

(18) 


322  Znckerkandl. 

Stagnation,  znr  Gerinnung,  nnd  so  zur  definitiven  spontanen  Blut- 
stillung Veranlassung  gibt. 

Kleinere  Gefösse  sind  wegen  der  relativ  stärkeren  Entwick- 
lung der  Muskelschichte  eher  zur  Retraction  und  Gontraction  — 
also  zur  spontanen  Blutstillung  —  veranlagt  als  grössere.  Die 
Ärteria  tonsillaris  wäre  nach  diesem  zur  spontanen  Hämostase 
disponirt.  Diese  Arterie  befindet  sich  aber  in  abnormen  Verhält- 
nissen zu  ihrer  Umgebung,  die  die  normale  Abwicklung  jener 
Vorgänge,  die  zur  spontanen  Blutstillung  nothwendig  sind,  zu  ver- 
hindern im  Stande  sind.  Greht  der  Schnitt,  der  die  Tonsille  abträgt, 
durch  das  Parenchym  derselben,  so  ist  die  Blutung  wegen  Kleinheit 
der  verletzten  Gefässe  unbedeutend  und  steht  auf  den  geringen  Reiz, 
wie  ihn  etwa  ein  auf  die  Wunde  gebrachtes  kaltes  Wasser  auszuüben 
vermag,  bald.  Anders  wenn  der  Schnitt  in  die  Ebene  der  hinteren 
Tonsillarkapsel  föUt,  ein  Ereigniss,  dessen  Eintreten  kaum  geleug- 
net werden  kann,  wenn  man  bedenkt,  dass  einer  Vorwölbung  der 
Tonsille  gegen  die  Mundhöhle  niemals  eine  gleiche  lateralwärts 
gerichtete  entspricht.  Bei  bedeutenden  Hypertrophien  mag  es  auch 
geschehen,  dass  durch  die  Schwere  der  in  die  Mundhöhle  herein- 
hängenden Mandel  der  laterale  Pol  etwas  gegen  die  Mitte  vorgerückt 
und  leichter  in  die  Ebene  eines  Amputationsschnittes  fallen  kann. 
In  einem  solchen  Falle  ist  eine  spontane  Stillung  unmöglich. 

Der  innige  Zusammenhang  zwischen  Gefässwand  und  der 
derben  fibrösen  Tonsillarkapsel  verhindert  hier  sowohl  ein  Zurück- 
gehen als  eine  Verengerung  des  Gefässlumens.  Dieses  wird  gewisser- 
massen  durch  seine  Anheftungen  an  die  Kapsel  der  Tonsille  direct 
klaffend  erhalten;  die  Blutung  weicht  den  gewöhnlichen  Mitteln, 
die  reflectorisch  eine  Gontraction  erzielen  sollen,  nicht,  da  die  Mög- 
lichkeit einer  solchen  fehlt.  Für  dieses  Verhalten  spricht  das 
häufige  Recidiviren  der  Blutungen,  femer  die  Erfahrung,  dass  man 
noch  am  nächsten  Tage  nach  der  Operation  in  der  Wunde  ein 
spritzendes  Gefäss  wahrnehmen  konnte.  Bedenkt  man  die  Grösse 
des  ausgespannten  Lumens  einer  Tonsillararterie ,  so  ist  es  klar, 
dass,  wenn  auch  erst  nach  längerem  Andauern,  es  doch  zu 
bedenklichen  Erscheinungen  von  Entblutung  kommen  könne. 

Dass  auch  aus  einer  Arterie  solchen  Calibers  ein  Individuum 
sogar  verbluten  kann,  zeigt  Backer's  Fall,  in  dem  ein  Trunkener 
(14) 


Zar  Frage  der  Blatnng  nach  Tonsillotomie.  323 

za  Boden  fiel  und  sich  das  Mundstück  seiner  Pfeife  durch  die  Pharyx- 
wand  durchstiess.  Es  stellte  sich  heftige  Blutung  ein.  Trotzdem 
ihm  im  Hospitale  die  Art.  carotis  communis  unterbunden  wurde, 
starb  der  Kranke  an  Erschöpfung.  Die  Section  ergab  eine  Ver- 
letzung der  Art.  pharyngea  ascendens  bei  intacten  Garotiden. 

Wird  die  Tonsillararterie  jenseits  der  Tonsillarkapsel,  also 
vor  ihrem  Eintritte  in  die  Mandel,  verletzt,  so  sind  die  Bedin- 
gungen zur  spontanen  Stillung  der  Blutung  insofeme  günstige, 
als  sich  das  Gefäss,  in  lockeres  Zellgewebe  gelagert,  bequem 
zu  retrahiren  im  Stande  ist.  Dass  hier  ein  directer  Abgang  aus 
der  nahen  Schlinge  der  Carotis  externa  verhängnissvoU  werden 
kann,  ist  bereits  erwähnt  worden. 

Aus  dem  Gesagten  folgt  mit  Sicherheit,  dass  man  eine 
stärkere  Blutung  wird  vermeiden  können  —  natürlich  ist  hierbei 
Hämophylie  ausgenommen  —  wenn  man  es  vermeidet,  dass  der 
Amputationsschnitt  in  die  Ebene  der  lateralen  Tonsillarwand  falle ; 
am  besten  geschieht  dies  durch  einfaches  Abkappen  der  Kuppe  der 
geschwellten  Mandelpartien ;  gewiss  kein  neuer  Vorschlag  und  aller- 
orts bereits  mit  Vorliebe  geübt,  bietet  er  mir  die  Befriedigung, 
ihn  durch  anatomische  Untersuchung  zu  einen  begründeten  Vor- 
gang gemacht  zu  haben. 

Was  die  Methoden  der  Blutstillung  anlangt,  so  wird  man 
bei  der  Unmöglichkeit  der  Verletzung  der  Arteria  carotis  interna 
auch  nicht  nach  Weber's  Vorschlag  bei  heftiger  Blutung  diese 
isolirt  von  aussen  zu  unterbinden  suchen. 

Zur  Stillung  der  Blutung  nach  Tonsillotomie  wurde  zweimal 
(Hatin  und  Günther)  die  Art.  carotis  communis  unterbunden. 
Ein  gewagtes  Beginnen,  wenn  man  bedenkt,  dass  in  41^/o  der 
Fälle  die  Unterbindung  der  Carotis  communis  von  gefährlichen 
Himsymptomen  gefolgt  wird. 

Die  einzige  Arterie,  die  mit  einem  Schein  von  Recht  unter- 
bunden werden  könnte,  wäre  isolirt  die  Carotis  externa,  da  nur 
Aeste  dieses  Gefässes  bei  Tonsillotomie  verletzt  werden  können 
und  weil  diese  Operation  weit  weniger  Gefahren  in  sich  birgt 
als  die  Unterbindung  der  Carotis  communis.  ^ 

^)  Nach  Pilz  beträgt  die  Mortalität  nach  TJnterbindong  der  Carotis 
commimiB  44 Vo  gogon  ll^/,  der  Carotis  externa. 

(16) 


324  Znckerkandl. 

Doch  auch  dieses  Mittel  halte  ich  für  zu  heroisch  und  man 
wird  stets,  sollte  die  Unterbindung  des  blutenden  Gtefässes  in  der 
Wunde  nicht  gelingen,  mit  der  Gompression  mittelst  Pean^scher, 
von  Mikulicz  modificirter  Zange  gegen  den  Eieferast  die  Blutung 
sicher  und  exact  zu  stillen  im  Stande  sein. 


Erklärung  der  Abbüdnngen. 

Flg*.  1.  Horizontalschnitt  durch  den  Pharyiix  in  der  Höhe  des  Alveolarfortsatze 
vom  Oberkiefer  (schematisirt  nach  Lnschka).  W.  Wirbel,  C,i.  Carotis 
interna,  C,  e.  Carotis  externa,  T,  TonsiUe,  P.p.  Arcus  palato-pharyngens 
P,g,  Arcns  palato  glossns,  Pt.y.  M.  pterygoideus  int.,  8t  p.  M.  stylo- 
pharyngeuB,  St,  ff,  Mose,  stylo-glossns ,  St,h,  Mnsc.  stylo-hyoidens,  M,i, 
Unterkiefer,  G,p,  Nerv,  glosso-pharyngens. 

Figr*  2*  Fovea  retrotonsillaris  von  der  Hnndhöhle  her  präparirt  dnrch  Wegnahme 
der  Mandel  nnd  des  Hnsc.  cephalo-pharyngens.  Directer  Abgang  der 
Art.  tonsillaris  von  der  Carotis  externa.  P.p.  Arcns  palato-pharyngens, 
P.g.  Arcns  palato-glossns,  ü,  TJvnla,  Pt,i,  Mnsc.  pterygoideus  internus, 
St.  g,  Muse,  stylo-glossus.  8t,p,  Muse,  stylo-pharyngeus,  F,  zurückgelassener 
Theil  der  Fettauskleidung  der  Fovea  retrotonsillaris,  C,  e.  Art.  carotis 
ext.,  T.  Art  tonsillaris,  G.p.  Nervus  glosso-pharyngeus, 

Fifl^.  8.  Dieselbe  (hegend  wie  in  Fig.  2.  Abgang  der  Art.  tonsillaris  von  einer 
Art.  palatina  ascendens.  Ä.p,  a,  Art.  palatina  ascendens,  V,  entsprechende 
Vene,  Ä.  t,  Art.  tonsillaris,  F.  t.  Vena  tonsiUaris. 


Literatur-VerzeiehnisB. 

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L  in  hart,  Chirurgisch-anat.  TJntersudiung   Über  die  active  Lage   der  Mandeln 
zu  den  Carotiden.  Zeitschr.  der  k.  k.  Gesellsch.  d.  Aerzte  zu  Wien.  1849. 
Riidinger,  Topogr.-chir.  Anatomie  d.  Menschen.  1873. 
Henke,  Topogr.  Anatomie  d.  Menschen.  1878. 
Luschka,  Anatomie  des  Menschen.  1869. 
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(16) 


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Bruns,  Chir.  Anatomie  des  Kopfes  und  Halses.  Aus  dem  Engl,  von  Dohl- 
hoff   1821. 

Chelius,  Handbuch  d.  Chirurgie.  1851. 

V i  d  a  1 ,  Lehrb.  d .  Chirurgie  n.  Operationslehre.  Deutsch  von  Bardeleben.  1883. 

König,  Lehrbuch  der  Chirurgie.  1881. 

Albert,  Lehrbuch  der  Chirurgie.  1884. 

Strohmeyer,  Handbuch  d.  Chirurgie.  1867. 

Fischer,  Krankheiten  des  Halses.  Deutsche  Chirurgie.  1880. 

Heineke,  Blutung,  Blutstillung  etc.  Deutsche  Chirurgie.  1885. 


l»>r«)^ 


Med.  Jahrbücher.  1887.  27     (lO 


XIY. 

lieber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels 

zur  Phlegmone. 

Von 

Dr.  M.  Hajek^ 

Secondararzt  l.  Classe  des  Bndolf-Spitals  in  Wien. 

(lus  dem  Laboratorium  dos  Prof.  Weictiselbaum  In  Wien.) 

(Hierzu  Taf.  XI,  XII,  XIII.) 
(Am  16.  April  1887  von  der  Bedaction  übernommen.) 


Die  strenge  Formulirung  des  Krankheitsbegriffes  ^Erysipel", 
wie  derselbe  um  die  Vierziger-Jahre  von  Rust^)  begründet  und 
nach  ihm  insbesondere  von  den  deutschen  Klinikern  des  Genaueren 
ausgeführt  wurde ,  ist  ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  schon  von 
Galen  mit  nicht  zu  verkennender  Deutlichkeit  ausgesprochen 
worden.  Die  klinische  Erfahrung,  dass  die  wandernden  Entzün- 
dungsprocesse  der  Haut  bald  in  völlige  Restitution,  bald  dagegen 
in  Eiterung  übergehen  und  häufig  schwere  Allgemeinerscheinungen 
nach  sich  ziehen,  hat  sowohl  G  a  1  e  n  als  die  Kliniker  der  neueren 
Zeit  zur  Scheidung  der  oberflächlichen  Hautentzündung  von  den 
tiefergreifenden  veranlasst,  wenn  auch  zugegeben  werden  musste, 
dass  dieselben  nicht  allzustrenge  von  einander  abgegrenzt  werden 
könnten,  vielmehr  durch  zahlreiche  Zwischenstufen  ineinander  zu 
übergehen  scheinen. 


0  Rnst,  Handbuch  der  Chirurgie.  1832. 

27  ♦      (1) 


328  Hajek. 

Mit  der  Aufstellung  verschiedener  klinischer  Begriffe  schlich 
sich  auch  die  Auffassung  von  ätiologisch  differenten  Processen  ein ; 
es  war  dies  zu  einer  Zeit,  wo  die  Einsicht  in  das  Wesen  der 
Krankheitsprocesse  nur  durch  die  Beobachtung  am  Krankenbette 
ermöglicht  werden  konnte. 

Indem  aber  durch  die  pathologisch-anatomischen  Unter- 
suchungen ein  neuer  Behelf  geschaffen  wurde,  um  dem  Wesen 
der  Krankheitsprocesse  näher  zu  rücken  und  letztere  in  ein 
System  zu  bringen,  erkannte  man  bald,  dass  zwischen  der  Haut- 
entzündung, welche  in  Restitution  übergeht  und  der  tiefergreifenden, 
in  ausgedehnte  Eiterung  übergehenden,  keine  qualitative,  sondern 
nur  graduelle  Unterschiede  vorhanden  seien. 

Die  Anhänger  der  Identitätslehre,  die  wegen  des  all- 
mäligen  U  eher  ganges  des  typischen  Erysipels  durch  zahl- 
reiche Zwischenstufen  in  die  intensiven  Phlegmonen  von  der 
Trennung  beider  Krankheitsprocesse  nichts  wissen  wollten,  sahen 
jetzt  durch  die  anatomische  Grundlage  ihre  Lehre  in  den  Vorder- 
grund gestellt.  Insbesondere  Tillmanns^)  sehen  wir  noch  im 
Jahre  1880  mit  grossem  Eifer  für  die  Identität  beider  Processe 
einstehen.  Seine  Prophezeihung  indess,  dass  die  Zeit  nicht  mehr 
fern  sei,  wo  man  alle  tiefgreifenden  propagirenden  Entzündungen : 
das  acute  purulente  Oedem  Pirogoffs,  die  Gangräne  foudroyante 
Maissoneuve's  als  tiefe  Erysipele  aufzufassen  sich  anschicken 
werde,  wollte  doch  den  meisten  Klinikern  nicht  einleuchten,  die 
trotzdem  auf  der  Trennung  beider  Krankheitsprocesse  beharrten. 
Und  so  ist  Tillmann's  sanguinischer  Ausspruch  sehr  bald  er- 
folglos verhallt. 

Der  Aufschwung  in  der  bacteriologischen  Forschung  um 
diese  Zeit  konnte  auch  für  unsere  Frage  nicht  ohne  Erfolg  bleiben 
und  es  wurde  sowohl  dem  Erysipel  als  den  Eiterungsprocessen 
überhaupt  eine  ätiologische  Grundlage  gegeben.  Es  wurden  erst 
im  Laufe  dieser  Untersuchungen  klare  Gesichtspunkte  geschaffen, 
die  eine  definitive  Erledigung  des  ätiologischen  Verhältnisses 
zwischen  Erysipel  und  Phlegmone  in  sichere  Aussicht  stellten. 
Denn  an  der  Hand  einzelner  charakteristischer  Eigenthümlich- 


^)  Tillmanns,  Erysipelas.  Dentsche  Cbii-urgie.  5.  Lieferung,  1880. 

(i) 


üeber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      329 

keiten  eines  Krankheitsprocesses,  wie  dies  in  der  klinischen  Er- 
scheinung nnd  anatomischen  Grundlage  allein  gegeben  ist,  ist 
man  noch  nicht  berechtigt  über  das  Wesen  eines  Krankheits- 
processes, ganz  bestimmte  Schlüsse  zu  machen.  Ueber  ätiologische 
Zusammengehörigkeit  oder  Verschiedenheit  lässt  sich  aber  nicht 
anders  als  an  der  Hand  der  gefundenen  Krankheitserreger 
discutiren. 

Der  erste  grosse  Fortschritt  ist  wohl  mit  der  Entdeckung 
des  Erysipelcoccus  durch  Fehleisen ^)  zu  verzeichnen. 

Diese  allein  war  schon  im  Stande,  das  Urtheil  in  gewisser 
Hinsicht  für  diejenigen  zu  sichern,  welche  eine  strenge  Unter- 
scheidung zwischen  Erysipel  und  Phlegmone  beanspruchten.  Denn 
wenn  die  Thierversuche  F  e  h  1  e  i  s  e  n's  angeblich  zeigten ,  dass 
dem  Erysipel  stets  ein  charakteristischer  Streptococcus  zu 
Grunde  liegt,  und  dass  durch  eine  Reinzucht  desselben  ohne  Aus- 
nahme nur  eine  wandernde  Entzündung  ohneEiterung  zu  er- 
zeugen ist,  so  musste  ja  doch  von  vorneherein  gesagt  werden, 
dass  zur  Eiterung  sicherlich  noch  eine  andere  Noxe  nothwendig 
ist,  als  beim  Erysipelas  vorhanden  ist. 

Und  in  der  That  wurde  bald  durch  die  Untersuchungen 
Ogston's^),  Rosenbach's^)  und  Passet's*)  klar,  dass  bei 
der  Eiterung  verschiedene,  aber  stets  sowohl  in  ihrer  Form  als 
Cultur  streng  charakterisirte  Mikroorganismen  fungiren.  Es  genügt 
wohl  die  flüchtige  Erwähnung,  dass  es  besonders  derStaphylo- 
coccus  pyogenes  aureus  und  albus  und  der  Streptococcus  pyo- 
genes  sind.  Rosenbach  hat  überdies  noch  einen  Mikrococcus 
pyogenes  tenuis.  Passet  in  seltenen  Fällen  einen  dem  Fried- 
lände r'schen  Pneumoniecoccus  ähnlichen  Organismus,  femer  den 


')  Die  Aetiologie  des  Erysipels.  Berlin  1883. 

«)  A.  Ogston,  Ueber  A bscesse.  Archiv  für  klin.  Chirurgie.  1880,  Bd.  25. 
Report  upon  Micro-Organismns  in  Surgical  Diseases.  Micrococcus  Poisoning.  The 
Journal  of  Anatomy  and  Physiology  normal  and  pothologicaL  Vol.  XVI  u.  XVII, 
London  u.  Cambridge  18^2  u.  18^3. 

')Bosenbach,  Mikroorganismen  bei  den  Wundinfectionskrankheiten  des 
Menschen.  Wiesbaden  1834. 

*)  Pas  seif  Untersuchungen  über  Aetiologie  der  eiterigen  Phlegmone 
des  Menschen.  Berlin  1885. 

(8) 


330  Hajek. 

Staphylococcus  cereus  und  den  Bacillus  pyogenes  foetidus  vor- 
gefunden. Diese  letzteren  kommen   nur   sehr  wenig  in  Betracht. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  über  alle  die  Eiterung  bedin- 
genden Mikroorganismen  hier  Ausfuhrliches  mitzutheilen ,  da  ja 
die  meisten  Fragen  in  den  vorzüglichen  Monographien  der  er- 
wähnten Forscher  erschöpfend  behandelt  und  in  vielen  Punkten 
zu  einem  befriedigenden  Resultat  gefördert  worden  sind. 

Nur  eine  Art  der  bei  der  Eiterung  vorkommenden  Mikro- 
organismen soll  hier  näher  in's  Auge  gefasst  werden,  nämlich 
der  Streptococcus  pyogenes,  welcher  häufig  genug  allein 
ausgedehnte  Eiterung  und  Pyämie  bedingt. 

Dieser  Streptococcus  pyogenes  ist  nun  weder  in  seiner  Form 
noch  in  der  Cultur  mit  Sicherheit  von  dem  Streptococcus  des 
Erysipels  zu  unterscheiden.  Wenigstens  haben  die  bisherigen  Ver- 
suche zu  keinem  sicheren  Resultate  geführt ;  schon  die  Verschiedenheit 
der  Angaben  über  die  Einzelheiten  der  Culturform  von  Rosen- 
bach, Passet  und  H o f  f a  ^)  flössen  uns  gerechtfertigte  Bedenken 
über  den  angeblichen  Nachweis  der  Differenz  beider  Arten  von 
Streptococcen  ein. 

Auch  die  experimentellen  Resultate  an  Thieren  sind 
bei  den  Autoren  so  widersprechend,  dass  es  Niemand  für  er- 
wiesen halten  kann,  wenn  man  auf  Grund  dieser  Resultate  den 
beiden  Streptococcen  eine  wesentlich  differente  pathogene  Wirkung 
zuzueignen  versucht. 

Insolange  aber  in  dieser  Frage  noch  Widersprüche  bestehen 
und  keine  strengen,  allgemeine  Anerkennung  findenden  Differenzen 
zwischen  den  beiden  Streptococcen  nachgewiesen  werden,  steht 
die  wichtige  Frage  bezüglich  des  ätiologischen  Verhältnisses  des 
Erysipels  zur  Phlegmone  noch  immer  aufrecht;  denn  möglicher- 
weise hängt  es  nur  von  einem  Zufalle  ab,  wobei  bisher  unbekannte 
Bedingungen  eine  Rolle  spielen,  warum  ein  und  derselbe  Strep- 
tococcus einmal  nur  eine  oberflächliche,  in  Restitution  übergehende 
Entzündung  (Erysipel),  ein  andermal  dagegen  eine  tiefer  greifende, 
in  Eiterung  übergehende  und  mitunter  durch  Pyämie  zum  letalen 
Ausgange  führende  Entzündung  (Phlegmone)  erzeugt. 


>)  Hoffa,  Fortechritte  der  Hedicin.  1886,  Bd.  4,  Nr.  3. 

(4) 


üeber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      331 

Ich  habe  die  vorliegende  Frage  über  Anregung  des  Prof. 
Weichselbaum  zu  lösen  gesucht  und  hierbei  auf  folgende  drei 
Punkte,  welche  in  der  gegebenen  Reihenfolge  erst  durch  den 
Verlauf  der  Untersuchung  bedingt  wurden,  Rücksicht  genommen : 

1.  Gibt  es  einen  Unterschied  zwischen  dem  Streptococcus 
des  Erysipels  und  der  Phlegmone  in  ihrer  Form  oder  Cultur? 

2.  Erzeugt  der  Streptococcus  des  Erysipels  immer  nur  Ery- 
sipel und  der  Streptococcus  pyogenes  immer  nur  Phlegmone, 
oder  kann  der  Streptococcus  des  Erysipels  gelegentlich  auch 
Phlegmone  und  umgekehrt  hervorrufen? 

3.  Liefert  der  histologische  Befund,  falls  aus  dem  zweiten 
Punkte  eine  Differenz  ersichtlich  ist,  ebenfalls  Anhaltspunkte  für 
eine  Unterscheidung? 

1.  Form  imd  Caltnr. 

Der  Streptococcus  des  Erysipels  und  der  Phlegmone  stellt 
bekanntlich  in  kürzeren  oder  längeren  Ketten  angeordnete  kugelige 
Coccen  dar,  wobei  die  längeren  Ketten  mehr  oder  weniger  ge- 
schlängelt sind.  Besonders  deutlich  sind  längere  Ketten  am  Rande 
der  mit  einem  Hofe  versehenen  Colonien  sichtbar,  wo  sie  als 
zierlich  gewundene  Schlingen  hervorragen  und  den  Colonien  selbst 
ein  charakteristisches  Gepräge  verleihen. 

Alle  Autoren  geben  einstimmig  zu,  dass  in  dem  mikrosko- 
pischen Verhalten  der  beiden  Streptococcen  kein  Unterschied  auf- 
zufinden sei,  nur  bezüglich  der  Grösse  der  Coccen  meint  Rosen- 
bach ^),  dass  die  Coccen  des  Erysipels  durchschnittlich  grösser 
seien,  als  die  des  Streptococcus  pyogenes. 

Eine  vorurtheilsfreie  Beobachtung  belehrt  uns  nur  darüber, 
dass  die  Grösse  der  Coccen  sehr  variirt;  denn  abgesehen  davon, 
dass  man  mitunter  einzelnen  Ketten  begegnet,  die  doppelt  so 
voluminöse  Coccen  haben  als  andere,  sieht  man  häufig  genug  in 
ein  und  derselben  Kette,  dass  die  einzelnen  Coccen  von  verschie- 
dener Grösse  sind.  Ich  sah  diese  Grössendifferenzen  am  meisten 
an  in  Fleischbrühe  und  auf  Kartoffeln  gezüchteten  Streptococcen 
ausgeprägt,    insbesondere   in    der  ersteren  vor  Beendigung  des 

*)  1.  c.  pag.  25. 

(6) 


332  Hajek. 

Wachsthums.  Es  kam  mir  vor,  als  wären  eiüzelne  Cocceu  3-  bis 
4mal  so  gross  als  andere.  Die  Grösse  der  Coccen  überhaupt  be- 
trägt 0-2— 0-6  (X. 

Wie  nun  Rosenbach  angesichts  des Umstandes,  dass  die 
Coccen  bei  der  einen  wie  bei  der  anderen  Art  von  so  variabler 
Grösse  sind,  einen  Grössenunterschied  constatiren  konnte,  vermag 
ich  nicht  recht  einzusehen. 

Ein  weiterer  Unterschied  zwischen  den  beiden  Streptococcen 
sollte  nach  den  Behauptungen  ßosenbach's^)  und  Hoffa's*) 
darin  bestehen,  dass  der  Erysipelcoccus  rascher  wachse  als  der 
Streptococcus  pyogenes.  Es  dürfte  diese  Frage  nur  schwer  zu 
entscheiden  sein;  denn,  wenn  Unterschiede  in  der  Wachsthums- 
schnelligkeit  überhaupt  bestehen,  so  kann  ich  wohl  sagen,  dass 
dieselben  sicherlich  unerheblich  sind  und  ihre  Beurtheilung 
mit  dem  Gesichtssinne  in  den  meisten  Fällen  geradezu  unmöglich 
ist.  Wenn  in  meinen  vergleichenden  Untersuchungen  sichtbare 
Differenzen  in  der  Wachsthumsschnelligkeit  vorhanden  gewesen, 
so  konnte  ich  dieselben  immer  auf  irgend  ein  zufälliges  Moment 
zurückfiihren.  Es  hangt  nämlich  die  Schnelligkeit  des  Wachsthums, 
insoferne  es  sich  fiir  das  freie  Auge  präsentirt,  unter  sonst  gleich- 
bleibenden Verhältnissen  erstens  von  der  Menge  des  zur  üeber- 
impfung  gelangten  Culturmateriales  ab  und  zweitens,  von  der 
Zeit,  welche  seit  der  letzten  Ueberimpfung  der  Cultur  verstrichen  ist. 

Wenn  die  Mengendifferenzen  der  überimpften  Keime  erheb- 
liche sind,  so  wird  fast  stets  eine  Verschiedenheit  in  der  Wachs- 
thumsschnelligkeit vorgetäuscht.  Man  kann  sich  hiervon  leicht 
überzeugen,  wenn  gleichzeitig  Parallelimpfungen  einerseits  aus 
einer  verdünnten  Bouillon-,  andererseits  aus  einer  Gelatinecultur 
gemacht  werden.  Da  zeigt  es  sich,  dass  die  aus  der  Gelatine 
überimpfte  Cultur  früher  und  auch  reichlicher  zu  wachsen  scheint. 
Dieses  schnellere  Wachsthum  ist  aber  nur  ein  scheinbares,  kein 
thatsächliches  und  hängt  nur  mit  der  grösseren  Anzahl  der  aus 
der  F.  P.  G. ,  respective  mit  der  geringeren  Anzahl  der  aus  der 
Bouilloncultur  auf  der  Platinöse  haften  gebliebenen  Keime  zu- 
sammen. 


*)  1.  c.  pag.  25. 
•)  1.  c.  pag.  79. 

<6) 


üeber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      333 

Man  wird  sich  bei  der  spärlicheren  Cultur  auch  überzeugen 
können,  dass,  wenn  bei  oberflächlicher  Betrachtung  noch  kein 
Wachsthum  erkennbar  ist,  mit  der  Lnpe  schon  deutlich  einzelne 
zerstreut  liegende  allerkleinste  Pünktchen  sichtbar  w^erden;  ihre 
Anzahl  ist  jedoch  so  spärlich,  die  Colouien  selbst  so  klein,  dass, 
indem  sie  keine  zusammenhängende  Trübung  bilden,  im  Beginne 
ihres  Wachsthums  der  Eindruck  für  das  Auge  verloren  geht,  zu 
einer  Zeit,  wo  bei  der  reichlich  Uberimpften  Cultur  durch  die 
ebenfalls  noch  allerkleinsten,  aber  in  grosser  Anzahl  dicht  neben- 
einander liegenden  Colonien  schon  eine  deutliche  Trübung  des 
Impfstiches  statthat. 

Ist  das  Alter  der  Generation,  d.  i.  die  seit  der  letzten 
Ueberimpfung  des  Streptococcus  verstrichene  Zeit,  eine  bedeutende, 
so  wachsen  die  Culturen  nur  sehr  dürftig,  und  eine  mehrere 
Wochen  lang  nicht  fortgesetzte  Cultur  des  Erysipelcoccus  wächst 
scheinbar  langsamer  und  dürftiger,  als  eine  schon  nach  einigen 
Tagen  überimpfte,  wenn  auch  ursprünglich  spärlicher  gewachsene 
Cultur  des  Streptococcus  pyogenes  und  vice  versa.  Dieser  Um- 
stand beruht  darauf,  dass  unsere  künstlichen  Nährböden  für  das 
Wachsthum  der  Streptococcen  bald  erschöpft  werden  und  letztere 
deshalb  allmälig  zu  Grunde  gehen.  Nach  zwei  Monaten  ist  eine 
Streptococcuscultur  in  Gelatine,  wenn  sie  nicht  überimpft  wurde, 
entweder  steril,  oder  keimt  höchstens  nur  in  einigen  Colonien  auf. 
Diese  spärliche  Anzahl  kann  nun  im  Beginne  des  Wachsthums 
in  der  obenerwähnten  Weise  ein  Zurückbleiben  im  Wachsthume 
vortäuschen. 

Ob  in  diesem  Falle  das  langsamere  Wachsthum  nur  durch 
das  Aufkeimen  der  in  geringer  Anzahl  vorhandenen  Colonien 
bedingt,  oder  ob  auch  noch  eine  wirkliche  Verlangsamung  durch 
die  lange  Nichtüberimpfung  herbeigeführt  wird,  ist  schwer  zu 
entscheiden.  Ausschliessen  kann  man  die  letztere  Möglichkeit  nicht 
ohneweiters.  Denn  wenn  im  Laufe  der  Zeit,  sagen  wir  nach 
zwei  Monaten,  in  Gelatine  die  meisten  der  Streptococcen  einge- 
gangen sind,  so  kann  man  doch  billig  voraussetzen,  dass  die 
übrigen  noch  lebensfähigen  Streptococcen  ebenfalls  auf  dem  Wege 
sich  befinden,  um  bald  zu  Grunde  zu  gehen  und,  auf  frische 
Nährsubstanz  gebracht,  sich  erst  erholen  müssen,   bevor  sie  die 

(7) 


334  Hajek. 

ihrer  Art  eigene  Schnelligkeit  und  Ueppigkeit  im  Wachsthum 
bekunden. 

Wichtig  für  unsere  Frage  ist  es  aber,  dass  die  erwähnte 
Verlangsamung  im  Wachsthum  durch  das  zu  lange  Nichttiber- 
impfen  fiir  beide  Arten  der  Streptococcen  in  gleicher  Weise 
statthat. 

Endlich  möchte  ich  die  Abhängigkeit  der  mitunter  auftre- 
tenden scheinbaren  Differenzen  in  der  Wachsthumsschnelligkeit 
von  den  oben  erwähnten  zufälligen  Momenten  hauptsächlich  aus 
dem  Umstände  schliessen,  dass,  wenn  ich  bei  vergleichenden 
Impfungen  desStreptococcus  desErysipels  und  der 
Phlegmone  sowohl  die  überimpfte  Menge  als  auch 
die  Zeit  seit  der  letzten  Ueberimpfuug  annähernd 
gleich  hielt,  ich  nie  eine  irgendwie  in  Betracht 
kommende  Differenz  in  der  Wachsthumsschnel- 
ligkeit beider  Streptococcen  constatiren  konnte. 

Nicht  minder  schwach  scheint  mir  die  Grundlage  zu  sein, 
auf  welche  Hoffa^)  das  schnellere  Wachsthum  des  Erysipel- 
Streptococcus  basirt,  indem  er  sagt,  dass  er  den  F  e  h  1  e  i  s  e  n'schen 
Erysipelcoccus,  der,  wie  aus  seiner  Beschreibung  hervorgeht,  eine 
schon  vorgeschrittene  Generation  sein  musste,  und  einen  aus  dem 
Kniegelenk  gezüchteten,  vermuthlichen  Erysipelcoccus  mit  einem 
Streptococcus  pyogenes,  frisch  gezüchtet  aus  einem  Mammaabscess, 
verglichen  und  ein  entschieden  stärkeres  Wachsthum  der  beiden 
ersteren  constatirt  habe,  trotzdem,  wie  er  meint,  „dieser  (Strepto- 
coccus pyogenes)  doch  vor  viel  kürzerer  Zeit  den  Thierkörper 
passirt  hatte  als  die  Coccen  Fehlersen's." 

Die  dem  ganzen  Vergleiche  supponirte  Anforderung  des 
rascheren  Wachsthums  des  Eiterkettencoccus,  weil  er  vor  viel 
kürzerer  Zeit  dem  Thierkörper  entnommen  wurde ,  ist  durchaus 
nicht  berechtigt.  Denn  wenn  es  auch  mitunter  vorkommt,  dass 
die  unmittelbar  dem  lebenden  Thierkörper  entnommenen  Mikro- 
organismen ein  üppigeres  Gedeihen  bekunden  als  die  späteren 
Generationen,  so  ist  dies  doch  nicht  immer  der  Fall.  Man  macht 
ebenso  häufig  die  Erfahrung,  dass  gerade  die   dem  Thierkörper 


*)  1.  c.  pag.  79. 

(8) 


Ueber  das  ätiologische  Verhältniss  des  Erysipels  znr  Phlegmone.      335 

unmittelbar  entnommenen  Streptococcen  in  den  ersten  Generationen 
spärlicher  wachsen,  als  nach  einigen,  auf  geeigneten  künstlichen 
Nährböden  fortgeführten  Generationen,  was  auch  gar  nicht  merk- 
würdig ist,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Streptococcen  im  thieri- 
schen  Gewebe ,  je  nach  dem  Stadium  des  Processes,  bald  üppig 
vegetiren,  bald  dagegen  im  Absterben  begriffen  und  nur  in 
spärlicher  Anzahl  vorhanden  sind.  Es  hängt  dann  lediglich  von 
dem  einen  der  vorhandenen  Momente  ab,  ob  auf  dem  künstlichen 
Nährboden  in  den  ersteren  Generationen  ein  intensiveres,  oder 
ein  wenig  energisches  Wachsthum  stattfinden  wird.  Man  sieht 
dies  sehr  gut  mitunter  an  excidirten  Hautstückchen  eines  Erysipel- 
randes ,  wo  mitunter  erst  nach  48  Stunden  und  selbst  nach 
längerer  Zeit  die  ersten  Andeutungen  von  Colonien  wahrnehm- 
bar werden,  während  man  sonst  bei  fortlaufenden  Ueberimpfdngen 
auf  künstlichem  Nährboden  schon  nach  24  Stunden  deutliches 
Wachsthum  zu  constatiren  vermag. 

Andererseits  hatte  ich  erst  jüngst  Gelegenheit,  von  einer 
Phlegmone  einen  Streptococcus  auf  der  Acme  des  Entzündungs- 
processes  abzuimpfen,  welcher  anfangs  ein  rascheres  Wachsthum 
zeigte  als  alle  meine  übrigen  Eiysipelculturen. 

Indem  ich  die  Voraussetzung  Hoffa's,  dass  die  dem  Thier- 
körper  entnommenen  Streptococcen  energischer  wachsen,  als  Gesetz 
nicht  bestätigen  kann,  vermag  ich  auch  die  daran  geknüpfte 
Folgerung  des  schnelleren  Wachsthums  des  Erysipelcoccus  nicht 
einzusehen. 

Ebenso  hinfallig  sind  die  Angaben  bezüglich  geringer  Form- 
unterschiede in  der  Stichcultur  der  beiden  Streptococcen.  Es 
muss  nämlich,  bevor  man  an  die  Beurtheilung  derartiger  Angaben 
geht,  berücksichtigt  werden,  dass  die  Form  der  Culturen,  je  nach 
der  Menge  der  zur  Ueberimpfung  gelangten  ßeincultur,  erhebliche 
Differenzen  aufweist,  demzufolge  aus  geringen  Formabweichungen, 
die  sehr  gut  auf  den  erwähnten  Umstand  zurückgeführt  werden 
können,  auch  kein  Schluss  auf  das  differente  Verhalten  der  beiden 
Streptococcen  erlaubt  ist. 

Impft  man  z.  B.  aus  einer  Fleischwasserpeptoncultur  einen 
der  in  Frage  stehenden  Streptococcen,  so  beobachtet  man  im 
Sommer  schon  bei  Zimmertemperatur  nach   24  Stunden  im  Impf- 

(9) 


336  Hajek. 

stich  weisßlich-opake ,  allerkleinste  ^  mit  dem  freien  Auge  eben 
noch  wahrnehmbare  bis  grieskorngrosse  Körnchen.  Diese  Körnchen, 
welche  als  Colonien  der  einzelnen  im  Impfstiche  zur  Vertheilung' 
gelangten  Keime  aufzufassen  sind  und  in  ihrer  Grösse  variiren, 
lassen  mit  aller  Bestimmtheit  erkennen,  dass  in  der  Tiefe  des 
Impfstiches  die  Colonien  am  grössten  sind,  nahe  der  Oberfläche 
am  kleinsten,  und  endlich  an  der  Oberfläche  selbst  um  den  Impf- 
stich hemm  eine  kaum  wahrnehmbare  Grösse  erreichen.  Ist  die 
überimpfte  Cultur  sehr  verdünnt  gewesen ,  dann  sieht  man  an 
der  Oberfläche  den  Hof  noch  deutlich  aus  Körnchen  zusammen- 
gesetzt; bei  einigermassen  reichlicher  Ueberimpfung  sieht  man 
jedoch  nur  einen,  den  Impfstich  unmittelbar  umsäumenden,  grau- 
weissen,  beiläufig  IV2  Millimeter  breiten  Hof,  in  welchem  keine 
Körnchenbildung  wahrnehmbar  ist. 

In  der  geschilderten  Stichcultur  der  Gelatine  manifestiren 
sich  bestimmte  Wachsthumseigenthümlichkeiten,  dieTür  alle  Strepto- 
coccen gleich  charakteristisch  sind.  Die  Colonien  werden  dort  am 
grössten,  wo  sie  in  geringer  Anzahl  und  zerstreut  liegen.  Obzwar 
nun  die  einzelnen  Colonien  an  und  für  sich  ein  beschränktes 
Wachsthum  haben ,  ist  es  doch  augenscheinlich ,  dass  die  Grösse 
der  Colonien  durch  die  nahestehenden  übrigen  beeinträchtigt  wird. 
Es  ist  dies  nicht  blos  eine  Hemmung  durch  unmittelbare  Be- 
rührung, sondern  es  bedingt  das  Dichterstehen  allein  schon  ein 
beschränktes  Wachsthum.  Letzteres  geschieht  wahrscheinlich  in  Folge 
der  Ausscheidung  gewisser  chemischer  Producte,  welche  die  un- 
mittelbar angrenzende  Nährsubstanz  zu  einem  weniger  geeigneten 
Nährboden  umändern.  Die  grösste  Hemmuog  erfolgt  indess  zweifel- 
los durch  das  sehr  nahe  Anliegen  der  einzelnen  Colonien.  Wenn 
man  mit  einer  reichlichen  Cultur  impft,  so  kann  es  geschehen, 
dass  nur  am  Rande  des  Impfstiches  eine  Körnchenbildung  wahr- 
nehmbar ist,  während  an  der  Oberfläche  der  früher  erwähnte  grau- 
weisse  Schleier  und  in  den  mittleren  Partien  des  Impfstiches  durch 
das  unmittelbare  Aneinanderrücken  eine  streifige  Zeichnung  entsteht, 
wodurch  die  Cultur  als  ein  der  Länge  nach  gefasertes,  mehr  homo- 
genes Band  erscheint,  in  welchem  keine  Körnchen  mehr  wahrzu- 
nehmen sind. 


(10) 


Ueber  das  ätiologisclie  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      337 

Das  WachBthum  ist  stets  auf  der  Oberfläche  am  spärlichsten, 
was  wohl  allseits  mit  der  anaSroben  Eigenschaft  der  Strepto- 
coccen in  Zasammenhang  gebracht  wird.  Es  ist  indess  mehr  als 
wahrscheinlich,  dass  hier  noch  das  Moment  der  Hemmung  durch 
unmittelbare  Berührung  in  Betracht  kommt.  Es  scheint  mir  ins- 
besondere auf  dem  Agar-Agar  der  Beweis  hierfür  zu  liegen,  wo 
der  Hof  um  die  Einstichsöffnung  noch  viel  zarter  als  bei  der 
Gelatine  ist,  und  aus  sehr  kleinen  ,  an  der  Grenze  des  Wahr- 
nehmbaren liegenden,  dicht  gedrängten  Colonien  besteht.  Wenn 
nun  der  Agar  einigermassen  feucht  ist,  so  kann  man  nach  einigen 
Tagen  die  von  dem  Rande  des  Impfstiches  fortgeschwemmten 
Keime  zu  deutlichen,  grauweissen,  stecknadelkopfgrossen  Colonien 
heranwachsen  sehen,  was  doch  unmöglich  wäre,  falls  durch  den 
Zutritt  des  Sauerstoffes  allein  schon  eine  erhebliche  Beschränkung 
des  Wachsthums  erfolgte. 

Man  wollte  den  Hof  um  die  Einstichsöffnung  der  Gelatine 
bei  dem  Streptococcus  pyogenes  deutlicher  ausgeprägt  finden  als 
beim  Erysipelcoccus. 

Wie  hier  insbesondere  die  Menge  des  tiberimpften  Cultur- 
materiales  massgebend  ist,  wurde  eben  betont,  und  hält  man 
dies  vor  Augen,  so  kann  man  aus  ein  und  derselben  Cultur,  in- 
dem sie  bald  reichlich,  bald  spärlich  überimpft  wird,  einen  ent- 
sprechend deutlichen ,  oder  kaum  merklichen  Hof  erzeugen, 
unterschiede  zwischen  den  beiden  Streptococcen  sind  jedoch  nicht 
zu  constatiren. 

Der  Impfstich  im  Agar-Agar  bietet  nichts  Charakteristisches ; 
das  Wachsthum  ist  hier  nicht  so  regelmässig,  der  Hof  um  den 
Einstich ,  wie  schon  erwähnt ,  sehr  zart  und  durchsichtig.  Im 
Uebrigen  ist  auch  hier  zwischen  den  beiden  Streptococcen  keine 
Differenz  ei-sichtlich. 

In  Form  von  Impfstichen  auf  dem  Agar-Agar  wachsen 
beide  Streptococcen  unregelmässig  und  spärlich.  In  den  meisten 
Fällen  der  Ueberimpfung  sieht  man  nach  48  Stunden  bei  Brut- 
temperatur nur  eine  diffuse  graue  Trübung  im  Impfstiche  selbst, 
während  in  der  Umgebung  des  letzteren  kaum  etwas  sichtbar  ist. 
Charakteristisch  für  die  Wachsthumsverhältnisse  beider  Strepto- 
coccen ist,  dass  der  Ausdruck  von  isolirter  Colonienbildung  hier 

(11) 


338  Hajek. 

ebenfalls  von  der  Art  der  Vertheilung  der  Keime  im  Impfstiche 
abhängig  ist.  Bleiben  die  Keime  in  einer  gewissen  Distanz  von- 
einander haften,  so  wachsen  sie  zu  rundlichen  Colonien  aus ;  sind 
sie  dagegen  dicht  gedrängt,  dann  sieht  man  nar  vielfach  inein- 
ander verschlungene,  netzförmig  angeordnete  Stränge  von  Ketten, 
aber  keine  isolirten,  compacten  Colonien.  Es  ist  wohl  überfltissig, 
auseinanderzusetzen,  dass  diese  Differenz  ebenfalls  auf  das  schon 
erörterte  Moment  der  gegenseitigen  Hemmung  zurückzuführen  ist. 
Erst  bei  reichlicher  Ueberimpfung  sieht  man  das  Wachs- 
thum  den  Rand  des  Impfstiches  überschreiten,  und  es  ist  dann 
ein  fast  constantes  Yorkommniss,  dass,  je  entfernter  man  von 
dem  Rande  des  Impfstiches  sich  befindet,  um  so  grösser,  aber 
auch  zerstreuter  die  einzelnen  Colonien  sind ;  erst  in  einer  gewissen 
Entfernung,  de  norma  nicht  weiter  als  1^/a  Mm.,  nähern  sich  die 
grösseren  Colonien  und  schliessen  als  Rand  das  Wachsthum  nach 
aussen  ab.  Es  kommt  nun  häufig,  aber  wie  ich  Rosenbach ^) 
gegenüber  bemerken  will,  durchaus  nicht  immer  vor,  dass  von 
dem  verdickten  Rande  nach  aussen  eine  neue  Terrasse  sich  anlegt, 
indem  vom  ersteren  zierlich  untereinander  verschlungene  Ketten 
abgehen,  um  nach  aussen  abermals  in  Colonienhaufen  sich  fort- 
zusetzen, die  wieder  mit  einem  verdickten  Rande  abschliessen. 
Es  kann  sich  dies  3— 4mal  wiederholen,  wobei  die  äusserst 
stehende  Terrasse  immer  die  am  spärlichsten  entwickelten  Colonien 
zeigt.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hängt  diese  Terrassenbildung 
mit  der  Fortschwemmung  einzelner  Colonien  einerseits  von  dem 
Rande  des  Impfstiches,  andererseits  von  dem  verdickten  Saume 
einer  abgeschlossenen  Terrasse  ab.  Auf  dieser  Flüssigkeitsaus- 
scheidung des  Agar-Agar  beruht  es  auch,  dass  die  ganze  Stich- 
cultur  gewöhnlich  eine  derart  unregelmässige  Form  annimmt,  dass 
während  an  einzelnen  Stellen  das  Wachsthum  von  den  Rändern 
höchstens  2  Mm.  weit  dringt,  an  anderen  Stellen  der  Stich  in 
die  Breite  gezogen  wird  und  zerstreut  liegende  Colonien  weit 
nach  aussen  noch  sichtbar  sind.  Offenbar  geht  die  Flüssigkeits- 
ausscheidung nicht  auf  einmal,  sondern  allmälig  vor  sich ;  daraut 
mag  überhaupt  die  Bildung  m  eh  r  e  r  e  r  Terrassen  beruhen,  während 


^)  1.  c.  pag.  23. 

(12) 


üeber  das  ätiologisclie  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      339 

wenn  von  vonieherein  sogleich  reichlich  Wasser  ausgeschieden 
wird,  die  Cultur  unregelmässig  ausfällt  und  jedwede  Spur  einer 
Terrassenbildung  verloren  geht. 

Rosenbach^)  glaubte  in  der  Stichcultur  beider  Arten  von 
Kettencoccen  charakteristische  Unterschiede  gefunden  zu  haben; 
er  sagt:  „Auf  den  ersten  Anblick  scheint  die  Aehnlichkeit  der 
Culturen  dieses  Pilzes  (Streptococcus  pyogenes)  mit  dem  Erysipel- 
pilz  eine  sehr  grosse  zu  sein.  Auch  letzterer  hat  oft,  aber  viel 
weniger  ausgesprochen,  die  Neigung,  flachere  Höfe  zu  machen, 
deren  Ränder  dann  aber  entschieden  dickere  und  namentlich  un- 
regelmässigere,  auch  opakere  und  weisslichere  Klümpchen  und 
Streifen  bilden.  Bei  weiterem  Wachsthum  ist  hier  die  Bildung 
von  Fortsätzen  oft  so  bedeutend,  dass  die  Cultur  ein  dentritisches 
Aussehen  bekommt  und  aussieht,  wie  das  Blatt  eines  Waldfarren- 
krautes,  während  man  eine  etwas  regelmässige  Cultur  des  Eiter- 
pilzes eher  mit  einem  Akazienblatte  vergleichen  kann.^ 

Dass  der  Streptococcus  pyogenes  eine  grössere  Neigung  zur 
Bildung  von  flacheren  Höfen  entwickelte,  konnte  ich  nie  heraus- 
finden. Wenn  man  bedenkt,  dass  die  geschilderte  Terrassenbildung 
einmal  deutlich,  ein  andersmal  kaum  merklich  sichtbar  ist,  dass 
dabei  die  Menge  der  überimpften  Cultur,  Beschafl^enheit  des  Nähr- 
bodens, Zufälligkeiten  in  der  Menge  des  local  ausgeschiedenen 
Wassers  eine  Rolle  spielen ,  wenn  man  ferner  sieht ,  dass  bei 
Stichen  aus  ein-  und  derselben  Cultur  auf  derselben  Agarplatte 
bei  dem  einen  Stich  die  Terrassenbildung  deutlich,  bei  dem 
an  deren  absolut  nicht  zu  finden  ist ,  so  wird  man  von  einem 
solch'  unbeständig  difl'erenzirenden  Merkmal  nicht  viel  erwarten 
können. 

ImUebrigen  wird  der  von  Rosenbach  angegebene  Form- 
unterschied der  Stichcultur  von  den  meisten  Autoren  geleugnet. 
Auch  kann  ich  seine  Behauptung  bezüglich  der  bräunlichen  Ver- 
färbung, die  dem  Streptococcus  pyogenes  allein  zukommen  soll, 
nach  zahlreichen  Versuchen,  die  ich  gemacht,  nicht  bestätigen. 
In  den  meisten  Fällen  sieht  man  überhaupt  nichts  von  einer 
exquisit    bräunlichen  Verfärbung  des  Impfstiches;    einer  gering- 


*)  1.  c.  pag.  24. 

(13) 


340  Hajek. 

fligigen  dagegen  kann  man  ebenso  gut  auch  beim  Erysipel  mitunter 
begegnen. 

Das  Wachsthum  auf  Kartoffeln  ist  sehr  spärlich  und  makro- 
skopisch nicht  sichtbar.  Die  einzelnen  Coccen  werden  hier  von 
wechselnder  Grösse  und  zeigen  ein  ungleichmässiges  Färbungs- 
vermögen. Auf  Blutserum  wachsen  dagegen  beide  Streptococcen 
sehr  gut.  Sie  bilden  hier  einen  weisslichen  Rasen  und  das  Wachs- 
thum steht  auch  nicht  so  rasch  still,  wie  auf  den  anderen  künst- 
lichen Nährböden.  Eine  Differenz  ist  aber  auch  hier  in  dem 
Verhalten  der  beiden  Streptococcen  nicht  zu  erkennen. 

Ich  hatte  überdies  noch  sterilisirten  Urin  durch  Gelatine  in 
feste  Form  gebracht  und  mit  einer  solchen  Nährsubstanz  Differeu- 
zirungsversuche  angestellt,  aber  ohne  jeden  Erfolg,  da  das  Wachs- 
thum der  beiden  Streptococcen  auf  diesem  Nährboden  ein  recht 
kümmerliches  ist,  demzufolge  ich  hier  auf  die  näheren  Angaben 
um  so  leichter  Verzicht  leisten  kann. 

Um  nichts  unversucht  zu  lassen,  entschloss  ich  mich  auch, 
eine  Reihe  von  Nährsubstanzen  anzuwenden,  die  zuerst  Büchner^) 
gelegentlich  der  Differenzirungs versuche  des  Emmerich'schen 
„Neapler  Cholerabacillus"  von  dem  letzteren  morphologisch  nahe- 
stehenden Typhusbacillus  und  einem  im  Kothe  vorgefundenen 
„Fäcesbacillus  (Brieger)"  angegeben  hat. 

Der  Werth  dieser  Nährsubstanzen  soll  nun  darin  bestehen, 
dass  man  durch  dieselben  mitunter  auch  dann  noch  den  Beweis 
von  der  Differenz  vieler  der  Bacterien  erbringen  kann,  wenn 
letztere  durch  die  üblichen  Culturverfahren  gleichartig  erschienen 
waren.  Es  kommen  bei  diesen  Versuchen  folgende  zwei  Eigen- 
schaften der  Bacterien  zur  Geltung: 

1.  Die  Fähigkeit  der  Säurebildung,  respective  der  Grad 
derselben. 

2.  Die  Fähigkeit  innerhalb  einer  Nährsubstanz  von  geeigneter 
chemischer  Zusammensetzung  Gährung  hervorzurufen. 

Um  die  Säurebildung  überhaupt,  die  Intensität  und  die 
Schnelligkeit  des  Auftretens  derselben  beobachten  zu  können,  hat 
B  u  c  h  n  e  r  zu  seinen  Nährlösungen  Lackmustinctur  zugesetzt,  welche 


*)  Buchner,  Archiv  für  Hygiene.  Bd.  III,  Hft.  3  n.  4,  pag.  417. 

(1-4) 


Ueber  das  ätiologische  VerbSltii&d  des  Erysipels  zur  Phlegmone.     341 

fto  gev^htdicb  bei  BonstJgcr  liigiitmg  des  Kährbodens  dein 
WÄclteftÄm  del-  BiaistöHteÄ  nicht  hindetlich  ist.  An  deto  RothVerden 
«ter  l)lihrsfibBtali2  n^iAifeettift  tidb  dite  ptoducifte  Säure  innerhalb 
4er  Käbl4!l0c^^tt. 

Die  Näbi^abflf^liizieb  besti^faen  aftä  ^eidchi^ittäct,  Itobüncker 
tthd  P^toÄ  ^  retuchieäettöii  PtofeentveAältnisseli.  fiö  würdö  die 
«tetÄüJfcrtiB  Bööchi-eibttng  von  det  Bereitung  diegeir  iTäbWübfitanz 
nn*  hier  zu  weit  flihr^n  und  ich  Vereise  daher  auf  die  Jtuöführ- 
lit^en,  diesbeitiglich'en  Angaben  ton  ßüctiner.  0 

Er^fthnen  will  ich  nur,  dass  die  fiatlptdchwierigkeit,  wie 
Büchner  und  Weisstir«)  betonen,  !n  der  Sterilisation  der 
Nährfltissigkeit  liegt,  und  dass  auch  die  Bereitung  im  Üanzen 
«ehr  ttttisländlich  und  zeitraubend  ist. 

lA  fs$M  nnn  m^inB  eMen  4  Verdnchisrelhen  mit  den  Hähr- 
«ttntonzen  folgende  ^uisamtnensetiung  (gtinau  na<oh  ßüchner^s 
Angabe  bereitet), 

1.  l«/ö  Rohrzucker,  OlVo  Pepton,  01%  tleisehteitrÄct, 

durch  SodalöBung  gchwadli  lalkaliscii. 
8.  fe«/^  R^hrtndter,  01%  t^epton,  <M^/o  Fleischettraet, 

durch  1%  Normalnatrönlaüge  alkalisch. 

3.  10 Vo  Rohrzucker,  0-1  Vo  Pepton,  0*1%  Jleischextract, 

durch  1%  )ft>rmalnatrönllEtnge  alkalisch, 

4.  20*/o  Rohrzucker,  O-l^'o  Pepton,  0-1%  "Pl^ischeitract. 

durch  :2Vo  l^onnalnatronlaüge  alkalisch, 
deshalb  in  Kürze  zusammen,  weil  sie  6ich  dehr  bald  liÜd  unge- 
eignet «rwies^en  haben,  indem  die  beiden  Streptococcen  in  ihnen 
lein  kaum  merkliches  Wächäthum  zeigten,  föne  eventuelle  Säure- 
ptt)dnction  konnte ,  dem  geringen  Wachsthum  entsprechend ,  nur 
eine  minimale  sein ;  Wenigstens  zeigte  sie  sich  auf  die  hläuHche 
l^'ärbnng  ^on  keinerlei  achtbarem  Sindnsse. 

Da  nun  die  Strejltoeoccen  in  einer  solch'  eiweissarmen  Äahr- 
»nbrtanfe  nicht  zur  Genüge  sicli  vermehren,  lag  es  nahe,  dieselben 
Äe«lÄndtheiie  der  IJährsubStanz  in  einer  grösseren  Concenträtion 
ihnien  dÄrfcuWeten ,  damit  sie  durch  Üppigeres  WaeVsthum  die 
ihnen  innewohnende  Eigensehaft  der  Sänreblldong  äucb  deutlicher 

0  1.  c. 

•)  Weisser,  Zeitschritt  für  Hygiene.  I.  Bd.,  Ö.Bft.,  j>ag.  339. 
Med.  Jahrbücher.  1887.  28    (15) 


'S  s 


H.jek. 

L  in  der  Tfaat  nimmt  man  wahr,  dass  bei  Benfitzimg 
ären  Menge  von  Pepton,  -  nämlich  1 — Ö'/«,    dazu  10»/o 
»^."Kohrzacker  und  0-5»/»  Fleiachextract  mit  1 — 3Vo  Nonnal- 
üiage  alkalisch  gemacht,  eine  NahrötUsigkeit  entsteht,    in 
?^nSsf!SoS^^  1^^^^°  Streptococcen  sehr  gut  wachsen  ;  auch  gelingt 
'^  rsabstanz  noch  Lackmostiiictar  zuzusetzen,  ohne  Bil- 
£  ejnaiJfifiderBchlages,  wenn  nnr  sonst  die  filtrirte  nnd  alka- 
icht4  NäbrflUssigkeit  klar  genug  geblieben   ist.     Diese 
^^üs^keiL  ist  allerdings  weniger  durchsichtig  als  die  vorigen, 
immertun  noch  geeignet,  das  beginnende  Wachsthum  in  Form 
nockiger^rttbnng,  die  Neigung  zum  Sedimentiren  hat ,    gut 


,chaem  ict 


:  ich  non  schon  in  den  ersten  geimpften  Beageoz- 
£laachea  darchsBhmttlich  nach  10  Standen  ein  Wachsthum  and 
^U^  ^^nw^^mi^  Bothßirbnng  gesehen  hatte ,  wurden  Parallel- 
im^ingen  mitBoniUoQcaltareD  der  beiden  Streptococcen 
eichmi  AUfti;  der  Geueiiitiou  mit  einer  Flatinfise  vorgenommen. 
r  ndr-^iidi^  darum  /.u  thun,  annähernd  g  I  e  i  c  h  e  Mengen 
iiäeDLÜ^ur^lf  zu  überiDijtfen.  Wenn  dies  durch  angegebene 
le'rauAii  Jiicht  streng  mathematisch  durchgeführt  wird,  so 
^t^^  flennpcii^Am  Terlässlichfiten.  Ich  habe  lümlich  schon 
^rimeil  äiitahrcn,.  d^ ,  wenn  ich  die  Bonillonreagenzgläschen  mit 
äc^tlieq!enen  ^eng^i  ein  und  derselben  Cultur  beschickte,  dann 
^t^  in  äemreiCDÜcher  ttbcriiupften  eine  für  das  freie  Äuge  sichtbare 

,.  1^  dtäubie  nun  meine  Muhe  belohnt  zu  sehen,  als  ich  trotz 

naadi  m,  iiÄyii vi ifii ■>;}>,  „      „  .  ,       ,      

decjie^ueii  Cautelenip  den  ersten  ParallelversDchen  dnrchschmttlich 

liei  4m  fiQit  ^^yaipel ,  j;eimpften  ein  stärkeres  Wachsthum  und 
dWep^prcciffind  .früher  ein  Rothwerden  der  Kährsnbstanz  beob- 
äcbtea  Konnte,  ^uch  schien  die  Trttbong  bei  den  Erysipelröhrchen 
dpa  mehr  flockiKe/,  Mim  Streptococcns  pyogenes  dagegen  eine 
laifl  mßlecidjSre  zu  sein.  Diese  Beobachtung  war  keine  Täuschung 
und^icb  haie  die  'irwa^nte  Farbendifferenz  auch  durch  das  Auge 
lnTeretj,mit,Wortigeäh  DO  Resultate  constatiren  lassen. 

^i3dM]J!f%ik%M^hi  Parallelversuche  zeigten  keinen  Unter- 
scliied  meur,  uSa  inuciti  loli  weiter  fortfuhr,  passirte  es  mir  auch, 
dass  d^Streptococcns  pTOgenes  BchneUer  wuchs,  dem  entsprechend 


Ueber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  mr  Phlegmone.     343 

die  mit  ihm  beschickte  Nährfltissigkeit  sich  Mher  roth  färbte. 
Später  ist  wieder  die  gleiche  Eigenschaft  bei  dem  Erysipelcoocns 
bemerkt  worden. 

Nach  solchen  Erfahrungen  konnte  natürlich  yon  einem 
Beweise  der  differenten  Art  der  beiden  Streptococcen  keine  Bede 
sein.  Diese  letzteren  Erfahrungen  sind  jedoch  insofeme  von 
Bedeutung,  als  wir  durch  dieselben  erfahren,  dass  wir  nicht  alle 
Factoren  in  der  Hand  haben,  welche  auf  ein  eventuell  schnelleres 
oder  langsameres  Wachsthum  gelegentlich  von  Einfluss  sein  können- 
Auch  muss  ein  solches  Resultat  bezüglich  der  Folgerungen  aus 
kleinen  Differenzen  in  der  Wachsthumsschnelligkeit  zur  Vorsicht 
mahnen. 

2.  Fathogene  Wirkung, 

Ein  kurzer  Ueberblick  der  von  den  verschiedenen  Autoren 
unternommenen  Thierexperimente  belehrt  uns  darüber,  dass 
die  mit  den  beiden  Streptococcen  ausgeführten  Infectionsversuche 
bald  eine  gewisse  Verschiedenheit,  bald  eine  Gleichheit  in  der 
pathogenen  Wirkung  zu  Tage  treten  liessen.  Angesichts  solcher 
Resultate  drängt  sich  unwillkürlich  die  Vorstellung  auf,  ob  denn 
nicht  die  von  einigen  Autoren  constatirten  Unterschiede  nur  zu- 
fällige und  vielleicht  von  bisher  unberücksichtigt  gebliebenen 
Momenten  herrührende  waren.  Es  wäre  ja  möglich,  dass  ein  Strepto- 
coccus, wenn  er  frisch  aus  dem  Organismus  gezüchtet  wird,  eine 
heftige,  z.  B.  eitererregende,  dagegen  in  späteren  Generationen 
nur  eine  erysipelähnliche  Entzündung  hervorruft.  Die  Art  der 
Inißction:  cutan  oder  subcutan,  Menge  der  infectiösen  Substanz, 
Alter  der  Generation,  könnte  ebenfalls  auf  die  Intensität  und  den 
Verlauf  des  Entzündnngprocesses  von  erheblichem  Einflüsse  sein. 
Auch  ist  noch  die  Frage  zu  berücksichtigen,  ob  nicht  der  Strepto- 
coccus von  Fall  zu  Fall,  je  nach  der  Acuität  des  Entzündungs- 
processes,  dem  er  entnommen  wurde,  eine  verschiedene  Virulenz 
zeigt,  demzufolge  die  Streptococcen  nicht  als  eine  einzige  Art, 
sondern  als  mehrere  Arten  von  verschiedener  pathogener  Wirkung 
aufzufassen  wären.  In  Anbetracht  der  erwähnten  Möglichkeiten 
oblag  es  uns,  bei  der  Vornahme  unserer  Thierexperimente  in 
zweierlei  Richtung  vorzugehen.    Erstens  mussten,   um  eine  even- 

28*    (17) 


»44  Hajtk. 


tii^e  ctiffereBte  pathogne  Wirinqg  besser  rtadil'en  m  kteBeb, 
ParallelverBaohe  diit  d^m  Sfreptoecocw  dee  {kysipeta  mid  der  FUejg:- 
mone  gemacht  werden,  und  hierbei  fiir  beide  Coocmartm  die 
eben  erwähnten,  in  Betracht  kommenden  Nebenbedingttigieii  mOg- 
Mehst  gl^h  emgehalteii  w^en.  ZwNtena  miMten  «t  deb  beiden 
Streptococeenarten  nntek'  Wechsehdeta  Webenbedingnngen  Yersafehe 
angestellt  werd» ,  um  zu  aeh^ ,  ob  überhaupt  -^  und  weim  ja 
—  Ihs  ZH  welchem  Grade  hierdorch  dai  Betnltat  dea  ExperiramteB 
beeinflnset  wird;  nnd  endlich  mnaate  mit  ans  rerachiedMen  QaeBea 
gewonnenen  StreptocoodiBartMi  experimtatirt  Vrerden. 

Für  die  Infectioiiay^rittdie  mit  d^m  Streptoeoobaa  des  Ery* 
sipels  wurden  zwei  Reihen  von  Coltnren  yerwendet  I^  ^iBte 
yerdanke  ich  der  Güte  des  Herrn  Professors Weichselbanm; 
sie  stammte  von  eineto  typische  Erysipel  des  Vorderarmes,  ans- 
gehend  yon  einer  Excoriation  an  der  Hand,  welches,  nachdem  es 
eine  Strecke  auf  d«(n  Oberarm  gewandert  war,  abbiaaste  nnd  m 
Heilung  überging.  Diese  Cultur  wurde  erst  yq^  der  d(K  Gene- 
ration angefangen  zu  Infectionsyersocbeki  yerwendet.  Eine  zweite 
Cultur  gewann  ich  yon  einem  mit  intensiy^  Schwellung  einfaer- 
gehenden  Gesichtserysipel ,  das  ttb^  den  glänzen  Stamm  ahf  die 
Extremitäten  gewandert  wwr.  Nach  gehöriger  entsprechender  Des- 
infection  der  Haut  wurde  yom  Erysipelrande  an  dem  Vorderarme 
ein  Stückchen  excidirt^  in  Agar-Agar  geworfisn  und  der  Bmt- 
temperatur  ausgesetzt.  Nach  48  Stunden  zeigten  sich  am  Bande 
des  ausgeschnittenen  Hautstückes  weisiEdiche^  opake  Körnchen^  dife, 
auf  Platten  ausgegossai,  sich  als  ein'e  Beincultur  yon  Streptococcen 
manifestirten.  Mit  dieser  Cultur  wurden  schon  yon  der  ftnfle'n 
Generation  an  Impfeersuche  ausgeftihrt 

Als  Bepräsentantm  des  Str^tococcus  pyogenes  wuMen  sechs 
aus  yerschiedenen  Entzttndungs-  oder  Eitemngsherden  gewoAnelie 
Str^tococcen  gewiüilt,  üb^iiall  war  der  Streptococcus  pyogenes 
allein  der  Urheber  des  Processes  gewesen: 

a)  Streptococcus  aus  einer  tiefen,  intermuseulät^n  PfalegmoBe 
am  lii&en  Vorderarme  eines  Mannes.  Tod  durdi  TyMme^ 

h)  Streptococcus  yon  einer  iächenbaft  mdti  ausbrsteBiden 
Entzündung  des  linken  Untersdienkels  y(M  14tagiger  Dauer, 
ausgehend  yon   einer  Decubitusstelle    am  linken   inneral   Fuss- 

(18) 


üeber  das  ätiologiBche  Yerliftltikiw  das  ErysipeU  nr  Phlegmone.     345 

t^Sebel  bei  einem  Hut  ehroniscl^Bi  Morbü8  Brightä  bebafteten 
MeMchen.  Die  Seetion  ergab  am  Unterecheakel  nuF  Schwellmig 
de?  Haut  imd  serftoe  Sxsadation  im  siibcataneB  Bindegewebe, 
nirgends  aber  ^tenmg. 

o)  StF^ptoeoccns  ans  einer  phlegmonösen  Entzündung  des 
reohten  Unterschenkek.  Das  klinische  Bild  war  dem  eines  Ery- 
sipels frappant  ähnlich ;  Tod  durch  Pnenmonie.  Am  rechten  Unter- 
schenkel die  Haut  geschwollen,  doch  oberiächlich  nirgends  Eiterung. 
Erst  nach  tieferem  Einschneiden  sieht  man  das  Unterhantzell- 
gewebe anf  weite  Strecken  eiterig  infiltrirt  und  necrosirt. 

d)  Streptoeoccns ,  gezüchtet  aus  einer  lobulären  Pneumonie 
bei  l^^us  abdominalis  in  cler  3.  Erankheitswoche. 

e)  Streptococcus,  geztlchtet  aus  einer  lobulären  Pneumonie, 
bei  einer  Endocarditis  ulcerosa  der  Mitralklappe;  letztere  war 
durch  den  Staphylococcus  pyogenes  aureus  bedingt. 

f)  Streptococcus  aus  einer  sogenannten  idiopathischen,  acuten, 
flhrinös-eitrigen  Peritonitis  bei  einem  95jährigen  Mädchen,  welche 
nach  7  Tagen  zum  Tode  gelUhrt  hatte. 

Der  Chari^kter  der  „Reinculturen^  wurde  durch  Ausgiessen 
auf  Platten  sichei^estellt.  Es  wurden  zu  Impfzwecken  nur 
Kanihehenohren  verwendet,  die  wegen  ihrer  Zartheit  und  Dorch- 
sbheinbarkeit  zu  vergleichenden  Untersuchungen  recht  gut  ge- 
ei^et  sind. 

Von  den  geübten  Methoden  der  Impfung  war  die  subcutane 
die  häufigste ;  es  wurden  Gelatine-  und  Agar-Agar-Cultnren  in  steri- 
lisirtem  Wasser  bis  zur  milchigen  Trübung  des  letzteren  auf- 
gesöhwemmt,'  davon  2-rrTlO  Theilstriche  einer  nach  Koch  modi- 
ficirten  P  r  a  y  a  zische  Spritze  subcutan  iigicirt.  Auch  Bouillonculturen* 
wurden  gebraucht. 

-  Andere  Kaninchen  in  geringerer  Anzahl  wurden  cutan  in 
der  Weise  geimpft,  dass  die  Haut  an  3 — 4  stecknadelkopfgrossen 
Stellen  der  Oberhaut  entblttsst  und  an  den  betreffenden  Stellen 
eine  eoncentrifte  Beincuhur  eingerieben  wurde. 

Ich  habe  aus  guten  Gründen  die  subcutane  Infection  der 
cutaxien  vorgezogen  und  auch  die  erwähnte  eutane  Infection  statt 
der  Impfstiche  mit  der  inficirten  Nadel  in  die  Haut  apgewandt. 
Indem  ich  vor  meinen  systematischen  Parallelversuchen  zur  Orien- 

(19) 


346  Hajek. 

tirung  in  verschiedener  Weise  Impfnng;en  yersncht  habe,  erfnhr  ieh^ 
dass  auf  Impfetiche  mit  den  beiden  Streptococcen  die  Souadnchen- 
ohren  sehr  häufig  reactionslos  bleiben,  oder  nur  eine  geringfügige 
Röthnng  um  den  Impfstich  auftritt,  seltener  dagegen  ein  ausge- 
dehnterer, wandernder  Entzttndungsprocess  folgt,  wie  ja  dies  auch 
Passet^)  gefunden  hatte.  Besser  reagiren  schon  die  Eaninchen- 
ohren,  wenn  man  statt  der  Impfstiche  an  von  der  Epidermis  ent- 
blössten  Stellen  eine  Keincultur  einreibt.  Ich  konnte  auf  die  cu- 
taue  Impftmg  nicht  verzichten,  weil  zwischen  ihr  und  der  subcutanen 
Application  ein  differenter  Verlauf  des  Entztindungsprocesses  nicht 
von  vorneherein  auszuschliessen  war.  Fast  constant  reagiren  die 
Kaninchen  auf  die  subcutane  Iigection  mit  einer  typischen 
Entztindungsform,  und  deshalb ,  sowie  auch,  weil  bei  ihr  die  zur 
Verwendung  gelangte  Menge  der  Eeincultur  sich  gut  bestimmen 
lässt,  was  bei  meinen  Parallelversuchen  von  Wichtigkeit  war, 
wählte  ich  vorzugsweise  diese  letztere  Methode. 

Die  Eaninchenohren  wurden  vor  der  Impfung  rasirt,  mit 
Seife  und  Sublimat  gründlich  gereinigt,  das  Sublimat  mit  auf- 
gegossenem Alkohol  und  Aether  entfernt;  die  Spritze  war  vor 
dem  Gebrauche  sorgfaltig  sterilisirt  worden.  Ich  kann  hier  wohl 
die  Reproduction  der  Versuchsprotokolle  unterlassen;  ich  halte 
es  für  zweckmässiger,  das  Gesammtergebniss  mitzutheilen  und 
den  von  der  Regel  abweichenden  Verlauf  einzelner  Fälle  im 
Speciellen  zu  würdigen. 

A.  Erysipel. 

Zwanzig  Eaninchenohren  wurden  mit  2 — 10  Theilstrichen 
einer  in  sterilisirtem  Wasser  oder  Bouillon  aufgeschwemmten 
Cultur  des  Erysipelcoccus  subcutan  inficirt.  Von  diesen  reagirten 
15  mit  einem  sogenannten  typischen  Erysipel,  wie  es  F  e  h  1  ei  s  e  n ') 
in  seinen  Experimenten  ausnahmslos  erzeugt  hat.  Es  zeigt  sich 
nämlich,  ausgehend  von  der  Einstichstelle,  eine  rosige  Färbung 
der  Haut,  die  fast  immer  die  Neigung  hat,  gegen  die  Ohrwurzel 
und  den  Nacken,  seltener  auch  gegen  die  Ohrspitze  fortzuschreiten. 
Die  grösseren  GefUsse  sind  stark  injicirt,  die  entzündliche  Röthe 

•)  l  c.  pag.  39. 
■)  1.  c.  pag.  17. 
(ao) 


üeber  das  ätiologisclie  Yerhältnigs  des  Erysipels  zur  Phlegmone.     ^Tf* 

ist  in  der  unmittelbaren  Umgebung  der  gr()S8eren  Gefässe  am 
deutlichsten  zu  erkennen.  Ja  es  schien  mir  in  einigen  Fällen,  das^ 
die  Hyperämie,  welche,  nebstbei  bemerkt,  nicht  immer  ansgeprägx 
scharfe  Grenzen  hat,  nicht  gleichmässig  die  Haut  des  Kaninchen- 
ohres ergreife,  sondern  mehr  weniger  nm  die  grösseren  Gefass- 
stämme  localisirt  bleibe,  so,  dass  zwischen  je  zwei  entfernter 
liegenden  Gefassstammen  eine  Zone  existirt,  die  von  dem  Ent- 
zttndnngsprocesB  weniger  deutlich  ergriffen  ist  Während  die  Ent- 
zündung gegen  die  Ohrwurzel  fortschreitet,  erblassen  die  anfangs 
entzündeten  Partien,  nur  an  der  InfectionssteUe  selbst  bleibt  in 
Folge  eines  bei  dem  Einstich  erfolgten  Blutaustrittes  eine  Ver- 
färbung und  Consistenzyermehrung  übrig.  Nicht  selten  geht  der 
Process,  wenn  man  an  der  Ohrspitze  ii\jicirt  hat,  noch  beyor  die 
Ohrwurzel  erreicht  wird,  zu  Ende ;  über  sie  hinaus  lässt  sich  die 
Böthung  wegen  der  dichten  Behaarung  nicht  gut  verfolgen.  Die 
Schwellung  war  in  all'  diesen  Fällen  eine  minimale,  das  Ohr 
aufrechtstehend,  die  Hyperämie  eine  heUrothe,  das  Ohr  gegen 
das  Sonnenlicht  gehalten  durchscheinend. 

Während  in  den  erwähnten  15  Fällen  der  Verlauf  des  Ery- 
sipels ein  typischer  war,  sowohl  mit  den  allerhäufigsten  Ersehei- 
nungen  beim  Kothlauf  des  Menschen,  als  auch  mit  den  experi- 
mentellen Resultaten  Fehleisen's,  Rosenbach's  und  Hoffa's 
übereinstimmte ,  habe  ich  in  drei  anderen  Fällen  einen  wesentlich 
abweichenden  Verlauf  des  Erysipels  gesehen.  Hier  trat  im  Gefolge 
der  entzündlichen  Köthung  eine  intensive  Schwellung  des  Ohres 
auf;  der  Entzündungsprocess  wanderte  gegen  die  Ohrwurzel,  und 
nach  zwei  Tagen,  gerechnet  vom  Beginne  des  Entzttndungs- 
processes ,  hing  das  Ohr  herab.  Die  Hyperämie  war  hier  mehr 
dunkelroth,  das  Ohr  gegen  die  Sonne  gehalten  undurchscheinend. 
Der  Process  endete  in  dem  ersten  Falle  nach  6,  m  dem  zweiten 
nach  5  und  in  dem  dritten  nach  10  Tagen  mit  vollständiger 
Restitution.  Ich  hielt  es  gerade  in  diesen  Fällen  für  geboten,  von 
dem  Gewebssafte  der  geschwollenen  Eaninchenohren  abzuimpfen, 
erhielt  auch  jedesmal  eine  Reincultur  von  dem  ursprünglich  auf 
die  Ohren  verimpften  Streptococcus,  mit  welcher  Reincultur  andere 
Kaninchen  geimpft,  mit  einem  typischen,  das  heisst  ohne  er- 
hebliche Schwellung  einhergehenden  Entzttndungsprocesse  reagirten. 

(«1) 


a48  M^iek. 

In  v^^i  Fällen  der  ^Q  subculi^n  inficirtoi  Kanmoben  entitaitd 
nah^  der  EiuBticheytelle,  nachdem  das  Erysipel  fortgewa9dert  war» 
ein  circomscriptex  emtztUidlicbei:  Knoten,  der  vereiterte. 

Zehp  andere  Kaninchenohren  wurden  cntan  in  der  firilbor 
erwlDinten  Weiae  geimpft.  Se^hg  davon  reagirten  mit  einem  tj-» 
piBchen  Eiryaipel ;  zwei^  die  mit  einer  BoniUononltnr  inficirt  worden 
war^n^  blieben  refractär;  eines  reagirte  mit  einer  eben  merUic^en, 
den  gröfuseren  GMibss^n  entlang  ziebenden,  rosigen  Färbung;  einen 
endlich  starb  bald  n^cb  der  Impfung  nnd  die  Obdnction  wiea 
Tubercnlose  der  I^ungen  nach.  In  keinem  der  cntan  inficirten  FiUld 
constatirte  ich  erhebliche  SehweUnng,  und  itimmt  dieses 
Resultat  mit  dem  Fehleise n's  Uberein,  d^  meines  Wissens  nur 
cntan  inficirt  h^tte. 

Pie  Incnbationsdaner  schwankt^  bei  meinen  Thierveranehw 
fOr  das  Ejysipel  z;wischen  24  Stunden  nnd  0  Tagen.  Die  Daner 
des  Krankheitaprocesses  selbst  betrug  3 — 9  Tage ;  das  aUgemnine 
Befinden  d^r  Tbiere  war  nur  wenig  oder  gar  nicht  alterirt)  im 
Ganzen  ist  nur  eine  massig;«!  Tw^peratnrerhOhwg  des  erkra^uktoA 
Ohr^  W  conatatiren. 

Per  £inflnas  der  Menge  der  angewaadten  Cultursubstaw 
macht  sich  nur  insofern^  geltcindi  ^h  dadnroh  die  Incnbations^^it 
im  Pnrchsehnitte  yerkür^t  erscheint,  jülgemein  giltig  ist  dies  jedoeh 
nicht,  ^  in  einem  Falle,  wo  ich  8  Theilstricbe  eiuer  gut  milehif 
getrübten  Caltur  iqji^irte,  die  beginnende  Beaction  erst  am  4.  Tage 
erfolgte. 

Pie  Methpde  d^r  Impfmig  --  ob  eutan  pder  subcutan  -»^ 

ist  insQferne  von  gelang  ^  als  ich  die  mit  intensiver  Schwellung 
einhergehenden  &7«ipel  itet^  nur  bei  subcntaner  IigaQtion 
vorfand«  Natürlich  ist  die  Auzahl  der  von  mir  cntan  inficirtm 
Kauincben  eine  viel  zu  geringe,  um  daraus  mit  Sicherheit  die 
Möglichkeit  des  Auftretens  einer  intensiven  Schwellung  bei  cntaner 
Infectipn  anascbliesaen  au  k&nnen«  Auch  muss  ich  erwähnen,  dM8 
der  Beginn  des  Gr^sipels  am  ^aninchenohre  bei  subcutaner  In- 
fection  sich  ein  wenig  anders  gestaltet  ab  bei  der  cutanen.  Be- 
let^terer  seheu  wir  um  die  einzelnen  Impfstellen  eine  streng  bfh 
grenzte,  etwa  stecknadelkopfgrosse  Bötl^oug  auftreten,  die  dauu 
zusammeufliesst  und  weiter  nach  abwärts  unten  wandert.  Bei  wibr 


üeber  das  ätiologische  Yerhältous  des  Erysipels  cor  Phlegmone.      349 

üatiOMsr  Ipfeotion  tritt  dfig^en  4iQ  begim^ende  Böthung  stßtü  m 
Oii^er  aiiagedelinteraQ  Stelle  ^af,  beUHofig  entapF^heBd  der 
Ansdehnung  dea  BiaiitbackeU,  welober  bei  der  pabeutwen  Iigectim 
entatebt;  mo^  wandert  im  let^ter^q  Fi^ll^  die  ^öttmiig  ruscher 
gegen  die  Obrenwarzel 

A^^b  die  Näbreabsta^z,  welcber  die  Keineultm  des  Strepto^ 
CQ^eiis  wtati^mmt,  ist  ohpe  Bedeatimg.  Piass  in  zwei  F^ep  bei 
ontaii  geimpften  K^qincben,  wo  eine  BomUoactiltar  yerweadet 
?mrde)  die  Thiere  refraotar  g^bliebe^  sind,  ist  wahrscbeinlicb  mir 
auf  die  geringe  Anzabl  der  ia  der  yerii^pft^  Bouillon  vorbanden 
gewesenen  Streptococcen  snrüokxafUhren. 

2(wischen  den  zwei  Reihen  von  Srysipelcidturm*  ^on  denen 
«ine  von  der  30.,  die  zweite  von  der  6.  Generation  i^n  zu 
Impinngen  benutzt  wurde,  ist  kein  Unterscbied  in  dem  Inten- 
sitfttsgrade  des  Untztindungsproeesses  evident  geworden. 

Es  wurden  mit  der  zweiten  Cultur  im  Ganz ^  f^f  Kaninoben 
subeutw  inficirt,  von  welchen  vier  mit  typischem  Bjryslpel)  eines 
dagegen  mit  intensiver  Schwellung  re^tgirte  \  i^lle  anderen  Iinpfuugen 
Wftren  niit  der  ersten  {Irysipeloultnr  ansgeführt  worden.  Nur 
acbien  inir  die  zweite  Cultur  eine  etwas  grössere  Virulenz,  wenn 
mw  di^  so  nennen  darf,  dadurch  l^undzugeben,  dass  bei  ihr  die 
bf^pnnende  ßeaotion  sieh  dur^hscbnittlich  schon  nach  24  Stunden 
^giß  y  ^uch  wirkte  die  cut^e  Methode,  die  ich  dann  noch  später 
nut  dieser  Oultur  an  zwei  Kaninchen  versuchte,  pron\pter  als  bei 
der  älteren  Oultur. 

Wenn  wir  nun  die  «m  Eaninchenobre  durch  die  Infeotion 

mi^  dem  Erysipelcoccus  gewonnenen  Resultate  resumiren,  so  erbellt 
Folgendes:  Von  dw  30  inficirten  Karnincben  reagirten  ^l  nut 
l^piscbem  Erysipel,  drei  (subcutane  Infection)  boten  eine  mit 
intenpuver  Schwellung  einh^rgehende  wandernde  B4ntzlindung  d|^r, 
bei  vieren  bildeten  sich  gegen  ^  ^de  circumscripte  Knoten, 
von  welchen  zwei  (subonti^e  Infection)  vereiterten,  zwei  (cutan) 
aieh  resorbirten,  zwei  Kaninchen  (Bouitloncultur)  blieben  refractitr, 
^ines  reiigirte  nur  theilweise  und  eines  ist  llir  das  Resultast  nicht 
verwendbar,  indem  es  die  Incubationszeit  nicht  tiberlebte. 

Dieses  Ergebniss  zeigt  uns,   d^ss  das  Uinisch  sich  mani- 
festirende  Bild  des  Erysipels  ein  wechselndes  ist,  und  dass  man 

(83) 


350  Hajek, 

deshalb  nicht  berechtigt  ist,  unter  dem  Begriffe  „des  Erysipels^ 
am  Eaninchenohre  schlechthin  nur  eine  wandernde  Röthimg  ohne 
Schwellung,  die  in  Restitution  tibergeht,  zu  yerstehen. 

Es  ist  letzteres  um  so  strenger  zu  betonen,  als  man  am 
Eaninchenohre  durch  Injection  yon  Faulflüssigkeiten  und  ander- 
weitigen entzündungserregenden  Substanzen  (Ziegler)  schon  viel- 
fach wandernde,  mit  intensiver  Schwellung  einhergehende  Ent- 
zttndungsprocesse  erzeugt  hat,  sowie  auch  Eoch^)  durch  seinen 
Mäuseseptikämiebacillus  am  Eaninchenohre  einen  exquisit  wan- 
dernden, erysipelähnlichen  Process  kennen  gelernt  hatte,  welchen 
er  angesichts  dieser  ausgeprägten  Symptome  des  typischen  Ery- 
sipels als  erysipelatösen  Process  bezeichnete.  Auch  habe  ich  durch 
eine  mündliche  Mittheilung  Weich  selb  au  m's  erfahren,  dass  es 
ihm  mit  dem  Diplococcus  pneumoniae  schon  des  Oefteren  gelungen 
ist  (durch  subcutane  Infection)  am  Eaninchenohre  eine  mit  inten- 
siver Schwellung  verknüpfte  wandernde  Entzündung  hervorzurufen. 

Man  könnte  nach  dem  Gesagten,  falls  man  einer  wandernden, 
mit  Schwellung  verknüpften  Entzündung  am  Eaninchenohre  be- 
gegnete, mit  Recht  im  Zweifel  darüber  sein,  ob  man  es  mit  Ery- 
sipel zu  thun  habe  oder  nicht.  Denn  es  ist  klar,  dass,  nachdem 
wir  den  Urheber  des  legitimen  Erysipels  kennen  lernten,  wir 
anderweitige  EntztLndungsprocesse,  die  nicht  durch  den  Erysipel- 
coccus  hervorgerufen  werden,  wenn  sie  auch  klinisch  ein  erysipel- 
ähnliches  Bild  zeigen,  nicht  mehr  als  wirkliches  Erysipel  ansprechen 
können.  Das  Erysipel  ist  heute  nunmehr  ein  ätiologischer  Begriff 
geworden.  Allerdings  war  Fehleisen  in  der  glücklichen  Lage, 
indem  er  die  mit  Schwellimg  und  entzündlicher  Enotenbildung 
einhergehenden  Erysipele  nicht  sah,  auch  klinisch  sein  Eiysipel 
von  den  anderen  erwähnten,  sogenannten  Pseudoeiysipeln,  trennen 
und  seinem  Streptococcus  auch  eine  einheitliche  Wirkungsweise 
zuschreiben  zu  können,  indem  er  sagt^):  „Dieser  „erysipelatöse^ 
Process  der  Eaninchen  unterscheidet  sich  aber  nicht  nur  durch 
seinen  specifischen  Erankheitserreger ,  sondern  auch  durch  die 
schlechtere  Prognose  und  ein  in  mancher  Beziehung  abweichendes 

')  Koch,   siehe  L  ö  f  f  1  e  r ,   Mittheilimgeii   ans   dem  kaiserl.  Gesund* 
heitsamte.  «Zur  Imxnimitätsfrage'*.  I.  Bd.,  pag.  170. 
*)  1.  c.  pag.  19. 
(M) 


Ueber  das  ätiologische  Yerbältiiin  des  Eiysipels  zur  Phlegmone.      351 

Erankheitsbild.  So  bleibt  z.  B.  das  Ohr  eines  Eaninches  beim  Erysipel 
in  seiner  Form  unverändert,  beim  erysipelatösen  Proeess  dagegen 
wird  es  dicker  und  schlaffer,  die  Spitze  hängt  herab.  Bei  durch- 
faUendem  Lichte  erscheint  der  kranke  Bezirk  dnnkelroth  und 
lässt  keine  Gefösse  durchschimmern,  während  das  mit  Erysipel 
geimpfte  E^inchenohr,  gegen  die  Sonne  gehalten,  hellroth  aus- 
sieht und  erweiterte  Gefasse  zeigt.  ^ 

Indem  die  Erfahrungen  Fehleise n's  am  Menschen  eben- 
falls ein  einheitliches  Erankheitsbild  lieferten,  war  die  Construction 
der  Lehre  vom  Erysipel  gegeben.  Ueberall  dort,  wo  intensive 
Schwellung  oder  gar  Abscessbildnng  vorkommt,  hätten  wir  es 
nicht  mehr  mit  Erysipel,  sondern  mit  Phlegmone  zu  thun,  und 
dort,  wo  einem  scheinbar  legitimen  Erysipel  im  späteren  Verlauf 
Eiterung  sich  zugesellte,  half  man  sich  einfach  mit  dem  Begriffe 
der  Mischinfection,  indem  gesagt  wurde  ^  dass  der  Streptococcus 
pyogenes  häufig  mit  den  Streptoc.  erysipelatis  sich  vergesell- 
schafte (Rosen bach).^)  Natürlich  sind  sdle  derartigen  Behaup- 
tungen, insolange  keine  strengen  Differenzen  zwischen  beiden 
Coccenarten  zu  constatiren  sind,  als  Hypothesen  rein  willkürlichen 
Charakters  aufzufassen. 

Wenn  es  nun  wirklich  auf  Wahrheit  beruhte,  dass  als  Erysipel 
nur  das  aufzufassen  wäre,  was  mit  einer  wandernden  Böthe,  ohne 
erhebliche  Schwellung  und  stets  ohne  die  geringste  Abscessbildnng 
einhergeht,  während  alles  Andere  als  Phlegmone  zu  betrachten 
wäre,  so  vrttrde  meiner  Ansieht  nach  das  Suchen  nach  Unter- 
schieden zwischen  den  beiden  Streptococcusarten  eine  wenig 
dankbare  und  kaum  nützliche  Arbeit  sein. 

Indem  aber  aus  meinen  Thierversuchen  hervorgeht,  dass 
die  klinische  Erscheinungsweise  des  Erysipels  durchaus  nicht 
immer  der  Schwellung  und  Abscessbildung  entbehrt,  sondern  häufig 
übereinstimmt  mit  durch  Faulflüssigkeit  und  anderweitigen  Sub- 
stanzen hervorgerufenen  Entzündungsprocessen ,  so  kann  auch 
das  klinische  Bild  allein  nicht  mehr  als  Kriterium  des  Wesens 
des  Erysipelprocesses  angeftihrt  werden. 

Für  diesen  Verlust  der  Constanz  in  der  äusseren  Erscheinungs- 

^)  L  c.  pa«.  48. 


353  Eajek. 


weiie  bleibt  üds  indesg  die  Thataaehe,  dass  das  Erjeipel  beim 
Kawiobeii  ab  ein  ütiologisekev  Begriff  auftufttssen  ist.  Erjatpel 
ist  dort ,  wo  wir  dep  Brysipelooeeiifl  ftiden ,  und  es  wird  schon 
jetat  gut  sn  wissen  sein,  dass  aacb  andere  Noxen  einen  äbnliohen 
Kra&]|lieitaYeriaiif  erzeugen  können. 

Da.  aber  die  menschliche  Haut  anf  das  Erysipelgifk  sehr 
ähnlich  der  des  Kaninchens  reagirt  und  wir  geneigt  sind,  wegen 
dieser  Analogie  die  am  Kamnchenohre  gefimdenen  Verhältnisse 
mehr  weniger  auch  fUr  die  menschliche  Hant  ananwenden,  so  wird 
die  erwähnte  Unbeständigkeit  der  klinischen  Symptome  anch  ftlr 
das  Boysipel  am  Mensehen  in  Rechnung  zu  ziehen  sein. 

Die  Kliniker  werden  vielleicht  hierüber  ihre  Bedenken  haben 
lind  sagen,  dass  diese  AqfPassong  in  der  bekömmlichen  Benen- 
nung dessen,  was  man  als  Ehysipel  aufeufassen  habe,  eine  heil- 
lose Vermmmg  henForrufen  müsste.  Man  ist  seit  jeher  gewohnt, 
das  Brysipel  als  klinischen  Begriff  aufzuikssen  und  es  empfehle 
sich  nicht,  die  strengen  klinischen  Merkmale  eben  deshalb,  weil 
man  sie  nicht  auf  ein  constantes  ätiologisches  Moment  surttek- 
führen  kann,  anftugeben. 

Dieses  Raisonnement ,  so  berechtigt  es  von  yomeherein  er- 
scheint, wird  doch  dnrch  die  Er&hmng  gerichtet.  Denn  die  in 
Frage  stehenden  wandernden  Bntzttndungsformen  werden  beim 
Menschen  in  den  allenneisten  Fällen  nur  dnrch  einen  Streptococcus 
bedingt,  welch'  letzterer  entweder  den  Charakter  des  Brysipelcooeus 
oder  des  Streptoeoeeus  pyogenes  hat.  Entweder  wird  es  sich  in 
Folgendem  herausstellen,  dass  der  Streptoeoeeus  des  Erysipels  mit 
dem  der  Phlegmone  identisch  ist,  dann  filllt  eo  ipso  eine  strenge 
Begrenzung  der  Krankheitserscheinungen  des  Erysipels  weg ;  oder 
es  sind  zwei  versehiede^e  Arten,  und  dann  wird  es  ja  nur  darum 
zu  thun  sein ,  auf  Grund  der  erwiesenen  verschiedenen  Bigen^ 
thttmlichkeiten  eine  Differentialdiagnose  zwischen  Efysipel  und 
Phlegmone  stdlen  zu  können. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt  aber,  dass  die  dnrch  die  baoierio- 
logische  Forschung  gewonnenen  Resultate  sich  sehr  gut  n^it  den 
klinischen  Erfahrungen  in  Einklang  bringen  lassen. 

Im  Uebrigen  bestätigt  auch  die  Erfahrung  am  Krankenbette 
meine   an   dem  Kaninchenohre  gewonnenen  Resultate.   Wir  con- 
im- 


üeber  das  Itiologisclie  YerhUtitin  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      353 

Btatiten  nämlicli  sehr  häHfig^  daes  das  Eiympri  ded  Metoschen, 
mög^i  wir  das  Bild  desl^lMßn  kliniBcli  noch  so  stifimge  formulii^i^, 
sowohl  in  Beeng  der  Intmaität  als  EiLtensit&t  yersehiedene  Grade 
anfweist.  Die  Waatdemng  als  eines  def*  Haii)^tiiiotaiente  ist  i&  dirti 
einen  Falle  zweifellos  ansgiepri^,  insbesondinre  bei  Erjrsipelen, 
die  tiber  den  grSssten  Theil  dl^s  Eöipeiis  ferfwandern;  in  eilran 
and^^n  Falle  dageg^  sieht  mto  das  F(»tBchl^iteA  bald  ai^öreii. 
Auch  die  mit  d^  Hyperimie  einherg^ende  6chweUm%  ist  rer- 
schied» :  bald  toanifeetiit  sieh  der  Bahd  des  Eijrsipels  hh  scharf 
begrenzter^  über  das  NireaU  d^  normalen  Hant  l^rhahoae]:  Wall, 
biald  Terfla<At  rieh  der  SiTripelraiid  alhnalig  gegen  ffie  norinale 
Hant.  Insbesondere  beim  Gesiditsetysfpel  haben  wir  h&tfig  Ge- 
legenheit, tii»  bedeateHde  entafindliche  Schwrilnng  in  imiMatiMa 
and  hier  wiefder  Vo^nngsW^se  an  den  ob^^  AngeliKdelii  und  der 
Wange^  was  wohl  nftit  der  Lo<&^faeit  des  snbetitaiien  Zellgewebes 
im  Znsammenhang  Steht.  Die  fast  bretthafte  Inffittatiob  der 
Wangenwei<Atheile  ist  kein  seltenes  YorkomBibiss.  Es  beweisen 
diese  Dinge  ^ben^  dasS  anch  beim,  mMsdUicfaeti  Erysipel  dw^ehans 
nicht  itnmei*  eine  ganz  gleichförmige  Erscheinangsweise  im  Ver- 
laufe des  Kitaikheitsproeesses  zn  beobachten  ist 

B.  iPhlegttione  (Stireptococctis  j)yogei)ife8  Rosenbach). 

•94  Kannicihenohren,  die  als  Pai^telTersnelie  zu  den  mit  dem 
Eiyripelcbocaft  ioifidrteti  Kaninchen^  mit  dein  Streptococcas  pjrog^nes 
inficirt  wntden,  zeigten  in  den  meisten  Fällen  einen  intenriven 
Entzttadtagflptocesa,  der  sich  in  Folgendem  äusserte: 

In  der  gHtosten  Anzahl  der  FAUe  entsteht  schon  nach 
24  Standen  an  die  Einsfichstelle  ^e  äitensive  RMhni^,  welcher 
sich  bald  auch  eine  erhebliche  Schwellung  zugesält  Die  Ent- 
afindung  trandeA  atieh  hier  gegen  die  Ohrwnrael,  schreitet  aber 
auch  gegen  die  ^itze  fort,  wenn  man  dm  Einq[)ritaQBg  in  einiger 
EhtferAMg  dattm  ausgefthH  hat.  Nach  4Ssttttfdig«-  Daief  ^- 
rrnht  tief  Process  gewöhnlich  scfao^  die  Ohrtmrzei ,  wobd  die 
SehweUfmg  das  ganae  Ohi*  betriAt,  letzteres  in  Folge  seines 
Gewidvtes  herabhftngt  und  in  hochi^rtfd^ien  Fällen  eineh  unfbntn- 
liehen  Fleischklumpea  niiflit  tinahnUdh  sieht  | 

(87)  I 


364  Hajek. 

Die  Hjperäinie  ist  sowohl  auf  die  grösseren  als  kleineren 
Gefässe  ausgedehnt,  das  Ohr  sieht  livid  ans  iind  ist,  gegen  die 
Sonne  gehalten,  nndorchscheinend.  Erst  mn  den  Zeitpunkt,  als 
Röthnng  nnd  Schwellung  ihren  Höhepunkt  erreicht  haben,  sieht 
man  an  circumscripten  Stellen  die  Haut  sich  weisslich  yerfärben, 
welche  dann  an  einem  Punkte  platzt  und  auf  Druck  eine  geringe 
Menge  dicklichen  Eiters  und  einer  hiernach  folgenden,  trflben, 
serösen  Flüssigkeit  entleert;  die  weisslich  yerfarbten  Stellen  sind 
necrotische  Partien  der  Haut.  Das  Secret  trocknet  dortselbst  zu 
festhaftenden  Krusten  ein,  nach  deren  Abfallen  mitunter  eine 
geringe  Mengen  Eiters  secemirende  Geschwttrsfläche  entsteht. 
Auch  Blasen  serösen  Inhalts  von  Linsen-  bis  Haselnussgrösse 
sind  durchaus  nicht  seltene  Ergebnisse.  Die  Blase  pflegt  zu  platzen 
und  das  biossliegende  Corium  zu  einer  brilunlichrothen  Elruste  zu 
vertrocknen.  Zur  Blasen-  und  Abscessbildung  kommt  es  indess  nicht 
in  allen  Fällen.  Ich  sah  sie  in  den  34  Fällen  nur  lOmal.  Der 
Grund  daftlr  därfte  in  dem  Umstände  zu  suchen  sein,  dass  die 
meisten  mit  dem  Streptococcus  pyogenes  inficirten  Kaninchen  den 
Entzilndungsprocess  nicht  überleben,  sondern  gewöhnlich  schon 
vor  der  Acme,  beyor  noch  die  Schwellung  ihren  Höhepunkt  er- 
reicht hat,  crepiren.  Eine  grössere  Anzahl  der  Fälle  zeigt  nur  eine 
intensiye  Hyperämie  mit  mehr  oder  weniger  hochgradiger  Schwellung 
und  mit  ausgeprägter  Wanderung ;  ich  will  jetzt  schon  bemerken, 
dass  diese  Entzündnngsbilder  den  mit  entzündlicher  Schwellung 
einhergehenden  Erysipelen  frappant  ähnlich  sind.  Der  Ausgang  in 
Restitution,  was  hier  der  seltenere  ist,  geht  nur  allmälig  yor  sich. 
Es  bleibt  noch  längere  Zeit  eine  massige  Verdickung  des 
Ohres  zurück,  und  es  erhält  das  Ohr,  besonders  in  den  Fällen, 
wo  mehrere  Krusten  sich  bildeten,  eine  pergamentartige  Steife 
und  Brttchigkeit. 

Nach  der  cutanen  Methode  habe  ich  fünf  Kaninchen  inficirt. 
Alle  ftanf  bekamen  eine  mit  intensiver  Schwellung  einhergehende 
Entzündung,  bei  emem  trat  überdies  an  mehreren  Stellen  eine 
Necrose  der  Oberhaut  mit  Abscedirung  ein.  Ja  an  einer  Stelle 
der  von  der  Epidermis  entblössten  Haut  entstand  eine  die  ganze 
Dicke  des  Ohres  durchsetzende  Necrose,  wobei  das  betreffende 
Stück  herausfiel  und  das  Ohr  ein  Loch  hatte. 

(28) 


üeber  das  itiologisclie  YerhUtniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.     355 

Die  Incnbationsdauer  ist  fbr  die  meisten  Fälle  bei  dem 
Streptococcus  pyogenes,  wie  schon  erwähnt,  kaum  länger  als 
24  Standen.  Eine  kürzere  Inoabationszeit  ist  ein  häufigeres  Er- 
gebniss,  als  eine  48  Standen  und  darüber  dauernde.  Das  Allge- 
meinbefinden ist,  entgegen  den  mit  dem  Erysipelcoccus  inficirten 
Kaninchen,  in  den  meisten  Fällen  sehr  stark  alterirt.  Wahrend 
die  mit  dem  Erysipelcoccus  unter  ganz  denselben  Bedingungen 
inficirten  Thiere  während  der  ganzen  Zeit  der  Incubation  und 
selbst  während  des  floriden  Entziindungsstadiums  mehr  weniger 
munter  umherlaufen,  yerkriechen  sich  die  mit  dem  Streptococcus 
pyogenes  inficirten  Kaninchen  sehr  bald  in  eine  Ecke  ihres 
Wohnraumes,  lassen  den  Kopf  hängen  und  zeigen  nur  w^g 
Neigung  zur  activen  Beweglichkeit.  Nur  einige  Male  sah  ich, 
dass  die  Thiere  einige  Stunden  Tor  ihrem  Ende  clonische  Krämpfe 
im  Nacken  bekamen.  Ich  habe  bei  den  mit  Erysipel  inficirten 
Kaninchen  die  Restitution  als  den  gewöhnlichen  Ausgang  be- 
zeichnet Es  können  wohl  auch  diese  Thiere  crepiren,  aber  fast 
regelmässig  erst  einige  Zeit  nach  überstandenem  Processe.  Nie 
fand  ich  indess  bei  Obduction  der  Thiere  irgend  eine  makro- 
skopische Veränderung  der  inneren  Organe,  welche  mit  dem  über- 
standenem Erysipelprocesse  in  irgend  einem  causalen  Zusammen- 
hange zu  bringen  wäre,  man  findet  überhaupt  keine  Todesursache 
und  vor  Allem  keine  Milzschwellung. 

Die  grössere  Anzahl  der  mit  einer  gut  milchig  getrübten  Cultur- 
aufschwemmung  des  Streptococcus  pyogenes  inficirten  Kaninchen 
crepirt  vor  der  Acme  des  Entzündungsprocesses,  gewöhnlich  am 
3.  oder  4.  Tage  nach  der  Infection,  seltener  erst  am  6.  oder 
7.  Tage.  Der  Obductionsbefund  erweist  fast  constant  eine  Milz- 
schwellung, die  ihrem  Grade  nach  allerdings  yerschieden  sein 
kann,  aber  fast  constanter  noch  punktförmige  bis  stecknadelkopf- 
grosse Hämorrhagien  und  luftleere,  verdichtete  Herde  in  den 
beiden  Lungen.  Im  Herzblut,  in  der  Milz  und  in  den  erwähnten 
Partien  der  Lungen  findet  sich  der  Streptococcus  vor. 

Ich  möchte  hier  einige  Bemerkungen  einschalten  bezüglich 
der  schon  früher  erwähnten  Frage,  ob  nicht  ein  yerschiedener 
Grad  der  Virulenz  den  Eiterkettencoccen  zukommt. 

CW) 


8b6  Hmjek. 

£8  hät^  die  BeaütwoKtag  dieser  Frage  daton  ab,  was 
ttaü  BBler  dem  Giiidiiiiti^Bciiede  Terstaiideii  haben  will.  W^ti 
vHr  xük%  YorsteAen,  daas  der  eine  Streptoeoccm  pyoge&ei  stiAe 
nur  eine  enttündliehe  SchweUang,  ein  anderer  dagiegen  dneb 
eidnetanlen  inte&myen  EntEttndtmgsproiceBs  mit  Eiterung  bervor- 
mft)  diM-  erMere  ohne,  der  lem»%  mit  todilicfaem  AnUg^ng,  to 
mfteaen  wir  zogebeh,  daas  in  diesem  Sinne  ^n  Unterschied  in 
der  Yirolenz  nicht  zn  constatiren  ist  Dagegen  ist  nicht  zu  leognen^ 
daüs  t^iiMlUe  Stiieptoeoecen ,  Wenn  avch  local  keine  ton  deb 
ftbrigen  verschiedene  Wirkungsweise  äosiem,  denselbeb 
ProcesB  in  kttrserer  ZSeit  mit  fast  sicherem  todttichen  Ansgange 
heryortnfen.  So  ist  bei  ge^^rissen  Streptococcen  das  Stadintn 
der  1^abaä(m  kanm  Knger  als  12  Stunden,  das  Allgemeih- 
beA^leti  sd^  vor  Ablauf  der  fiocnbution  Wesebflich  vetftndeit, 
die  entzündliche  Sdi#ellulig  hat  sch<m  nach  34  Ständen  fiüt 
das  ganze  Ohr  etteicht  und  die  Thiere  crepiren  48  bis  72 
Standen  nach  der  Infedion.  In  d^  inneren  Organen,  namentlieh 
in  Lunge  und  Milz  ^dc^  sich  die  schon  oben  erwahnfa^  Ver- 
änderungen. Von  meinen  angewandMi  CuRuren  erwiesen  sieh 
insbesondere  der  Streptococcui^  pyogenes  „d^  und  ^e*  sehr 
deietSr.  Von  den  6  mit  4  Thdlstrichen  einer  Prayä^'schen 
Spritne  tnficirten  Eankichen  ftberlebte  keines  den  dritten  Tag. 
Ich  glaube  aber  nicht,  dasi  trfr  ans  Solche  Düferenzeh  in  der 
WirkuBgstfeise  schon  berechtigt  sind,  auf  verschiedene  Alien  der 
Sdrq[)tococcen  zu  schliessen,  obwohl  wir  vorläufig  nicht  im  Stande 
sind,  irgend  welche  plausible  Erklärungsgründe  für  diese  Ver- 
schiedenheit anzugebw. 

Wir  wdlen  nmr  einzdne  Punkte  dnr  durA  den  Streptococcus 
pyogenes  hervorgrarufmen  Ebtztindui^bilder  näher  würdigen.  Als 
ehatakteristiMhes  Moment  für  den  hicalen  Verlauf  des  Enta&ndungft* 
pfocesses  fiffi;  anoh  hier  die  Wanderung  au^  und  zwiu*  ebenso 
deuilieh,  wie  beim  Erysipel  Es  stimmt  dieses  Symptom  nnt  der 
Erfahrung  Passet^  ^),  veHrägt  sich  aber  durohaioB  nicht  mit  den 
Besäitalen  Rosenbaeh's^)  imd  Hoffii's,  die  eine  circumscripte 
Abscessbildung  bei  dem  Streptococcus  pyogenes  constalir»  konnten. 

<)  1.  c.  pa^.  89. 
•)  1.  c.  pag.  48. 

fso) 


üeber  das  ätiologische  Verhältniss  des  Erysipels  znr  Phlegmone.      357 

Ich  sah  eine  solche  niemals ;  die  Abscessbildung,  respective  Eiterung, 
trat  immer  erst  auf  der  Acme  des  Entzündungsprocesses  anf,  zn 
einer  Zeit,  in  welcher  die  Haut  in  grösserer  Ausdehnung  entzünd- 
lich geschwollen  war. 

Es  fehlt  indess  auch  nicht  an  Stimmen,  die  den  auffallend 
erysipelatösen  Charakter  der  Streptococcus-Phlegmone  hervorheben. 
So  hat  schon  0  g  s  1 0  n  ^)  betont,  dass  die  durch  den  Streptococcus 
hervorgerufene  Phlegmone  zum  Unterschiede  von  der  durch  den 
Staphylococcus  bedingten  nur  wenig  Neigung  habe,  Eiterung  zu 
erzeugen;  es  komme  vielmehr  dem  Streptococcus  pyogenes  die 
Fähigkeit  zu,  lange  in  dem  Gewebe  vorzudringen  und  ausgedehnte 
intensive  Schwellung  hervorzurufen,  bevor  es  zur  Eiterung  kommt. 
Wir  werden  später  bei  der  histologischen  Untersuchung  noch  viel- 
fach Gelegenheit  haben,  uns  davon  zu  überzeugen,  dass  diese 
Beobachtung  in  jedweder  ihrer  Einzelheiten  richtig  ist.  Passet 
betont,  dass  er  ausser  der  etwas  intensiveren  Böthung  und 
Schwellung  bei  dem  Streptococcus  pyogenes  kein  differentes  Ver- 
halten des  letzteren  von  dem  Streptococcus  des  Erysipels  con- 
statiren  konnte.  Man  braucht  nicht  viel  zu  erwägen,  um  einzu- 
sehen, dass  ja  unsere  Resultate  bezüglich  des  localen  Entzündungs- 
processes fUr  die  meisten  Falle  auch  keinen  anderen  Unterschied 
ergaben,  indem  ja  die  Eiterung  und  Necrose  der  Haut  durchaus 
nicht  constante  Vorkommnisse  waren. 

Aber  nicht  nur  die  Thierversuche,  sondern  auch  die  klinische 
Erfahrung  am  Menschen  hat  den  erysipelähnlichen  Charakter  der 
Streptococcus-Phlegmone  gelehrt.  Die  von  Eosenbach*)  citirten 
Fälle  der  Streptococcus-Phlegmone  mit  erysipelartigem  Charakter, 
wo  anfangs  von  erfahrenen  Klinikern  die  Diagnose  „Erysipel^ 
gestellt  wurde  und  erst  wegen  der  nach  einiger  Zeit  angetretenen 
Eiterung  und  ausgedehnten  Necrose  des  subcutanen  Zellgewebes 
der  phlegmonöse  Charakter  erkannt  und  die  Diagnose  geändert 
werden  musste,  sind  triftige  Beispiele  hierfür.  Auch  ich  hatte 
zwei  Fälle  von  Streptococcus-Phlegmone  am  Unterschenkel  zu  beob- 
achten Gelegenheit  gehabt,  wo  die  klinische  Diagnose  „Erysipel^ 
erst   am  Obductionstische   wegen    weitgehender  Vereiterung   des 

*)  1.  c.  pag.  39. 

•)  1.  c.  pag.  41,  42,  43  und  44. 
Med.  Jahrbücher.  1887.  29    <30 


358  Hajek. 

subcatanen  Zellgewebes   richtig   gestellt   wnrde.    Ich  werde  auf 
diese  zwei  Fälle  im  Folgenden  noch  zuräckkommen  müssen. 

Wenn  wir  nach  unseren  Thierexperimenten  die  Frage  auf- 
stellen, inwiefern  die  beiden  Streptococcen  in  ihrer  pathogenen 
Wirkung  verschieden  seien,  so  wird  es  gut  sein,  wenn  wir  die 
localen  Entzttndungsprocesse  von  der  Beeinflussung  des  Gresammt- 
Organismus  trennen  und  beide  für  sich  in  Betracht  ziehen.  Be- 
züglich der  localen  Symptome  der  Entzündung  können  wir  nicht 
ein  einziges  Moment  anfahren,  welches  bei  der  einen  Art  von 
Streptococcus  vorkäme  und  bei  der  anderen  ebenso  constant  fehlte. 
Denn  weder  die  intensive  Schwellung,  noch  das  von  den  meisten 
Autoren  aufgestellte  Princip  der  Abscessbildung  bei  der  Phlegmone 
sind  so  aosschliesslich  der  letzteren  eigen,  dass  sie  nicht  auch 
beim  Erysipel,  wenn  auch  seltener,  vorkommen  könnten.  Kurz,  es 
decken  sich  häufig  die  localen  Symptome  beim  Erysipel  mit  denen 
der  Phlegmone,  und  ist  in  derartigen  Fällen,  wenn  der  Strepto- 
coccus pyogenes  keine  Allgemeininfection  hervorruft,  in  der 
pathogenen  Wirkung  kein  Unterschied  ersichtlich. 

Wenn  man  indess  das  Gesammtresultat  der  erzielten  localen 
Entzttndungsformen  übersieht,  so  ergibt  sich  eine  Stufenleiter,  dessen 
niedrigste  Stufen  die  Bilder  des  Erysipels,  die  höchsten  die  der 
Phlegmone  einnehmen,  in  den  mitüeren  Stufen  grenzen  die  inten- 
sivsten Bilder  des  Erysipels  an  die  milderen  der  Phlegmone. 

Es  würde  dies  beiläufig  folgendermassen  lauten: 
a)  Wandernde  Entzündung  mit  geringer  Schwellung. 

(äti  ^urelcnA  vi^rfiitfim 

c)  Wandernde  Entzündung  mit  intensiver  Schwellung. 

^/  »  jj  T)  7)  T)  Ig: 

e)  Fortschreitende  Entzündung   mit  Eiterung   und  Necrosei<| 

der  Haut.  g 

Ich  will  hier  nochmals  hervorheben,  dass,  nachdem  in  den 

Versuchen  mit  den  beiden  Streptococcen  die  Bedingungen  möglichst 

gleich     gehalten   wurden,    der  Einwand,   dass   möglicherweise 

die  intensiveren  Erscheinungen  rein  zufallige,  vielleicht  von  den 

erwähnten  Momenten  herrührende  seien,  mit  aller  Entschiedenheit 

(82) 


» 

H 
Vj 


üeber  das  ätiologisclie  Verhältnias  des  Erysipels  znr  Phlegmone.      359 

sich  zurückweisen  lässt.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  ist  bei  Parallel- 
versachen  der  Unterschied  in  der  pathogenen  Wirkung  ein  recht 
hervortretender.  Die  mit  Erysipel  geimpften  Kaninchen  sind  be- 
weglich munter,  zeigen  erst  nach  mehreren  Tagen  eine  sehr  geringe 
Röthung,  während  bei  den  mit  dem  Streptococcus  pyogenes 
geimpften  Kaninchen  schon  nach  24  bis  48  Stunden  das  Ohr 
intensiv  anschwillt  und  am  4.-7.  Tage  erfolgt  der  Tod  durch 
die  Allgemeininfection.  Letzteres  Ereigniss,  nämlich  die  AUge- 
meininfection ,  welche  ich  nur  beim  Streptococcus  pjogenes  und 
nicht  ein  einziges  Mal  beim  Erysipelcoccus  beobachtet  habe,  ist 
ein  Umstand  von  grosser  Tragweite,  welcher  mir  einen  sehr 
wichtigen  Anhaltspunkt  dahin  gibt,  dass  die  beiden  Streptococcen 
in  ihren  Lebenseigenschaften  gegenüber  dem  Thierorganismus  von 
principiell  verschiedener  Bedeutung  sind.  Dass  die  Symptome  des 
Erysipels  häufig  mit  den  der  Streptococcen-Phlegmone  überein- 
stimmen, ist  allerdings  für  die  Möglichkeit  einer  klinischen  Unter- 
scheidung sehr  unbequemes  Moment,  doch  vnrd  ja  hieraus  Niemand 
für  eine  Identität  der  beiden  Streptococcen  einen  Beweis  schöpfen 
wollen. 

Für  uns  handelt  es  sich  ja  vorzugsweise  um  Entscheidung 
der  Frage,  ob  der  Streptococcus  des  Erysipels  identisch  mit  dem 
der  Phlegmone  ist,  und  da  müssen  wir  doch  sagen,  dass  durch 
die  gewonnenen  Resultate  der  pathogenen  Wirkung  ein  Unter- 
schied, wenn  man  noch  so  skeptisch  sich  verhält,  zum  mindesten 
wahrscheinlich  gemacht  worden  ist. 

3.  Histologisoher  Befand. 

Wenn  eine  Differenz  zwischen  den  beiden  Streptococcen- 
arten  durch  die  pathogene  Wirkung  wahrscheinlich  gemacht 
wurde,  so  wird  diese  durch  den  histologischen  Befund  vollkommen 
sichergestellt. 

Wenn  schlechtweg  von  dem  histologischen  Befunde  gesprochen 
wird,  so  will  ich  jetzt  schon  bemerken  dass  nicht  so  sehr  in  der 
durch  die  Streptococcen  bedingten  Gewebsveränderung,  als  vielmehr 
in  dem  charakteristischen  Verhalten  derselben  den  einzelnen  Be- 
standtheilen  des  lebenden  Gewebes  gegenüber  das  kennzeichnende 

29  •     (33) 


360  Hajek. 

Moment  liegt,  weshalb  ich  in  dem  Folgenden  stets  anf  den  letzteren 
Punkt  das  Hauptgewicht  zu  legen  gedenke. 

Ich  will  zuerst  die  histologischen  Veränderungen,  wie  ich 
sie  am  Eaninchenohre  angetroffen  habe,  schildern  und  erst  daran 
knttpfend  die  entsprechenden  Bilder  beim  Menschen  anführen. 

Wenn  wir  bei  schwacher  (beiläufig  SOfacher)  Vergrössenmg 
einen  Hautschnitt  yom  Rande  des  Erysipels  am  Eaninchenohre  be- 
trachten, so  fallt  uns  eine  Menge  theils  rundlicher,  theils  läng* 
lieber  Stränge  von  2^11infiltraten  auf,  die  insbesondere  wegen 
ihrer  strengen  Begrenzung  nach  aussen  ein  charakteristisches 
Bild  zeigen.  Bei  stärkerer  Vergrössernng  zeigt  sich  ein  jeder 
Strang  aus  einem  Zellinfiltrate  bestehend,  das  die  Lymphgefasse 
mehr  weniger  ausfallt.  Die  Grenzwand  nach  aussen  erweist  sich 
als  die  Wandung  des  Lymphgefässes ;  in  geringgradigen  Fällen 
Yon  Erysipel  sehen  wir  kaum  je  das  entzündliche  Infiltrat  die 
Lymphgefässwandung  überschreiten.  Wir  können  daher  den  Pro- 
cess  in  diesen  Fällen  strenge  als  eine  Lymphgefässentzöndung 
betrachten. 

In  intensiveren  Fällen  jedoch  findet  man  an  Stellen,  wo 
eine  massige  Schwellung  sichtbar  gewesen,  auch  die  Binde- 
gewebsspalten  betheiligt  und  es  sind  dann  nebst  den  grösseren, 
zuvor  erwähnten  regelmässigen  Strängen  in  der  ganzen  Cutis  und 
Subcutis  zerstreut,  kleinere  circumscripte,  unregelmässige 
Zellanhäufungen  zu  erkennen.  Je  näher  man  gegen  die  Epidermis 
kommt,  umso  spärlicher  sind  diese  Zelleninfiltrate,  nur  in  den 
Papillen  sehen  ;wir  dasselbe  wieder  reichlicher  auftreten.  Auch 
die  Wandung  der  Lymphgeifässe  pflegt  in  diesen  Fällen  von 
der  Entzündung  überschritten  zu  werden.  Geht  das  Erysipel  mit 
sehr  intensiver  Schwellung  —  wie  ich  es  in  den  früher 
erwähnten  drei  Fällen  beobachtet  habe  —  einher,  so  begegnet 
man  an  manchen  Stellen  einem  mehr  weniger  diffusen  Zell- 
infiltrate, in  welchem  die  stets  am  meisten  betheiligten  Lymph- 
gefasse als  Knotenpunkte  erscheinen.  Dies  rührt  daher,  dass  die 
Entzündung,  wie  schon  hervorgehoben,  stets  in  den  Lymphgefässen 
beginnt,  dort  am  intensivsten  ist  und  gegen  das  umgebende  Ge- 
webe allmälig  abklingt.  Ein  fibrinöses  Exsudat  findet  man  sehr 
selten.    Nur   in   einzelnen  Lymphgefässen  begegnet  man  in  den 

(34) 


üeber  das  ätiologische  Yerliältnisfl  des  Erysipels  znr  Phlegmone.      3gl 

intensivsten  Fällen  von  Erysipel  einem  spärlichen  Fibrinnetz.  Eine 
Necrose  der  Gewebselemente  ist  nie  zn  constatiren. 

Tafel  I  repräsentirt  ein  Erysipel  mit  intensiver  Schwellung 
(bei  SOfacher  Vergrösserong) ;  bei  a  ist  der  Knorpel;  beiderseits 
von  demselben  sehen  wir  zahlreiche  Lymphgefässe  b  mit  zelligem 
Infiltrate  erfüllt.  Die  meisten  Lymphgefässe  werden  dnrch  die 
Entzündung  überschritten  c.  In  der  Cutis  überall  circumscripte 
Zellanhäuftmgen  sichtbar  d. 

Das  eben  entworfene  Bild  entspricht  der  Acme  des  Ent- 
zündungsprocesses ,  anatomisch  der  Stelle,  wo  das  Erysipel  im 
Fortschreiten  begriffen  ist.  In  einiger  Entfernung  vom  Bande,  wo 
das  Erysipel  bereits  in  makroskopisch  sichtbarem  Ablaufen  be- 
griffen ist,  involvirt  sich  das  zellige  Infiltrat  auch  rasch,  und  zwar 
zuvörderst  in  den  Lymphgefassen ;  deshalb  findet  man  an  diesen 
Stellen  nicht  mehr  die  Zellstränge,  das  ist  die  durch  das  zellige 
Infiltrat  ectatischen  Lymphgefässe,  vor,  sondern  dieselben  sind 
mehr  weniger  coUabirt,  der  zellige  Inhalt  spärlicher,  das  Lumen 
an  mehreren  Stellen  ganz  frei.  Es  kann  wohl  keinem  Zweifel 
uDterliegen,  dass  das  rasche  Schwinden  des  zelligen  Infiltrates 
durch  die  directe  Abfuhr  mittelst  des  Lymphstromes  bewerkstelligt 
wird.  Die'Möglichkeit  der  Involution  durch  regressive  Metamorphose 
des  zelligen  Inhaltes,  wie  dies  andere  Autoren  beobachtet  haben 
wollten,  ist  wohl  nicht  zu  bestreiten,  konnte  aber  in  meinen  zahl- 
reichen Präparaten  von  ihr  keine  Andeutung  wahrnehmen. 

Was  den  Befund  der  Erysipelcoccen  im  Gewebe  anbelangt, 
80  will  ich  gleich  hervorheben,  dass  die  Constatirung  derselben 
in  den  meisten  Fällen  schwer,  in  manchen  mit  Sicherheit  kaum 
möglich  ist.  Je  frischer  der  Process  in  der  befallenen  Partie  und 
je  intensiver  derselbe  an  und  für  sich  ist,  umso  grösser  auch 
die  Chancen  des  Coccenbefundes. 

Immer  begegnet  man  den  Coccen,  die  gewöhnlich  in  kürzeren 
Ketten  von  4 — 6  Gliedern  anzutreffen  sind,  zwischen  oder  auf 
(vielleicht  in  ?)  den  Lymphzellen  liegend,  zerstreut  und  in  relativ 
spärlicher  Anzahl.  Deshalb  sind  auch  die  Lymphgefässe  der 
Eauptsitz  der  Coccen,  während  dieselben  in  den  Spalträumen 
des  Bindegewebes,  welche  von  Vielen  zwar  auch  als  der  Anfang  der 
Lymphgefässe  aufgefasst  werden,  nur  ausnahmsweise  —  auch  nnr 

(35) 


362  Hajek. 

dann  —  zn  finden  sind,  wenn  dortselbst  ein  erhebliches  Zell- 
infiltrat Yorliegt,  das  mit  dem  zelligen  Inhalte  eines  Lymphge- 
fässes  in  Verbindung  steht. 

In  den  circomscripten  Zellanhäofungen  der  Cutis  sah  ich 
im  Kaninchenohr  niemals  C!occen,  geschweige  denn  ohne  jedwedes 
Zellinfiltrat  selbstständig  im  Gewebe  auftreten. 

Um  die  Erysipelcoccen  im  Gewebe  sichtbar  zu  machen,  ist 
jedwede  Färbung  mit  einer  wässerigen  Anilinfarbstoiflüsung  gut, 
am  zweckmässigsten  erscheint  indess  die  Gramm'sche.  Nur  darf 
man  die  Entfärbung  nicht  zu  weit  treiben,  d.  h.  niemals  so  lange,  bis 
die  Schnitte  sehr  blass  oder  gar  farblos  geworden  sind,  sonstigen- 
falls  wird  man  kaum  je  in  die  Lage  kommen,  auch  nur  einen 
Erysipelcoccus  mit  Sicherheit  im  Gewebe  zu  constatiren. 

An  diesem  Umstände  scheiterten  anfangs  alle  meine  Ver- 
suche, die  Erysipelcoccen  nachzuweisen.  In  den  ersten  fünf 
Kaninchenohren  mit  experimentell  erzeugtem  Erysipel  konnte  ich 
trotz  des  positiven  Ergebnisses  der  von  zwei  Fällen  vorgenonmienen 
Abimpfung  keine  Coccen  im  Gewebe  constatiren.  Da  aber  das 
Vorhandensein  der  Coccen  durch  das  positive  Ergebniss  des 
Cultivirens  erwiesen  wurde,  musste  die  Methode  der  Färbung  als 
mangelhafte  erkannt  werden.  Durch  wiederholte  Versuche  zeigte 
es  sich  dann,  dass  der  Schnitt  nicht  ganz  entfärbt  werden  darf, 
es  dtlrfen  nicht  auch  die  Zellkerne  vollkommen  entfärbt  sein, 
weil  in  diesem  Stadium  auch  schon  gewöhnlich  den  Mikrococcen 
der  Farbstoff  entzogen  ist. 

Aus  dem  Umstände,  dass  bei  einer  Entfärbung  von  gewisser 
Intensität  auch  die  Coccen  mitentfärbt  werden,  bei  geringfügiger 
Entfärbung  dagegen  die  noch  gefärbt  gebliebenen  Zellkerne  die 
Coccen  verdecken,  erhellt  die  Schwierigkeit,  welche  sich  dem 
Nachweise  der  Coccen  entgegenstellt.  Die  geringe  Entfärbung  hat 
überdies  noch  den  Nachtheil,  dass  durch  das  Ueberbleiben  von 
kömigen  Farbstoffiiiederschlägen  eine  Differentialdiagnose  zwischen 
diesen  und  den  ohnehin  nur  spärlich  vorkommenden  Coccen 
geradezu  unmöglich  wird.  Man  muss  immer  viele  Schnitte  mit 
wechselnden  Entfarbungsgraden  untersuchen,  bis  man  mit  Sicherheit 
die  Anwesenheit  von  Coccen  zu  constatiren  vermag. 

(86) 


üeber  das  fttiologisdie  Verhältniss  des  Erysipels  Enr  PUegmone.      363 

Aus  dem  geschilderten  Verhalten  des  Erysipelcoccus  erhellt 
zumindest,  dass  das  lebende  Gewebe  für  den  Eiysipelcoecus 
keinen  besonders  günstigen  Nährboden  abgibt,  indem  er  nur 
relativ  spärlich  und  beschränkt  auf  dem  Erysipelwall  zu  finden 
ist.  Dass  wir  femer  dem  Erysipelcoccus  nur  in  den  Lymph- 
gefässen  oder  höchstens  noch  in  den  Bindegewebsspalten  immer 
nur  in  Gegenwart  von  zelligem  Infiltrate  begegnen,  zeigt  auch 
auf  einen  geringen  Grad  yon  activer  Energie;  nie  sieht  man  die 
Erysipelcoccen  das  Gewebe  direct  durchbrechen,  und  wir  müssen 
uns  daher  yon  der  pathogenen  Wirkung  des  Erysipelcoccus  die 
Vorstellung  machen,  dass  derselbe  nur  dorthin  gelangt,  wo  er 
mittelst  des  Lymphstromes  hingeschwemmt  wird,  wo  er  dann  an 
Ort  und  Stelle  die  Entzündung  hervorruft. 

Taf.  U,  bei  lOOOfacher  Vergrösserung  gezeichnet,  zeigt  uns 
aus  einem  mit  intensiver  Schwellung  einhergehenden  Erysipel  die 
Stelle,  wo  um  ein  arterielles  G^fäss  a  mehrere  Lymphgefässe  b 
gelagert  sind.  Das  zellige  Infiltrat  ist  hier  so  reichlich,  dass  die 
Lymphgefässwandungen  von  demselben  auf  ziemlich  weite  Strecken 
tiberschritten  werden  und  auch  die  Adventitia  der  Arterie  zellig 
infiltrirt  und  stark  aufgelockert  ist  c.  Und  trotz  dieses  intensiven 
Entztindungsprocesses  sehen  wir  nur  in  den  Lymphgefässen  zer- 
streut liegende  kurze  Ketten  von  Erysipelcoccen  auf  (vielleicht 
in?)  und  zwischen  den  Lymphzellen  liegend. 

Wesentlich  anders  gestaltet  sich  das  Bild  bei  dem  durch 
den  Streptococcus  pyogenes  hervorgerufenen  Entzündungsprocess. 
Auch  hier  sieht  man  häufig  die  Lymphgefasse  als  die  primär 
und  am  stärksten  betheiligten  Stätten  des  pathologischen  Processes, 
aber  durchaus  nicht  immer.  Sei  dem  übrigens,  wie  es  woDe, 
Thatsache  ist,  dass,  während  beim  Erysipel  das  zellige  Infiltrat 
der  dominirende  Factor  des  Entztindungsprocesses  ist,  bei  der 
Streptococcus-Phlegmone  die  Coccen  die  Ftihrerrolle  tibemehmen. 
Während  bei  Erysipel  das  zellige  Infiltrat  über  die  Coccen  bei- 
weitem überwiegt,  ist  bei  der  Phlegmone  gerade  das  G^gentheil 
der  Fall.  Beim  Erysipel  finden  wir  die  Lymphgefasse  mit  Exsudat- 
Zellen  vollgepfropft  und  nur  hie  und  da  auf  und  zwischen  den 
Zellen  in  relativ  spärlicher  Anzahl  Coccen ;  bei  der  Streptococcus- 
Phlegmone  sind  die  Lymphgeffüsse  mit  Coccenhaufen  erftlllt,  die 

(87) 


364  Hajok. 

dortselbst  wahre  Colonien  bilden,  nebst  ihnen  aber  gar  kein  oder 
nar  ein  sehr  spärliches  Zellinfiltrat.  Dasselbe  ist  mit  den  Gewebs- 
interstitien  der  Fall,  in  denen  wir  beim  Erysipel  gewöhnlich 
nur  einem  zelligen  Infiltrate  begegnet  sind,  während  wir  hier 
dichtstehende  Haufen  von  Coccen  finden,  die  mitunter  an  ihrer 
Peripherie  gleichwie  auf  unseren  kUnstlicben  Nährböden  schlingen- 
und  rankenförmige  Hervorragungen  zeigen.  Die  Coccen  sind  sehr 
intensiv  gefärbt  und  kann  man  das  Präparat  nach  der  Gramm- 
sehen  Methode  vollständig  farblos  machen,  ohne  dass  die  Coccen 
mitentfärbt  werden.  Der  Streptococcus  pyogenes  beschränkt  sich 
weiterhin  nicht  nur  auf  die  genannten  Stellen.  Das  Wachthums- 
vermögen  der  Colonien  ist  nach  allen  Richtungen  hin  ein  solch' 
unbeschränktes,  dass  die  Coccen  in  Form  von  dichtgedrängten 
Zügen,  allerdings  in  erster  Linie  in  der  Richtung  der  G^webs- 
spalten  sich  vordrängen,  sodann  aber  auch  ganz  unbekümmert 
um  den  Verlauf  der  Gtewebszüge,  dieselbe  nach  allen  Richtungen 
hin  durchbrechen.  Nach  und  nach  werden  alle  Partien  der  Cutis 
von  einem  engen  Netze  dicht  aneinander  gruppirter  Coccenzüge 
durchwachsen.  Auch  isolirte  rundliche  und  eckige  Colonien  sind 
in  der  Cutis  sichtbar,  die  wegen  ihrer  Grösse  und  intensiver 
Färbung  schon  bei  SOfacher  Vergrösserung  als  compacte  Flecken 
zu  sehen  sind.  Die  in  den  Lymphgefässen  wuchernden  Colonien 
durchbrechen  häufig  zu  gleicher  Zeit  an  mehreren  Stellen  die 
Lymphgefässwandungen  und  schicken  ihre  Fortsätze  radienförmig  in 
das  umliegende  Gewebe  hinein.  So  entstehen  unregelmässig  stern- 
förmige Züge  von  Coccen,  die  einerseits  die  Cutis  in  den  ver- 
schiedensten Richtungen  durchwuchem,  andererseits  durch  Aus- 
läufer mit  Coccencolonien  in  anderen  Lymph-  und  Blutgefässen 
im  Zusamenhange  stehen,  und  mehr  weniger  bei  jeder  einiger- 
massen  fortgeschrittener  Phlegmone  zu  finden  sind.  Ja,  es  scheint 
mitunter,  dass  in  dem  Gesichtsfelde  des  Mikroskopes  mehr  Coccen 
colonien  als  noch  restirende  Gewebs-  und  Entzündungselemente  vor- 
handen sind.  An  gut  entfärbten  Schnitten  sieht  man  bei  solch* 
intensiven  Fällen  schon  mit  unbewaffnetem  Auge  dunkle  Flecken 
mit  hellen  durchsichtigen  Partien  abwechseln.  Die  dunklen  Flecke 
sind  nichts  Anderes,  als  die  im  Gewebe  mitunter  zu  Stecknadel- 
kopfgrösse angewachsenen  Colonien. 

(38) 


üeber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      365 

Am  bezeichnendsten  ist  indess  die  dem  Streptococcus  pyo- 
genes  innewohnende  Eigenschaft  des  Vordringens  bei  Coccen- 
hänfen,  die  um  die  Blutgefässe  gelagert  sind,  ausgesprochen. 
Wahrend  beim  Erysipel  die  Blutgefässwände  von  einer  Coccen- 
invasion  ausnahmslos  frei  bleiben  und  ihre  Affection  höchstens 
in  einem  dichten  zelligen  Infiltrate  der  Adventitia  sich  kund- 
gibt, sehen  wir  bei  der  Streptococcus-Phlegmone  häufig  die 
Gefasswand  stellenweise  von  dichten  Gruppen  der  Strepto- 
coccen durchwuchert,  die  Gefasswand  verfällt  der  Necrose  und 
die  Coccen  fdllen  einen  bedeutenden  Theil  des  Gefässlumens 
aus.  Es  werden  Arterien  von  massig  dicker  Wandung  durch- 
wnchert,  aber  vorzugsweise  sind  die  Venen  wegen  ihrer  schwächeren 
Wandung  betroffen ;  letztere  sind  mitunter  in  ihrer  ganzen  Peripherie 
und  Dicke  in  die  Mikrococcenhaufen  aufgegangen.  Indess  sieht 
man  die  Blutgefässe  häufig  —  wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist  — 
nur  angenagt;  der  Durchbruch  derselben  ist  eine  Charakteristik 
einer  lang  andauernden,  intensiveren  Phlegmone,  und,  da  Kaninchen 
in  den  meisten  Fällen  die  Acme  des  Entzttndungsprocesses  nicht 
überleben,  wird  es  uns  nicht  befremden,  wenn  wir  dem  Durcb- 
brnche  der  Blutgefässe  doch  nur  relativ  selten  begegnen.  Es  ist 
femer  zu  bedenken,  dass  im  Gewebe  der  Cutis  die  Gefässwände 
die  verhältnissmässig  am  meisten  Widerstand  .  entgegensetzenden 
Partien  sind  und  dass  in  Folge  dessen  die  Betheiligung  der 
übrigen  Gewebstheile  schon  sehr  weit  gediehen  sein  kann,  noch 
ehe  die  ersteren  in  ihren  äusseren  Partien  von  den  Colonien 
geschädigt  sind. 

Die  primäre  Betheiligung  der  Lymphgefasse  gilt  auch  nicht  für 
alle  Fälle.  Wenigstens  sah  ich  des  Oefteren ,  dass  schon  nach 
4SstUndiger  Dauer  des  Entzündungsprocesses  die  ganze  Cutis 
durchsetzt  war  von  isolirt  stehenden  Colonien,  während  man 
gerade  in  den  Lymphgefässen  die  Coccencolonien  vermisste.  Auch 
darf  man  sich  nicht  vorstellen,  dass  die  früher  erwähnte  Aus- 
füllung der  Lymphgefässe  durch  Coccencolonien  und  der  gänz- 
liche Mangel  von  Exsudatzellen  gleich  im  Beginne  des  Processes 
statthat.  Im  Beginne  sind  die  Colonien  klein,  Exsudatzellen  können 
vorhanden  sein  und  nur  nach  und  nach  wird  ihre  Anzahl  in  dem 
Hasse  geringer,   als  die  Coccencolonien  grösser  und  reichlicher. 

(39) 


366  Hajek. 

Charakteristisch  ist  flir  die  Streptococcus-Phlegmone  die  Art 
des  Wachsthnms ;  das  Auftreten  von  Colonien  gleich  im  Beginne 
des  Processes  und  das  Unabhängigwerden  ihrer  Ausbreitung^ 
Yon  den  Lymphgefässen  und  Bindegewebsspalten.  Die  inten- 
siveren Fälle  zeichnen  sich  yon  den  milderen  Fällen  lediglich 
durch  das  reichere  Vorkommen  solcher  Coccenhaufen  und  durch 
die  Bildung  yon  Fortsätzen  aus.  Der  Unterschied  ist  somit  nur 
ein  gradueDer.  Das  Princip  des  Wachsthums  ist  yon  den  leichtesten 
Fällen  der  Phlegmone  bis  zu  den  schwersten  ein  und  dasselbe. 

Als  ich  im  Beginne  der  histologischen  Untersuchungen  die 
früher  geschilderten  Bilder  des  Erysipels  mit  den  klinisch  ähnlich 
yerlaufenden  Streptococcus-Phlegmonen  yerglichen  habe,  dachte 
ich  mir,  dass  diese  hervorstechende  Differenz  zwischen  den  beiden 
nur  auf  Gradunterschiede  zurttckzuftthren  sei,  dass  man  demnach 
bei  Erysipelen  mit  starkerSchwellungdie  gleiche  Anordnung 
der  Coccen,  wie  bei  der  Streptococcus-Phlegmone,  finden  werde. 
Das  ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall.  Taf.  n  repräsentirt  ein 
Erysipel  mit  intensiver  Schwellung.  Taf.  ni  eine  Streptococcus- 
Phlegmone  mit  massiger  Schwellung.  Ein  flüchtiger  Blick  genügt 
schon,  um  den  erwähnten  Unterschied  zu  erkennen ;  ich  fand  denn 
auch  diesen  Unterschied  bei  allen  meinen  untersuchten  Fällen 
bestätigt. 

Taf.  m,  Yergrösserung  800fach,  zeigt  das  Bild  der  Strepto- 
coccus-Plegmone  bei  massig  intensivem  Processe.  Bei  a  ist  ein 
Lymphgeföss  zum  grössten  Theile  von  Coccencolonien  erfüllt,  ohne 
LymphzeUen.  Bei  b  ist  ein  Lymphgef^s  durch  die  Coccenvege- 
tationen  durchbrochen,  letztere  wuchern  in  das  umgebende  Oewebe 
hinein.  Bei  c  sind  isolirt  stehende  Colonien  ohne  merkliche  Ent- 
zündung der  Umgebung  vorhanden.  Bei  d  bilden  dieselben  läng- 
liche, der  Längsachse  der  Fibrillenbündel  parallel  verlaufende 
dichte  Züge. 

Zu  welchem  Schlüsse  berechtigt  uns  das  geschilderte  Ver- 
halten der  Erysipelcoccen  und  des  Streptococcus  pyogenes? 

Meiner  Ansicht  nach  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  beiden  frag^ 
liehen  Streptococcen  im  Thiergewebe  ihrer  verschiedenen  Art  ent- 
sprechende, ganz  specifische  Eigenschaften  darbieten,  wie  dies  in 
der   relativ  passiven  Rolle   des   Erysipelcoccus  gegenüber  dem 

(40) 


üeber  das  ätiologische  Verhältniss  des  Erysipels  ztir  Phlegmone.      3g 7 

mächtig  das  Gewebe  durchsetzenden  und  dortselbst  ein  üppiges 
Wachsthum   kundgebenden  Streptococcus  pyogenes   gegeben  ist. 

Kurz,  das  Princip  des  Wachsthums  der  beiden 
Goccenarten  im  lebenden  Gewebe  ist  verschieden. 
Und  wenn  wir  das  lebende  Gewebe  als  einen  Nährboden  auf- 
fassen, so  müssen  wir  sagen,  dass  der  Erysipelcoccus  darin  schlecht, 
der  Streptococcus  pyogenes  dagegen  sehr  gut  gedeiht.  Ich  habe 
schon  früher  erörtert,  dass  das  scheinbar  gleichförmige  Wachsthum 
auf  unseren  künstlichen  Nährböden  noch  nichts  gegen  die  diffe- 
rente  Art  der  beiden  Streptococcen  beweist;  jetzt  will  ich  noch 
hinzufügen,  dass  es  des  Reagens  eines  lebenden  Gewebes  bedarf 
um  die  differenten  Lebenseigenschaften  derselben  zur  Anschauung 
zu  bringen. 

Nach  den  geschilderten  Befunden  des  differenten  Ver- 
haltens des  Erysipelcoccus  gegenüber  dem  Streptococcus  pyogenes 
am  Kaninchenohre  war  es  zu  erwarten,  dass  beim  Menschen 
ebenfalls  dieselben  principiellen  Unterschiede  —  vielleicht  nur 
mit  unwesentlichen  Abweichungen  —  vorhanden  seien. 

Um  aber  einen  solchen  Beweis  tadellos  sicher  zu  führen, 
ist  es  nothwendig,  dass  die  am  Menschen  untersuchten  Fälle  von 
Erysipel  und  Streptococcus-Phlegmone  auch  durch  das  Experiment 
am  Eaninchenohre  geprüft  werden;  denn  vorderhand  haben  wir 
ja  keine  anderen  sicheren  Anhaltspunkte,  um  uns  über  die  Art 
der  Streptococcen,  die  wir  beim  Menschen  vorfinden,  zu  orientiren. 
Es  ist  daher  nothwendig,  wenn  man  einen  Fall  von  menschlichem 
Erysipel  oder  einer  Streptococcus-Phlegmone  bezüglich  der  Bacterien- 
vegetation  in  der  Haut  prüft,  die  das  Erysipel,  resp.  die  Phlegmone, 
am  Menschen  bedingenden  Streptococcen  auf  das  Eaninchenohr  zu 
tiberimpfen.  Erst  durch  eine  Uebereinstimmung  der  am  Menschen 
und  Kaninchenohre  gewonnenen  Befunde  wird  ein  jedem  Einwände 
entrücktes  Resultat  erzielt  werden  können.  Ich  habe  6  Fälle  von 
menschlichem  Erysipel  untersucht;  sie  waren  alle  typische,  in 
Restitution  übergehende,  wenn  auch  in  einem  Fall  der  Tod  in 
Folge  Complication  mit  einer  Pneumonie  erfolgte. 

Es  stimmt  der  histologische  Befund  sowie  die  Art  der  Coccen- 
vegetation  vollständig  mit  dem  Befunde  am  Kaninchenohre  überein. 
In  beiden  Fällen   ist   das  Beschränktsein    des  Processes  auf  die 

(41) 


368  Hajek. 

Lymphgefasse  und  die  Bindegewebsspalten ,  das  stete  Gebunden- 
sein der  relativ  spärlich  vorkommenden  Erysipelcoccen  an  das 
zeliige  Infiltrat  zu  constatiren.  Ein  geringer  Unterschied  scheint 
mir  darin  zu  bestehen,  dass  beim  Menschen  vorzugsweise  die 
Lymphgefasse  in  der  oberen  Cutisschichte ,  weniger  die  in  der 
Tiefe  betrolBFen  werden ;  auch  ist  der  Papillarkörper  beim  Menschen 
häufiger  Sitz  einer  erheblicheren  —  jedoch  stets  auch  nur  cir- 
cumscripten-zelligen  Infiltration.  Diese  Differenzen  sind  jedoch 
unwesentliche  und  sind  zum  guten  Theile  durch  den  etwas  ab- 
weichenden Bau  der  menschlichen  Haut  von  der  des  Eaninchen- 
ohres  bedingt. 

Leider  war  ich  nur  in  einem  Falle  der  untersuchten  Ery- 
sipele in  der  Lage  (das  betreffende  Erysipel  begann  im  Gresichte 
und  wanderte  über  den  ganzen  Stamm)  durch  Ueberimpfimg  eines 
Hautstückchens  auf  Agar-Agar  eine  Reincultur  zu  erhalten  und 
mit  derselben  an  fünf  Eaninchenohren  ein  Erysipel  zu  erzeugen, 
dessen  histologischer  Beftmd  mit  dem  der  menschlichen  Haut 
vollständig  übereinstimmte.  Doch  ist  auch  ein  Fall  von  einem 
gewissen  Werthe,  zumal  ja  die  Uebereinstimmung  keine  zufallige 
sein  könnte,  was  schon  das  constante  Ergebniss  an  mehreren 
Eaninchenohren  zur  Genüge  documentirte. 

Für  die  histologische  Untersuchung  der  Fälle  von  Strepto- 
coccus-Phlegmone am  Menschen  war  es  aber  unbedingt  nothwendig, 
das  Resultat  der  histologischen  Untersuchung  durch  Anlegung 
einer  Reincultur  zu  controUiren ,  nicht  nur  deshalb,  um  durch 
die  Verimpfnng  der  Cultur  auf  das  Kaninchenohr  die  Ueberein- 
stimmung der  Coccenvegetationen  zu  constatiren,  sondern  um  in 
erster  Linie  zu  zeigen,  dass  der  betreffende  Fall  der  Phlegmone 
von  dem  Streptococcus  allein  herrührt.  Denn  ich  brauche  ja  nicht 
hervorzuheben,  dass  für  unsere  Frage  der  Differenz  zwischen 
Eiysipel  und  Phlegmone  bezüglich  letzterer  nur  der  Streptococcus 
pyogenes  in  Betracht  kommt,  da  ja  die  übrigen  Arten  von 
Phlegmone  durch  die  bei  ihnen  vorhandenen,  verschiedenen 
Krankheitserreger  hinlänglich  charakterisirt  und  als  verschieden- 
artig vom  Erysipel  erwiesen  sind. 

Der  erste  Fall  betrifft  eine  Streptocoocus-Phlegmone  mit  auffallend 
erysipelähnlichem  Charakter. 

(42) 


lieber  das  ftüologisclie  VerbAltniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.       369 

Nenhauser  A.,  71  Jahre  alt,  mittelgross,  ziemlich  kräftig  gebaut, 
giebt  bei  ihrer  Anfiiahme  in  das  Erankenhans  an,  dass  sie  seit  acht 
Tagen  krank  sei,  fiebere  nnd  seit  damals  eine  schmerzhafte  Empfindimg 
am  linken  üntersehenkel  habe.  Die  Untersuchung  ergiebt  Röthung  und 
müssige  Bchwellnng  der  unteren  H&lfte  des  linken  Unterschenkels,  an 
der  inneren  Seite  oberhalb  des  Sprunggelenks  eine  mit  Serum  ge- 
ftlllte  Blase. 

In  der  Umgebung  keine  Verletzung  oder  Geschwüre  aufzufinden. 
Temp.  40.  Wftbrend  der  folgenden  Tage  wandert  die  Entzündung 
hoher  gegen  das  Kniegelenk  hinauf.  Das  Fieber  dauert  an  und  die 
Patientin  stirbt  unter  CoUapserscheinungen. 

Obwohl  während  des  Lebens*  nirgends  eine  circumscripte, 
besondere  Schwellung  sichtbar  und  nirgends  eine  Flnctuation  con- 
statirbar  war,  zeigte  sich  bei  der  Section  folgender  Befund :  Nebst  einer 
geringfügigen  älteren  Endocarditis  der  Mitral-  nnd  Aortenklappen 
in  den  inneren  Organen  keine  nennenswerthe  Veränderung.  Der 
linke  Unterschenkel  und  Fuss  ist  angeschwollen.  Die  Haut  bläulich- 
roth,  die  Epidermis  am  Unterschenkel  theils  in  Form  von  schlaffen 
Blasen  abgehoben,  theils  fehlend;  dort,  wo  die  Cutis  blossliegt, 
ist  sie  stark  geröthet,  stellenweise  zu  einer  graugelben  weichen 
Masse  zerfallen.  Das  Unterhautzellgewebe  des  betreffenden  Unter- 
schenkels Yon  eitrigem  und  fibrinösem  Exsudate  durchsetzt.  Ein 
Hautstückchen  yon  dem  Rande  der  entzündeten  Partie  untersucht^ 
dort,  wo  noch  keine  eiterige  Infiltration  des  subcutanen  Binde- 
gewebes, sondern  nur  seröse  Durchfeuchtung  vorhanden  gewesen, 
ergab  nebst  einer  hochgradigen  zelligen  Infiltration  des  sub- 
cutanen Gtewebes  jene  Form  der  Cocceninvasion,  wie  sie  früher 
als  für  den  Streptococcus  pyogenes  beschrieben  worden  war, 
während  die  eigentliche  Cutis  sich  noch  ziemlich  frei  zeigte. 
Schnitte  von  der  Stelle,  wo  schon  in  der  Tiefe  Eiter  gewesen, 
ergaben  fibrinöse  Exsudation  in  die  eigentliche  Cutis  nnd  zahl- 
reiche Coccencolonien  dortselbst. 

Die  Uebertragung  des  Eiters  auf  Agar-Agar  und  Gelatine 
ergab  eine  Reincultur  des  Streptococcus,  mit  welchem  an  vier 
geimpften  Kaninchenohren,  der  für  den  Streptococcus  pyogenes 
charakteristische  histologische  Befund   erwiesen   werden  konnte. 

Der  zweite  Fall  betraf  ein  mit  chronischer  Nephritis  behaftetes, 
höchst  marantisches  Individuum,   das  an  mehreren  Stellen  seines 

(43) 


370  Hajek. 

Körpers  Decubitus  hatte.  Von  dem  Decubitus  des  linken  Malleolas 
internus  ging  eine  mit  massiger  Schwellung  verknüpfte  entzünd- 
liche Böthung  aus.  DieObduction  ergab  als  anatomischen  BeAmd 
an  der  entzündeten  Haut  des  lipl'.en  Unterschenkels  starkes  Oedem 
des  Unterhautzellgewebes,  Schwellung  der  Haut,  aber  nirgends 
Eiterung.  Hier  konnte  man  selbst  nach  dem  anatomischen  Befunde 
noch  im  Zweifel  darüber  sein,  ob  man  es  mit  Erysipel  oder 
Phlegmone  zu  thun  habe.  Die  noch  bei  Lebzeiten  des  Patienten 
vorgenommene  Abimpfung  durch  ein  excidirtes  Hantstückchen 
ergab  eine  R.  C.  von  einem  Streptococcus,  der  sich  durch  Ver- 
impfung  auf  diei  S^ninchenohren  und  den  hierbei  gewonnenen 
histologischen  Beftmd  als  der  Streptococcus  pyogenes  erwies.  Dem- 
entsprechend ergab  auch  die  histologische  Untersuchung  eines 
Hautstückchens  am  Unterschenkel  die  charakteristische  Ein- 
lagerung des  Streptococcus  pyogenes. 

Wollte  man  all'  das,  was  bisher  über  die  Erysipelhistologie 
publicirt  wurde,  anfuhren,  so  hiesse  dies  eine  grosse  Arbeit  ohne 
entsprechenden  Vortheil  stiften.  Es  liegt  jedoch  in  der  Literatur 
über  die  Histologie  des  Erysipels  so  viel  Belehrendes,  dass  ich 
nicht  umhin  kann,  die  wichtigsten  Momente  derselben  anzuführen, 
zumal  durch  meine  Resultate  ein  Fingerzeig  geliefert  wird,  wie 
es  kam,  dass  die  verschiedenen  Autoren  so  vielfach  widersprechende 
Resultate  zu  Tage  förderten. 

Ein  Hauptcharakterzug,  der  mehr  weniger  alle  histologischen 
Arbeiten  über  Erysipel  durchzieht,  ist,  dass  in  ihnen  sowohl  das 
von  mir  geschilderte  Bild  des  Erysipelas  als  der  Streptococcus- 
Phlegmone  erschöpft  ist. 

Billroth ^),  einer  der  Ersten,  die  das  Erysipel  auf  Mikro- 
organismen untersuchten  und  nach  ihm  Ehrlich^),  Lukomsky'}, 
M.  Wolff*),  Tillmanns*)  erwähnen,   dass  es  ihnen  nicht  bei 


^)IJnter8ac]iiuigen  üb.  dieVegetationaformenvonCoccobacteriaseptica.  1874. 

*)  Billroth  und  Ehrlich,  XJnteraachungen  über  Coccobacteria  septica. 
Arch.  fftr  klin.  Chirurgie.  Bd.  20,  pag.  403. 

')  W.  Lukomsky,  Unterenchimgen  über  Erysipel.  Virchow*s  Archiv. 
1874.  LX. 

*)M.  Wulff. 

')  T  i  1 1  m  a  n  n  8 ,  Deutsche  Chirurgie.  1880,  Lief.  5. 

(44) 


üeber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      371 

allen  Fällen  von  Erysipel  gelangen  sei,  Coccen  aufzufinden.  In 
gewissen  Fällen  gelang  es  jedoch  einigen  der  Autoren,  nicht  nur 
in  den  Lymphgefassen  und  Spalträumen  des  Bindegewebes, 
sondern  auch  in  den  Blutgefässen  Coccen  in  grosser  Menge  zu 
constatiren.  Billroth  folgerte  aus  diesem  Umstände,  dass  es 
offenbar  Erysipele  auch  ohne  Gegenwart  von  Coccen  gebe.  Ins- 
besondere Tillmanns')  kommt  es  merkwürdig  vor,  dass  er  auch 
in  vom  Erysipelwall  des  lebenden  Menschen  ausgeschnittenen 
Hautstückchen  keine  Coccen  finden  konnte;  er  glaubt,  es  seien 
auch  ursprünglich  keine  Coccen  vorhanden  gewesen,  denn  in  seiner 
Färbungstechnik  könne  der  negative  Befund  unmöglich  liegen, 
wenn  er  auch  sehr  richtig  vermuthet,  dass  eine  geringe  Anzahl 
von  Coccen  sehr  leicht  übersehen  werden  dürften.  Ich  für  meinen 
Theil  möchte  aber  doch  glauben,  dass  entweder  der  letzterwähnte 
Punkt  oder  die  mangelhafte  Technik  daran  Schuld  getragen.  Als 
triftigsten  Beweis  kann  ich  folgenden  Erysipelfall  vom  Menschen 
anführen :  Als  ich  meine  zweite  Erysipelcultur  anlegte,  schnitt  ich 
ein  Stückchen  vom  Erysipelrande  am  Vorderarme  heraus,  selbst- 
verständlich unter  Beobachtung  aller  erforderlichen  Cautelen  und 
theilte  es  in  zwei  Stücke;  die  eine  Hälfte  wurde  in  Agar-Agar 
geworfen,  die  andere  behufs  histologischer  Untersuchung  zurück- 
behalten. Aus  dem  ersten  Stückchen  keimten  bei  Bruttemperatur 
nach  48  Stunden  grauweisse  Colonien  hervor  (Colonien  des  Strept. 
erysipel.).  Die  andere  grössere  Hälfte  des  excidirten  Hautstückes 
wollte  aber  Anfangs  nach  keinerlei  Farbungsmethode  in  Schnitten 
Coccen  erkennen  lassen.  Erst  nach  Untersuchung  sehr  zahlreicher 
Schnitte  gelang  es  mir,  bei  einem  gewissen  Entf&rbungsgrade 
zwischen  den  dicht  aneinander  liegenden  Zöllen  innerhalb  eines 
Lymphgefässes  einzelne  Diplococcen  und  kurze  Ketten  zu  finden. 
Nichts  wäre  nun  leichter  möglich  gewesen,  als  diese  wenigen  Coccen 
zu  übersehen  und  nur  das  positive  Resultat  der  Cultivirung  auf 
Agar-Agar  liess  mich  nicht  davon  abstehen,  nach  vielen  vergeb- 
lichen Mühen  noch  weiter  nach  Coccen  zu  fahnden.  Ich  habe  ja 
schon  früher  hervorgehoben,  dass  der  Erysipelcoccus  im  Gewebe 
den  Entfärbungsmitteln  nur  wenig  Widerstand  entgegenzusetzen 


0  1  c.  pag  111. 

(46) 


372  Hajek. 

vermag,   und  dass  es  nnr  gat  Glück  ist,  wenn  man  schon  bei 
dem  ersten  Versuche  den  richtigen  Entfarbnngsgrad  getroffen  hat. 

Wenn  aber  Billroth  and  Ehrlich  in  ihren  späteren 
Untersuchungen,  bei  den  sogenannten  phlegmonösen  Erysipelen,  auch 
in  den  Blutgefässen  Coccen  constatiren  konnten,  so  vermuthe  ich^ 
dass  sie  keine  Erysipele,  sondern  höchstwahrscheinlich  durch  den 
Streptococcus  pyogenes  bedingte  erysipelähnliche  Phlegmonen 
vor  sich  gehabt  haben.  Dass  die  klinischen  Symptome  sehr  häufig 
einander  bei  beiden  gleich  sind,  habe  ich  ja  zur  Genüge  hervor- 
gehoben und  eine  mögliche  Verwechslung  durch  die  citirten  Fälle 
Bosenbach's  und  die  meinigen  illustrirt.  Wenn  überdies  von 
den  erwähnten  Autoren  hinzugefügt  wird,  dass  es  die  sogenannten 
schweren,  phlegmonösen  Erysipele  gewesen,  bei  welchen  der 
von  ihnen  constatirte  Coccenbefund  vorkommt,  so  wird  meine  Ver- 
muthung  umsomehr  der  Sicherheit  entgegengeftihrt. 

Zu  damaliger  Zeit,  als  die  Mehrzahl  der  erwähnten  Autoren 
ihre  histologischen  Untersuchungen  veröffentlicht  haben,  war  man 
noch  sowohl  über  die  Aetiologie  des  legitimen  Erysipels,  als  über 
die  der  eiterigen  Entzündungsprocesse  im  Unklaren.  Heute,  wo 
wir  über  den  mycotischen  Ursprung  dieser  Frocesse  nicht  den 
geringsten  Zweifel  mehr  hegen,  müssen  wir,  wenn  uns  in  der 
histologischen  Untersuchung  anatomisch  gleichartiger  Frocesse 
solch'  differente  Coccenbefimde  vor's  Auge  treten,  vermuthen,  dass 
wir  es  hier  mit  verschiedenen  Frocessen  zu  thun  haben; 
denn  es  ist  mit  einer  logischen  Denkungsweise  nicht  gut  in  Ein- 
klang zu  bringen,  wie  von  Fall  zu  Fall,  bei  anscheinend  gleicher 
anatomischer  Beschaffenheit,  die  die  Ursache  des  Erankheits- 
processes  tragenden  Coccen  solch'  wesentlich  verschiedene  Rollen 
übernehmen  sollen;  diese  ist  eben  nur  dadurch  erklärlich,  dass 
die  beiden  Streptococcen  verschiedener  Art  sind. 

Gleichartige  Frocesse  können  eben  durch  verschiedene  Ur- 
sachen bedingt  sein,  wie  schon  seit  lange  her  bekannt  ist. 

Der  Hinweis  auf  den  pyämischen  Charakter  der  untersuchten 
Erysipelfalle  ist  fUr  die  Beurtheilung  des  damaligen  Standpunktes 
um  so  entscheidender,  als  nach  dem  geschilderten  Verhalten  des 
Erysipelcoccus  im  lebenden  Gewebe  es  mindestens  sehr  zweifelhaft 
ist,  ob  das  Erysipel  überhaupt  je  eine  Fyäraie  hervorrufen  könne. 

(46) 


üeber  das  ätiologische  Verhältniss  des  Erysipels  zxir  Phlegmone.      373 

Die  positiven  Ergebnisse  von  Tillmanns^)  stimmen  in 
jedweder  Beziehung  mit  meinen  Erfahrungen  über  den  Strepto- 
coccus pyogenes  überein,  weshalb  ich  sie  mit  dem  Wortlaute  des 
Autors  anführen  will. 

„Zuweilen,  und  zwar  besonders,  wie  mir  scheint,  bei  mit 
Pyämie  complicirten  Erysipelen  findet  man  an  den  Randstellen 
des  Erysipelherdes,  entsprechend  auf  der  Acme  der  Entzündung, 
die  Bindegewebsspalten,  die  Lymph-  und  die  kleinen  Blutgefässe 
mit  Coccenvegetationen  erfüllt.  Die  mit  Mikroorganismen  erfüllten 
Lymphgefässe  bilden  oft  zackige  Contouren  dar,  deren  Zacken, 
wie  auch  Lukomsky  sah,  sich  mit  sternförmigen  Mikrococcen- 
anhäufungen  im  Gewebe  verbinden.  Letztere  bedecken  auch  die 
Fibrillenbündel,  dringen  reihenweise  zwischen  die  letzteren,  theilen 
sich  eventuell  als  feines  Netzwerk,  z.  B.  zwischen  die  einzelnen 
Fettzellen  u.  s.  w.,  an  anderen  Stellen  liegen  grössere  Coccen- 
anhäufungen  mitten  im  Bindegewebe.  Die  Coccen  sind  gewöhn- 
lich nicht  sichtbar  an  jenen  Stellen,  wo  der  erysipelatöse  Process 
in  der  Abnahme  begriffen  oder  bereits  abgelaufen  ist.  Die  Menge 
der  vorhandenen  Bacterien  ist  zuweilen  sehr  bedeutend.  Das  Ver- 
halten der  ansehnlicheren  Coccenanhäuflingen  in  den  Gelassen 
und  im  Gewebe  zu  der  nächsten  Umgebung  ist  verschieden,  ent- 
weder sie  sind,  wie  ich  beschrieben  habe,  von  einer  mehr  oder 
weniger  dichten  zelligen  Infiltration  umgeben,  oder  aber  letztere 
fehlt  vollständig,  scheinen  keinerlei  nachweisbaren  Veränderungen 
hervorgerufen  zu  haben.  In  einer  dritten  Kategorie  von  Bildern 
sind  die  Bacterien  von  einem  kernlosen  necrobiotischen  Herde 
umgeben  und  erst  auf  diesen  folgt  eine  zellige'  Infiltration  als 
demarkirende  Entzündung  oder  Eiterung  etc." 

Auch  die  histologischen  Veränderuogen,  welche  Tillmanns 
in  den  citirten  Zeilen  darstellt,  stimmen  vollständig  mit  denjenigen, 
welche  ich  bei  dem  Streptococcus  pyogenes  vorgefunden  habe. 
Sie  sind  in  der  That  wechselnd  und  von  Fall  zu  Fall  verschieden. 
Hinzufügen  möchte  ich  nur,  dass  die  fibrinöse  Exsudation  in  aus- 
gedehnten Partien  des  Gewebes,  der  Haut  sowohl,  als  des  sub- 
cutanen Gewebes,  ein  häufiges  Vorkommniss  ist. 

»)  1.  c.  pag.  110. 

Med.  Jahrbücher.  1887,  ^q    (47; 


374  Hajek. 

An  einer  anderen  Stelle  hebt  derselbe  Autor  hervor:  „Es 
will  mir  aber  scheinen,  dass  es  vorzugsweise  mit  Pyämie  com- 
plicirte  Fälle  sind,  wo  die  Mikrococcen  gefunden  werden.  Lu- 
komsky^  dem  wir  wohl  die  ersten  ausführlichen  Angaben  über 
das  Vorkommen  der  Mikrococcen  bei  Erysipel  verdanken,  scheint 
auch  vorzugsweise  pyämische  Fälle  untersucht  zu  haben/ 

Klarer  kann  wohl  die  Provenienz  der  von  den  genannten 
Autoren  histologisch  untersuchten  Erysipele  kaum  angegeben  werden. 
Diese  Bildergleichen  auf  ein  Haar  meinen  mikroskopischen  Bildern 
der  Streptococcus-Phlegmone.  Der  Hinweis  auf  den  phlegmonösen 
Charakter  bei  dem  positiven  Ergebnisse  der  Untersuchung  auf 
Bacterien,  dagegen  auf  die  leichteren  Formen  bei  dem  negativen 
Befunde  ist  eine  werthvoUe  Bestätigung  dessen,  was  ich  früher 
über  die  verschiedenen  Eigenschaften  der  beiden  Streptococcen 
auseinandergesetzt  habe. 

Ich  glaube  daher,  dass  die  negativen  Coccenbefunde  von 
Billroth,  Ehrlich,  Tillmanns  und  M.  Wolff  von  Eiysi- 
pelen,  die  positiven  dagegen  von  Streptococcus-Phlegmone  her- 
rühren, insbesondere  diejenigen  Lukomsky's,  der  lauter  letal  (!) 
endigende  Erysipele  untersuchte. 

Von  den  neueren  Untersuchungen  über  die  Histologie  des 
Erysipels  sind  insbesonders  die  Befunde  Koch's^)  von  Wichtig- 
keit. Unter  den  7  Erysipelfällen ,  die  der  erwähnte  Autor  histo- 
logisch untersuchte,  ist  einer,  dessen  Krankengeschichte  er  genau 
mittheilt  und  dessen  typischer  klinischer  Verlauf  einigermassen  den 
legitimen  Erysipelcharakter  des  betreflFenden  Falles  verbürgt.  — 
Die  in  diesem  Falle  an  verschiedenen  Partien  der  Haut  vorge- 
nommene histologische  Untersuchung  ergab  die  gleichen  Verhält- 
nisse des  Coccenbefundes ,  wie  ich  sie  von  meinen  Fällen  ge- 
schildert habe. 

Doch  hat  auch  Koch  in  zweien  der  tödtlich  verlaufenden 
Fälle  die  Mikrococcen  in  den  Lymphgefässen  auch  in  grosser 
Menge  vorgefunden,  aliein  diese  Bilder,  von  welchen  er  selbst 
zugibt,  dass  sie  einigermassen  denen  von  Lukomsky,  welcher 
nur  tödtliche  Fälle  untersuchte,  gliechen,  möchte  ich  nicht  mehr 

')  Koch,  Mittbeilungeii  aus  dem  kaiserl.  Geäundheitsamte.  I.  Bd., 
Berlin  1884. 

(48) 


üeber  das  ätiologische  Verbältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.       375 

als  dem  Erysipel  angehörig  betrachten.  Da  aber  die  Kranken- 
geschichten der  betreffenden  Fälle  nicht  mitgetheilt  sind,  so  fehlt 
uns  jeder  weitere  Anhaltspunkt  zur  Entscheidung  der  Frage,  ob 
dieselben  klinisch  einem  legitimen  Erysipele  oder  einer  Strepto- 
coccus-Phlegmone entsprachen.  Ist  es  aber  nicht  auffallend,  dass 
es  auch  hier  nur  die  tödtlichen  Fälle  gewesen,  wo  die  Coccen 
in  Form  von  Haufen  vorkamen? 

Wenn  ich  demnach  auch  zugeben  muss,  dass  die  histo- 
logischen Befunde,  wie  ich  sie  zuvor  geschildert,  in  ihren  Einzel- 
heiten schon  von  früheren  Autoren  gesehen  worden  sind,  so  ist 
doch  die  Erkenntniss,  dass  dieses  verschiedenartige  Verhalten  im 
lebenden  Gewebe  als  constanter  Ausdruck  verschiedener 
Lebenseigenschaften  des  Streptococcus  erysipelatis  und  des  Strepto- 
coccus pyogenes  aufzufassen  sei,  durch  meine  systematischen 
Untersuchungen  herbeigeführt  worden. 

Nachdem  nun  die  differente  Art  der  beiden  Streptococcen 
auf  Grund  der  geschilderten  vitalen  Eigenschaften  im  Gewebe 
nachgewiesen  war,  fragte  es  sich,  ob  dieses  Princip  der  Unter- 
suchung nicht  auch  für  das  Studium  anderer  Mikroorganismen 
geeignet  sei.  Ich  habe  auch  dasselbe  bei  dem  Studium  von  zwei 
anderen  Mikroorganismen ,  nämlich  dem  Diplococcus  pneumoniae 
und  dem  Staphylococcus  pyogenes  aureus  befolgt,  und  zwar  des- 
halb, weil  es  bei  unserer  Frage  interessant  war,  zu  erfahren,  wie 
die  übrigen  Entzündungserreger  sich  in  dieser  Beziehung  ver- 
halten. 

Ich  habe  schon  bei  den  Thierexperimenten  angeführt,  dass 
der  Diplococcus  pneumoniae  am  Kaninchenohre  eine  mit  inten- 
siver Schwellung  einhergehende,  wandernde  Entzündung  erzeugen 
kann.  Wie  verhält  sich  nun  hierbei  der  Diplococcus  pneumoniae 
im  Gewebe?  Ganz  so,  wie  der  Streptococcus  pyogenes.  Er  tritt 
ebenfalls  in  Colonien  auf,  bildet  dichtgedrängte  Züge,  durch- 
wuchert das  ganze  Gewebe,  bricht  in  seltenen  Fällen  auch  in 
die  Blutgefässe  durch  und  erzeugt  dann  eine  AUgemeininfection. 

Etwas  anders  ist  es  mit  dem  Staphylococcus  aureus.  Ich 
möchte  hier  nur  einige  Bemerkungen  über  seine  specifisch  patho- 
gene  Wirkung  einflechten.  Der  Staphylococcus  aureus  erzeugt 
häufig  bekanntlich  entweder  selbstständig  oder  in  Vergesellschaftung 

30*    <*»> 


376  Hajek. 

mit  dem  Staphylococcns  albns  oder  auch  mit  dem  Streptococcus 
pyogenes  Entzündung  und  Eiterung.  Die  durch  ihn  allein  her- 
vorgerufenen Entzündungen  zeichnen  sich  nach  übereinstinmienden 
Aussagen  der  meisten  Autoren  durch  die  Neigung,  circumscript 
zu  bleiben,  aus. 

Ich  habe  nun  mit  einem  Staphylococcns  aureus,  gezüchtet 
aus  einer  Endocarditis  ulcerosa,  und  mit  einer  anderen,  aus  einer 
frischen  Variolapustel  gewonnenen  *),  je  drei  Kaninchenohren  mit 
4 — 10  Theilstrichen  einer  Pravaz'schen  Spritze  subcutan  inficirt 
und  in  fünf  Fällen  eine  auf  die  Injectionsstelle  und  dessen  un- 
mittelbare Umgebung  beschränkte  Rüthung,  mit  massig  inten- 
siver Schwellung  hervorgerufen.  Es  entstand,  wenn  ich  den  Ver- 
gleich brauchen  soll,  nahezu  eine  fumnkelähnliche  Geschwulst, 
deren  Kuppe  sich  am  dritten  Tage  wcisslich  verfärbte,  platzte, 
und  eine  geringe  Menge  dicklichen  Eiters  entleerte.  Der  Eiter 
enthielt  in  reichlicher  Menge  den  Staphylococcns  aureus.  —  Bei 
Dreien  mit  10  Theilstrichen  der  Cultur  aus  der  Variolapustel 
geimpften  Kaninchenohren  entstand  aber  eine  fast  das  ganze  Ohr 
einnehmende  Röthung  und  Schwellung;  in  den  mittleren  Partien 
war  die  Schwellung  am  stärksten,  auch  trat  hier  weissliche  Ver- 
färbung und  Durchbruch  des  Eiters  auf.  Die  Kaninchen  ge- 
nasen alle. 

Die  an  zwei  amputirten  Kaninchenohren  vorgenommene  histo- 
logische Untersuchung  ergab  die  Beschränkung  der  Coccen  auf 
die  Stelle  der  Abscedirung,  zumindest  auf  die  der  dichtesten 
Zelleninfiltration.    Der  Staphylococcns  aureus  tritt  im  Gewebe  in 


^)  Guttmann  (Tagebl.  der  Berliner  Naturforscherversammlung.  1886, 
pag.  144)  hat  ebenfalls  ans  einer  Variolapustel  den  Staphylococcns  pyogenes 
anrens  gezüchtet  nnd  hält  denselben  als  eine  die  eigentliche  Variola  secundär 
complicirendes  Agens,  welches  überall  dort  auftritt,  wo  Eiterung  ist.  Diese  An- 
sicht findet  auch  in  neueren  Erfahrungen  Weichselbaum's  eine  Stütze,  der 
in  zwei  Fällen  von  hämorrhagischer  Variola,  sowohl  von  den  Hämorrhagien, 
resp.  Papeln  der  Haut,  als  auch  aus  dem  Herzblut e,  der  Milz  und  der  Leber  den 
Streptococcus  pyogenes  in  Reincultur  gewann;  auch  in  drei  weiteren  Fällen 
von  Variola  confluens,  von  denen  zwei  mit  lobulärer  Pneumonie  complicirt  waren, 
hat  der  letzterwähnte  Autor  aus  dem  Blute  den  Streptococcus  pyogenes  gezüchtet. 
Die  Verschiedenheit  der  bei  der  Variola  gefundenen  Coccenarten  weist  noch  mehr 
darauf  hin,  dass  dieselben  nur  eine  secundäre  Rolle  übernehmen. 

(50) 


üeber  das  ätiologisclie  Verhältniss  des  Erysipels  zur  Phle^one.      377 

Fonn  von  kleinen  Häufchen,  ähnlich  den  anf  unseren  künstlichen 
Nährsubstanzen  sich  entwickelnden  Colonien,  auf. 

Er  unterscheidet  sich  aber  von  dem  Streptococcus  pyogenes 
dadurch,  dass  er  keine  in's  Gewebe  ausstrahlenden  Züge  bildet,  er 
besitzt  nicht  die  rücksichtslose  Invasionsfähigkeit  des  Streptococcus 
pyogenes. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  einige  Fragen  prüfen,  die 
schon  von  jeher  den  Streitapfel  in  der  Lehre  vom  Erysipel 
und  der  Phlegmone  a])gaben.  Wenn  ich  auch  bisher  keine  ge- 
nügende Gelegenheit  gehabt  habe,  alle  diese  Fragen  an  der  Hand 
klinischer  Fälle  zu  einem  bestimmten  Abschlüsse  zu  bringen,  so 
will  ich  doch  wenigstens  durch  einige  Andeutungen  die  Richtung 
kennzeichnen,  in  welcher  man  fortfahren  soll,  um  durch  die  er- 
wiesene DiiSerenz  zwischen  den  beiden  Streptococcen  über  die 
Natur  wichtiger  Krankheitsformen  Aufschluss  zu  erlangen. 

1.  Abscessbildung.  Dass  die  localen  klinischen  Symptome 
bei  dem  Erysipel  und  der  Streptococcus-Phlegmone  häufig  sich 
decken,  habe  ich  schon  früher  hervorgehoben,  und  es  fragt  sich 
nur,  ob  es  nicht  doch  zuweilen  ein  locales  Symptom  giebt,  das 
mit  Bestimmtheit  den  einen  Process  ausschliesst ,  respective  dem 
anderen  allein  zukommt.  Ein  solches  Symptom  wurde  seit  Fehl- 
eisen in  dem  Auftreten  einer  Abscedirung  gesehen,  welche  er 
für  alle  Fälle  von  Erysipel  leugnete;  doch  mit  Unrecht.  —  Wir 
können  nach  den  Resultaten  unserer  Thierexperimente  mit  Be- 
stimmtheit sagen,  dass  Abscessbildung,  wenn  auch  selten,  doch 
auftreten  kann.  Nur  ist  die  Art  des  Auftretens  gewissermassen 
charakteristisch  für  das  Erysipel.  Wir  sahen  an  den  Kaninchen- 
obren  immer  erst  nach  Abklingen  der  örtlichen  Entzündungs- 
erscheinungen die  circumscripten,  vereiternden  Knoten  sich  bilden. 
Auch  bleibt  beim  legitimen  Erysipel  die  Eiterung  stets  circum- 
script,  während  sie  bei  der  Strcptococcusphlegmone  mehr  diflFus 
und  häufig  gleichzeitig  an  mehreren  Stellen  [auftritt.  Ich  bin  nun 
selbst  der  Ansicht,  dass  einzelne  am  Kaninchenohre  beobachtete 
Erscheinungsformen  sich  nicht  ohne  weiters  auf  den  Menschen 
übertragen  lassen;  auch  habe  ich  die  ei-wähnte  circumscripte  Ab- 
scessbildung bei  Ery8i{)el  nur  nach  subcutaner  Injection  gefunden, 
welcher  Modus  der  Infection  beim  Menschen  doch  nur  ausnahms- 

(51) 


378  Hajek. 

weise  Yorkommen  dürfte.  Ob  beim  menBchlichen  Erysipel  unter 
gewissen  Verhältnissen  Abscessbildong  entstehen  könne,  liesse  sieb 
einfach  dnrch  die  Züchtung  des  Erysipelcoccos  ans  einem  solchen 
Abscesse  erweisen.  Einen  solchen  Fall  hatte  ich  bisher  nicht  zn 
beobachten  Gelegenheit. 

Wenn  man  die  histologischen  Yerändernngen  beim  Erysipel 
zum  Ausgangspunkte  einer  Betrachtung  wählt,  so  lässt  sich 
nicht  leugnen ,  dass  bei  intensiven  Fällen  von  Erysipel 
häufig  eine  dichtzellige  Infiltration  in  der  Snbcutis  stattfinden 
kann. 

In  der  Cutis  selbst  sind  jedoch  stets  nur  circumscripte  Zellen- 
infiltrate zu  constatiren,  so  dass,  wenn  auch  eine  Eiterung  der 
Snbcutis  nicht  von  vorneherein  in  dem  Bereiche  der  Unmöglich- 
keiten liegt,  man  eine  gleichzeitige  Vereiterung  der  Cutis,  wodurch 
der  eventuelle  Durchbruch  des  in  der  Tiefe  lagernden  Abscesses 
erst  erfolgen  könnte,  nicht  annehmen  kann.  Ich  muss  gestehen, 
dass  durch  die  klinische  Beobachtung  einige  Anhaltspunkte  hierfür 
geboten  werden,  indem  wir  an  Stellen  des  Körpers,  wo  die  Snb- 
cutis locker  ist,  gewöhnlich  intensive  Schwellung  und  nicht  selten 
in  der  Tiefe  Fluctuation  constatiren  können.  Dies  ist  besonders 
an  den  Augenlidern  der  Fall.  Wenn  mir  auch  ein  Durchbruch 
des  Abscesses  in  Folge  der  mangelnden  Vereiterung  der  Cutis 
selbst  nicht  wahrscheinlich  ist,  so  lässt  sich  doch  auch  erklären, 
warum  mitunter  dennoch  ein  Durchbruch  erfolgen  könnte.  Es  ist 
bekannt,  dass  beim  Erysipel  mit  der  Propagation  der  Entzündung 
die  Restitution  der  Anfangs  befallenen  Partien  Hand  in  Hand 
geht.  Wenn  nun  einmal  —  ich  möchte  abermals  auf  die  Schwellung 
der  Augenlider  hinweisen  —  bei  besonderer  Acuität  des  Processes 
die  Schwellung  eine  bedeutendere  ist,  so,  dass  die  Haut  unter 
der  Spannung  in  ihrer  Ernährung  leidet  und  dazu  auch  der 
erysipelatöse  Process  langsam  fortwandert,  was  eine  längere  Dauer 
der  Spannung  bedingt,  dann  entsteht  in  Folge  der  langandauemden 
Circulationsstörung  eine  Necrose  der  Haut  und  es  kann  der  in 
der  Tiefe  befindliche  Eiter  durchbrechen.  Durch  Zuthun  eines 
derartigen  mechanischen  Momentes  könnte  somit  ein  Abscess  zum 
Durchbruche  gelangen.  Indess  will  ich  meiner  gegebenen  Erörterung 
nur  den  Werth  einer  rein  theoretischen  Deduction  beimessen. 

(52) 


Ueber  das  ätiologische  Yerhältniss  des  Erysipels  zur  Phlegmone.      379 

Eine  andere  Frage  von  grossem  Interesse  wäre,  zu  erfahren, 
ob  durch  den  Erysipelcoccus  allein,  ohne  Mitwirkung  eines  anderen 
Krankheitsagens ,  der  Tod  erfolgen  könne ,  und  wenn  ja,  welche 
Momente  hierbei  massgebend  seien.  Man  kann  sich  die  Beein- 
flussuDg  des  Gesammtorganismus  durch  die  Erysipelinfection  in 
dreifacher  Weise  denken. 

1.  Durch  Intoxication  seitens  eines  vom  Erysipelcoccus  aus- 
geschiedenen giftigen  Productes.  Wenn  es  uns  auch  zur  Zeit 
noch  nicht  möglich  ist,  den  ausgeschiedenen  Körper  näher  zu 
kennzeichnen,  so  werden  wir  doch  durch  die  Betrachtung  des 
Krankheitsverlaufes  zur  Annahme  eines  solchen  gedrängt.  Schon 
der  am  Beginne  zumeist  auftretende  Schiittelfrost,  ferner  das 
hohe  Fieber  während  des  ganzen  Verlaufes  lassen  keine 
andere  Annahme  —  indem  die  Coccen  selbst  im  Blute  vermisst 
werden  —  übrig.  Todesfälle  von  wandernden  Erysipelen  mit 
lang  andauerndem  Fieber,  ohne  dass  man  im  Blute  Coccen  findet 
und  ohne  irgend  eine  besondere  Organveränderung,  als  trübe 
Schwellung  der  parenchymatösen  Organe,  dürften  in  diese  Kategorie 
des  Erysipeltodes  zu  rechnen  sein. 

2.  Durch  allgemeine  Infection,  d.  i.  Hineingelangen  des 
Erysipelcoccus  in  das  Blut,  was  indess  von  vorneherein  unwahr- 
scheinlich ist,  da  es  überhaupt  nicht  ereichtlich  ist,  wie  die  Ery- 
sipelcoccen  in  die  Blutbahn  gelangen  sollten.  Die  Erysipelcoccen 
überschreiten  nämlich  niemals  das  Gebiet  der  Lymphgefässe  und 
Bindegewebsspalten ;  von  einem  Durchbrnch  der  Blutgefässwandung 
kann  daher  niemals  die  Rede  sein.  Und  indem  eine  directe  Com- 
municatiou  der  Lymphgefässe  mit  den  Blutcapillaren  noch  durchaus 
nicht  als  erwiesen  gelten  kann,  müsste  man  bei  dem  Erysipel- 
coccus erst  das  Passiren  der  grösseren  Lymphgefässe,  und  erst 
vermittelst  dieser  die  Aufnahme  in  das  Blut  annehmen.  Jetzt, 
nachdem  die  difierente  Art  der  beiden  Streptococcen  durch  be- 
stimmte Merkmale  erwiesen  wurde,  wird  auch  die  definitive  Ent- 
scheidung dieser  Frage  durch  die  bacteriologische  Ausnützung 
geeigneter  klinischer  Fälle  erfolgen  können.  Für  alle  Fälle  aber 
wird  man  sich  nicht  mit  dem  Nachweise  eines  Streptococcus  im 
Blute  begnügen  dürfen,  weil  ja  von  dem  Streptococcus  pyogenes 


380  Hajek. 

bekannt  ist,  dass  er  häufig  Krankheitsprocesse  secnndär  complicirt 
und  leicht  in  das  Blut  aufgenommen  werden  kann.  Ein  hierher- 
gehöriger Fall  ist  von  v.  Norden»)  beobachtet  worden,  der  bei 
einem  Erysipelaskranken  Streptococcen  aus  dem  Blute  gezüchtet 
hat.  Die  Resultate  der  mit  diesem  Streptococcus  vorgenommenen 
Thierexperimente  —  der  histologische  Befund  ist  nicht  genügend 
ausführlich  —  lassen  mich  den  Streptococcus  pyogenes  ver- 
mnthen. 

3.  Durch  Coirrplicationen  in  inneren  Organen,  bedingt  durch 
den  Erysipelcoccus.  Wenn  auch  heutzutage  von  mehreren  Klinikern 
der  Lehre  einer  crysipelatösen  Meningitis,  Pleuritis,  Pneumonie, 
Endocarditis  etc.  noch  gehuldigt  wird,  so  wird  die  Statthaftigkeit 
der  ätiologischen  Zusammengehörigkeit  alF  dieser  Krankheiten 
mit  dem  Erysipel  doch  erst  in  Zukunft  auf  Grundlage  der  an- 
gegebenen Differenzen  zwischen  den  beiden  Streptococcen  ent- 
schieden werden  können.  Man  wird  in  all'  diesen  Fällen  in  ähn- 
licher Weise  vorgehen  müssen,  wie  ich  dies  in  einem  Falle  von 
ein  Gesichtserysipel  complicirender  Pleuritis  sero-fibrinosa  gethan 
habe,  wo  ich  die  ätiologische  Zusammengehörigkeit  beider  er- 
wiesen zu  haben  glaube.  Der  Fall  folgt: 

Maczek  M.,  42  Jahre  alt,  Kutscher,  dem  Trünke  ergeben,  von 
kräftigem  Körperbau,  kam  mit  Gesichtseryäipel  in's  Spital;  die  Rose 
wandert  vom  Gesiebte  rasch  auf  dou  Nacken.  Am  10.  Tage  der 
Krankheit  das  Erysipel  am  unteren  Rande  des  Thorax;  stets  hohes 
Fieber,  Morgens  38*5 — 39*0,  Abends  400—410,  Delirium.  Am 
10.  Tage  an  der  rechten  Thoraxseite  Dämpfung  und  geschwächtes 
Athmen.  Am  12.  Tage  auch  linkerseits  Dämpfung.  Patient  etwas 
ieterisch,  beschleunigtes,  oberflächliches  Athmen,  Puls  klein,  Collaps, 
Tod.  Die  Obduction  ergiebt:  In  der  linken  Pleurahöhle  beiläufig  ein 
Liter  einer  trüben ,  stark  ieterisch  gefärbten  Flüssigkeit.  Die  Pleura 
der  linken  Lunge  fibrös  verdickt,  mit  spärlichen  Fibringerinnungen 
bedeckt;  die  linke  Lunge  comprimirt,  in  derselben  theiis  lufthaltige, 
theils  luftleere  Partien.  In  der  rechten  Pleurahöhle  eine  geringe 
Menge  einer  ieterisch  gefärbten  Plttssigkeit,  die  rechte  Lunge  allent- 
halben lufthaltig. 

Drei  Stunden  nach  dem  Tode  wurde  von  der  linken  Pleura- 
höhle   bei    Beobachtung    der   gewöhnlichen    Cautelen    auf  Agar 

*)  V.  Norden,  Mtinchener  med.  Wochenschrift.  1887,  Nr.  2. 

(Ö4) 


üeber  das  fttiologisclie  Yerb&ltniss  des  Erysipels  siir  Phlec^one.      3gl 

überimpft  und  auf  Platten  ausgegossen,  es  keimten  nur  Coloniea 
von  dem  Streptococcus  auf,  mit  welchem  von  der  5.  Generatiou 
an  auf  5  Eaninchenohren  Impfungen  vorgenommen  wurden.  Es 
entstand  jedesmal  eine  wandernde  Entzündung  ohne  erheb- 
liche Schwellung.  Die  histologische  Untersuchung  erwie» 
in  allen  Fällen  Übereinstimmend  jenes  Verhalten  der  Coccen,  wie- 
ich  es  beim  Erysipel  geschildert  habe. 

Dagegen  hatten  wir  eine,  das  Gesichtserysipel  complicirende,. 
tödtlich  endende  Pneumonie  zu  untersuchen  Gelegenheit  gehabt^ 
wo  man,  nach  dem  klinischen  Verlaufe  zu  urtheilen,  keinea 
Anstand  genommen  hätte,  die  Pneumonie  als  eine  vom  Ery- 
sipel abhängige  aufzufassen.  Wir  wurden  indess  eines  Anderen 
belehrt. 

Dierscher  A.,  26  Jahre  alt,  wird  mit  G^ichtsrose,  40'70  Körper» 
temperatur  aufgenommen.  Die  localen  Symptome  sehr  intensiv^ 
Augenlider  stark  Odematös.  Das  Erysipel  wandert  über  den  Nacken 
und  Stamm  auf  die  Extremitäten.  Am  7.  Tage  der  Krankheit  fällt 
die  Abendtemperatur  auf  37*6;  am  nftehsten,  d.  i.  am  Tage  als  da» 
Erysipel  gerade  im  üebergange  von  dem  Thorax  auf  das  Abdomen  be- 
griffen war,  leichtes  FrostgefOhl  und  abermaliges  Ansteigen  der  Tem- 
peratur auf  38*9 ,  gleichzeitig  Stechen  auf  der  rechten  Thoraxseit» 
and  Hasten.  Die  physikalische  Untersuchung  ergiebt  dortselbst  etwa» 
tympanitisohen  Schall  and  ELnisterrasseln.  Patientin  wird  binftilig^ 
Pals  kaum  ftihlbar.  Am  14.  Tage  der  Krankheit  bei  fortdauerndem 
hoben  Fieber  zwischen  39  und  40'ö,  als  das  Erysipel  an  den  oberen 
nnd  unteren  Extremitäten  angelangt,  erfolgte  der  Tod.  Obductions* 
befand:  Croupöse  Pneumonie  des  rechten  Oberlappens,  acuter  Milz- 
tamor  und  trflbe  Schwellung  der  Leber  und  der  Niere. 

Die  histologische  Untersuchung  eines  vom  Rücken  aus- 
geschnittenen Hautstttckchens  ergab  das  tjrpische  Bild  des  Ery- 
sipels; dasselbe  war  der  Fall  mit  einem  Hautstttckchen  am 
Vorderarme. 

Die  croupöse  Pneumonie  war  indess  durch  den  Diplococcu» 
pneumoniae  bedingt  worden.  Die  von  der  Lunge  vorgenommene 
Abimpfung  ergab  nämlich  eine  R.  C.  der  Diplococcus  pneumoniae^ 
mit  welchen  3  Kaninchenohren,  subcutan  geimpft,  mit  intensiver 
Schwellung  reagirten.  Die  histologische  Untersuchung  ergab  die 
Anordnung  der  Coccen  in  Colonien  und  dichtgedrängten  Zügen^ 
wie  beim  Streptococcus  pyogenes. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  3]^     (55) 


382     H  a  j  e  k.  üeber  das  ütiolof^ische  Yerhältniaa  des  Erysipels  sar  PUegmona. 

Die  Pneumonie  war  demnach  in  diesem  Falle  eine  Com- 
plication  und  nicht  vom  Eiysipelcoccns  abhängig,  trotzdem  durch 
den  klinischen  Verlauf  dies   einigermassen   wahrscheinlich   war. 

Auch  bei  den  übrigen  Complicationen  wird  man  in  dieser 
Art  den  Beweis  der  ätiologischen  Beziehung  derselben  zum  Eiy- 
49ipel  fuhren  müssen,  und  es  werden  diese  Untersuchungen  gleich* 
zeitig  die  Controle  für  die  Gonstanz  der  von  mir  angegebenen 
Differemsen  zwischen  den  beiden  Streptococcen  abgeben. 


-Höh- 


Druck  Ton  Ootüiab  Qittel  *  Comp,  im  Wien. 
<56) 


lfi«iwrmriliiuL<lalirbiühcr.Jahr^sii{  1881. 


Verlag  toi  AlFrel  Holder  k.kHoh  Uflnersilala-lludiliardlerinWii 


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XV. 

Zur  Frage  der  Znckerbildung  in  der  Leber. 

Von 

Dr.  M.  Abeles. 

(Aus  dem  Laboratorium  des  Herrn  Prof.  E.  Lydwi(  in  Wien.) 

(Am  10.  Hai  1887  von  der  Bedaction  ttbemommen.) 


Im  Verlaufe  der  letzten  10  Jahre  hat  Seegen  die  Ergeb- 
nisse seiner  neueren  zahlreichen  Experimentalstudien  über  das 
Vorkommen  und  die  Bedeutung  des  Zuckers  im  normalen  thierischen 
Organismus  in  einer  Reihe  yon  Abhandlungen  niedergelegt,  die  unter- 
einander sachlich  zusammenhängen  und  deren  Gesammtergebniss 
im  Wesentlichen  in  der  tlehabilitirung  der  alten  Claude 
B  e  r  n  a  r  d'schen  Lehre  besteht,  vermöge  welcher  es  eine  normale 
und  wesentliche  Function  der  Leber  ist,  Zucker  zu  erzeugen  und 
dem  übrigen  Organismus  zuzufahren. 

Die  wichtige  Frage  über  die  Quellen  und  das  Schicksal 
des  Zuckers  im  physiologischen  und  pathologischen  Zustande  des 
thierischen  Organismus  beschäftigt  seit  langer  Zeit  eine  unge- 
wöhnlich grosse  Anzahl  von  Forschem,  und  es  würde  hier  zu 
weit  fuhren,  die  Geschichte  derselben  in  allen  Einzelheiten  und 
mit  Nennung  aller  Autoren  durchzugehen.  Wenn  wir  von  der  alten 
Zeit  absehen,  wo  man  vom  Vorkommen  des  Zuckers  im  physio- 
logischen Organismus  nichtB  wusste,  sondern  sich  blos  mit  dem 
Diabetes  als  Krankheit  beschäftigte,  so  können  wir  im  Allge- 
meinen drei  Stadien  der  Frage  unterscheiden. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  32      (1) 


384  Abeles. 

Das  erste  Stadium  ist  das  der  erwähnten  Lehre  yon 
Claude  Bernard  ^):  Die  Leber  erzeugt  stetig  Zucker,  gibt  ihn 
durch  die  Lebervenen  an's  Blut  ab;  ein  Theil  desselben  wird 
schon  in  der  Lunge,  der  Rest  im  übrigen  Organismus  zerstört, 
beziehungsweise  verbraucht.  C.  Bernard  fand  nämlich  nicht  nur 
in  der  Leber,  sondern  auch  im  Blute  der  V.  cava  nach  Aufnahme 
der  Lebervenen  jederzeit  Zucker,  und  dieser  Zucker  nahm  im 
^yeiteren  Laufe  der  Blutbahn  stetig  ab,  so  dass  sich  in  der  Ca- 
rotis schon  weniger,  im  Pfortaderblut  aber  nur  noch  Spuren  oder 
nichts  davon  nachweisen  liess.  In  späterer  Zeit  fand  allerdings 
C.  Bernard 2)  selbst  im  Pfortaderblut  beträchtliche  Mengen 
Zucker,  aber  immer  weniger  als  in  den  Arterien  und  noch  be- 
deutend weniger  als  in  der  V.  cav.  asc.  im  Brustraume,  und  er 
hielt  seine  früheren  Schlüsse  aufrecht. 

Diese  Lehre  war  bekanntlich  lange  die  herrschende.  Gestützt 
wurde  sie  noch  durch  die  gleichzeitige  Entdeckung  des  Leber- 
glycogens  durch  Bernard  und  Hensen,  denn  damit  war  auch 
das  Material  gefunden,  aus  welchem  die  Leber  ihren  Zucker  bereitet. 

Das  zweite  Stadium  wurde  durch  Pavy^)  eingeleitet. 
Dieser  bestritt  zwar  nicht  die  von  C.  Bernard  angegebenen 
Thatsachen,  erklärt  sie  aber  fUr  postmortale  Erscheinungen,  da 
Bernard  seine  Untersuchungen  an  getödteten  Thieren  angestellt 
hatte.  Wenn  Pavy  an  lebenden  Thieren  operirte,  so  fand  er 
sowohl  im  Blute  der  V.  cava  nach  Aufnahme  der  Lebervenen, 
als  auch  in  den  Arterien  nur  eine  Spur  Zucker  und  selbst  diese 
Spur  schien  ihm  von  dem  Widerstände  herzurühren,  den  das  Thier 
der  Operation  entgegensetzte.  Auch  in  der  Leber  selbst  fand  er 
nur  Spuren  von  Zucker,  wenn  er  sie  in  einem  Zustande  unter- 
suchte, der  dem  Leben  möglichst  nahe  stand.  Später  haben  Bock 
undHofmann*),  ich*),  Bleile«)  undPavy')  selbst  an  lebenden 

*)  Le^ns  de  Physiolog.  1855. 
*)  Diabet.,  deutsch  von  Posner.  Berlin  1878. 
3)  On  Diabetes.  London  1862. 
*)  Experimentalstndien  über  Diabetes.  Berlin  1874. 
^)  Der  physiolog.  Znckergehalt  des  Blntes.    Medicinische  Jahrbücher    der 
k.  k.  Gesellsch.  d.  Aerzte.  1874. 
6)  Dn  Bois'  Arohiv.  1874. 

')  Coronian  lectnres  on  certain  points  connected  with  Diabetes.  London  1878. 
(2) 


Zur  Frage  der  Znckerbildung  in  der  Leber.  385 

Thieren  experimentirt,  den  Zuckergehalt  des  Blates  der  verschie- 
denen Gefässgebiete  bestunmt,  und  übereinstimmend  gefandeu, 
dass  der  Zucker  ein  normaler,  von  der  Nahrung  unabhängiger 
Bestandtheil  des  Gesammtblutes  sei,  und  dass  das  der  Leber  ent- 
strömende Blut  sich  nicht  anders  verhalte,  als  das  in  einem  anderen 
Theile  des  Organismus,  in  Arterien  und  Venen  mit  InbegriflF  der 
Pfoiiader.  Man  fand  allenthalben  0-05 — 0*1  Proc.  v.  Mering^), 
der  bei  seinen  Untersuchungen  nicht  das  Gesammtblut,  sondern 
nur  das  Blutserum  analysirte,  fand  gleichfalls  bei  hungernden 
Thieren  keinen  Unterschied  im  Zuckergehalte  der  verschiedenen 
Blutproben.  Mochte  man  nun,  trotzdem  sich  das  Blut  aus  den 
Lebervenen  nicht  anders  verhielt  als  z.  B.  das  aus  den  Extremi- 
täten, doch  geneigt  sein,  die  Quelle  des  Zuckers  in  der  Leber  zu 
suchen,  wie  P  a  v  y  gethan,  oder  mochte  man  annehmen,  dass  der 
Zucker  aus  dem  Gesammtorganismus  stamme,  wie  ich  es  gethan, 
der  Beweis  dafür,  dass  das  eine  oder  das  andere  der  Fall  ist, 
war  nicht  erbracht. 

Das  dritte  Stadium  ist  das  der  Rückkehr  zur  Bernard- 
sehen  Lehre  durch  Seegen.  Indessen  ist  diese  Rückkehr  nicht 
wörtlich  zu  nehmen,  denn  Seegen  hat  die  Lehre  erweitert  und 
auch  modificirt.  G.  Bernard  nahm  an,  dass  der  Blutzucker  im 
Leben  oder  Tode  aus  dem  Glycogen  der  Leber  stamme.  S  e  e  g  e  n 
aber  hat  in  einer  gemeinsam  mit  Eratschmer^)  ausgeführten 
Arbeit  gefunden,  dass  die  Leber  (entgegen  der  Angabe  Pavy's 
und  seiner  Nachfolger)  schon  im  Leben  eine  beträchtliche  Menge 
Zucker  enthält  (ungefähr  0*5  Procent),  und  dass  dieser  Leberzucker 
sofort  nach  dem  Tode  bedeutend  zunehme,  ohne  dass  dabei  das 
Glycogen  sich  vermindere.  Bei  einem  mit  Brod  gefütterten  Hunde 
ergab  sich  48  Stunden  nach  dem  Tode  ein  Zuckergehalt  von 
3*2  gegen  0*4  Procent  in  der  frischen  Leber.  Die  beiden  Autoren 
gelangten  damit  zu  dem  Schlüsse,  dass  der  Leberzucker  wenigstens 
zum  Theile  aus  einem  anderen  Material  stammen  müsse,  als  aus 
Glycogen  oder  einem  anderen  Kohlehydrat. 


^)  Ueber  die  Abzngswege  des  Zuckers  ans  der  Darmhöhle.  Du  Bois' 
Archiv.  1878. 

')  üeber  Zuckerbildung  in  der  Leber.  Pflüger's  Archiv,  XXU,  abgedrückt 
in  Seegen  Studien  über  Stoffwechsel.  Berlin  1887. 

32  *      (3) 


386  Abeles. 

Die  Vermuthung,  dass  das  Bildangsmaterial  des  Zackers  ein 
stickstoffhaltiger  Körper  sein  könne,  lag  aus  verschiedenen  Gründen 
nahe.  Die  bekannte  Thatsache,  dass  Diabetiker  der  schweren 
Form  auch  bei  absoluter  Fleischnahmng  stetig  grosse  Quantitäten 
Zucker  ausscheiden,  musste  schon  lange  zum  Schlüsse  fahren,  dass 
dies  auf  Kosten  der  Eiweisskörper  geschehe.  Vor  Entdeckung  des 
Glycogens  glaubte  ja  auch  C.  Bernard,  dass  die  Leber  den 
Zucker  aus  Eiweisskörpern  bereite.  Seegen  hielt  es  aus  ver- 
schiedenen Gründen  für  möglich,  dass  die  gesuchte  stickstoffhaltige 
Substanz,  aus  welcher  der  Zucker  abgespalten  werden  könne,  das 
Pepton  sei,  und  er  fand  bei  einer  weiteren  Untersuchung  ^)  in  der 
That,  „dass  die  Leber  im  Stande  ist,  aus  Pepton  Zucker  und 
Kohlehydrate,  welche  in  Zucker  umwandelbar  sind,  zu  bilden/^ 
Er  verglich  den  Zuckergehalt  von  Leberstücken,  die  eine  ge- 
messene Zeit  in  einer  Peptonlösung  lagen,  mit  Controlestücken, 
die  unter  übrigens  gleichen  Bedingungen  mit  destillirtem  Wasser 
behandelt  waren,  er  brachte  femer  fastenden  Thieren  Pepton 
per  OS  bei,  er  injicirte  Peptonlösung  in  die  V.  port.  und  er  be- 
handelte Leberstticke  mit  arteriell  erhaltenem  Blute  und  Pepton, 
und  alle  diese  Versuche  ergaben  Zuckerbildung  unter  Einfluss 
des  Peptons.  Bei  Fütterung  und  Injection  in  die  Pfortader  fand 
er  Mengen,  die  das  von  ihm  angegebene  Normale  von  ungefähr 
0*5  Procent  um  das  Zwei-  bis  Dreifache  tibertrafen. 

Auf  Grundlage  der  Ergebnisse  der  aufgezählten  Versuche, 
von  denen  ich  nur  die  wesentlichsten  Punkte  hervorgehoben,  die 
aber  noch  manche  interessante  Einzelheiten  enthalten,  nimmt 
See  gen  als  „unzweifelhaft"  an,  „dass  die  Zuckerbildung  in  der 
Leber  eine  physiologische  Function  sei". 

In  einer  weiteren  Arbeit 2)  beschäftigte  sich  Seegen  damit, 
den  Zuckergehalt  des  Blutes  der  Pfortader  und  Arterien  einerseits, 
und  den  der  Lebervenen  andererseits  zu  vergleichen,  um  so  über 
den  Umfang  der  zuckerbildenden  Thätigkeit  der  Leber  ein  Bild 
zu  gewinnen.    Nachdem  er  zuerst  den  Zuckergehalt  in  Arterien 


^)  Pflüger's  Archiv,  XXY,  abgedruckt  in  S  e  e  g  e  n ,  Stadien  über  Stoff- 
wechsel. 1887. 

')  Zaoker  im  Blute,  seine  Quelle  und  seine  Bedeutung.  Pflüger's  Archiv, 
XX.Xiy ;  abgedruckt  in  S  e  e  g  e  n ,  Studien  u.  Stoffwechsel. 

(4) 


Zur  Frage  der  Znckerbildnng  in  der  Leber.  387 

und  Venen  im  Allgemeinen  mit  0' 1—0*15  Procent  bestimmt  hatte, 
ging  er  an  seine  eigentliche  Aufgabe.  Er  experimentirte  nur  an 
hungernden  oder  mit  Fleisch  genährten  Hunden  und  entzog  ihnen 
nach  einer  von  v.  Mering  angegebenen  und  von  v.  Basch 
moditicirten  Methode  sowohl  Pfortader-  als  reines  Lebervenen- 
blut. Es  wurde  ein  Schnitt  in  der  Linea  alba  gemacht,  die  Milz 
hervorgezogen  und  von  einer  Milzvene  ans  eine  mit  einem  Stab  mon- 
tirte  Canüle  zur  Porta  vorgeschoben.  Dann  wurde  die  V.  cav.  asc. 
im  Bauchraume  oberhalb  der  Nierenvene  unterbunden,  der  Brust- 
raum rechts  so  weit  geöffnet,  um  eine  Ligatur  um  die  Cava  ober- 
halb der  Lebervenen  anlegen  zu  können.  Sodann  wurde  vom 
Bauchraume  aus  eine  lange,  mit  Stab  versehene  Canüle  so  weit 
in  die  Cava  vorgeschoben,  bis  die  Spitze  im  Brustraume  oberhalb 
des  Zwerchfells  und  unterhalb  der  Ligatur  gefühlt  werden  konnte. 
Dann  wurden  die  Stäbe  aus  den  Canülen  entfernt  und  das  Blut 
in  Massgefässen* aufgefangen,  und  zwar  zuerst  aus  der  kleinen 
an  der  Porta  und  dann  aus  der  in  der  Cava  steckenden  Canüle. 
Da  die  Cava  oberhalb  und  unterhalb  der  Leber  unterbunden  war, 
so  konnte  aus  der  langen  Canüle  nur  Lebervenenblut  abfliessen. 

Aus  vergleichenden  Analysen  stellte  es  sich  heraus,  dass 
das  Pfortaderblut  im  Mittel  0"119  Procent,  das  Lebervenenblut 
O230  Procent  Zucker  enthalte.  Seegen  bestimmte  auch  das 
Blutquantum,  das  in  der  Zeiteinheit  aus  der  V.  port.  ausströmt, 
und  berechnete  daraus,  wie  viel  Zucker  in  24  Stunden  von  der 
Leber  dem  Organismus  zugeführt  werde.  Bei  drei  Thieren  von  7, 
10  und  41  Kilo  betrugen  diese  Mengen  179,  233—433  Gramm. 
Die  Zuckerbildung  ist  nach  Seegen  demnach  eine 
der  wichtigsten  Functionen  des  Stoffwechsels. 

In  weiteren  Experimentalstudien ')  über  das  Verhalten  des 
Zuckers  unter  dem  Einflüsse  verschiedenartiger  Ernährung  hat 
Seegen  gefunden,  dass  ausser  Eiweisskörpern  auch 
Fett  Bildungsmaterial  für  den  Leber-,  also  auch  den  Blutzucker 
abgebe.  Er  hat  Leberstticke  in  ähnlicher  Weise,  wie  er  es  mit 
Pepton  gethan,    mit  Fett  behandelt  und  hat  ebenso  Fütterungs- 

1)  Ueb.  Zucker  im  Blute  mit  Bücksicht  auf  Emährang.  üeber  die  Fähigkeit 
der  Leber,  Zacker  aus  Fett  zu  bilden.  Pfiüger's  Arch.  XXXIX;  abgedruckt  in 
S  e  e  g  e  n ,  Stadien  über  Stoffw. 

(5) 


388  Abele3. 

versuche  angestellt  und  in  beiden  Fällen  eine  bedeutende  Zunahme 
des  Leberzuckers  constatiren  können. 


In  meiner  oben  citirten,  im  Jahre  1874  erschienenen  Arbeit  i) 
über  den  physiologischen  Zuckergehalt  des  Blutes  habe  ich  an- 
gegeben, dass  der  Zucker  ein  normaler  Bestandtheil  des  Blutes 
sei,  dass  er  sich  in  allen  Gefässgebieten  in  ungefähr  gleicher 
Menge  vorfinde,  und  dass  das  Blut  des  rechten  Herzens  oder  der 
V.  cav.  nach  Aufnahme  des  Lebervenenblutes  sich  in  dieser  Be- 
ziehung nicht  unterscheide.  Die  absoluten  Zahlen,  die  ich  ge- 
funden, waren  etwas  kleiner,  als  die  der  anderen  Autoren,  und 
der  Vorwurf,  den  Seegen  gegen  mich  erhebt,  dass  ich  mich 
einer  zu  complicirten  Methode  bedient  habe,  mag  berechtigt  sein. 
Wir  besassen  damals  noch  nicht  die  ausgezeichneten  Enteiweissuugs- 
methoden  von  heute,  wie  z.  B.  die  von  Schmidt-Mülheim, 
allein,  da  ich  eine  beträchtliche  Reihe  vergleichender  Analysen 
ausgeführt  hatte,  so  stand  immerhin  zu  erwarten,  dass,  falls  das 
Blut  thatsächlich  aus  der  Leber  Zucker  aufnimmt,  sich  in  den 
gefundenen  Mittelzahlen  ein  Unterschied  zwischen  Blut  dies-  und 
jenseits  der  Leber  ergeben  werde,  was  aber  nicht  der  Fall  war. 
Allerdings  hatte  ich  auch  nie  reines  Lebervenenblut,  sondern  nur 
Herz-  oder  Cavablut  untersucht,  und  dieser  Umstand,  zusammen- 
genommen mit  der  UnvoUkommenheit  der  chemischen  Methode, 
mochten  ein  irriges  Resultat  herbeigeführt  haben,  und  ich  nahm 
deshalb  die  Versuche  wieder  auf.  Ihre  Anzahl  ist  vergleichsweise 
zu  denen  Seegen's  eine  kleine,  überdies  beschränken  sie  sich 
lediglich  auf  Blutanalysen,  allein  die  Ergebnisse  sind  solche,  dass 
ich  glaube,  mit  der  Veröffentlichung  derselben  hervortreten  zu  sollen.  ^) 

^)  Medic.  Jahrb.  d.  k.  k.  Gesellsch.  d.  Aerxte.  1874. 

*)  Ich  habe  eigentlich  den  ersten  einschlägigen  Versuch  (mit  Kr.  I  be- 
zeichnet) schon  vor  längerer  Zeit,  zunächst  zu  meiner  eigenen  Belehrung  an- 
gestellt. Da  ich  Zahlen  fand,  die  mit  den  S  e  e  g  e  n'schen  ganz  übereinstimmten, 
30  hielt  ich  meine  alten  Resultate  für  falsch  und  ich  nahm  die  zuckerbildende 
Function  der  Leber  als  erwiesen  an.  Herr  Prof.  S  e  e  g  e  n  ,  der  von  dem  Ver- 
suche Eenntniss  hatte,  meinte  jedoch,  es  sei  im  Interesse  dieser  wichtigen  phy- 
siologischen Frage  erwünscht,  dass  die  Thatsachen  auch  von  anderer  Seite  be- 
stätigt werden,  und  so  nahm  ich  in  diesem  Jahre  die  Arbeit  wieder  auf.  Ich 
gelangte  dabei  zu  abweichenden  Schlüssen. 
(6) 


Zur  Frage  der  Zuckerbildimg  in  der  Leber.  389 

Ich  habe  ausschliesslich  an  mittelgrossen  und  grossen  Hunden 
experimentirt ,  die  ]ö— 18  Stunden  keine  Nahrung  eingenommen 
hatten,  mit  Ausnahme  eines  Thieres  (Nr.  II),  das  drei  Stunden 
vor  dem  Versuche  mit  Fleisch  gefüttert  worden  war.  In  Bezug 
auf  den  vivisectorischen  Theil  der  Arbeit  bin  ich  im  Anfange  so 
vorgegangen  wie  Seegen.  Die  ersten  zwei  Operationen  führte 
Herr  Prof  v.  Basch,  die  folgenden  Herr  Doc.  Dr.  Gärtner 
nach  V.  Basch's  Methode  aus.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Arbeit 
verliess  ich  aus  Gründen,  die  sich  bald  ergeben  werden,  diese 
Methode  und  trachtete  nun  nach  einem  von  Prof.  Stricker 
geübten  Vorgange,  auf  den  ich  später  zurückkommen  werde,  reines 
Lebervenenblut  zu  gewinnen.  Herr  Prof  Stricker  war  so  freund- 
lich, die  Operationen  auszuführen.  Den  genannten  Herren  sage 
ich  hiermit  meinen  Dank. 

Im  chemischen  Theile  der  Arbeit  ging  ich,  abgesehen  von 
kleinen  Modificationen,  so  vor  wie  See  gen  (Enteiweissung  nach 
Schmidt-Mülheim).  Das  aus  den  Gef ässen  ausströmende  Blut 
{20 — 50  Ccm.)  wurde  im  Messcylinder  aufgefangen  und  sofort  in 
eine  grosse  Pörzellanschale,  die  mit  einer  verdünnten  Lösung  von 
essigsaurem  Natron  gefüllt  war,  gegossen.  Die  Lösung  enthielt 
15  Gramm  essigsaures  Natron.  Für  die  erwähnten  Blutmengen 
ist  es  nicht  nöthig  mehr  zu  nehmen,  und  man  kann  dann  zum 
Schluss  die  Flüssigkeit  auf  ein  kleines  Volum  eindampfen,  ohne 
dass  das  Salz  auskrystallisirt.  Zu  diesem  in  der  verdünnten  Salz- 
lösung vertheilten  Blut  setzte  ich  in  der  Kälte  eine  kleine  Menge 
Eisenchloridlösung,  so  viel,  dass  die  Flüssigkeit  schwach  sauer 
reagirte.  Ich  habe  dann  nicht  weiter  neutralisirt,  sondern  einfach 
zum  Sieden  erhitzt.  Dabei  scheidet  sich  alles  Eiweiss  sehr  schön 
ab,  die  Lösung  geht  klar  und  oft  wasserhell  durch  das  Filter 
und  gibt  meist  mit  Essigsäure  und  gelbem  Blutlaugensalz  keine 
Trübung  mehr.  Das  auf  dem  Filter  befindliche  Goagulum  wurde 
dann,  nachdem  es  schon  gut  gewaschen  war,  mit  dem  Filter  in 
einer  Presse  scharf  ausgepresst.  Die  aus  der  Presse  ausfliessende, 
meist  trübe  Flüssigkeit  wurde  mit  dem  Filtrat,  das  früher  auf 
ein  kleineres  Volum  eingedampft  wurde,  vereinigt,  demselben 
nochmals  drei  Tropfen  Eisenchloridlösung  zugesetzt,  aufgekocht, 
filtrirt  und  dann  auf  ein  kleines  Volum  eingedampft,    sodann  ge- 

(7)  . 


390 


A  b  e  1 6  8. 


messen  und  durch  ein  nicht  angefeuchtetes  Filter  filtrirt  und  der 
Zucker  mittelst  Titrirnng  bestimmt. 

Da  ich  bei  den  ersten  Versuchen  die  Beobachtung  machte, 
dass  beim  Zufliessen  der  aus  dem  Blute  dargestellten  zuckerhal- 
tigen Flüssigkeit  in  die  alkalische  Fehling'sche  Lösung  sich 
ein  flockiger  Niederschlag  ausscheidet,  der  das  Titriren  etwas 
stört,  so  setzte  ich  bei  allen  folgenden  Versuchen  der  gemessenen, 
noch  nicht  filtrirten  Flüssigkeit  eine  kleine  Menge  einer  Lösung 
Yon  kohlensaurem  Natron  (l — 2  Gem.)  zu.  Es  fällt  dann  ein  weisser, 
flockiger  Niederschlag  heraus,  der  wahrscheinlich  zum  grossen 
Tbeile  aus  Phosphaten  besteht.  Das  auf  die  angegebene  Weise 
gewonnene  Filtrat  ist  gewöhnlich  schwachgelb  gefärbt  und  eignet 
sich  sehr  gut  zum  Titriren.  Die  Fehling'sche  Lösung,  deren 
ich  mich  bediente,  war  mit  einer  Olprocentigen  Zuckerlösung 
genau  gestellt  worden.  2  Gem.  Eupferlösung  entsprachen 
0010  Zucker.  Gewöhnlich  wurden  für  jede  Bestimmung  drei 
Titrationen  vorgenommen. 

Ich  lasse  nun  die  einzelnen  Versuche  folgen. 

Versuch  L 

Einem  grossen  Hunde  werden  ohne  Narcose  zuerst  aus  der 
Carotis,  dann  aus  der  V.  port.  und  aus  den  Lebervenen  nach 
der  beschriebenen  Methode  Blutproben  genommen  und  untersucht. 


Gefissgebiet 


Carotis  .  . 
V.  port.  . 
V.  hepat.  . 


Menge  des 
Blutes 
in  Cc. 


47 

42-5 

48-5 


Menge  der 
dAraus  darge- 
stellten Zacker- 
lÖBung  in  Cc. 


Absolnte 
Menge  des 
gefandenen 

Zuckers 


Zucker  in 

100  Tbeilen 

Blat 


Anmerkung 


68 
63 
65 


0056 
0043 
0-097 


0120 
0-102 
0-200 


Versuch  II. 


Grosser  Hund,  wie  früher  behandelt. 


GefäsBgebiet 


Menge  des 
Blutes 
in  Cc 


Menge  der 

daraus  dai*ge- 

stellten  Zucker- 

lösuDg  in  Cc. 


Absolute 
Menge  des 
gefandenen 

Zuckers 


Zucker- 
gebalt in 
100  Theilen 
Blut 


Anmerkung 


Carotis  .  . 
V.  port.  . 
V.  bepat.  . 

(6) 


40 
45 
45 


65 
61 


0-043 
0095 


0-095 
0-210 


venmglfickt 


Zur  Frage  der  Zuckerbildnng  in  der  Leber. 


391 


Diese  beiden  Versuche  stimmeD  ganz  mit  den  Angaben 
Seegen's  überein.  Das  Lebervenenblnt  enthält  angefähr  noch 
einmal  so  viel  Zacker  als  das  Portablut.  In  beiden  Fällen  war 
znerst  das  Blut  aus  der  Arterie  und  der  Pfortader  und  dann  erst 
das  der  Lebervenen  entnommen.  Im  folgenden  Fall  war  die  zeit- 
liche Anordnung  eine  andere,  es  wurde  das  Blut  zuerst  aus 
der  Porta,  dann  aus  den  Lebervenen  und  zuletzt  aus  der  Carotis 
genommen. 

Versuch  in. 

Mittlerer  Hund,  mit  Morphin,  das  in  die  V.  jugul.  injicirt 

wurde,  narcotisirt.    Es  wird  Blut  zuerst  aus  der  Pfortader,  dann 

aus  den  Lebervenen  und  zuletzt  aus  der  Carotis  genommen.  Aus 

der  Letzteren  floss  es  langsam,  das  Thier  begann  zu  agonisiren. 


GefäcBgebiet 


Menge  des 
Blates 
in  Cc. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zncker- 
lösung  in  Co. 


Absolute 

Menge  des 

gefondenen 

Zuckers 


Zucker  in 

100  Tbeilen 

Blut 


Anmerkung 


V.  port. 
V.  hepat. 
Carotis  . 


49 
39 
14.5 


49 
50 
29-5 


0-061 
0-135 
0-029 


0-124 
0-345 
0-200 


Das  Resultat  dieses  Versuches  ist  bemerkenswerth  durch 
den  grossen  Zuckergehalt  überhaupt  und  besonders  durch  den  des 
Carotisblutes.  Es  war  auch  daran  zu  denken,  ob  nicht  das  Morphin 
dabei  von  Einfluss  war.  Da  aber  vom  Arterienblut  vor  der 
Injection  keine  Probe  genommen  worden  war,  so  liess  sich  dies 
vorläufig  nicht  entscheiden  und  blieb  einem  späteren  Versuch 
vorbehalten.  Der  nächste  Versuch  wurde  jedenfalls  ohne  Narcose 
vorgenommen  und  hatte  den  Zweck  zu  erfahren,  ob  der  schwere 
Eingriff,  der  zur  Gewinnung  des  Lebervenen blutes  nöthig  ist, 
nicht  schon  an  und  fiir  sich  eine  Steigerung  des  Zuckergehaltes 
im  Blute  im  Allgemeinen  und  speciell  selbst  in  der  V.  port.  zur 
Folge  habe.  Es  sollte  deshalb  zuerst  aus  der  V.  jugularis,  dann 
aus  den  Lebervenen,  dann  neuerdings  aus  den  V.  jugul.  und 
schliesslich  aus  der  V.  port.  Blut  entnommen  werden.  Dies  gelang 
aber  nur  theilweise,  da  gegen  Ende  der  Operation  das  Herz  nur 
noch  schwach  arbeitete,  so  dass  es  eben  nur  noch  möglich  war, 
aus  der  V.  jugul.  und  lienalis  zusammen  30  Cc.  Blut  zu  erhalten, 

(9) 


392 


Abeles. 


wovon  ungefähr  die  Hälfte  auf  jede  der  beiden  Venen  kommt. 
Dieses  Blut  gerann  sehr  schnell,  konnte  aber  doch  gut  verarbeitet 
werden. 

Venmoli  IV. 

Grosser  Hund,  nicht  narcotisirt. 


Gefttaagebiet 


Menge  des 
Blates 
in  Co. 


V.  jug.  .    .    . 

V.  hepat.  .    . 

V.    jug.     n. 

lienal.  .    .    . 


40-5 
400 

30 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösimg in  Co. 


Absolute 

Menge  des 

geftmdenen 

Zuckers 


Zucker- 
gehalt in 
100  Tbeilen 
Blut 


Anmerkung 


99 
68 

67 


0-063 
0090 

0062 


0-155 
0-226 

0-207 


(tropft  lang- 
sam, gerinnt 
sehr  bald 


Das  Resultat  dieses  Versuches  ist  sehr  auffallend.  Das 
Lebervenenblut  ist  wieder  reicher  an  Zucker  als  dasjenige, 
welches  vor  demEingriffe  aus  derV. jugul.  erhalten  wurde, 
allein  nach  demselben  finden  wir  in  der  Mischung  aus  V.  jug. 
und  V.  lienal.  beinahe  so  viel  als  in  den  Lebervenen. 

Es  ist  hier  der  Platz,  hervorzuheben,  dass  auch  See  gen 
sich  die  Frage  vorlegte,  ob  das  Plus  an  Zucker  in  den  Leber- 
venen  nicht  die  Wirkung  des  schweren  Eingriffs  sei.  Dieser  Ge- 
danke drängte  sich  ihm  auf,  als  er  einmal  zufällig  vergessen 
hatte,  wie  gewöhnlich  noch  vor  Eröffnung  des  Bauchraumes 
Carotisblut  zu  nehmen  und  dies  erst  zum  Schlüsse  des  ganzen 
Versuches  that.  Dieses  Blut  enthielt  noch  mehr  Zucker  als  selbst 
die  Lebervenen.  Seegen  wollte  erfahren,  welcher  der  einzelnen 
Acte  des  Versuches  einem  solchen  Einfluss  haben  könnte,  und 
er  fand  bei  Controlversuchen,  dass  der  rechtsseitige  Pneumothorax, 
der  gemacht  werden  muss,  um  zur  V.  cav.  im  Brustraume  zu 
gelangen,  ftir  den  Blutzucker  irrelevant  sei,  dass  aber  die  Unter- 
bindung der  V.  cav.  im  Bauchraume  den  Zuckergehalt  in  der 
Carotis  steigere.  Für  diese  merkwürdige  Erscheinung  gibt  See  gen 
keine  genügende  Erklärung,  sondern  er  erwartet  von  weiteren 
Untersuchungen  Aufschlüsse  darüber.  Vermuthungsweise  spricht 
er   aus,    dass    der    von   der  Leber   in  normaler  Weise  erzeugte 

(10) 


Zur  Frage  der  Zackerbildung  in  der  Leber.  393 

Zucker  unter  dem  Einflüsse  des  Eingriffes  nicht  in  demselben 
Masse  im  Organismus  verbraucht  wurde,  wie  sonst.  Indessen 
trachtete  er  doch  sich  auf  einem  andern  als  dem  bisherigen  Wege 
reines  Lebervenenblut  zu  verschaffen,  indem  er  nämlich  den 
Bauchraum  eröffnete,  die  Leber  tief  herabzog  und  dann  mit  einer 
Stichcanüle  eine  Lebervene  anstach.  In  drei  gelungenen  derartigen 
Versuchen  fand  er  abermals  ungefähr  die  doppelte  Zuckermenge 
als  in  der  Pfortader.  Er  hält  also  daran  fest,  dass  die  Leber  die 
physiologische  Function  habe,  Zucker  zu  erzeugen,  und  zwar  in 
dem  von  ihm  gefundenen  Ausmasse. 

Bei  einer  späteren  Gelegenheit,  und  zwar  bei  den  oben 
erwähnten  Fütterungsversuchen  mit  Fett,  führte  Seegen  noch 
eine  weitere  Reihe  vergleichender  Blutanalysen  aus,  wobei  er 
das  Blut  aus  einer  Lebervene  mittelst  directen  Einstichs  „bei 
abgeklemmter  V.  cav."*  entnahm.  Die  Resultate  stimmten  mit  den 
früheren. 

Nach  dem  Resultate  des  letzten  Versuches  und  nach  genauer 
Erwägung  der  Seegen'schen  Thatsachen  konnte  ich  vorläufig 
seine  Schlüsse  nicht  annehmen,  sondern  hielt  es  für  nothwendig 
die  Versuche  fortzusetzen.  Bevor  ich  aber  weiter  ging,  wollte 
ich  sehen,  inwiefern  die  Morphinnarcose  oder  der  Pneumothorax 
den  Blutzucker  beeinflussen. 

Versuoli  V, 

Einem  grossen  Hunde  wird  zuerst  aus  der  V.  crur.  Blut 
genommen,  dann  in  dieselbe  Morphin  in  für  die  Narcose 
genügender  Menge  injicirt.  Nach  20  Minuten  wurde  aus  der 
V.  crur.  der  anderen  Extremität  Blut  genommen.  Sodann  wird 
rechtsseitiger  Pneumothorax  gemacht  und  durch  einige  Zeit  nicht 
künstlich  respirirt,  so  dass  starke  Dyspnoe  eintritt.  Während 
derselben  wird  aus  der  V.  jug.  eine  Blutprobe  genommen,  dann 
wird  die  Lunge  kräftig  ventilirt  (das  Thier  war  natürlich 
trachäotomirt)  und  darauf  neuerdings  aus  der  V.  jug.  Blut  ge- 
nommen. 


(U) 


394 


Abele». 


GefftcBgebiet 


Menge  des 
Blutes 
in  Cc. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
Idsuog  in  Cc. 


Absolute 

Menge  des 

gefundenen 

Zuckers 


Zucker- 
gehalt in 
100  Theilen 
Blut 


^9 


Anmerkung 


V.  crur.  dext. 

V.  crur.  sin. 

V.  jng.  a)     . 
V.  jug.  h)     . 


37 

36-5 

30-5 
36 


68 

63 

66 
65 


0041 

0055 

0054 
0065 


0110 

0150 

0-177 
0180 


< 


vor  NarcoM 

20  Hinuten 

nach  Beginn 

der  Naroose 

Dyspnoe 

Lunge  ventilirt 


Es  ergibt  sich  aus  diesem  Versuche,  dass  die  Dyspnoe  keine 
auffallende  Wirkung  ausübt,  dass  sich  aber  Morphin  als  Narcoti- 
cum  nicht  verwenden  Hess.  Nach  20  Minuten  langer  Dauer  der 
Narcose  steigt  der  Blutzucker  um  mehr  als  30  Procent  und  im 
weiteren  Verlaufe  sogar  über  60  Procent.  Es  war  also  nöthig, 
nochmals  am  nicht  narcotisirten  Thier  das  Verhältniss  des  Zucker- 
gehaltes in  Carotis  und  Porta  vor  und  nach  Entnahme  des  Leber- 
venenblutes zu  vergleichen. 


Versuch  VI. 

Grosser,  nicht  narcotisirter  Hund.  Die  Reihenfolge  der  Blut- 
entnahme war  Carotis  a,  Porta  a,  Lebervene,  Carotis  b,  Porta  b. 


Qefässgebiet 


Menge  des 
Blutes 
in  Cc. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösung in  Cc. 


Absolute 
Menge  des 
gefundenen 

Zuckers 


Zucker- 
gehalt in 
100  Theilen 
Blut 


Anmerkung 


Carotis  a) . 
V.  port.  a) 
V.  hepat.  . 
Carotis  h) 
V.  port.  6> 


47 

44-5 

48 

38-5 

36 


73 
67 
73 

68 
62 


0067 

0-142 

0-062 

0139 

0180 

0-375 

0096 

0-250 

0-060 

0-166 

Es  zeigt  sich,  dass  von  Anfang  an  der  Zuckergehalt  in  der 
Carotis  und  der  V.  port.  beinahe  gleich  ist,  dass  in  beiden  der- 
selbe während  der  Dauer  des  Versuches  zunimmt,  und  zwar 
besonders  stark  in  der  Arterie.  Das  Lebervenenblut  ist  wieder 
sehr  reich  an  Zucker. 

Alle  bisher  angeführten  eigenen  Versuche  stehen  mit  den 
von  Seegen  angegebenen  Thatsachen  nirgends  in  Widerspruch. 

(12) 


Zur  Frage  der  Zackerbildang  in  der  Leber.  395 

leb  habe  mich  der  yon  ihm  benutzten  Methode  bedient  und  auch 
ungefähr  dieselben  Zahlen  gefunden  wie  er.  Neu  habe  ich  nur 
hinzugefügt,  dass  bei  Unterbindung  der  V.  cay.  im  Bauchraume 
der  Zucker  nicht  nur  in  den  Arterien,  sondern  auch  in  der  Pfort- 
ader bedeutend  anwächst.  Allein  ich  kann  die  Lehre,  dass  die 
Leber  im  physiologischen  Zustande  stetig  Zucker  erzeuge  und 
Yollends,  dass  sie  es  in  dem  Ausmasse  thue,  wie  Seegen  angibt, 
nicht  als  erwiesen  betrachten.  Es  ist  ja  möglich,  dass  der  Blut- 
zucker ganz  oder  zum  grossen  Theile  aus  der  Leber  stammt,  und 
es  gibt  einige  Gründe,  die  dafür  sprechen,  dass  dem  so  sei,  allein 
einen  zwingenden  Beweis  können  wir  meines  Erachtens  aus  allen 
bisher  sichergestellten  Thatsachen  nicht  ableiten.  Seegen  nimmt 
die  zuckerbildende  physiologische  Function  der  Leber  als  feststehend 
an  und  betrachtet  die  Zunahme  des  Blutzuckers  in  der  Carotis 
nach  Unterbindung  der  V.  cav.  als  einen  nebensächlichen  unauf- 
geklärten Punkt.  Ich  denke  aber,  so  lange  dies  nicht  klargelegt 
ist,  hat  die  Annahme,  dass  das  Plus  an  Zucker  im  Lebervenen- 
blute  ein  Product  des  Insultes  des  Organes  sei,  zum  mindesten 
ebensoviel  Berechtigung,  wie  die  Vermuthung  Seegen's,  dass 
bei  Unterbindung  der  Cava  der  in  normaler  Weise  erzeugte  Zucker 
nicht  verbraucht  werde.  Warum  sollte  gerade  nur  der  Verbrauch 
alterirt  werden  und  nicht  auch  die  Erzeugung  ?  Pavy  und  seine 
Anhänger  nahmen  an,  dass  die  Leber  während  des  Lebens  so 
gut  wie  keinen  Zucker  enthalte;  Seegen  und  Kratschmer^) 
fanden  zwar  in  der  Leber,  die  möglichst  schnell  nach  dem  Tode 
desThieres  untersucht  ward,  ungefähr  0*5  Procent  Zucker;  aber 
es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  sofort  nach  dem  Tode  eine 
rapide  Zuckerentwickkng  beginnt.  Die  Leber,  die  ein  so  reges 
Leben  zu  führen  hat,  ist  auch  in  ihrem  Stoffwechsel  empfindlich, 
und  es  ist  in  hohem  Grade  möglich,  dass  die  Zuckerbildung, 
die  von  Pavy  eine  postmortale  genannt  wurde,  schon  intra 
mortem  beginnt  oder  selbst  auf  traumatische  oder  toxische 
Schädlichkeiten  von  geringer  Intensität  eintritt. 

Der   directe  Beweis,    dass  der  Blutzucker   aus   der  Leber 
stamme,  ist  ohne  vergleichende  Blutanalysen  nicht  möglich,  und 

0  1.  c. 

(!3) 


396  AbeleB. 

damit  diese  unanfechtbar  seien,  ist  es  nothwendig,  dass  man  sich 
Lebervenenblat  verschaffe,  ohne  das  Organ  za  sehr  zu  beleidigen. 
Ich  habe  dies  durch  directes  Katheterisiren  der  Lebervenen  bewerk- 
stelligt. Die  Methode  von  der  V.  jug.  aus  in's  rechte  Herz  oder 
in  die  Nähe  der  Einmündung  der  Lebervenen  zu  gelangen,  ist 
bekanntlich  alt  (Magendie,  C.  Bernard),  aber  man  kam 
immer  nur  in  die  Nähe  der  Lebervenen,  niemals  in  eine 
solche  hinein.  Seit  einiger  Zeit  jedoch  wird  von  den  Herren 
Ikalowicz  und  PaP)  im  Stricker^schen  Laboratorium 
behufs  gewisser  Studien  die  directe  Sondirung  der  Lebervenen 
geübt,  und  Herr  Prof.  Stricker  war  so  freundlich,  diesen  Theil 
des  Versuches  jedesmal  für  mich  auszuführen.  Es  wurden  dazu  wieder 
mittlere  und  grosse  hungernde  Hunde  genommen,  die  mit  Chloro- 
form narcotisirt  waren.  Es  wurde  mit  einer  eigens  dazu  gefertigten 
Canüle  die  am  Ende  eine  kleine  Krümmung  hatte,  von  der  rechten 
y.  jug.  aus  eingegangen.  Man  traf  zuweilen  in's  rechte  Herz,  in 
welchem  Falle  die  Canüle  wieder  etwas  zurückgezogen  und  unter 
Vermeidung  des  Herzens  bis  an's  Zwerchfell  und  in  eine 
Lebervene  eingeführt  wurde.  Wenn  das  Thier  so  gelagert  war, 
dass  das  Herz  etwas  nach  links  sank,  so  drang  das  Instrument 
gewöhnlich  direct  an's  Ziel.  Es  kam  auch  vor,  dass  man  an  den 
Lebervenen  vorbei  tiefer  in  die  Cava  gelangte,  dann  wurde  ein 
wenig  zurückgezogen  und  eine  Lebervene  aufgesucht.  Man  merkt 
an  dem  Umstände,  dass  die  Sonde  mit  In-  und  Exspiration 
sich  rhythmisch  bewegt,  dass  sie  in  einer  Lebervene  steckt,  es 
fliesst  auch  dann  das  Blut  nicht  nur  um  Vieles  schwächer,  als 
wenn  man  sich  in  der  Cava  befindet,  sondern  der  Strom  sinkt 
und  steigt  entsprechend  den  Respirationsphasen ,  aber  die  voll- 
ständige Gewissheit,  dass  man  wirklich  in  der  Lebervene  war, 
verschafft  man  sich  erst  durch  die  Palpation.  Es  wird,  nachdem 
die  ersten  Blutproben  genommen  waren,  ein  kurzer  Einschnitt  in 
die  Linea  alba  gemacht  und  mit  zwei  Fingern  in  den  Bauchraum 
eingedrungen.  Fühlte  man  die  Sonde  nicht  in  der  Leber,  so  muss 
sie  besser  eingeführt  und  anderes  Blut  genommen  werden.  Nach 

^)  S.  Anzeiger    der  k.  k.    Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien,  Sitzung  von 
13.  Mai  1887. 

(14) 


Zur  Frage  der  Zuckerbildung  in  der  Leber. 


397 


Vollendung  des  Yersnehs  wurde  die  Sonde  in  der  Richtang  in  der 
sie  stak,  durch  die  Leber  durchgestossen,  und  bei  der  Secticm  konnte 
man  sich  überzeugen,  dass  man  sich  in  der  Lebervene  befand 
und  die  V.  cav.  ganz  unverletzt  war.  Es  wurden  selbstverständlich 
nur  jene  Versuche  verwerthet,  bei  denen  man  in  unzweifelhafter 
Weise  sehen  konnte,  dass  man  mit  der  Sonde  wirklich  in  der 
Lebervene  war.  Bei  dieser  Methode  wird  nicht  das  Blut  der 
Pfortader,  sondern  das  aus  Venen  oder  Arterien  mit  dem  Leber- 
venenblut verglichen. 

Ich  tiberzeugte  mich  zuerst  durch  einen  Vorversuch,  dass 
die  Chloroformnarcose  den  Blutzucker  nicht  beeinfiusst. 

Versuch  VII. 

Einem  kleinen  Hunde  wird  Blut  aus  der  Carotis  genommen. 
Darauf  wird  das  Thier  chloroformirt,  20  Minuten  in  der  Narcose 
belassen  und  wieder  Blut  genommen. 


Ctofäeegebiet 


Menge  des 
Blutes 
in  Cc. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
15sung  in  Cc 


Absolute 
Menge  des 
gefundenen 

Zuckers 


Zucker  in 

100  Theilen 

Blut 


Anmerkung 


Carotis  a)    . 


Carotis  bj    . 


38 


35 


50 
50 


0050 
0-046 


0131 
0131 


{ 


vor  Chloro- 
form 
l'nach  Chloro- 
form 


\ 


Der  Blutzucker  wird  demnach  durch  Chloroform  nicht  ver- 
mehrt. Die  absolut  genaue  Uebereinstimmung  ist  wohl  nur  eine 
zufällige.  Wenn  auch  die  heutigen  Methoden  genauere  Resultate 
liefern  als  die  älteren,  so  muss  man  meines  Erachtens  Differenzen 
von  5 — 10  MUgr.  und  selbst  wenig  darüber  in  100  Cc.  Blut  als 
in  den  Fehlergrenzen  gelegen  ansehen. 

Es  folgen  nun  die  eigentlichen  Versuche. 


Versuoli  Vm. 

Mittlerer  Hund,  chloroformirt.  Es  wird  Blut  aus  derV.jug., 
dann  in  zwei  gesonderten  Portionen  aus  der  V.  hepat.  genommen. 

(16) 


898 


Aböles. 


GeflUsgebiet 


I  Menge  des 
Blatee 


|| 


in  Ce. 


Menge  der 

darans  dsrge- 

steUteniZacker- 

löinng  in  Co. 


Absolute 
Menge  des 
gefundenen 

Zacken 


V.  jag.  .  . 
V.  hep.  a) 
V.  hep.  b) 


38-5 

36 

40 


65 
62 
68 


0-048 
0053 
0^1 


Zocker  in 

100  Theilen 

Blnt 

0124 
0146 
0177 


Anmerknng 


Es  zeigt  sich  dass  das  mittelst  einfacher  Sondirang  dem 
Thiere  entzogene  Lebervenenblnt  sich  nur  unerheblich  von  dem 
der  V.  jug.  unterscheidet.  Die  zweite  Portion  des  Lebervenen- 
blutes ist  gesättigter,  woraus  hervorgeht,  dass  während  der  kurzen 
Dauer  der  Operation  die  Zuckererzeugnng  lebhafter  war. 

VerBuoh  IX. 
Grosse  Hündin,    chloroformirt.    Zuerst  wird  Carotis-,   dann 
Lebervenenblut  genommen.  Es  dauert  relativ  lange,  bis  es  gelingt, 
in  die  Lebervene  einzudringen. 


Gefftssgebiet 


Menge  des 

Blntes  in 

Ccm. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösang  in  Ccm. 


Absolute 

Menge  des 

gefundenen 

Zuckers 


Zucker  in 

100  Theilen 

Blut 


Anmerkung 


CarotiB 
j  V.  hepat. 


42*5 
41 


67 
59 


0-057 
0-066 


0-134 
0160 


Versuoh  X. 
Grosser  Hund,  chloroformirt.  Die  Reihenfolge  der  Blutent- 
nahme wurde  diesmal  umgekehrt.  Es  wurde  zuerst  Blut  aus  der 
Leber  und  dann  ans  der  Arterie  genommen.  Die  erste  Portion 
tropft  sehr  langsam,  so  dass  die  Sonde  sich  mit  Coagulum  ver- 
stopft. Sie  wird  entfernt  und  10  Minuten  gewartet,  damit  die 
Leber  sich  erholen  kann.  Bei  der  zweiten  Einführung  fiiesst  das  Blut 
rhythmisch  und  gut.  Dann  wird  Blut  aus  der  Art.  crur.  genommen. 


Gefilssgebiet 


Menge  des 


Menge  der 
daraus  darge- 
Zuckers  in  gt^llten  Zucker- 

^^^'       'lösung  in  Ccm. 


Absolute 
Menge  des 
gefundenen 
Zuckers 


Zucker  in 

100  Theilen 

Blut 


Anmerkung 


V.  hep.  aj 

V.  hep.  b' 
Art.  cmr. 

(16) 


12 

34 
35 


70 
62 


0-058 
0-050 


'\wi 
f  ve 


wird  nicht 
verarbeitet 


0170 
0143 


Zar  Frage  der  Zackerbildong  in  der  Leber. 


399 


Verauoh  XI. 

Sehr  grosse  Hündin,  chloroformirt.  Es  wird  durch  die  V.  jug. 
wie  gewöhnlich  eingegangen  nnd  Blut  in  zwei  Portionen  genommen. 
Beim  Nachfühlen  im  Bauchraume  zeigt  sich,  dass  die  Sonde  nicht 
in  der  Leber  steckt.  Sie  wird  zurückgezogen,  einige  Zeit  gewartet, 
damit  die  Leber  sich  erholen  kann,  und  nun  in  eine  Lebervene 
eingegangen  und  3  Blutproben  genommen. 


Gefässgebiet 


Menge  des 
Zuckers 
in  Ccm. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösung in  Ccm. 


Absolute 

Menge  des 

gefondenen 

Zuckers 


Zucker  in 

100  Theileu 

Blut 


Anmerkung 


V.  hep.  a) 
V.  hep.  h) 
V.  hep.  c) 


30 
26 
30-5 


52 
65 

70 


0-035 
0039 
0-057 


0-116 
0150 
0-186 


Versaoh  XII. 
Grosser  Hund,  chloroformirt.  Es  wird  zuerst  eine  Probe  aus 
der  Art.  crur.  und  dann  zwei  aus  der  V.  hepat.  genommen. 


Gefiasgebiet 


Art.  cmr, 
V.  hep.  a) 
V.  hep.  h) 


Menge  des 

Blutes  in 

Ccm. 


Menge  der        Absolute 
daraus  darge-  |  Menge  des 
stellten  Zucker-  gefondenen 
lösung  in  Ccm.!    Zuckers 


Zucker  in 

100  Theilen 

Blut 


Anmerkung 


24-5 
25 


57 
57 


0040 
0-063 


0163 
0-252 


vemnglüokt 


Versuoh  Xin. 
Ich  füge  noch  einen  Versuch  hier  an,  den  ich  gewisser- 
massen  zufällig  angestellt  habe.  Herr  Prof.  Stricker  narcotisirte 
einen  mittelgrossen  Hund  mit  Ghloralhydrat  und  führte  ihm  zum 
Zwecke  anderer  Studien  die  Canüle  in  eine  Lebervene  ein  und 
Hess  durch  kurze  Zeit  Blut  abfliessen.  Ich  nahm  dann  erst  eine 
Probe  aus  der  Lebervene  und  darauf  aus  der  Carotis. 


Gefässgebiet 

1 
1 

1 

.Menge  des 

Blutes  in 

Ccm. 

Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösung in  Ccm. 

Absolute 
Menge  des 
gefundenen 

Zuckers 

Zucker  in 

100  ,Theilen 

Blut 

Anmerkung 

V.  hep.      .    . 
Carotis     .    . 

35 
42 

69 
74 

0-036 
0041 

0-103 
0-097 

— 

Med.  Jahrbücher.  1887. 


33     (17) 


400  Abelei. 

Alle  die  angeführten  Versuche ,  bei  welchen  die  Entziehimg 
des  Lebervenenblntes  mittelst  directer  Sondimng  bewerkstelligt 
wurde,  zeigen  mit  grosser  Uebereinstimmung ,  dass  der  Zucker- 
gehalt des  Lebervenenblntes  nicht  wesentlich  grösser  ist,  als  iler 
im  übrigen  Kreislauf,  sofern  es  gelingt,  das  Blut  in  kurzer  Zeit 
und  mit  möglichster  Schonung  der  Leber  zu  gewinnen.  Aber  die 
fortdauernde  Einwirkung  selbst  des  geringen  Insultes,  den  die  be- 
schriebene Methode  mit  sich  bringt,  hat  zur  Folge,  dass  der 
Zucker  im  Lebervenenblnte  rapid  anwächst.  In  dem  Versuche  mit 
Chloralhydrat  (XIII)  und  in  der  ersten  Portion  Lebervenenblut 
im  Versuche  XI  finden  sich  Zahlen,  die  mit  den  sonst  in  der 
Pfortader  gefundenen  geradezu  übereinstimmen,  während  umgekehrt 
die  dritte  Portion  im  Versuche  XII  einen  Zuckergehalt  aufweist, 
der  dem  von  Seegen  gefundenen  entsprechen  würde.  In  den 
anderen  Versuchen  zeigt  sich  allerdings  ein  gewisses  Plus  in  der 
Leber  gegenüber  Arterien  und  Venen,  aber  es  ist  zu  bedenken, 
dass  es  nur  selten  gelingt,  die  Sonde  so  glücklich  einzuflihren, 
dass  das  Blut  sofort  leicht  und  relativ  schnell  wirklich  aus  der 
Leber  abfliesst.  In  dem  Versuche  XII  befand  sich  die  Leber  bei 
Entnahme  der  ersten  Portion  schon  in  einem  solchen  Zustande, 
wie  im  Versuch  XI  kaum  bei  der  zweiten.  Man  hat  es  bis  zu 
einer  gewissen  Grenze  in  der  Hand,  den  Zuckergehalt  zu  steigern, 
wenn  man  langsam  manipulirt.  Dasselbe  ist  auch  bei  den  Ver- 
suchen nach  S  e  e  g  e  n  der  Fall.  Je  längere  Zeit  zwischen  Unter- 
bindung der  V.  cav.  im  Bauchraume  und  dem  Abflüsse  des  Leber- 
venenblntes verstreicht,  desto  höher  ist  der  Zuckergehalt  des 
letzteren. 

Auffallend  wenig  Zucker  findet  sich  in  den  Lebervenen  und 
im  Blute  überhaupt  im  Versuche  mit  Chloral  (Xm),  trotzdem  die 
Sonde  schon  mehrere  Minuten  stak.  Ob  dabei  die  Art  des  Anästhe- 
ticums  eine  Rolle  spielt,  kann  ich  vorläufig  nicht  entscheiden. 

Ich  habe  schon  hervorgehoben,  dass  auch  Seegen  es  fUr 
nöthig  hielt,  die  Resultate,  die  sich  ihm  bei  Unterbindung  der 
V.  cav.  im  Bauchraume  ergaben,  durch  Versuche,  die  nach  einer 
anderen  Methode  angestellt  waren,  zu  controliren.  Er  eröffnete  zu 
diesem  Zwecke  weit  den  Bauchraum,  zog  die  Leber  herunter, 
trachtete  einer  Lebervene  ansichtig  zu  werden  and  entnahm  ihr 

(18) 


Zur  Frage  der  Znckerbildnng  in  der  Leber. 


401 


mit   einer  Stichcanüle  Blut.     Die  Analysen   bestätigten   ihm   die 
froher  gefundenen  Thatsachen. 

Diese  Methode  schien  mir  nicht  ganz  zweckentsprechend, 
da  dabei  die  Leber  bedeutend  gezerrt  und  gedrückt  wird.  Auch 
ist  es  nicht  aasgeschlossen ,  da  man  nicht  so  tief  in  das  Gefäss 
eindringt,  als  bei  der  oben  erwähnten  Sondirungsmethode ,  dass 
Cavablut  regurgitirt  und  sich  dem  abfliessenden  Lebervenenblut 
beimengt.  Ich  habe  aber  doch  zwei  derartige  Versuche  (ohne  Ab- 
klemmung der  Cava)  angestellt  und  dabei  die  Vorsicht  gebraucht, 
sehr  grosse  Thiere  zu  wählen,  um  wenigstens  rasch  einer  Leber- 
yene  ansichtig  zu  werden  und  einstechen  zu  können.  Die  Resultate 
stimmten  mit  den  bei  directer  Sondirung  gefundenen  tiberein. 

Versuch  XIV. 

Sehr  grosse ,  alte  Hündin ,  etwas  marastisch ,  chloroformirt. 
Es  wird  Blut  zuerst  aus  der  Art.  crur.  und  nach  Eröffnung  des 
Bauches  aus  einer  V.  hepat.  in  4  Portionen  genommen.  Bei  Er- 
öffnung des  Bauchraumes  fand  man  Zeichen  von  alter  überstan- 
dener  Peritonitis. 


Gefässgel  iet 

tfenge  des 

Blutes 

in  Ccm. 

Men{;e  der 
daraus  darge- 
stellten Zucker- 
lösang  in  Ccm. 

Absolute 

Menge  des 

gefandenen 

Zuckers 

Zncker  in 

100  Theilen 

Blut 

Anmerkung 

Art.  crur.     . 

37-5 

71 

0-039 

0-104 

__^ 

V.  hep.  a)   . 

— 

— 

— 

— 

verunglückt 

V.  hep.  h)    . 

34 

62 

0038 

0-IJ2 

— 

V.  bep.  cj    . 

34 

52 

0042 

0123 

— 

V.  hep.  d)   . 

30 

52 

0-043 

0-146 

Versuch  XV. 

Grosse  Hündin,  chloroformirt.  Es  wird  Blut  aus  der  Art. 
crur.  und  drei  Portionen  aus  der  Lebervene  genommen.  Nach 
Entnahme  der  ersten  Portion  ist  die  Canüle  verstopft  und  es  wird 
eine  zweite  Lebervene  angestochen.  Zwischen  Entnahme  der 
zweiten  und  dritten  Portion  wird  ebenfalls  eine  Pause  von  2  bis 
3  Minuten  gemacht,  ohne  dass  die  Canüle  aus  der  Vene  ent- 
fernt wird. 

33  ♦    (19) 


402 


Abeles. 


Gefässgeblet 


Menge  des 

Blates 

in  Ccm. 


Menge  der 
daraus  darge- 
stellten Zacker- 
lösnng  in  Ccm. 


Absolute 

Menge  des 

gefundenen 

^Zuckers 


Zucker  in 

100  Theilen 

Blut 


Anmerkung 


Art.  crur. 
V.  hep.  aj 
V.  hep.  b) 
V.  hep.  c) 


39-5 

37 

45 

43 


65 
63 
61 
61 


0053 
0-052 
0-074 
0-083 


0134 
0-140 
0164 
0-193 


In  diesen  beiden  Versnehen  mittelst  Einstichs  zeigt  sich 
übereinstimmend  mit  dem  früheren  mittelst  Sondirang  ausgeführten, 
dass  die  erstgenommenen  Blutproben  ans  den  Lebervenen  in  Bezug 
auf  Zucker  sich  nicht  wesentlich  anders  verhalten,  als  das  Blut 
der  Arterien,  während  die  späteren  Proben  desto  reicher  an  Zucker 
sind,  je  später  sie  entnommen  sind. 

Es  lässt  sich  aus  diesen  Thatsachen  nicht  mit  logischer 
Nothwendigkeit  der  Schluss  ableiten,  dass  die  Leber  unter  physio- 
logischen Bedingungen  keinen  Zucker  erzeuge,  jedenfalls  lässt  sich 
sagen,  dasS  diese  Thätigkeit  der  Leber  in  dem  Yon 
Seegen  angenommenen  Ausmasse  nicht  existirt.  Ich 
habe  schon  die  Möglichkeit  zugegeben,  dass  das  Blut  stetig  aus 
der  normal  functionirenden  Leber  und  ausschliesslich  aus  dieser 
so  viel  Zucker  aufnimmt,  als  im  Organismus  verbraucht  oder  aus- 
geschieden wird.  Diesen  Gedanken  hat  schon  Pavy  angedeutet, 
und  der  Umstand,  dass  verhältnissmässig  nicht  zu 
schwere  Eingriffe  den  Zucker  geh  alt  des  Leber  venen- 
blutes  sofort  steigern,  macht  es  bis  zu  einem  ge- 
wissenGrade  wahrscheinlich,  dass  in  der  Norm  viel- 
leicht auf  gewisse  physiologische  Reize  hin,  etwas 
Aehnliches,  wenn  auch  in  sehr  abgeschwächtem 
Masse,  vor  sich  gehe.  Aber  unsere  heutigen  vergleichenden 
Blutanalysen  berechtigen  uns  weder  zur  Annahme,  noch  ziu-  Ab- 
lehnung dieser  Theorie.  Ohne  bestätigende  Blutanalysen  aber 
bleiben  alle  indirecten  Beweise  unzureichend.  Seegen  ^)  hat 
auch  die  Leber  aus  dem  Kreislauf  ausgeschaltet  und  dann  ge- 
funden ,    dass   der    Blutzucker   dabei   stetig   abnehme.    Dasselbe 


»)  1.  c. 


(2'>) 


Zur  Frage  der  Znckerbildnng  in  der  Leber.  403 

haben  vor  Jahren  B  o  c  k  ^)  und  H  o  f  m  a  n  n  und  nenerdings  M  i  n- 
kowski^)  gefunden.  Ich  habe  damals  die  Versuche  von  Bock 
und  Hofmann  nachgemacht  und  die  Angaben  nicht  bestätigen 
können.  Allein,  ich  will  annehmen,  dass  bei  meinen  Versuchen 
technische  Fehler  mit  unterlaufen  sind  und  die  Leber  nicht 
ganz  ausgeschaltet  war,  und  dass  bei  wirklicher  Ausschaltung 
der  Blutzucker  thatsächlich  verschwindet.  Dennoch  kann  ich  den 
daraus  gezogenen  Schluss,  dass  die  Leber  die  einzige  Quelle  des 
Blutzuckers  sei ,  nicht  für  richtig  halten.  Der  Eingriff  ist  ein  so 
gewaltiger,  dass  wir  gar  nicht  wissen  können,  was  dabei  im 
sterbenden  Organismus  vorgeht.  Ueberdies  haben  Bock  und  H  o  f- 
mann^)  bei  tracheotomirten  Katzen  und  Cecil  Schulz*)  bei 
ebenso  behandelten  Kaninchen,  die  einfach  dlirch  36  Stunden 
aufgebunden  waren,  die  gesanmiten  Kohlehydrate  ans  dem  Or- 
ganismus verschwinden  sehen.  Dabei  war  von  einer  Ausschaltung 
der  Leber  keine  Rede. 

Als  eine  bedeutende  Stütze  seiner  Theorie  betrachtet  S  e  e  g  e  n 
die  Ergebnisse  seiner  Versuche  mit  Pepton  und  Fett.  Dass  Leber- 
stücke mit  Peptonlösung ,  beziehungsweise  Fett  und  arteriell  er- 
haltenem Blute  mehr  Zucker  entwickelten  als  ControlstUcke  ohne 
Pepton  oder  Fett,  ist  in  der  That  eine  sehr  merkwürdige  Er- 
scheinung, aber  es  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  es  sich  um  Leber- 
stücke handelt^  die  vom  Organismus  völlig  gelöst  waren.  Hof- 
meister, der  die  Fähigkeit  der  Leberzellen,  Zucker  zu  erzeugen, 
als  erwiesen  annimmt  —  und  fUr  die  Leber  im  postmortalen  Zu- 
stande wird  die  Zuckerbildung  von  keiner  Seite  bestritten  — 
deutet  den  Einfluss  des  Peptons  dahin,  dass  die  Leberzellen  in 
diesem  günstigen  Nährmateriale  gewissermassen  thätiger  sind,  als 
in  einer  indifferenten  Flüssigkeit.  Ob  diese  Deutung  richtig  und 
namentlich,  ob  das,  was  fUr  Pepton  gelten  mag,  auch  ohne 
weiteres  auf  Fett  übertragbar  ist,  vermag  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. In  Bezug  auf  Pepton  möchte  ich  doch  daran  erinnern, 
dass  diese  Substanz  unter  Umständen  auch  toxisch  wirkt.    Diese 


')  1.  c. 

')  lieber  den  Einfluss  der  Leberezstirpation  anf  den  Stoifwecbsel.  Archiv 
f.  ezp.  Path.  XXI,  pag.  41. 

•) 

*)  Beitr.  z,  Gescliiclite  d.  Glycogens.  Inangnral-Dissert.  Berlin  1877. 

(21) 


404  Abel  es. 

schon  durch  Hofmeister  und  Schmidt-Mülheim  bekannte 
Thatsache  hatte  auch  S  e  e  g  e  n  Gelegenheit,  bei  seinen  Versuchen 
zu  bestätigen.  Thiere,  denen  er  Peptonlösungen  in  die  V.  port. 
iigicirte,  verfielen  „in  einen  eigenthilmlichen  soporösen  Zustand/ 
in  welchem  sie  verblieben.  Ob  nicht  diese  toxische  Eigenschaft 
des  Peptons  bei  der  Zuckerbildung  in  der  Leber  eine  Rolle  spielt, 
lässt  sich  nicht  bestimmen.  Wie  dem  auch  sei,  aus  den  einschlä- 
gigen S  e  e  g  e  n'schen  Versuchen  geht  nur  hervor,  dass  nach  Ein- 
wirkung von  Pepton  oder  Fett  auf  die  Leber  des  getödteten 
Thieres  oder  nach  Fütterung  mit  diesen  Substanzen  die  Leber 
zuckerreicher  gefunden  wird  als  gewöhnlich.  Was  in  vivo  dabei 
vorgeht,  wissen  wir  nicht,  jedenfalls  belehren  uns  die  Blutana- 
lysen nicht  darüber.  Denn  der  Blutzucker  ist  von  jeder  Nahrungs- 
einnahme unabhängig,  sowohl  in  den  Lebervenen,  wie  in  den 
Arterien.  Das  Pfortaderblut  macht  insofeme  eine  Ausnahme,  als 
sein  Zuckergehalt  sich  nach  reichlicher  Einnahme  von  Kohle- 
hydraten für  kurze  Zeit  steigern  kann  (v.  Mering,  Seegen), 
sonst  aber  verhält  es  sich  wie  das  übrige  Blut. 

Ein  beträchtlicher  Ueberschuss  an  Zucker  im  Lebervenen- 
blut gegenüber  dem  aus  einem  anderen  Gefässgebiet  ist  ein  intra- 
mortaler  Vorgang  und  auf  Rechnung  des  Insultes  zu  setzen. 
Je  intensiver  und  je  länger  dieser  wirkt,  desto  mehr  Zucker 
wird  man  finden.  Ob  das  kleine  Plus,  das  ich  nach  der  von  mir 
angewandten  Methode  gefunden  habe,  der  Ausdruck  einer  physio- 
logischen Function  der  Leber  oder  ob  auch  dies  nur  Eunstproduct 
sei,  wird  sich  erst  entscheiden  lassen,  wenn  die  Methoden  noch 
besser  ausgebildet  sein  werden. 

Ich  fasse  noch  einmal  das  Gesammtergebniss  dieser  Arbeit 
zusammen : 

Esistmöglich  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
wahrscheinlich,  dass  dieLeber  im  physiologischen 
Zustande  stetig  oder  auf  gewisse  physiologische 
Reize  hin  kleine  Mengen  Zucker  bilde.  Aus  ver- 
gleichenden Blutanalysen  lässt  sich  dies  bisher 
nicht  erweisen.  Keineswegs  besteht  die  physio- 
logische Zuckerbildung  in  der  Leber  in  dem  von 
Seegen  angegebenen  Masse. 

(28) 


Zur  Fnge  der  ZDokerblldniig  in  der  Leb«r. 


i| 

DftranB 

Ver- 

d^Tfe- 

Abaolat« 

Zucker 

■DChl- 

aea-eebi«  1^«^°;^ 

■MUM 

Menge  du 

in  IM 
TbeUen 

Anmerkimt 

msr 

lUmaf 

Zaokar« 

Blut 

l| 

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406 


Abel«B.  Zur  Frag«  der  Zuckerbfldong  in  der  Leber. 


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Ver- 

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Anmerkung 

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•HöK- 


(24) 


XYL 

Ueber  einige  seltene  Muskelyarietäten, 

Von 

Oberarzt  Dr.  Hermann  Hinterstolsser« 

(Aus  dem  zweiten  anetomisclien  Institute  [Prof.  Toldt]  zu  Wien.) 

(Am  27.  Mai  1887  Ton  der  Redaction  übernommen.) 
(Hierzu  Tafel  XIV,  XV,  XVI,  XVU.) 


1.  Varietäten  der  Peronealgnippe. 

1.  Verschmelzung  beider  Peronei  zu  einem 
einzigen  Muskel.  (Zweiter  bisher  bekannt  gewordener  Fall; 
beobachtet  am  19.  Dec.  1883.)  Tafel  XIV,  Fig.  1. 

Am  linken  Unterschenkel  eines  Mannes  finden  sich  beide 
M.  peronei  zu  einem  mächtigen,  doppelt  gefiederten  Muskel  ver- 
einigt, welcher  vom  lateralen  Gondyl  des  Schienbeines  vom  äusseren 
hinteren  Bord  des  Wadenbeines,  vom  Köpfchen  bis  über  das  untere 
Dritttheil  herab,  seinen  Ursprung  nimmt.  Der  Muskelbauch  nimmt 
also  das  ganze  Ursprungsfeld  beider  Peronei  ein.  In  der  Mitte 
des  Unterschenkels  tritt  die  Endsehne  auf  der  äusseren  Muskel- 
fläehe  hervor.  Sie  verbreitert  sich  allmälig  und  tritt  6  Cm.  über  der 
Enöchelspitze  frei  aus  dem  Fleische.  Diese  platte,  breite  Sehne 
verläuft  in  der  Peronealrinne  hinter  dem  äusseren  Knöchel,  schlingt 
sich  um  letzteren  herum,  erreicht  den  Tarsusrücken  und  spaltet 
sich  im  Bereich  des  Retinaculum  inferius  in  zwei  Sehnenschenkel 

(1) 


408  HinterBtoiiser. 

oder  „Secandärsehnen**,  welche  von  da  an  normale  Verlaufs-  und 
Endigongsweise  beider  Peronei  einhalten :  der  eine  etwas  stärkere 
Schenkel  läuft  an  der  Aussenseite  des  Fersenbeins  zur  Rinne  des 
Würfelbeines,  durchzieht  die  Sohlentiefe  und  heftet  sich  an  die 
Basis  des  Metatarsale  I.  Die  dorsale  Secundärsehne  endigt  am 
Tnber  Metatarsalis  V.  An  der  rechten  Extremität  finden  sich 
beide  Peronei  isolirt  und  verhalten  sich  normal. 

Den  ersten  Fall  dieser  interessanten  Muskelyerwachsung 
beschrieb  W.  Gruber.  i)  Ein  Fall  von  Ringhoff  er*),  den 
Testut')  hierher  rechnen  will,  erscheint  umsomehr  zweifelhafter 
Natur  zu  sein,  als  der  Fund  bei  Zergliederung  einer  Missgeburt 
(Peropus)  gemacht  wurde.  Ringhof fer  nennt  ihn  Peroneus 
communis  —  trotzdem  das  Wadenbein  vollständig  fehlte.  —  Von 
vergleichend  anatomischen  Analogien  über  das  Vorkonmien  einer 
Union  der  M.  peronei  bei  Säugern  ftlhrt  Grub  er*)  nur  zwei 
Fälle  an:  bei  Didelphis  cancrivora  nach  Cuvier^);  bei  Ory- 
cteropus  capensis  nach  G  a  1 1  o  n. ')  Bei  wenigen  Säugern  ist  nur 
ein  einziger  Peroneus  vorhanden ;  so  bei  den  Einhufern  (P.  long.), 
Cheiropteren,  Echidna.  ^) 

2.  Partielle  Goalition  der  Peronealsehnen  im 
Bereich  des  vom  Retinaculum  beigestellten  Canales 
(beobachtet  am  30  Dec.  1884),  Fig.  2. 

Die  Muskelbäuche  beider  Peronei  der  linken  Unterextre- 
mität  eines  Mannes  bieten  nach  Ursprung,  Lage  und  Gestalt 
keinerlei  Abweichung  dar.  Die  Sehnen  beider  aber  vereinigen  sich 
gleich  nach  ihrem  Eintritt  unter  das  obere  malleolare  Haftband, 
also  mit  dem  Beginne  der  hier  einfächerigen  synovialen  Sehnen- 
scheide. Auf  die  Länge  von  4Va  Cm.  sind  beide  Sehnen  untrenn- 
bar miteinander  verschmolzen  zu  einem  breiten  platten  Sehnen- 


')  Virchow'a  Archiv.  CVII,  485. 
')  Dasselbe.  XIX,  28. 

")  Testat,  Les  anomalies  mnscTÜaires  chez  rhomme.  1884,  pag.  738. 
♦)  1.  c. 

»)  Cuvier,  Anat.  comp.  1849,  Fol.  PI.  174,  e. 
^  Transact.  of  the  Linneau  Soc.  of  London.  Vol.  XXVT,  pag.  598. 
»)  Meckel,  vergl.  Anat.  m,626,  629,  und  W.  Gruber,  Beobachtungen 
etc.  VII,  pag.  76  -77. 

(2) 


üeber  einige  seltene  Moskelvarietäten.  409 

bände,  wobei  sie  ihre  Fasern  theilweise  gegenseitig  auswechseln. 
Nachdem  sich  nun  die  gemeinsame  Sehne  um  den  Malleolos 
hemmgeschlnngen ,  spaltet  sie  sich  in  zwei  Schenkel,  die  von 
nun  ab  ihren  gewohnten  Verlauf  nehmen ;  an  dem  gleichen  Orte 
spaltet  sich  auch  der  snpramalleolar  einfache  Synoyialsack  in 
zwei  isolirte  von  den  betreffenden  Sehnenschenkeln  durchzogene 
Scheidensäcke.  Die  FussrUckensehne  des  P.  breyis  fehlt.  Der 
rechte  Unterschenkel  bietet  dieselben  Verhältnisse.  Diese  Fusion 
der  Sehnen  in  ihren  Verlauf  schliesst  sich  an  den  vorher  be- 
schriebenen Fall  eng  an.  Man  kann  dieselbe  fttglich  im  Sinne 
einer  unvollendeten  Differenzirung  der  Feronealschicht  auffassen. 
Analoge  Fälle  sind  bisher  nicht  bekannt  geworden. 

3.  Ein  Peroneus  brevis  secundus  mit  Insertion 
seiner  in  zwei  Schenkel  gehaltenen  Sehne  am  Cal- 
caneus  (beobachtet  am  12.  Febr.  1884),  Fig.  3. 

Im  oberen  Dritttheil  der  äusseren  Wadenbeinkante  entspringt 
fleischig  ein  halbgefiederter  Muskel,  welcher  zwischen  beide  Peronei 
der  Norm  eingeschaltet,  dem  P.  brevis  auflagert.  Nachdem  seine 
Sehne  frei  geworden,  spaltet  sie  sich  über  dem  äusseren  Malleolns 
mit  Beginn  der  Peronealscheide  in  zwei  Schenkel.  Diese  platten 
bandartigen  Secundärsehnen  weichen  auseinander  und  nehmen 
die  Sehne  des  P.  brevis  zwischen  sich  auf.  Während  die  Sehne 
des  P.  brevis,  den  Knöchel  umschlingend,  dem  Tarsus  zustrebt, 
ziehen  die  genannten  Sehnen  in  gerader  Richtung  nach  abwärts, 
wobei  die  erstgenannte  Sehne  vor  sie  zu  liegen  kommt;  sie 
treten  an  den  Aussenbord  des  Calcaneus  heran  und  lösen  sich 
in  dem  das  Retinaculum  inferius  darstellenden  Bandapparate  auf, 
d.  h.  sie  strahlen  in  die  Insertionsstellen  des  letzteren  fächerig 
aus.  Der  P.  longus  deckt  den  anomalen  Muskel  im  ganzen  Verlauf. 
Die  Varietät  fand  sich  nur  am  linken  Unterschenkel.  Rechts 
waren  normale  Verhältnisse.  Die  FussrUckensehne  des  P.  brevis 
fehlte  beiderseits. 

Mit  dem  reducirten  P.  dig.  quinti  ^)  lässt  sich  die  beschriebene 
Varietät  nicht  gut  in  Beziehung  bringen.  Wir  sehen  darin  einen 
sehr  eigenthtimlichen  Fall   eines  Accessorius   zum  P.  brevis  und 


*)  W.  Grub  er,  Beobacht.  VIT,  pag.  41—82. 

(8) 


410  Hinterstoisser. 

können  ihn  wohl  auch  mit  dem  Peroneocalcanens  extemus  in  Be- 
ziehung bringen.  Die  Spaltung  der  Endsehne  des  Anomalns  ist 
jedenfalls  eine  bemerkenswerthe  und  ist  ein  derartiger  Fall  bisher 
nicht  bekannt  geworden. 

n.  Ein  Fall  von  Tibio-peroneo-oaloaneos  internal. 

Fig.  4.   (Am  linken  Unterschenkel  eines  Mannes  beobachtet  am 

18.  Febr.  1887.) 

Die  tiefe  Wadenmuskelgruppe  erscheint  bei  der  Präparation 
im  unteren  Viertel  von  einer  anomalen  doppeltfiedrigen  Muskel- 
platte  bedeckt.  Es  bieten  sich  folgende  Verhältnisse  dar:  Die 
Muskelplatte  setzt  sich  aus  zwei  Köpfen  zusammen,  welche  4  Cm. 
über  der  Malleolarebene  unter  Bildung  einer  Längsraphe  in  einen 
Bauch  zusammenfliessen.  Der  mediale  Kopf  entspringt  hoch  über 
dem  inneren  Knöchel  vom  unteren  Drittel  der  inneren  Tibiakante. 
Die  Ursprungslinie  seiner  Fasern  verläuft  an  der  Tibia  herab, 
weicht  dann  schräg  auf  das  Lig.  laciniatum  ab.  Der  Ursprung 
des  äusseren  (fibularen)  Kopfes,  der  dem  ersteren  an  Mächtigkeit 
nahezu  gleichkommt,  reicht  nicht  ganz  so  weit  an  der  Fibula 
hinauf.  Seine  Fasern  nehmen  ihren  Ausgang  von  der  hinteren 
inneren  Knochenkante  bis  gegen  den  äusseren  Knöchel  herab, 
theilweise  auch  vom  Lig.  intermusculare  extemnm  zwischen  Peroneal- 
und  Wadenmuskelgruppe.  Unter  spitzem  Winkel  treffen  sich 
beide  Köpfe  und  stellen  nun  einen  breiten,  platten,  doppeltge- 
fiederten Muskelbauch  dar ,  der  sich  nach  abwärts  verschmälert 
und  sich  mit  einer  kurzen  starken  Sehne  an  der  Innenseite  des 
Calcaneus  anheftet. 

Offenbar  ist  diese  Varietät  nach  Analogie  des  Peroneo- 
calcanens internus  (Macalister  >)  zu  deuten.  Darüber  besteht 
wohl  kein  Zweifel,  dass  letzterer  als  ein  reducirter  M.  accessorius 
longus  des  gemeinsamen  Zehenbeugers  anzusehen  ist  ^) ;  bekannt- 
lich variiren  die  Ursprünge  des  genannten  Accessorius  ad  accesso- 


0  Transact.  of  Boy.  Iriflli  Acad.  1871. 

')  L'aooesBoire  jaxnbier,  accessorius  secnndtis  (Humphry),  acoessorius  ad 
accessorium  (Turner);  Peroneocalcanens  intemns  Macalister  =  accessorius  ad 
calcan.  Krause. 

(4) 


lieber  einige  raltene  Mnskel Varietäten.  411 

rimn  ungemein  'häufig.  Derselbe  kann  von  der  Fibula,  Tibia, 
von  der  tiefen  Wadenfascie,  vom  Soleus,  vom  Flexor  hallucis 
(fibulariB),  Elex.  dig.  com.  long,  (tibialis)  und  vom  Peroneus  brevis 
seinen  Abgang  nehmen.  Dabei  kann  er  ein  zwei  und  mehrköpfiger 
Mnskel  sein.  Turner^)  beschreibt  einen  Fall,  der  mit  unserem 
Tibioperoneocalcaneus  bis  auf  die  abweichende  Insertion  überein- 
stimmt: „Das  innere  Bündel  des  zweiköpfigen  Muskels  entsteht 
vom  inneren  hintern  Rand  der  Tibia,  ein  Weniges  unter  deren 
Mitte,  das  äussere  von  der  Fibula  zwischen  den  Ursprüngen  des 
Flexor  hallucis  und  des  kurzen  Peroneus ;  beide  Köpfe  vereinigen 
sich  zu  einem  Bündel,  das  mit  der  vorderen  Portion  des  Garo 
qnadrata  (Accessorius  ad  flexorem.  dig.  com.  long.)  fleischig 
zusammenhängt.  ^ 

In  der  Norm  ist  der  Accessorius  zur  Garo  quadrata  ange- 
deutet durch  den  inneren  (medialen)  Ursprungskopf  der  letzteren, 
welcher  meist  getrennt  von  der  an  der  unteren  Galcaneusfläche 
haftenden  Portion  vorkommt  und  sich  erst  weiter  nach  vorne  mit 
hr  vereinigt.  Diese  mediale  Portion  wird  nun  nicht  selten  selbst- 
ständiger und  kann  sich  so  in  ihren  Anfängen  auf  die  Unter- 
schenkelregion hinauf  erstrecken.  In  manchen  Fällen  nun  verliert 
sie  sogar  vollständig  den  Zusammenhang  mit  der  Garo  quadrata 
(Accessorius)  und  heftet  sich  mit  ihrer  Sehne  am  Galcanens  an. 
Eine  solche  Reduction  lässt  den  Peroneocalcaneus  internus  entstehen 
und  auch  unser  Tibioperoneocalcaneus  findet  die  gleiche  Deutung. 

m.  Ein  Bupemnmerärer  acoessorisoher  Fibnlarkopf  des  Boleus 

mit  eigenthümliohem  Sehnenverlanfe. 

Beobachtet  am  1.  Februar  1887.»)  Fig.  5. 

Aus  dem  Fleische  des  fibularen  Soleusursprunges  des  linken 
Unterschenkels  eines  Mannes  entspringt  4^2  Cm.  unter  dem 
Fibulaköpfchen  ein  1  ^/a  Gm.  breiter,  5  Cm.  langer  Muskelbauch ; 
seine  Faserung  entspricht  der  Bündelrichtung  des  Stammmuskels ; 
sich    allmälig   verschmälernd   läuft    er   in    eine    Va    Cm.    breite, 

0  Transact  of  Boy.  Soc.  of  Edinburgli.  1865. 

*)  Das  betreffende  Präparat  verdanke  ich  der  Güte  des  Herrn  Prosector 
Dr.  Hochstetter. 

(5) 


412  Hinterstoisger. 

platte,  dünne  Sehne  aus,  welche  durch  einen  halbmondfönnigen 
Schlitz  der  Gastrocnemiuseehne  tritt,  so  dass  er  oberflächlich  der 
Achillessehne  anfliegt,  im  weiteren  Verlauf  aber  an  deren  äusseren 
Rand  nach  abwärts  zieht.  Im  unteren  Unterschenkeldritttheil 
beginnt  sich  die  Sehne  aufzulösen;  während  sie  durch  allseitig 
anstrahlende  Fasern  mit  der  tiefen  Wadenfascie  in  festen  Contact 
tritt,  streicht  der  hauptsächlichste  Fascikel,  von  der  Fascie 
isolirbar,  abwärts,  sendet  seine  Faserantheile  theils  an  die  äussere 
Seite  der  Tibiaepiphyse  (hintere  Eapselwand  des  oberen  Sprung- 
gelenks), theils  an  die  äussere  obere  Calcaneusfläche.  Die  fascielle 
Faserausbreitung  geht  unmittelbar  in's  Retinaculum  peron.  superior 
über.  Die  Gesammtlänge  des  Muskels  beträgt  24Va  Cm.  (Fibula 
29 ^a  Cm.);  10  Cm.  unter  seinem  Ursprung  durchbohrt  er  die 
Gastrocnemiussehne.  Der  Schlitz  der  letzteren  wird  hergestellt 
von  einer  inneren  4Vs  Cm.  langen  Sehnenportion  des  medialen 
Kopfes  und  einer  äusseren  kurzen,  dem  lateralen  Kopf  ent- 
sprechenden. Dergestalt  wird  die  Lücke  durch  einen  scharf- 
randigen  nach  aussen  unten  offenen,  sichelförmigen  Bogen  begrenzt. 
Die  Achillessehne  wird  zum  grössten  Theile  vom  besonders  stark 
entwickelten  Soleus  aufgebracht.  Der  Plantaris  verhält  sich  normal. 
Der  beschriebene  Muskel  fungirt  als  Strecker  des  Fusses 
und  Anzieher  der  Unterschenkelfascie  und  zugleich  als  Kapsel- 
spanner. Der  beispiellose  Sehnenverlauf  lässt  die  Deutung  dieser 
Anomalie  um  so  schwieriger  erscheinen,  als  es  so  ziemlich  an 
brauchbaren  vergleichend  anatomischen  Daten  gebricht.  Der 
Soleus  secundus  der  Autoren  ^)  nimmt  immer  von  der  inneren 
Portion  des  Stammmuskels  (Linea  obliqua  tibiae)  seinen  Anfang 
und  ist  als  Plantarisvarietät  betrachtet  worden.  Es  ist  aber 
bekannt,  dass  bei  einigen  Säugern  und  sogar  noch  beim  Orang 
der  Soleus  nur  einen  fibnlaren  Kopf  hat.  Andererseits  trennt  sich 
auch  beim  Menschen  in  seltenen  Fällen  die  Fibularportion  als 
separater  Muskel  von  der  Tibialen  ab.  Damach  kann  das  Auf- 
treten dieser  Anomalie  neben  und  aus  einem  normal  entwickel- 
ten  Soleus  auf  einen  Rückschlag   in  den  Orangtypus   bezogen 

*)  Craveilhier,  Trait«  d'Anat.  descr.  I,  763.  —  Pye  Smith  und 
Davies  Colley  in  Gay's  Hosp.  Reports.  1870  u.  1872.  —  Beawik  Perrin, 
Med.  Times  and  Qaz.  Dec.  1872. 

(6) 


üeber  einige  seltene  Muskelvarietäten.  413 

werden.  Freilich  findet  hierbei  die  anfTallige  Perforation  der  Gastro- 
cnemiuBBehne  keine  ausreichende  Erklärang.  Ich  möchte  diesen 
Bupernumerären  Muskel  als  Soleus  secundus  externas 
(S.  accessorius)  bezeichnen. 

IV.  Zwei  Beltene  Varietäten  von  Muskeln  der  Hand. 

1.  Ein  überzähliger  M.  lumbricalisl.,  am  Verde r^ 
arm  von  dem  Indexbändel  des  Flex.  dig.  com.  subl. 
entspringend  (20.  September  1885  an  der  linken  Hand  eines 
Mannes  beobachtet),  Fig.  6. 

Ein  langer  spulrunder  Fleischschwanz,  der  im  untersten 
Vierttheil  des  Vorderarms  sehnig  vom  Fleisch  des  Indexbündels 
des  oberflächlichen  Beugers  entspringt,  zieht  unter  dem  Lig. 
carpi  transversum  mit  dem  Packet  der  Beugesehnen  in  die  Hohl- 
hand, wo  er  auf  den  normalen  Lumbricalis  I.  zu  liegen  kommt 
Mit  letzterem  verschmilzt  seine  kurze  Sehne  knapp  vor  dessen 
Anheftung  am  Radialzipfel  der  Streckeraponeurose  des  Zeige* 
fingers.  —  An  derselben  Hand  ist  der  M.  lumbricalis  III.  distal 
in  zwei  Köpfe  gespalten,  von  denen  der  ulnare  zum  Radialzipfel 
der  Streckaponeurose  des  IV.  Fingers,  der  radiale  zum  Ulnarzipfel 
der  des  HI.  Fingers  läuft. 

Ebenso  findet  sich  am  Vorderarm  eine  durch  einen  isolirten 
Fleischschwanz  des  Flexor  poUicis  vermittelte  Sehnenanastomose 
zwischen  dem  genannten  und  dem  Flex.  dig.  com.  prof.  Die 
kurze  Sehne  jenes  Fleischschwanzes  spaltet  sich  in  zwei  Fascikel, 
von  denen  eines  wieder  der  Sehne  des  Daumenbeugers  zustrebt, 
das  andere  mit  der  tiefen  Zeigefingerbeugesehne  sich  vereinigt. 

2.  Insertion  der  oberflächlichen  Beugesehne 
des  IV.  Fingers  an  der  Sehnenrolle  des  Metacarpo- 
phalangealgelenkes  (Capitulum  metacarpi  IV.)  und 
in  der  Sehnenscheidenwand  (beobachtet  am  17.  Jänner  1886),  Fig.  7. 
Die  Sublimissehne  des  IV.  Fingers  einer  linken  Hand 
(männliches  Individuum)  liegt  in  der  Hohlhand  normal  über  der 
Prolundnssehne ,  läuft  aber  etwa  2  Cm.  oberhalb  des  Metacarpo- 
phalangealgelenkes  unmittelbar  in  die  radiale  und  hintere  Wand 
der  hier  beginnenden  Vagina  tendinis  über,  während  die  tiefe 

(7) 


414  Hinterstoisser. 

Bengesehne  über  der  genannten  in  den  Scbeidensack  schlüpft. 
Die  oberflächliche  Bengesehne  breitet  sich  platt  und  fslcherförmig 
ans,  der  hauptsächlichste  Antheil  läuft  an  die  SehnenroUe  des 
Metacarpophalangealgelenkes,  ein  radialer  Antheil  geht  direct  in's 
radiale  Lig.  capituli  (welches  zur  Sehnenrolle  des  Mittelfingers 
zieht).  Ein  schwächerer  Faserantheil  läuft  in  die  radiale  Sehnen- 
scheidenwand aus  und  lässt  sich  durch  deren  Schräg-  und  Quer- 
faserung  zur  Mittelphalange  verfolgen;  endlich  heftet  sich  ein 
mittlerer  Fascikel  des  Fächers  an  den  Radialzipfel  der  Strecker- 
aponeurose  des  Ringfingers ;  an  demselben  Zipfel  inserirt  sich  der 
Interosseus  internus  lU.,  während  der  hierher  gehörende  Lumbri- 
calis  ni.  einen  unten  näher  bezeichneten  Weg  einschlägt. 

Die  dorsale  (ossale)  Wand  des  Sehnenscheidencanals  bietet 
eigenthümliche  Verhältnisse  dar.  Während  sonst  die  synoviale 
Haut  dem  Knochen  glatt  auflagert,  erhebt  sich  hier  ein  vom 
Grundglied  in  einem  Faserfächer  entspringender  Strang,  der  sich 
zum  2.  Fingerglied  erstreckt;  er  theilt  sich  in  zwei  auseinander- 
weichende Fascikel,  die  ihrerseits  von  den  Wandungen  der 
Scheide  Zuzüge  erhalten.  Diese  ligamentösen  Fascikel  zeigen  im 
Allgemeinen  dasselbe  Verhalten,  wie  die  normalen  Sehnenschenkel 
des  Flexor  perforatus :  sie  endigen  in  der  Mitte  des  Mittelgliedes, 
sie  ahmen  das  normale  Chiasma  tendinosum  nach. 

Die  Beugewirkung  der  Sublimissehne  Dig.  IV.  ist  gering,  sie 
strafft  nur  die  ligamentöse  Sehnenscheide.  Hingegen  ist  der 
Metacarpus  IV.  durch  Anspannen  der  Sehnen  sehr  beweglich.  Femer 
wird  dabei  der  Mittelfinger  dem  Ringfinger  genähert  und  hier  durch 
die  Wirkung   des  entsprechenden  Interosseus  extemus  verstärkt. 

Ausserdem  finden  sich  noch  folgende  Varietäten  an  der- 
selben Hand:  Extensor  dig.  tertii  proprius,  Ext.  dig.  V.  proprius 
duplex ;  Abductor  poUicis  long,  entsendet  eine  accessorische  Sehne 
zum  Muskelfleisch  des  Abductor  brevis  pollicis.  Der  Lumbricalis 
m.  inserirt  sich  am  Ulnarzipfel  der  Mittelfingerrückenaponeurose ; 
der  Mittelfinger  hat  also  auf  jeder  Seite  einen  Lumbricalis.  Dem 
Ringfinger  fehlt  der  Spulmuskel. 

Die  Sublimissehne  des  V.  Fingers  wird  schon  in  der  Vola 
manus  von  der  Profundussehne  bedeckt  und  inserirt  sich  unge- 
spalten am  mittleren  Fingerglied. 

(8) 


üeber  einige  seltene  Maskelvarietäten.  415 

Die  oben  beschriebene  Anomalie  der  Sehneninsertion  des 
Snblimis  steht  ganz  vereinzelt  da.  Wir  sehen  darin  eine  bisher 
gar  nicht  beobachtete  Rednction  desMnskels;  dieselbe  mag 
wohl  schon  durch  die  gelegentlich  vorkommende  straffere  An- 
beftnng  der  Snblimissehne  an  die  ligamentösen  Wandungen  der 
Scheide  angedeutet  sein.  Beim  Hunde  findet  sich  wohl  eine 
directe  Verbindung  und  theilweis3  Insertion  der  Sublim  issehne 
an  die  Sehnenscheidenwand.  Das  Chiasma  tendinosum  scheint  ohne' 
wesentliche  Veränderung  in  jenen  sich  regelmässig  durchflechten- 
den, der  ossalen  Wand  des  Canals  angehörenden  Fascikeln, 
erhalten  geblieben  zu  sein. 

y.  Von  den  überzähligen  C^aatroonemlasköpfen  und  von   den 

Varietäten  der  üntersohenkelbenger. 

Eigene  Beobachtungen: 

1.  Dritter  Kopf  des  M.  gastrocnemius,  von  der 
Fascia  poplitealis  entspringend  (27.  Mai  1885),  Fig.  8. 

Von  der  äusseren  Seite  der  fasciellen  Scheide  des  Gefäss- 
nnd  Nervenpacketes  der  Ejiiekehle  einer  linken  unteren  Extremität 
entsteht  in  einer  kurzen  platten  Sehne  ein  MuskelbUndel,  das  den 
unteren  Poplitealwinkel  kreuzt  und  in  den  medialen  Kopf  des 
Gastrocnemius  übergeht,  denselben  um  ein  Beträchtliches  verstärkt. 
Nerven  und  Geisse  bedeckt  dieser  anomale  dritte  Kopf.  Im 
Winkel,  den  sein  Innenrand  mit  dem  medialen  Kopf  bildet,  zweigt 
der  Nervus  communicans  surae  tibialis  ab. 

2.  Dritter  Kopf  des  Gastrocnemius,  von  der 
inneren  Lefze  der  Linea  aspera  femoris  entsprin- 
gend (10  Jänner  1887),  Fig.  9. 

Diese  Varietät  fand  sich  an  beiden  unteren  Extremitäten 
eines  Mannes. 

Ueber  den  Femurcondylen  entspringt  von  der  medialen  Lefze 
der  Linea  aspera  bis  gegen  den  inneren  Condyl  herab,  ein  starker 
Fleischbauch,  der,  sich  rasch  verbreiternd,  in  seinem  Verlauf  durch 
die  Regio  poplitea  den  offenen  Convergenzwinkel  der  beiden 
Gastrocneminsköpfe  ausfüllt.  Derselbe  wölbt  sich  ttber  den  inneren 
Kopf  etwas  hervor  und  deckt  die  Gebilde  der  Kniekehle;   seine 

Med.  Jahrbücher.  1887.  34     (9) 


416  Hinterstoisser. 

kurze  dicke  Endselme  inserirt  sich  in  der  sehnigen  Baphe,  in  welcher 
die  einander  zostrebenden  Fasern  der  beiden  Köpfe  endigen,  ver- 
webt sich  mit  ihr  innig  und  lässt  sich  anf  der  vorderen  dem 
Solens  zugewendeten  Seite  derselben  eine  Strecke  weit  isolirt 
nach  abwärts  verfolgen.  Die  Länge  des  Maskeis  beträgt  14  Cm., 
die  grösste  Breite  4  Cm.,  bei  einer  durchschnittlichen  Dicke  von 
einem  Centimeter.  Das  betreffende  Präparat  hat  mir  Herr  Pro- 
iBector  Dr.  F.  Hochstetter  freundlichst  zur  «Beschreibung  über- 
lassen. 

3.  Ueberzähliger  Mnskelschwanz  des  M.  biceps 
femoris  mit  Insertion  an  der  Gastrocnemiussehne 
(9.  März  1883),  Fig.  10. 

Vom  langen  Kopf  des  Biceps  femoris,  und  zwar  von  dessen 
Innenrand,  entspringt  etwas  unter  der  Oberschenkelmitte  ein  circa 
Vi\  Cm.  breites  Muskelbündel  fleischig  und  läuft  zwischen  den 
Gastrocnemiusköpfen  nach  abwärts.  Dasselbe  geht  unter  der  Knie- 
kehle in  eine  rabenfederkieldicke  spulrunde  Sehne  über,  deren 
Fasern  schliesslich,  fächerförmig  ausstrahlend,  in  der  aponeurotischen 
Verbreiterung  der  Gastrocnemiussehne  sich  inseriren  Beim  An- 
spannen dieses  Muskelbündels  spannt  sich  die  Achillessehne. 
Diese  Varietät  wurde  an  beiden  Beinen  genau  in  derselben  Ent- 
faltung angetroffen. 

4.  Ein  vom  M.  semitendinosus  sehnig  entsprin- 
gender anomaler  Muskel  mitlnsertioninder  Gastro- 
cnemiussehne (11.  Februar  1884),  Fig.  11. 

Ein  anomaler  Muskel  entspringt  in  einer  langen,  dünnen, 
spulrunden  Sehne  am  obersten  Ende  der  Inscriptio  tendinea  des 
M.  semitendinosus ;  in  deren  ganzen  Länge  ist  die  Sehne  deutlich 
als  isolirbarer  zarter  Strang  zu  verfolgen  und  hängt  mit  ihr  durch 
feinste  Fäserchen  überall  zusammen;  am  unteren  Ende  der 
sehnigen  Einzeichnung  des  M.  semitendinosus  wird  diese  Hauptsehne 
frei,  zieht  hart  an  den  Lateralrand  des  genannten  Muskels  nach 
abwärts  in  einer  Gesammtlänge  von  20  Cm.  und  geht  im  oberen 
Kniekehlenwinkel  in  das  Fleisch  des  Anomalns  über.  Dieser 
haftet  ausserdem  mit  einer  zarten  sehnigen  Platte  an  der  Sehne 
des  Semimembranosus  und  mit  einem  dritten  dünnen,  breiten 
Sehnenbande  an  dem  medialen  Antheil  der  Fascia  lata.     So   er- 

(10) 


lieber  einige  seltene  Muskel  Varietäten.  417 

hält  dieser  Muskel  drei  proximale  Anheftongsstelleii.  Der  Fleisch- 
bauch  selber  nimmt  rasch  an  Dicke  zu,  erreicht  in  der  Mitte  der 
Kniekehle  eine  Breite  von  27«  Cm.,  kreuzt,  in  oberflächlicher  Schichte 
gelegen,  die  Regio  poplitea,  strebt  hierauf  dem  unteren  Winkel 
des  Rhomboids  zu,  kommt  hierbei  zwischen  beide  Gastrocnemius- 
köpfe  zu  liegen,  schmiegt  sich  zudem  dem  medialen  Kopfe  an. 
4Vs  Cm.  unter  dem  Convergenzwinkel  der  Gastrocnemiusköpfe 
entwickelt  sich  die  4 Cm.  lange  Endsehne,  die  sich  an  der  apo- 
neurotischen  Sehnenausbreitung  des  medialen  Kopfes  anheftet, 
wobei  sie  sich  in  fächerartig  ausstrahlende  feine  Fasern  auflöst, 
welche  sich  namentlich  medial  mit  der  Gastrocnemiussehne  yer- 
weben.  Die  Länge  des  Fleischschwanzes  beläuft  sich  auf  1 6  Cm. ; 
beim  Anziehen  wird  die  Achillessehne  angespannt. 

Indem  ich  im  Nachfolgendem  eine  bereits  von  Testut^) 
Yorgeschlagene  Grnppirung  aller  bisher  beobachteten  Varietäten 
dieser  Art,  theilweise  von  neuen  Gesichtspunkten  ausgehend,  zu 
geben  versuche,  will  ich  die  darüber  vorhandenen  Literatur- 
angaben, soweit  sie,  diesen  Gegenstand  betreffend,  mir  bekannt 
geworden,  an  gehörigem  Orte  einschalten.  Die  meisten  jener  ab- 
weicherden Muskeln,  welche,  ausgehend  von  den  Unterschenkel- 
beugem,  mit  dem  Triceps  surae  in  directe  oder  indirecte  Ver- 
bindung treten,  sind  bisher  als  dritte  oder  ttberzählige  Köpfe  des 
Gastrocnemius  bezeichnet  worden.  Dieser  Name  gebtihrt  aber  nur 
einem  geringen  Theile  abweichender  Muskeln  der  Ejiiekehle,  die 
niemals  mit  den  Unterschenkelbeugem  zusammenhängen.  Daher 
kann  man  im  Allgemeinen  alle  hier  in  Betracht  kommenden 
Muskelvarietäten  in  zwei  Gruppen  einreihen. 

1.  Gruppe.  Ein  supernumerärer  Muskel  ent- 
springt im  Bereich  der  Kniekehle  von  der  Linea 
aspera  (von  deren  medialer  oder  lateraler  Lefze), 
oder  vom  Planum  popliteum,  von  der  ligamentösen 
hinteren  Kapselwand,  von  der  fasciellen  Nerven- 
gefässscheide,  von  der  Fascia  poplitealis  selbst;  er 
geht  fleischig  in  einen  oder  den  andern  derGastro- 
cnemiusköpfe  (meist  in  den  medialen)   über,  dessen 


*)  1.  c.  pag.  650. 

34*    (11) 


418  Hinterstoisser. 

Fleischmasse  verstärkend,  oder  erinserirt  sich  mit 
entwickelter  Endsehne  an  der  Gastrocnemiusraphe 
oder  Achillessehne. 

Nur  den  solchermassen  sich  verhaltenden  anomalen  Muskel- 
bauchen  gebührt  mit  Recht  der  Name  von  dritten  Gastrocnemius* 
köpfen.  Ihre  verschiedenartigen  Formen  weisen  auf  den  ur* 
sprünglichen  Zusammenhang,  auf  die  Verschmelzung  beider  Köpfe 
zu  einem  einzigen  Muskelkopf  hin.  Allerdings  finden  sich  bei 
den  Säugern  hierfür  wenig  deutliche  Belege,  denn  bei  ihnen  ist 
der  oberflächliche  Wadenmuskel  immer  zweiköpfig.  Bei  einigen 
Vögeln  aber  ist  diese  Verschmelzung  sehr  wohl  noch  nachweislich. 
Hier  ist  sehr  häufig  der  innere  Kopf  dem  äusseren  unmittelbar 
nahe  geruckt  durch  die  Ausbreitung  seines  Ursprunges  auf  das 
Planum  popliteum.^)  Aehnlich  zerfällt  beim  Strauss^)  der  äussere 
Gastrocnemiuskopf  in  zwei ,  einen  äusseren  längeren  und  einen 
kürzeren  tieferen,  der  vom  unteren  Theile  der  hinteren  Oberschenkel- 
fläche beginnt.  Bei  den  niederen  Thieren  aber  ist  die  Differe  nzirung 
der  Wadenmuskeln  (Fussstrecker)  von  den  Zehenbeugern  überhaupt 
nicht  vollzogen;  so  hat  unter  den  Sauriern  das  Krokodil  allein 
einen  dem  Triceps  surae  zu  vergleichenden  Muskel:  der  Gastro- 
cnemius  ist  einköpfig  (Caput  extemum  höherer  Thiere) ;  der  Soleus 
ist  von  ihm   bis  auf  die  Insertion  am  Fersenbein  völlig    isolirt. 

Beim  Menschen  ist  die  eben  beschriebene  Art  von  dritten 
Gastrocnemiusköpfen  nicht  so  selten.  Hierher  gehören  Beobachtungen 
von  Krause^),  Smith,  Howse  und  Davies  Colley*), 
H.  Virchowß),  Ferrier  und  Walsham«),  Quain^),  Köl- 
liker  und  Flesch»),  Wood»»),  Chudzinskii«)  und  Fall 
1  und  2  von  mir  oben  kurz  beschrieben. 


^)  AI  ix,  Essai  sur  Tapp,  locomot.  des  Oiseaux,  pag.  451. 

2)  Meckel,  Vergl.  Anat.  III,  374. 

«)  Handb.  Supplem.  1880,  pag.  113. 

^)  Guys  Hosp.  Eep.  1870. 

^)  Sitzungsber.  d.  Jena'schen  Ges.  f.  Med.  a.  Nat.  1877. 

«)  Transact.  of  Roy.  Irish  Acad.  1871  n.  St.  Barthol.  Hosp.  Rep.  1880,  XVI,  87. 

')  Arteries,  pl.  85. 

•)  Varietätenbeobachtungen.  Würzburg  1879. 

»)  Proc.  of  the  Boy  Soc.  of  London.  1868,  pag.  516. 

'^)  Revue  d'Antbropolog.  1882,  pag.  622. 

(12) 


üeber  einige  seltene  Mnskel Varietäten.  419 

n.  Gruppe.  Sie  umfasst  alle  jene  Fälle  von  ano- 
malenMuskeln,  welche  von  einem  oder  dem  anderen 
der  Unterschenkelbenger  ihren  Abgang  nehmen. 
Sie  gehen  theils  fleischig  unvermittelt  aus  ihnen 
hervor,  theils  treten  sie  durch  eine  Ursprnngssehne 
mit  ihnen  in  Zusammenhang.  Distal  heften  sie  sich 
immer  sehnig  an,  gehen  nie  fleischig  in  die  Bäuche 
des  Triceps  surae  über;  ihre  Sehne  inserirt  sich 
entweder  in  der  Gastrocnemiussehne  oder  weiter 
abwärts  in  der  Achillessehne  oder  sie  erstreckt 
sich  gar  bis  an  den  Calcaneus,  oder  läuft  bald 
höher  bald  tiefer  in  die  Wadenfascie  aus.  Jene,  die 
ihre  Sehne  der  des  Triceps  surae  zusenden,  hat  man  allgemein 
noch  als  dritte  Köpfe  des  Gastrocnemius  betrachtet;  die  in  die 
oberflächliche  Wadenfascie  ausstrahlenden  nannte  man  Tensores 
fasciae  suralis,  was  sie  ihrer  Wirkung  nach  wohl  sind. 

Dennoch  sind  wir  berechtigt,  sie  alle  als  Abkömmlinge  der 
Unterschenkelbeuger  zusammenzufassen,  ob  sie  nun  an  der  Waden- 
fascie, am  Triceps  surae  oder  am  Calcaneus  ihr  Ende  finden. 
Es  kommt  ihnen  dabei  keineswegs  eine  selbstständige  Bedeutung 
zu.  Vergleichend  anatomische  Untersuchungen  geben  die  Hand- 
habe zu  weiterer  Ausführung  und  Schlüssen.  Da  sich  im  Allge- 
meinen die  Insertionen  der  Unterschenkelbeuger  bei  den  meisten 
niederen  Thieren  viel  tiefer  herab  erstrecken  als  beim  Menschen 
und  in  dieser  Hinsicht  die  mannigfaltigsten  Uebergänge  der  End- 
sehnen derselben  in  die  Fascie  sowohl ,  als  in  die  Achillessehne 
und  aufs  Fersenbein  vorfinden,  da  wir  femer  noch  beim  Menschen 
vielfach  variirende  Ausstrahlungen  von  Fascikeln  der  Beuger- 
sehnen in  die  Unterschenkelfascie  0  beobachten,  so  sind  wir  zum 
Schlüsse  gekommen,  dass  auch  jene  seltenen  von  den  Unter- 
schenkelbeugem  abgehenden  Muskelbäuche  in's  Reich  der  Ueber- 
bleibsel  oder  Rudimente,  vielleicht  auch  der  Ruckschläge  zu 
rechnen  sind.  Die  tief  herabreichenden  Beuger  niederer  Thiere 
halten  den  Unterschenkel  immer  in  einer  mehr  weniger  starken 


*)  Bardeleben,  Mnskeln  und  Fascie.  Jena'sclie  Zeitscbr.  für  Naturwiss. 
1881,  Bd.  XV. 

(13) 


420  Hinterstoisfer. 

Flexion  im  Knie,  verhindern  hierdnreh  den  fortdauernden  aat- 
rechten  Gang  (Meckel.^)  Mit  der  fortschreitenden  Weiterent- 
wicklung des  aufrechten  Ganges,  mnssten  nothgedrnngen  die  weit 
ausgreifenden  Beuger  ihre  Arme  proximal  zurttckziehen.  Während 
sie  bei  niederen  Thieren  femer  breite  Muskelplatten  darstellen, 
sind  sie  im  Laufe  ihrer  Umwandlung  und  Beduction  allmälig 
schmäler  und  dickbäuchiger  geworden,  wobei  sie  aber  weniger 
an  Kraft  als  an  Ausdehnung  ihrer  Wirksamkeit  einbüssen  mussten. 
Aber  noch  von  einem  anderen  Gesichtspunkte  aus  erweckt  die  Be- 
trachtung dieser  Varietäten  unser  besonderes  Interesse.  Es  ist  bekannt 
dass  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  niederen  Thiere  die  sogenannte 
Beugergruppe  des  Unterschenkels  entschieden  weit  weniger  die 
Beugewirkung  intendirt,  dass  sie  vermöge  ihrer  mittelbaren  oder 
unmittelbaren  Ausdehnung  auf  das  Fersenbein,  als  dreigelenkige 
Muskeln  im  eigentlichen  Sinne  Sprungmuskeln  von  wechselnder 
Stärke  und  Kraft  darstellen.  Deshalb  können  wir  mit  gutem 
Rechte  jene  Anomalien  beim  Menschen  als  Reste  einer  einst- 
mals ausgedehnten  und  kräftigen  Sprungmusculatur 
ansehen.  Der  Qnadrupedentypus  der  Sprungmuskeln  lässt  sich 
zudem  constant  sogar  bis  zum  Orang  hinauf  verfolgen.  *) 

Wir  wiederholen  also  nochmals,  dass  wir  diese  zweite  Art 
von  Varietäten  als  Rückschlagsformen  oder  auch  als  Rudimente 
betrachtet  wissen  wollen. 

Daran  reihen  wir  einige  zootomische  Daten,  die  zumeist  den 
Biceps  femoris  in  Betracht  ziehen. 

Bei  der  Hyäne  ist  der  äussere  Wadenbeuger  (Biceps)  viel 
grösser  als  der  innere,  kommt,  wie  letzterer,  von  den  Schwanz- 
wirbeln; unter  ihm  liegt,  in  seiner  ganzen  Länge  auch  vom 
Schwanz  kommend,  ein  dünner  Muskel,  mit  dem  er  sich  vereinigt 
und  an  den  Umfang  der  Achillessehne  ansetzt.  —  Bei  der  Katze 
setzt  sich  der  Biceps  an  der  ganzen  Länge  des  vorderen  Schien- 
beinrandes an,  nicht  an's  Wadenbein,  und  schickt  einen  hinteren 
Zipfel  an  die  Achillessehne.  Beim  Bären  heftet  sich  der  dicke 
breite  Muskel  blos  an's  Fersenbein,  ähnlich  beim  Coati,  Wasch- 

')  1.  c.  600  ff. 

')  C.  Langer ,  Die  Mnacolator  der  Extremitäten  des  Orang.  Sitcongsber. 
der  k.  Akad.  d.  Wissensch.  1879,  Bd.  LXXIX. 

(14) 


üeber  einige  seltene  Hnskelvarietäten.  421 

baren,  Figchotter  (Meckel.^)  Beim  Hnnd  erstreckt  sieh  der 
innere  und  äussere  Beuger  bis  zur  Ferse,  ihre  breiten  Sehnen 
hüllen  den  Gastrocnemius  grossentheils  ein;  stärkere  Sehnen- 
bündel senden  sie  zu  beiden  Seiten  der  Achillessehne  herab, 
welche  sich  mit  ihr  vor  ihrem  Fersenbeinansatz  vereinigen.  Bei 
den  Einhufern  schickt  femer  der  Semitendinosus  eine  lange 
Sehne  nach  unten,  die  sich  vor  der  Achillessehne  mit  der  Biceps- 
Behne  vereinigt  und  zum  Fersenhöcker  zieht.  Bei  den  Cavien 
entsteht  der  Semitendinosus  von  den  Schwanzwirbeln,  geht  durch 
eine  breite  Sehne  von  der  inneren  Unterscbenkelfläche  zum  Fersen- 
bein. Beim  Känguruh  hat  derselbe  Muskel  einen  mit  dem 
Semimembranosus  gemeinsamen,  am  Sitzhöcker  haftenden  Ur- 
sprungskopf, der  sich  alsbald  in  zwei  Bäuche  trennt ;  diese  gehen 
in  lange  breite  Sehnen  über,  welche,  an  der  Wade  herabsteigend, 
die  Achillessehne  einschliessen  und  sich  am  Schien-  und  Fersen- 
bein inseriren. 

Die  morphologische  Stellung  genannter  Varietäten  erscheint 
hiermit  klargelegt.  Ganz  im  Allgemeinen  lässt  sich  jeder  der  ano- 
malen Muskeln  dieser  Art  als  M.  ischio-calcaneus  benennen. 
Dabei  kann  man  complete  und  incomplete  Formen  unter- 
scheiden. Zu  den  completen  mag  man  jene  Abkömmlinge  der 
Beuger  nehmen,  die  theils  das  Fersenbein  zur  Anheftung  direct 
aufsuchen,  theils  auch  an  der  Gastrocnemius-  und  Achillessehne 
sieh  anheflien;  zu  den  incompleten  Formen  aber  zähle  ich  jene 
aberranten  Beugerfleischbäuche,  welche  in  der  Schenkelfascie 
endigen.  Für  letztere,  welche  bisher  mit  dem  Namen  Tensores 
fasc.  suralis  (poplitealis)  genannt  wurden,  kann  ftiglich  der  Name 
M.  ischio-aponeuroticus  gelten. 

Literataraagaben : 

1.  Abkömmlinge  des  Biceps  femoris:  a)  Complete  Fonnen  des  M.  iscliio- 
calcanens: 

Kelch,  Beiträge  lor  path.  Anat.  1813,  Art.  XXXYI. 

W.  O ruber,  Beobachtungen  a.  d.  menschlichen  nnd  yergl.  Anat.  1879,11, 
pag.  66—58  (3  FaUe). 

')  1.  c. 

(16) 


422  HinterstoiBBer.  üeber  einige  seltene  Moskelyarietaten. 

Halliburton,   Jonrn.  of  Anat.   and  Physiolog.    1881,  XY,  pag.  296. 
Mein  Fall  Nr.  3. 

bj  Inoomplete  Formen,  M.  ischio-aponeuroticns : 

W.  Grab  er,  Bnll.  de  l'Acad.  dee  Sciences  de  St  Petersbonrg.  T.  XXY, 
pag.  230  (üeber  die  nngewdhnlichen  M.  tensores  fksciae  snralis). 
Tnrner,  Jonni.  of  Anat.  and  Phys.  1872,  pag.  442. 

2.  Abkömmlinge  des  Semitendinosns : 
a)  Complete  Form:  Mein  Fall  Nr.  4. 

h)  Incomplete  Formen  (Ischio-aponenroticns). 

W.  Grab  er,  BnU.  de  l'Acad.  d.  Sc.  d.  St.  Petersbonrg.  1872,  pag.  290^ 
und  1873,  pag.  184  (2  FMle). 

Testat,  Les  anomalies  moscalaires,  pag.  643. 

3.  Abkömmlinge  des  Semimembranosos,  bekannt  sind  awei  incomplete 
Formen,  die  aber  eine  andere  Deatong  nicht  aosschliessen  (M.  tenaores  fasciae 
poplitealis). 

Sandifort,  Tbesaar.  diss.  Roterodami.  1769,  pag.  250. 
Giacomini,  Annotasioni  sopra  Tanat.  del  ne|;ro  1882,  pag.  49. 


•♦leH- 


(16) 


xvir. 

Casuistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der 

Epilepsie. 

Von 

Dr.  Ludwig  Wick, 

k.  k.  Regimentsarzt  Im  Wiener  Invalidenhanse. 

(Am  14.  April  1887  von  der  Redaction  übernommen.) 

(Hiezu  Tafel  XVIU  bis  XXm). 


Krankheitsbilder ,  welche  die  Theorie  strenge  scheidet,  um 
za  ihrem  Yerständniss  zu  gelangen,  welche  die  Natur  in  der 
differentesten,  anscheinend  jede  Gemeinsamkeit  ausschliessenden 
Form,  in  Erscheinung  treten  lässt,  verknüpft  sie  selbst  mitunter 
durch  allmälige  Uebergänge  und  Mittelformen,  welche  dann  fttr 
die  Theorie  von  besonderer  Wichtigkeit  werden. 

Eine  solche  Mittelform  stellt  nachstehender  Krankheitsfall 
dar,  welcher  Hemicranie,  Epilepsie  und  Gastroxie  zu  einen 
Erankheitsbild  verbindet,  wodurch  natürlich  diese  sonst  sehr 
differenten  Erankheitsformen  als  Ausfluss  derselben  Quelle,  als 
Symptome  eines  und  desselben  Grundprocesses  erscheinen  müssen. 

Da  ich  in  der  Literatur  keinen  ähnlichen  Fall  verzeichnet 
finde,  so  möge  mir  eine  grössere  Ausführlichkeit  in  der  Beschreibung 
und  Besprechung  derselben  gestattet  sein. 

Anamnese. 

Josef  Grober,  gegenwärtig  25  Jahre  alt,  gibt  an,  seine 
Mutter   sei   im  56.  Lebensjahre   an  einem  Herzleiden  gestorben, 

(i) 


424  Wick. 

Bein  Vater,  welcher  Lehrer  ist,  leide  viel  an  Kopfschmerz,  zeit- 
weise Schwindel,  seine  übrigen  acht  Geschwister  seien  gesond. 

Er  selbst  habe  in  seinem  10. — 12.  Jahre  durch  mehrere 
Wochen  an  Wechselfieber  gelitten,  welches  an  seinem  damaligen 
Aufenthaltsort:  Niedersill  im  Pinzgau  endemisch  ist,  sei  aber 
weiterhin  gesund  geblieben,  bis  er  an  die  Lehrerbildungsanstalt 
nach  Innsbruck  kam. 

Dort  habe  er  öfters  an  Augencatarrh  gelitten  und  bekam 
am  Ende  des  ersten  Schuljahres  1879  folgenden  Anfall. 

Zur  Zeit  der  Prüfung  hatte  er  sich  geistig  mehr  angestrengt, 
bekam  darauf  Kopfschmerz  und  Erbrechen,  welches  10 — 12  Tage 
dauerte;  als  er  darauf  an  einem  dieser  Tage  des  Morgens 
aufstand,  verspürte  er  eine  zuckende  Bewegung  am  Arm,  mit  der 
Empfindung  eines  starken  Kitzels  und  unmittelbar  darauf  drehte 
es  ihn  und  er  stürzte  zu  Boden,  wo  er  das  Bewusstsein  verlor, 
Schaum  vor  dem  Munde,  mit  den  Armen  herumgeschlagen 
haben  soll. 

Er  schlief  darauf  ein,  und  war,  als  er  aufwachte ,  wieder 
bei  vollem  Bewusstsein,   ohne  Erinnerung   an    das  Vorgefallene. 

Denselben  Tag  blieb  er  noch  im  Bette  liegen,  den  zweiten 
Tag  darauf  stand  er  auf  und  fuhr  am  dritten  nach  Hause. 

Im  October  1880  wurde  er  wieder  eines  Tages  von  Kopf- 
schmerz und  Erbrechen  befallen,  welches  etwa  2  Wochen  dauerte; 
in  der  ersten  konnte  er  noch  herumgehen,  in  der  zweiten  musste 
er  jedoch  liegen  bleiben  und  an  einem  Tag  soll  er  auch  delirirt 
haben. 

In  weiterer  Folge  dieses  Zustandes  fühlte  er,  dass  er  nicht 
mehr  so  wie  früher  zu  geistiger  Thätigkeit  Güdg  sei  und  ver- 
liess  daher  die  Lehrerbildungsanstalt. 

Im  März  1881  wurde  er  von  einem  3.  Anfall  betroffen. 
Dieser  begann  mit  Appetitlosigkeit,  fieberhaften  Erscheinungen, 
wie  Frost,  abwechselnd  mit  Hitze,  worauf  etwa  nach  einer  Woche 
Kopfschmerz,  Erbrechen  eintrat  Nachdem  so  wieder  einige  Tage, 
also  im  Ganzen  etwa  12 — 14  Tage  vergangen  waren,  wurde 
er  in  einer  Nacht,  gegen  die  Frübstunden  hin,  von  seinen  Ange- 
hörigen nach  einem  Schrei  bewusstlos,  mit  Händen  und  Füssen 
herumschlagend;  ausser  Bette  auf  dem  Boden  liegend,  gefunden« 

(2) 


Gasnistischer  Beitrag  bot  Lehre  von  der  Epilepsie.  425 

Das  Bewnsstsein  kehrte  erst  am  4.  Tag  wieder  znriiek.  Als  er 
dann  aus  diesem  Zustand  erwachte,  konnte  er  nicht  sprechen,  da 
Zunge  und  Zahnfleisch  geschwellt  waren,  und  war  angeblich  durch 
mehrere  Tage  hindurch  auf  beiden  Augen  blind.  Der  behandelnde 
Arzt  soll  den  Zustand  als  Qebimentzttndung  bezeichnet,  ein  anderer 
auch  an  eine  Vergiftung  gedacht  haben.  Er  erholte  sich  auch  von 
diesem  Anfall  wieder  gänzlich  und  wurde  noch  im  selben  Jahre 
assentirt  Während  seines  Truppendienstes  erkrankte  er  im  Jahre 
1882  an  Lungenentzündung,  genas  davon  wieder,  ftihlte  sich  aber 
fortan  etwas  geschwächt,  kurzathmig,  und  wurde  daher  fernerhin 
zum  Schreibgeschäft  verwendet. 

Aber  auch  hier  konnte  er  nicht  weiter  dienen,  da  er  bei 
dieser  Beschäftigung  drückende  Schmerzen  im  Kopf  bekam  und 
auch  sonst  sich  immer  schwächer  fühlte.  Er  wurde  daher  auch 
von  diesem  Dienste  abgelöst  und  in  das  Invalidenhaus  bestimmt. 

Als  er  hier  im  September  188S  eintraf,  wurde  er  zum  In« 
spectionsdienst  verwendet,  welcher  unter  Anderem  öfters  Nacht- 
wachen mit  sich  brachte.  Er  erkrankte  darauf,  und  nun  wurde 
der  erste  jener  gleich  zu  beschreibenden  Anfälle  beobachtet. 

Demselben  folgten  dann  innerhalb  drei  Jahren  noch  6  solche, 
die  sich  mehr  weniger  nur  durch  ihre  Intensität  unterschieden. 

Zur  ausftihrlicheren  Beschreibung  des  allgemeinen  Verlaufes 
derselben  wähle  ich  den  zweiten  hier  beobachteten  Anfall,  weil 
in  diesem  die  Erscheinungen  am  besten  ausgeprägt  waren,  und 
den  X.,  weil  er  als  Beispiel  eines  milderen  Verlaufes  dienen  mag. 

Krankheltsverlanf.  (Tabelle  1.) 

Ich  schicke  kurz  voraus,  dass  der  erste  der  von  uns  beob- 
achteten Anfälle  Ende  September  188S  auftrat,  der  Verlauf  war 
ein  milder,  weder  eine  Bewusstseinsstörung  noch  eine  motorische 
Reizung  wurde  constatirt. 

Der  V.  Anfall  begann  angeblich  am  27.  December  1883 
mit  EopfiBchmerz,  Appetitlosigkeit  und  später  Erbrechen.  Erst  am 
31.,  als  die  Erscheinungen  intensiver  wurden,  meldete  er  sich 
krank  und  wurde  sogleich  in  das  Spital  bestimmt. 

Den  nächsten  Tag,  1.  Jänner  1884,  wurde  folgender  Status 
praesens  notirt: 

(8) 


426  Wick. 

Der  Mann  ist  von  kleiner  Statur,  sonst  kräftiger  Körper- 
beschaffenheit, gut  entwickelter  Musculatnr  and  Emäbrong.  Das 
Gesicht  im  Ganzen  blass,  nnr  die  Wangen  an  umschriebenen 
Stellen  geröthet,  die  Ohrmuscheln  intensiv  roth  und 
höher  temperirt;  die  Lidbindehaut  beiderseits  geröthet, 
Pupillen  beiderseits  gleich  weit,  auf  Beschattung  wenig  reagirend, 
nicht  verengt;  dabei  bedeutende  Lichtscheu.  Er  klagt  über 
drückenden  Kopfschmerz  am  Vorderkopf,  am  meisten  in 
der  Stimgegend  auf  beiden  Seiten,  ausserdem  besteht  Brech- 
neigung; die  Zunge  etwas  weissUch  belegt.  Die  Domfortsätze 
der  ersten  4  Brustwirbel  sind  druckempfindlich,  ebenso  ist  ein 
tiefer  Druck  hinter  dem  Unterkieferwinkel  schmerzhaft.  Die 
Herzdämpfung  beginnt  am  linken  Stemalrand  und  in  der  Para- 
Sternallinie  an  der  4.  Rippe  und  reicht  fast  1)is  zur  Papillarlinie. 
Die  Leberdämpfung  beginnt  am  Stemalrand  an  der  5.  Rippe,  in 
der  Papillarlinie,  am  unteren  Rand  der  6.  und  reicht  bis  zum 
Rippenbogen.  Die  Milzdämpfnng  beginnt  in  der  Axillarlinie  am 
unteren  Rand  der  9.  Rippe,  erreicht  nicht  den  Rippenbogen. 
Herzstoss  weder  tastbar  noch  sichtbar.  Mitral-  und  Aortentöne 
rein,  zweiter  Pulmonalton  gespalten.  Unterleib  eingezogen,  nicht 
schmerzhaft,  mit  Ausnahme  der  Magengegend  gegen  stärkeren 
Druck.  Hautreflexe  vorhanden,  Patellarreflexe  beider- 
seits fehlend.  Puls  64,  Temperatur  in  der  Achselhöhle  36*6, 
Hammenge  von  gestern  Nachmittag  bis  heute  Früh  300C!cm., 
spec.  Gew.  1*026,  Farbe  lichtgelb.  Hat  seit  gestem  Alles  erbrochen, 
Aufsetzen  vermehrt  den  Kopfschmerz  und  die  Brechneigung. 

4  Uhr  V.  P.  54,  T.  36-7,  hat  seit  Früh  nicht  urinirt. 

2.  Jänner,  mane  VH.  Eri(fikheitstag. 

P.  50,  T.  36*6.  In  der  Nacht  kein  Schlaf,  allgemeine 
Mattigkeit,  um  die  Brost  in  der  Gegend  des  Rippenbogens  ein 
Geftlhl  der  Spannung,  welches  ihn  zwingt,  die  Lage  öft;ers  zu 
wechseln.  Hammenge  über  Nacht  420  Ccm.,  spec.  Gew.  1-032. 

4  Uhr,  P.  50,  T.  37.  Hat  sein  Getränk  theilweise  er- 
brochen, sonst  nichts  zu  sich  genommen,  Durst  brennend,  Ge- 
schmack schlecht,  gibt  an,  dass  es  ihm  im  Mund  stinke.  Kopf- 
schmerz stärker,  das  Gesicht  Mass,  nnr  die  Ohrmuschel  dunkel 
geröthet. 

(4) 


Casnistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  427 

Erweist  sich  an  den  Fnsssohlen  ausserordentlich  kitzlich, 
bei  leiser  Berlihrnng  werden  die  Füsse  raschestens  zurückgezogen. 
Gibt  an,  manchmal  in  beiden  Armen  eigenthümUche  Stösse,  wie 
elektrische  Znknngen  zu  bekommen.  Etwas  später  Abends  tritt 
Erbrechen  einer  grösseren  Menge  einer  schleimigen,  sänerlich 
riechenden,  mit  kleinen  Mengen  grünlicher  Galle  vermengter 
Flüssigkeiten  ein.  Lackmuspapier  wird  davon  ziegelroth  gefärbt. 
Ueber  Tag  kein  Urin.  Zur  Ableitung  wurden  beide  Unterschenkel 
und  Fttsse  in  P  r  i  e  s  s  n  i  t  z-Umschläge  eingehüllt. 

3.  Jänner,  mane  (Vni.),  P.  52,  T.  36-5. 

In  der  Nacht  Nachlass  der  Kopfschmerzen  und  kurzer 
Schlaf.  Gegen  Früh  Zunahme  der  Kopfschmerzen,  der  Lichtscheu. 
Trotz  guter  Umhüllung  sind  die  Füsse  unter  dem  Umschlage 
kalt.  Hammenge  von  gestern  Abends  her  380  Gem.,  spec.  Gew. 
r036,  bei  Salpetersaurezusatz  fallt  schon  in  einer  Minute  salpeter- 
saurer Harnstoff  in  der  violett  werdenden  Flüssigkeit  heraus.  Ueber 
Tag  Erbrechen,  auf  eine  Irrigation  geringer  Stuhlgang.  4  Uhr 
V.  P.  50,  T.  36-5. 

7  Uhr  V.  Ohne  besondere  Ursache  Verschlimmerung  des 
Zustandes,  so  dass  der  Inspectionsarzt  geholt  vmrde.  Patient  er- 
kennt denselben  nicht,  bringt  auf  Anrufen  nur  unverständliche 
Worte  heraus,  das  Athmen  wird  stertorös,  P.  50,  fadenförmig, 
das  Gesicht  ganz  blass,  die  Extremitäten  kalt.  Ist  am  Stamm  so 
empfindlich ,  dass  er  auf  Berührung  convulsivische  Bewegungen 
macht.  Wird  hierauf  frottirt  und  eingepackt,  was  ihn  zum  lauten 
Schreien  bringt. 

11  Uhr  V.  hat  inzwischen,  wie  der  Wärter  atissagt,  phan- 
tasirt.  Die  Extremitäten  kalt,  das  Athmen  aussetzend. 

12  Uhr  V.  P.  42,  noch  sehr  schwach  jedoch  deutlicher  wie 
früher  zu  fühlen,  Hände  und  Füsse  noch  kalt,  der  Stamm  bereits 
warm;  Sensorium  noch  etwas  benommen,  spricht  etwas  wirr 
und  abgebrochen,  manches  Wort  ganz  unverständlich,  sucht 
sich  von  einer  Seite  auf  die  andere  zu  wälzen,  da  er  nach 
einer  späteren  Angabe  eine  hochgradige  Spannung  um  den  Brust- 
korb fühlte. 

3  Uhr  Morgens :  Das  Bewusstsein  vollständig  zurückgekehrt, 
Extremitäten  und  Stamm  warm,  gibt  an,  dass  er  früher  sprechen 

(ö) 


428  Wick. 

wollte,    aber  nicht  das  richtige  Wort  fand,   dass  er  in  beiden 
Armen  heftige  Stösse  verspürt  habe. 

4.  Jänner  (IX.),  m.  P.  42,  etwas  kräftiger,  T.  36*6.  Hatte 
gestern  den  Tag  ttber  keinen  Urin  entleert,  erst  heute  Früh 
420  Ccm.,  spec.  Gew.  1*038,  bei  Zusatz  von  Salpetersäure  dieselbe 
Erscheinung  wie  gestern.  Ist  von  Gesicht  noch  blass,  die  Ohr- 
muscheln geröthet,  aber  nicht  höher  temperirt,  die  Pupillen 
massig  erweitert.  Gegenwärtig  kein  Kopfschmerz,  die  Znnge 
feucht  ohne  Belag.  Die  Brustdornfortsätze  weniger  druckempfind- 
lich, die  Empfindlichkeit  am  Stamm  geringer,  an  den  Fusssohlen 
noch  gesteigert.  Herztöne  rein  begrenzt,  laut. 

4  Uhr  V.  P.  42,  T.  36-5.  Kein  Kopfschmerz,  Sensorium 
frei,  kann  bereits  Gedanken  festhalten,  hat  Nachmittag  eine 
Stunde  gut  geschlafen,  verträgt  auch  das  Licht  etwas.  Noch  viel 
Durst,  ein  brennendes  Gefühl  im  Unterleib,  dargereichte  Milch 
wurde  erbrochen. 

5.  Jänner  (X.),  P.  42,  noch  sehr  schwach,  T.  36*6,  Ham- 
menge seit  gestern  400  Ccm.,  spec.  Gew.  1*033,  massenhaft  Sediment 
von  faamsauren  Salzen ;  auf  Salpetersänrezusatz  entsteht  nur  mehr 
ein  violetter  King,  färbt  sich  aber  die  ganze  Flüssigkeit  nicht  mehr. 
Hat  vor  Mitternacht  einigemal  erbrochen,  so  dass  gegenwärtig 
ein  ganzes  Lavoir  voll  ist,  theils  Wasser,  theils  Schleim,  an  der 
Oberfläche  grünlich  gefärbte  geronnene  Milchreste,  Geruch  stark 
säuerlich,  etwas  ranzig,  Reaction  stark  sauer.  Hat  nach  dem 
Erbrechen  einige  Stunden  geschlafen,  fröstelte  darauf  etwas  und 
bekam  neuerdings  Kopfschmerz.  Beim  Aufsetzen  tritt  auch  noch 
Brechneigung  ein,  Appetit  noch  keiner  vorhanden,  viel  Durst, 
Körperoberfläche  warm,  auch  die  Fusssohlen  nicht  mehr  tiber- 
empfindlich, erheischt  wärmere  Bedeckung. 

4  Uhr  V.  P.  45,  deutlich  tastbar,  A.-T.  36*4  R(ectum)- 
T.  37*4,  verlangt  warme  Milch,  da  er  glaubt,  diese  jetzt  besser 
zu  vertragen.  Seit  Früh  kein  Urin. 

6.  Jänner  (XI.),  P,  46,  noch  schwach,  A.-T.  36-1,  R.-T.  36*9, 
Hammenge,  erst  nach  Mitternacht  entleert,  440  Ccm.,  spec.  Grew. 
1031,  voll  von  Uraten  sedimentirt,  hat  in  der  Nacht  3 — 4  Sunden 
geschlafen,  nach  Mittemacht  wieder  erbrochen.  Das  Erbrochene 
von  gleicher  Beschaffenheit.    Kopf  nicht  ganz  frei  von  unange- 

(6) 


Casnifltischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  429 

nehmer  Empfindung,  jedoch  nieht  in  derselben  Art   wie  früher 
ergriffen.  Extremitäten  warm,  die  Füsse  beginnen  zu  jucken. 

4  Uhr  V.  P.  44,  A..T.  363,  R.-T.  37-25,  hat  Nachmittag 
noch  einmal  erbrochen;  seit  Früh  kein  Urin.  Die  Umschläge  an 
den  Füssen  entfernt. 

7.  Jänner  (XII.),  P.  68,  A.-T.  366,  R.-T.  374,  Hammenge 
seit  gestern  Früh  720  Gem.,  spec.  Gew.  1*031,  hatte  drei  Milch- 
portionen vertragen,  seit  gestern  Nachmittag  nicht  mehr  erbrochen, 
fast  die  ganze  Nacht  geschlafen.  Kopf  ganz  frei  von  Schmerz, 
Sensorium  unbenommen,  zeigt  an  den  Fusssohlen  noch  etwas 
Ueberempfindlichkeit.  Die  Fiisse  jucken,  Herztöne  rein,  der  zweite 
Pulmonarton  zeigt  nur  eine  Andeutung  von  Gespaltensein. 

4  Uhr  V.  P.  52,  T.  3635,  kein  Erbrechen,  Wohlbefinden. 

8.  Jänner  (XIII.).  Haramenge  seit  gestern  460  Gem.,  spec.  G^w. 
1*029,  nicht  sedimentirt,  jedoch  zeigt  sich  auf  Zusatz  von  Salzsäure 
ein  krystallinischer  Niederschlag.  Hat  in  der  Nacht  geschlafen,  ist 
gegenwärtig  frei  von  Kopfschmerz  und  Erbrechen,  das  Gesicht 
von  normaler  Farbe,  der  zweite  Pnlmonalton  undeutlich  gespalten, 
der  zweite  Aortenton  verstärkt,  über  beiden  Lungen  das  Athmen 
scharf  vesiculär,  keine  Rasselgeräusche.  Appetit  gut,  die  Fass- 
sohlen lassen  sich  anfassen,  sogar  kitzeln. 

4  Uhr  V.  P.  64,  T.  368,  Abends  einmal  Erbrechen. 

9.  Jänner  (XIV.),  P.  64,  A.-T.  36-3,  hat  in  der  Nacht 
weniger  geschlafen,  der  Kopf  nicht  so  rein  wie  gestern,  kein 
Erbrechen. 

4  Uhr  V.  P.  68,  A.-T.  371,  R.-T.  3767,  dreimal  spontaner 
Stuhlabgang,  versuchte  in  der  Früh  aufzustehen,  bekam  dabei 
noch  Schwindel. 

10.  Jänner  (XV.),  A.-T.  36*5,  Wohlbefinden,  kann  bereits 
stehen  ohne  Schwindel. 

4  Uhr  V.  P.  60,  A.-T.  37*42,  R.-T.  37*95,  seit  8  Uhr 
Früh  kein  Urin. 

11.  Jänner  (XVI.),  P.  64,  etwas  unregelmässig  in  der  Fre- 
quenz. A.-T.  36*86,  R.-T.  37*6,  Hammenge  seit  gestern  Früh 
960  Gem.,  spec.  Gew.  1*022,  ammoniakalisch  riechend,  Reaction 
alkalisch.  Hatte  fast  die  ganze  Nacht  hindurch  geschwitzt,  wenig 
und  unter  schweren  Träumen  geschlafen. 

(7) 


430  Wick. 

4  Uhr  V.  A.-T.  371. 

12.  Jänner  (XVII.),  P.  72,  A.-T.  37-05,  R.-T.  377,  Ham- 
menge  1250,  spec.  Gew.  1021,  Reaction  alkalisch,  Wohlbefinden, 
kann  sich  mit  Lesen  beschäftigen. 

4  Uhr  V.  P.  73,  A.-T.  37-62,  B.-T.  38-12. 

13.  Jänner  (XVm.),  P.  80,  A.-T.  3662.  Harn  seit  gestern 
Früh  1540  Ccm.,  spec.  Gew.  1*020,  Wohlbefinden.  Die  Milz- 
dämpfnng  beginnt  in  der  Axillarlinie  an  der  8.  Rippe,  in  der 
vorderen  Achselfaltenlinie  an  der  7.  Rippe,  in  der  Papillarlinie 
ebenfalls  an  der  7.  Rippe,  reicht  bis  nahe  zum  Bäckenbogen,  unter 
demselben  nicht  tastbar.  Herzstoss  tastbar  und  sichtbar  im  dritten 
nnd  vierten  Zwischenrippenranm  nahe  dem  Stemalrand,  zweiter 
Pnlmonalton  nndeutlieh  gespalten,  wird  bei  längerer  Ausathmnng 
geränschartig. 

14.  Jänner,  P.  79,  A.-T.  37-00,  R.-T.  3760,  Hammenge 
seit  gestern  Früh  1750  Ccm.,  spec.  Gew.  1'017. 

4  Uhr  V.  P.  92,  A.-T.  37-7. 

15.  Jänner,  P.-T.  36*75,  Hammenge  seit  gestem  1400  Ccm. 
4  Uhr  V.  P.  80,  A.-T.  373. 

16.  Jänner,  P.  84,  A.-T.  371,  R.-T.  375,  Hammenge  1400, 
spec.  Gew.  1*022. 

17.  Jänner,  P.  89,  A.-T.  37,  Hammenge  2200  Ccm.,  spec. 
Gew.  1-015,  hat  ansser  seiner  Eostportion  nnd  etwas  Wasser  nichts 
zu  sich  genommen.  Die  Dämpfung  beginnt  rechts  in  der  Papillar- 
linie am  unteren  Rand  der  7.  Rippe,  Athmnngsgeräusche  normal. 

18.  Jänner,  P.  88,  A.-T.  369,  R.-T.  37-5,  Hammenge  1300. 
4  Uhr  V.  P,  84,  T.  37-1. 

19.  Jänner  (XXIV.),  P.  88,  A.-T.  369,  R.-T.  3735.  St  i. 
Die  Patellarreflexe  fehlen  noch.  Wird  auf  sein  Verlangen, 
da  er  sich  ganz  wohl  ftihlt,  reconvalescirt. 


Im  Jänner  1885  erfolgte  der  VI.  Anfall,  welcher  mit  be- 
deutendem Kopfschmerz  und  heftigem  Erbrechen,  mit  deutlich  aus- 
geprägten vasomotorischen  Stömngen  einherging  und  gleichfalls 
einen  Insult  von  stärkerer  Gehirnreizung  aufwies.  Besonders  lange 
dauerte  die  nachträgliche  Erhöhung  der  Pulsfrequenz  und  der 
Achseltemperatur. 

(8) 


Casnistischer  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Epilepsie.  431 

Im  Juli  1885  führte  ihn  der  VII.  Anfall  in  die  Spitalsbehand- 
lung. In  seinem  Verlaufe  unterschied  er  sich  jedoch  von  allen 
übrigen  durch  die  kurze  Dauer  des  ersten  Stadiums,  das  Aufhören 
des  überhaupt  milderen  Kopfschmerzes  und  Erbrechens  schon  am 
7.  Krankheitstag  und  darauf  sofort  eintretendes  Wohlbefinden, 
welches  auch  seine  baldige  Entlassung  zur  Folge  hatte.  Die  yaso- 
motorischen  Erscheinungen  waren  gering  ausgesprochen  und  eben- 
sowenig kamen  motorische  oder  sensorielle  Erscheinungen  zur 
Beobachtung. 

Im  Mai  1886  erfolgte  der  Vin.  Anfall  unter  denselben  Er- 
scheinungen, jedoch  milderen  Charakters,  aber  dadurch  abweichend, 
dass  ein  epileptiformer  Insult  erst  am  13.  Krankheitstag  nach 
bereits  vorausgegangener  Hebung  des  Pulses  und  allgemeiner 
Besserung  eintrat. 

Der  IX.  Anfall  kam  im  October  1886  zur  Beobachtung; 
unterschied  sich  in  nichts  von  den  früheren,  als  dass  das  Er- 
brechen mehr,  der  Kopfschmerz  und  die  Verminderung  der  Puls- 
frequenz weniger  hervortrat  unter  geringen  vasomotorischen  Er- 
scheinungen. Gemeinsam  hatte  er  eine  vorübergehende  sensorielle 
Störung. 

In  der  Zwischenzeit  zwischen  diesen  und  dem  folgenden  Anfall, 
einmal  untersucht,  ergab  sich  folgender  Befund:  Dämpfung  über 
der  linken  Lungenspitze,  rauhes  Athmen  mit  spärlichen  trockenen 
Rasselgeräuschen  daselbst,  die  übrigen  Lungenpartien  normal. 
Zeitweise  rauher  bellender  Husten  mit  geringem  Auswurf  Die 
Herzdämpfung  beginnt  in  der  Parastemallinie  und  am  linken 
Stemalrand  am  unteren  Rande  der  4.  Rippe,  hält  sich  plessimeter- 
breit  innerhalb  der  Papillarlinie.  Leberdämpfung  am  unteren  Rande 
der  6.  Rippe  in  der  Papillarlinie,  Milzdämpfung  in  der  Axillar- 
linie unter  der  Rippe.  Herztöne  rein.  2.  Pulmonalton  rein,  aber 
verstärkt;  Gesicht  und  Ohrmuschel  von  normaler  Farbe.  Leichte 
Struma;  Patellarreflexe  in  normaler  Weise  vorhanden;  Domfort- 
sätze nicht  druckempfindlich.  Im  Ganzen  Wohlbefinden  und  an- 
geblich besseres  als  jemals  früher. 

X.  Anfall.  Derselbe  begann  am  17.  Februar  1887  mit  Kopf- 
schmerz von  geringer  Intensität  ohne  Störung  des  Appetits  und 
ohne  Erbrechen,  welches  erst  nach  einigen  Tagen  hinzutrat,  um 

Med.  Jahrbücher.  1887.  35        (9) 


432  Wick. 

sich  dann  jeden  3.  bis  4.  Tag  zu  wiederholen.  Die  Furcht,  dass 
mehr  entstehen  könnte,  wenn  er  sich  nicht  entsprechend  halten 
könnte,  fUhrte  ihn  in^s  Spital. 

28.  Februar  (XII.),  P.  48,  schwach,  Arterie  klein,  leicht 
unterdriickbar.  A.-T.  37 '0.  Kopfschmerz  über  den  ganzen  Vorder- 
kopf, jedoch  gering,  am  meisten  noch  über  den  Augen.  Keine 
Lichtscheu,  Bindehäute  nicht  geröthet;  Färbung  des  Gesichtes 
normal,  die  Ohrmuscheln  etwas  röther  wie  gewöhnlich  und  wärmer 
anzufühlen,  wenn  er  einige  Zeit  darauf  gelegen  ist.  Befund  wie 
oben,  mit  der  Abänderung,  dass  am  linken  Sternalrand  eine 
schwache  Dämpfung  in  Form  eines  schmalen  Zapfens  bis  in  den 
2.  Intercostalraum  reicht.  Herzstoss  sichtbar  und  tastbar  innerhalb 
der  Papille  im  5.  Intercostalraum.  Herztöne  rein,  nur  der  zweite 
Pulmonalton  rauher.  Milzdämpfung  in  der  Axillarlinie  am  unteren 
Bande  der  7.  Rippe,  Leberdämpfung  in  der  Papillarlinie  an  der  6. 
Die  Wirbelsäule,  entsprechend  der  Spitze  der  Schulterblätter,  an 
zwei  Brustdornen  druckempfindlich.  Weder  am  Stamm  noch  im 
Gesichte  Ueberempfindlichkeit;  die  Patellarreflexe  fehlend,  nach- 
dem er  sie  selbst  vor  zwei  Tagen  noch  gefunden  haben  will. 
Appetit,  Stuhlgang  in  Ordnung,  Harn  von  normaler  Färbung  und 
Menge,  Allgemeinbefinden  nicht  gestört.  4  Uhr  v.  P.  44,  A.-T.  37  0. 
1.  März  (Xm.),  8  Uhr  m.,  P.  44,  R.-T.  37*20,  hat  in  der 
Nacht  wegen  Unruhe  im  Zimmer  und  Aufregung  hierüber  nicht 
geschlafen,  gegen  Früh  einmal  erbrochen ;  gegenwärtig  bei  ruhiger 
Lage  kein  Kopfschmerz,  jedoch  bringt  ihn  Aufsetzen  sofort  hervor. 
Geringe  Lichtscheu.  Erweist  sich  auf  Brust  und  Sohlen  empfindlicher, 
wie  gewöhnlich.  4  Uhr  v.  P.  48,  A.-T.  3720,  kein  Kopfschmerz 
oder  Erbrechen.  Um  8  Uhr  v.  trat  plötzlich  ohne  Veranlassung 
ein  Zustand  ein,  welcher  ihn  derart  beängstigte,  dass  er  den 
Inspectionsarzt  rufen  lässt :  er  konnte  nämlich  mit  einem  Male  den 
rechten  Fuss  und  Arm  nur  mit  Mühe  von  der  Unterlage  abheben ; 
voraus  ging  ein  Gefühl  von  Taubheit  an  der  Aussenfläche  des 
rechten  Oberschenkels,  welches  hinauf  über  den  Unterleib  und 
die  Seite  der  Brust  bis  zjam  Arm  zog.  Ausser  der  langsameren 
Hebung  von  Fuss  und  Arm  wurde  nun  constatirt,  dass  er  die 
Zungenspitze  wohl  nach  links,  aber  nicht  nach  rechts  bewegen 
konnte;  die  Sprache  war  nicht  gestört.  Aufdrücken,  Zwicken  und 

(10) 


Casuistischer  Beitrag  zur  Lelire  von  der  Epilepsie.  433 

Kitzeln  erwies  sich  rechts  empfindlicher  als  links,  auch  schmerzte 
ihn  das  Frottiren,  welches  er  sich  sogleich  selbst  vom  Wärter 
machen  Hess.  Die  Papillen  waren  dabei  nicht  erweitert,  reagirten 
gnt.  Die  Anfregong  über  diesen  Zustand  dauerte  bis  gegen  Früh, 
wo  auch  zweimal  Erbrechen  und  später  erst  kurzer  Schlaf  eintrat. 

2.  März  (XIV.),  8  Uhr  m.,  P.  50,  R.-T.  372,  kein  Kopf- 
schmerz oder  Erbrechen,  Gesichtsfärbung  normal,  Ohren  weniger 
geröthet.  Ist  am  ganzen  Körper  etwas  empfindlicher  gegen  Beize, 
besonders  gegen  faradischen  Pinsel,  welcher  ihm  schon  bei  9  Cm. 
Rollenabstand  eines  Indnctionsapparates  von  6500  Windongen 
nnerträglich  ist  und  am  unerträglichsten  an  der  Stirne. 

4  Uhr  V.  P.  56,  R.-T.  37  2,  ist  ausser  Bette  und  befindet 
eich  wohl;  die  rechte  Ohrmuschel  normal,  die  linke  noch  röther. 
Appetit  noch  mangelnd,  Wirbelsäule  nicht  mehr  druckempfindlich; 
Patellarreflexe  in  schwachem  Grade  bereits  vorhanden. 

8  Uhr  V.  Bekam  auf  einen  kleinen  Aerger  Kopfschmerz, 
Brechneigung  und  erbrach  auch  zweimal.  Puls  40^ ;  hatte  hierauf 
eine  unruhige  Nacht,  in  welcher  er  nach  Aussage  des  Wärters 
Selbstgespräche  führte;  er  selbst  sagte  später  ans,  dass  er  einen 
bohrenden  Schmers  im  Kopfe  hatte,  dass  er  sich  über  seinen  Auf- 
enthalt nicht  zurecht  fand,  indem  er  glaubte,  bei  der  Arbeit  zu  sein. 

3.  März  (XV.),  P.  48,  A.-T.  36-55,  R.-T.  37-40.  Gesicht 
im  Ganzen  blässer  wie  gestern.  Die  Ohrmuschel  noch  geröthet, 
die  linke  dunkelroth  und  wärmer. 

Lidbindehaut  etwas  mehr  geröthet,  auch  eine  Partie  unter 
der  Nase  und  unter  dem  linken  Auge,  Kopfschmerz  vorhanden, 
aber  nicht  intensiv,  bleibt  durch  Druck  auf  die  Carotiden  unbe- 
einflusst.  Der  Athem  leicht  gestört,  manchmal  rascher,  dann  wieder 
langsamer,  dabei  etwas  Schmerz  von  der  linken  Wirbelsäule 
gegen  die  Hypochondrien  ausstrahlend.  4.-8.  Brustdorn  druck- 
empfindlich, sonst  keine  Ueberempfindlichkeit,  fühlt  sich  ab- 
wechselnd wärmer  und  kälter.  24stündige  Hammenge  1000  Gem., 
spec.  Gew.  1-028  Ccm.,  Gl.  056%  ==  5*6  Grm.;  wenig  Harnsäure, 
keine  Indicanreaction. 

4  Uhr  V.  P.  46,  A.-T.  37  0,  R.-T.  375,  Kopfschmerz  sehr 
massig,  kein  Erbrechen,  hat  wegen  Appetitlosigkeit  nichts  gegessen, 
Patellarreflexe  fehlend. 

35*    (") 


434  Wick. 

4.  März  (XVL),  P.  42,  A.-T.  36  2,  R-T.  3715,  übler 
Geschmack,  hat  den  genossenen  Kaffee  erbrochen ;  Gesicht  weniger 
geröthet,  Ohrmuscheln  gleich  roth.  Kopfschmerz  in  Bnhelage 
massig,  Drack  auf  die  eine  oder  andere  Carotis  oder  auf  beide 
erleichtert,  behebt  ihn  aber  nicht.  24stündige  Harnmenge  470, 
spec.  Gew.  1*028,  lässt  auf  CIH  mehr  Harnsäure,  auf  Salpeter- 
säure mehr  Harnstoff  herauskrystallisiren.  Cl.  =  0*4®  o  keine 
Indicanreaction.  4  Uhr  v.  P.  43,  A.-T.  36-6,  R.-T.  37-6,  imr 
Allgemeinen  besser,  kein  Kopfschmerz,  etwas  Appetit. 

5.  März  (XVIL),  P.  56,  A.-T.  36-8,  B.-T.  37-6,  weder  Kopf- 
schmerz noch  Erbrechen.  Gesichtsfarbe  normal,  Ohrmuscheln  noch 
etwas  stärker  geröthet. 

248ttlndige  Hammenge  500 ,  spec.  Gew.  1*035,  mit  starkem 
Sediment   von   Uraten,    kein   Indican.     Cl.  O'l^/o  =  0'5    Grm. 
4    Uhr  V.  P.  48,  A.-T.  37-15,  R-T.  3770. 

6.  März  (XVIIL),  P.  54,  A.-T.  369,  R.-T.  3755.  Wohlbe- 
finden, jedoch  die  Reflexe  noch  nicht  wiedergekehrt,  die  Ohr- 
muscheln noch  röther.  Hammenge  800 ,  spec.  Gew.  1*030 ,  ohne 
Sediment.  4  Uhr  w.  P.  72,  A.-T.  372,  R.-T.  37*7. 

7.  März  (XIX.),  P.  66,  A.-T.  36-5,  R.-T.  37-5.  Wohlbefinden. 

8.  März  (XX.),  P.  68,  A.-T.  37,  R.-T,  37*6.  Wohlbefinden. 
Patellarreflex  links  in  schwachem  Grade  zurückgekehrt.  Der  zweite 
Pulmonalton  sehr  rauh,  verbreitert,  öfters  deutlich  gespalten,  auch 
der  erste  manchmal  geräuschartig.  Seit  acht  Tagen  noch  kein 
Stuhl,  erfolgt  auf  Seidlitzpulver.  Harn  1800  Ccm.,  spec.  Gew.  I'OIB, 
Reaction  alkalisch.  4  Uhr  w.  P.  102,  A.-T.  37-2. 

9.  März  (XXL),  P.  72,  A.-T.  367,  R.-T.  377.  Wohl- 
befinden, kann  aber  noch  nicht  anhaltend  lesen.  Reflexe  beider- 
seits deutlich  zurückgekehrt.  Beim  Gehen  schmerzen  die  Waden 
etwas  und  wird  der  Fuss  steif.  4  Uhr  w.  P.  88,  A.-T.  37"  15, 
R.-T.  37-95. 

10.  März  (XXII.),  P.  79,  A.-T.  37-27,  R.-T.  378.  Hat  gegen 
Früh  am  Kopf  und  in  den  Achselhöhlen  geschwitzt,  darauf  Kopf 
leichter.  Harnmenge  1800,  spec.  Gew.  1-018,  Cl.  0-55 Vo  =  9-0, 
Körpergewicht  53V2  Kgr.,  4  Uhr  v.  P.  100,  A.-T.  37*8. 

11.  März  (XXHI.),  P.  80,  A.-T.  37-1,  R.-T.37'7.  Hammenge 
2650,  spec.  Gew.  1-014,  feste  Stoffe  85,  C1.0-47«/o  =  13-4  Grm,, 

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Casuistisdier  Beitrag  zur  Lelire  von  der  Epilepsie.  435 

Färbung  im  Ganzen  normal,  fühlt   sich   im  Ganzen   noch  inmier 
schwächer.  4  Uhr  v.  Puls  100,  A.-T.  37  5,  R.-T.  387. 

12.  März  (XXIVO,  P.  84,  A.-T.  368,  R.-T.  377.  Hammenge 
2900,  spec.  Gew.  1-014,  feste  StoflFe  94-6,  Cl.  0-44ö/o  =  12-7  Grm. 
Milzdämpftmg  am  unteren  Bande  der  7.,  Leberdämpfung  am  unteren 
Bande  der  6.  Papillarlinie.  Ist  nicht  mehr  überempfindlich, 
Terträgt  überall  den  faradischen  Pinsel  vom  obigen  Bollenstand 
^t.  4  Uhr  V.  Puls  90,  A.-T.  375,  B..T.  38-3. 

13.  März  (XXV.),  P.  79,  A.-T.  370,  B.-T.  377,  Patellar- 
reflexe  fehlend.  Leberdämpfang  über  der  6.  Bippe.  Pulmonaltöne 
fast  rein.  Aussehen  normal,  Wohlbefinden.  Harnmenge  2270,  spec. 
Gew.  1-015,  feste  StoflFe  81,  Cl.  033%  =  7'38  Grm. 

14.  März  (XXVI.),  P.  84,  A.-T.  370,  B.-T.  37-4.  Hammenge 
2600,  spec.  Gew.  1-014,  feste  StoflFe  84,  Cl.  OU^U  =  11*4  Grm. 
4  Uhr  V.  P.  100,  A..T.  374,  B.-T.  38. 

15.  März  (XXVn.),  P.  84,  A.-T.  371,  B.-T.  37-8.  Ham- 
menge 1530,  sp.  Gew.  1-017,  Cl.  0-47  =  7-3  Grm.  Beflexe  noch 
fehlend.  4  Uhr  v.  P.  96,  A.-T.  37-4,  B.-T.  380. 

16.  März  (XXVm.),  P.  84,  A.-T.  37  10,  B.-T.  380,  Ham- 
menge 2600,  spec.  Gew.  1014. 

4  Uhr  V.  P.  94,  A.-T.  3730. 

17.  März,  P.  90,  A.-T.  372,  B.-T.  381. 
4  Uhr  V.  P.  100,  A.-T.  375,  B.-T.  382. 

18.  März,  P.  90,  A.-T.  37,  B.-T.  381. 
4  Uhr  V.  P.  100,  A.-T.  37  3. 

19.  März  (XXXI.),  P.  92,  A-T.  37,  B.-T.  381.  Harnmenge 
1800,  spec.  Gew.  1-015,  Körpergewicht  54 Va  Kgr. 

20.  März  P.  100,  A.-T.  375,  B.-T.  382,  Sehnenreflexe 
beiderseits  deutlich  vorhanden. 

7.  April  (L.),  8  Uhr  m.  P.  90,  A.-T.  37*10,  B.-T.  37-70, 
Hammenge  1800  Ccm. ,  spec.  Gew.  1-014,  feste  StoflFe  58, 
Cl.  0-33®/o  =  5*6  Grm.  Milzdämpfung  in  der  Axillarlinie  am 
unteren  Band  der  9.  Bippe,  Leberdämpfung  in  der  Papillarlinie 
am  unteren  Band  der  6.  Bippe.  Herzdämpfung  am  linken  Sternal- 
rand  an  der  3.  Bippe,  in  der  Mittellinie  des  Bmstblattes  unter 
den  Ansätzen  der  4.  Bippe,  in  der  Parastemallinie  am  unteren  Band 
der  4.  Bippe.  Herztöne  rein,  2.  Pulmonalton  sehr  rauh ,  verbreitert. 

(18) 


436  Wick. 

BeAind  an  der  Lunge  wie  oben ,  im  eitrigen  Spntnm  keine  Tnber- 
kelbacillen.  Gesichtsfärbung  normal.  Patellarreflexe  Torhanden. 
Körpergewicht  56  Kgr. 

Was  die  in  diesen  Anfallen  angewendete  Therapie  anlangt,  so- 
erwiesen  sich  als  das  Beste  vollkommene  geistige  nnd  physische 
Rahe,    etwas  Morphium  nnd   kalte  Umschläge,  Bromkalinm  war 
unverlässlich,  Chinin  von  keinem  Nutzen.  Weder  Faradisation  noch 
Galvanisation  war  im  Stande,  den  Kopfschmerz  zu  mildem. 


Um  nun  zu  einer  tibersichtlichen  Darstellung  und  richtigen 
Beurtheilung  des  geschilderten  Zustandes  zu  gelangen,  versuche 
ich  die  einzelnen  Symptome  festzustellen  und  auf  ihre  Bedeutung^ 
zu  prüfen,  wodurch  dann  der  Verlauf  auch  jener  Anfälle,  welche 
nicht  ausführlicher  beschrieben  wurden,  bestimmter  hervortreten 
wird.  Um  hierin  vergleichen  zu  können,  ist  es  nothwendig,  vom 
Beginn  des  Anfalles  auszugehen,  als  welchen  ich  jenen  Tag  nehme, 
an  welchem  der  Kopfschmerz  in  der  dem  Kranken  schon  bekanntem 
Weise  einsetzte. 

I.  PulB.  (TabeUe  2.) 

Geht  man  von  der  normalen  Pulsfrequenz  70  aus,  so  ersieht 
man  aus  den  Curven,  dass  der  Puls  anfänglich  sich  allmälig^ 
immer  mehr  verlangsamt,  bis  er  auf  einer  gewissen  Tiefe  ange- 
langt ist,  dass  er  von  da  an  rasch  ansteigt  und  einige  Zeit  grössere 
oder  kleinere  Schwankungen  um  die  Mittellinie  und  endlich  eine 
zweite  weniger  bedeutende  Verlangsamung  erfährt,  bis  er  definitiv 
über  die  Mittellinie  ansteigt  und  sich  dauernd  eine  gewisse  Grösse 
über  derselben  erhält. 

Der  Vergleich  der  Curven  ergibt,  dass  es  sich  hier  nicht 
um  einen  Zufall  handelt,  sondern  dass  die  Pulsfrequenz  in  ganz 
bestimmten  mit  dem  Wesen  der  Krankheit  zusammenhängenden 
Perioden  abläuft  und  können  wir  die  erste  Periode,  die  der  Puls- 
verlangsamung,  etwa  auf  11 — 12  Tage  ansetzen,  die  2.  Periode 
bis  zu  dem  Tage,  an  welchem  der  Pols  sich  dauernd  hebt,  d.  i. 
bis  zum  18. — 19.,  also  eine  Periode  von  7—8  Tagen.   In  dieser 

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Casmstischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  437 

Periode  lässt  sich  weitere  unterscheiden  eine  Hebung  durch  2  bis 
3  Tage  und  eine  Senkung  durch  3 — 4  Tage. 

Die  dritte  Periode,  die  der  Pulsbeschleunignng,  konnte  nicht 
bis  zur  Rückkehr  zur  Norm  verfolgt  werden,  weil  der  Kranke 
früher  reconvalescirt  wurde,  ist  jedoch  mindestens  auf  3  Wochen 
anzusetzen. 

Von  diesem  Schema  weichen  der  VII.  und  X.  Anfall  ab, 
der  erstere  dadurch;  dass  die  Hebung  bereits  am  8.  Tag  erfolgte, 
der  letztere  dadurch,  dass  sie  sich  erst  am  14.  Tag  markirte. 
Es  stimmt  mit  dem  früheren  ttberein,  dass  darauf  eine  neuerliche 
Senkung  und  erst  am  18.  Tag  die  definitive  Hebung  erfolgte, 
wodurch  sich  dieses  Stück  der  Pulscurve  als  der  2.  Periode  an- 
gehörig erweist. 

Ob  der  Puls  nun  gleich  vom  ersten  Tag  an  langsamer  wurde, 
ist  nicht  zu  beweisen,  dürfte  aber  als  wahrscheinlich  angenommen 
werden  können.  Auf  dieses  Symptom  aufmerksam  gemacht,  fand 
er  es  in  späteren  Anfällen  sogleich  im  Beginne. 

Die  Pulsverlangsamung  betrag  durchschnittlich  15  bis  20 
Schläge,  die  der  Erhöhung  in  der  3.  Periode  ebenso  viel  über 
der  Norm. 

Was  nun  die  Qualität  des  Pulses  betrifft,  so  war  er  während 
der  Verlangsamung  schwach,  manchmal  fadenförmig,  in  der  dritten 
Periode  voll  und  weich,  sehr  wechselnd  in  Bezug  auf  Spannung 
der  Arterie  in  der  zweiten.  Arhythmie  war  nur  einmal  im  Beginne 
nachweisbar. 

Während  der  1.  Periode  war  ich  vergebens  bemüht,  eine 
bessere  sphygmographische  Cnrve  herzustellen,  da  einerseits  der 
Puls  zu  klein,  andererseits  mir  nur  der  ursprüngliche  Marey'sche 
Sphygmograph  zu  Gebote  stand;  ich  setze  sie  jedoch  hierher, 
weil  sie  in  zwei  verschiedenen  Anfällen  doch  den  gleichen  Charakter 
aufweist,  und  den  Gegensatz  zur  3.  Curve  ausdrückt,  welche  während 
der  3.  Periode   aufgenommen  wurde. 

Was  die  Erscheinungen  seitens  des  Herzens  anlangt,  be- 
merke ich ,  dass  die  Percussion  bis  auf  den  X.  Anfall  einen  normalen 
Dämpftmgsbezirk  aufwies.  Der  Herzstoss  wurde  in  der  1 .  Periode 
stets  als  sehr  schwach  oder  als  nicht  sichtbar  und  nicht  tastbar 
notirt ;  dagegen  tritt  er  in  der  2.  Periode  hervor  und  wird  in  der 

(16) 


433 


Wick. 


3.  Periode  über  zwei  Intercostalräamen  sichtbar,  und  nahe  dem 
Sternalrand  tastbar. 

Die  Töne  an  der  Herzspitze  waren  rein  begrenzt,  nur  manch- 
mal der  2.  Ton  rauh,  fast  gespalten;  die  Töne  an  der  Aorta 
waren  stets  normal,  ebenso  der  1.  Pnlmonalton,  dagegen  der 
2.  sehr  rauh,  oft  sehr  deutlich  gespalten,  mitunter  geräuschartig. 
In  der  Carotis  2  reine  Töne. 

Der  2.  Pulmonalton  erweist  sich  auch  in  der  anfallsfreien 
Zeit  etwas  verstärkt,  verbreitert  und  rauh,  manchmal  mit  einer 
Andeutung  von  Spaltung.  Ebenso  ist  der  Puls  ausser  den  Anfallen 
leicht  erregbar,  rasch  wechselnd,  seine  Frequenz  70—80. 

Vm.  1.  Periode  10.  Tag. 


X.  1.  Periode.  17.  Tag. 


VI.  8.  Periode. 


II.  Die  Temperatur.  (Tabelle  3  und  4.) 

Bestimmt  lassen  sich  an  diesen  Curven  3  Perioden  nach- 
weisen: Die  1.  Periode  die  des  Fallens  und  Tiefstandes,  die 
2.  Periode  die  des  rascheren  oder  allmäligeren  Ansteigens,  und 
die  3.  die  des  Hochstandes,  wodurch  längere  Zeit  die  als  Norm 
genommene  Linie  für  370^  nach  unten  nicht  überschritten,  und 
fast  Fiebertemperaturen  erreicht  wurden.  Die  1.  Periode  dauerte 
bis  zum  13. — 14.  Tag,  unbestimmt,  ob  sie  gleich  von  Beginn 
der  Anfälle  an  bestand ;  die  Periode  des  Steigens  ist  kürzer,  3  bis 
4  Tage,  die  3.  Periode  beginnt  ungefähr  am  18.  Erankheitstag 
und  dauert  etwa  bis  zum  28.  Der  YIII.  und  X.  Anfall  zeigen  in 
der  2.  Periode  dagegen  ein  der  Pulsfrequenz  ähnliches  Verhalten, 
nämlich  Steigung  und  neuerliche  Senkung. 

Eine  andere  Eigenthümlichkeit  im  Verhalten  der  Temperatur 
war  der  Wechsel  in  der  Differenz  der  Axillar-  und  Rectumtem- 
peratur.    Aus  der  Prüfung  dieses   Verhältnisses  bei  Gelegenheit 

(16) 


Casuistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie,  439 

des  V.  Anfalles  und  gelegentlichen  Stichproben  bei  anderen 
während  des  10. — 12.  Tages  ergaben  sich  Differenzen  von  0-8—  l-O^, 
vom  12. — 19.  Differenzen  von  0-53— 0'65®  und  erst  vom  20.  an 
solche  von  0*4— 0*6  ^ 

Ergänze  ich  die  mitunter  ausgebliebenen  Messungen  im 
Mastdarm,  indem  ich  annehme,  dass  sich  am  selben  Tag  und  in 
derselben  Periode  der  Unterschied  ziemlich  gleich  geblieben  ist, 
so  werden  sich  die  Curven  für  A.-T.  und  R.-T.  etwa  so  gestalten, 
wie  es  in  der  Tabelle  4  ausgeführt  ist.  Wie  man  daraus  ersieht, 
spiegeln  sich  darin  wieder  die  oben  charakterisirten  Perioden, 
mehr  übereinstimmend  mit  dem  Verhalten  des  Pulses  als  mit  dem 
der  Temperatur;  also  bis  zum  12.  Tag  grosse  Differenzen,  der 
Durchschnitt  unter  der  Norm,  dann  Annäherung  bis  zum  19.  Tag, 
wo  der  Puls  sich  dauernd  hebt  und  endlich  nahezu  normale 
Differenzen,  während  der  3.  Periode,  der  Durchschnitt  über 
der  Norm. 

Der  X.  Anfall  weicht  hiervon  ab,  indem  die  Differenzen  bis 
in  die  3.  Periode  hinein  ungewöhnlich  hoch  blieben,  erst  am 
43.  Tag  auf  0*60^  sanken,  und  gegenwärtig,  d.  h.  am  52.  Tag, 
noch  auf  dieser  Höhe  sich  halten. 

in.  Btönmgen  in  den  Verdaanngsorganen. 

Das  Erbrechen  (Tabelle  5)  war  theils  sogleich  im  Beginne, 
theils  erst  am  2. — 3.  Tage  oder  noch  später  hinzugetreten,  dauerte 
in  den  meisten  Anfallen  ununterbrochen  bis  zum  11.  Tag;  nach- 
dem es  am  8.  seine  grösste  Intensität  erreicht  hatte,  verschwand 
es  am  12.  Tag  entweder  ganz  oder  wurde  doch  gemindert  und 
dauerte  dann  in  diesem  Falle  bis  zum  17. — 18.  Krankheitstag, 
Abweichend  hiervon  war  der  X.  Anfall. 

Das  Erbrochene  bestand  in  den  Ingestis,  meist  reines  Wasser 
oder  Milch,  in  sehr  viel  Schleim,  der  mitunter  grünlich  gefärbt 
war.  Die  Keaction  war  immer  sehr  stark  sauer,  der  Geruch 
säuerlich,  ranzig.  Die  Menge  richtete  sich  nach  der  Menge  der 
eingeführten  Flüssigkeiten,  schien  jedoch  diese  manchmal  zu  über- 
treffen und  erreichte  einmal  die  Quantität  von  1300  Ccm.  Es  ging 
meist  leicht  von  statten  und  trat  häufig  ein  nach  Steigerung  des 
Kopfschmerzes  und  irgend  welchen  Bewegungen. 

(17) 


440  Wick. 

Eine  Untersnchung  des  Erbrocfaenen  wurde  erst  bei  Gelegen- 
heit des  X.  Anfalles  gemacht  und  ergab  Folgendes: 

Das  Erbrechen  erfolgte  am  14.  Erankheitstag  Abends,  die 
Menge  betrug  500  Ccm ,  war  von  brauner  Farbe,  des  kurz  vorher 
genossenen  Kaffees  wegen,  und  enthielt  von  Mittag  her  unverdaute 
Reis-  und  Nudelstiickchen.  Blaues  Lakmuspapier  wurde  ziegelroth 
geßlrbt,  auf  *mit  Congoroth  gefärbtem  Papier  entstand  ein  blauer 
Fleck.  Die  Acidität  betrug  0-25%.  Tropäolin ,  Methylviolett  und 
das  U  f  f  e  1  m  a  n  n'sche  Reagens  ergaben  keine  bestimmte  Reaction, 
dagegen  war  Biuretreaction  vorhanden.  Der  Gehalt  von  Chlor 
betrug  0-47  Vo- 

Das  Erbrochene  vom  16.  Erankheitstag  reagirte  weniger 
sauer,  gab  keine  Reaction  auf  freie  Säure,  jedoch  auf  Peptone, 
enthielt  0'17Vo  Chlor. 

Der  Unterleib  war  meist  mehr  weniger  eingezogen,  in 
der  Magengrube  öfters  gegen  tieferen  Druck  empfindlich.  Die 
Zunge  war  meist  weisslich,  manchmal  aber  auch  nicht  belegt^ 
der  Geschmack  öfters  ein  sehr  Ubier,  nicht  entschieden  sauer. 
Dabei  bestand  anhaltende  Stuhlverstopfung,  welche  mitunter 
Elystieren  sowohl,  wie  innerlichen  Mitteln,  die  erbrochen  wurden, 
widerstand,  bis  um  den  14.  Tag  herum  von  selbst  Stuhlgang  ein- 
trat. Der  Appetit  mangelte  meist  bis  zum  12.  Tag  gänzlich;  als 
Getränk  zog  er  reines  kaltes  Wasser  allen  anderen  vor  und  nahm 
es  in  manchen  Anfällen,  wo  der  Durst  brennend  war,  in  grossen 
Mengen  zu  sich. 

Nach  dem  12.  Erankheitstag  vertrug  er  anfanglich  nur  wenig 
Milch  oder  Eaffee,  erst  einige  Tage  später  festere  Speisen. 

In  Bezug  auf  Leber  und  Milz  konnte  eine  Verschiebung  der 
oberen  Dämpfungsgrenze  beobachtet  werden. 

Im  V.  Anfall  stand  im  Beginn,  d.  h.  am  6.  Erankheitstag, 
die  obere  Lebergrenze  am  unteren  Rand  der  6.  Rippe  in  der 
Papillarlinie,  die  obere  Milzgrenze  in  der  Axillarlinie  am  unteren 
Rand  der  9.  Rippe;  am  16.  war  die  obere  Grenze  der  Milz  an 
der  8.  Rippe  in  der  Axillarlinie,  am  19.  stand  die  obere  Leber- 
grenze am  unteren  Rand  der  5.  Rippe  in  der  Papillarlinie,  die 
Milz  am  unteren  Rande  der  7.  Rippe  in  der  Axillarlinie.  In  der 
anfallsfreien  Zeit  war  die  Milzdämpfung  in  der  Axillarlinie  unter 

(18) 


Casaistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  441 

der  9.  Rippe,  die  Leberdämpfung  in  der  Papillarlinie  unter  der  6. 
nachweisbar. 

Im  X.  Anfall  stand  bereits  am  14.  Krankheitstag  die  Milz 
nnter  der  7.  Rippe,  die  Leber  unter  der  5.  Rippe. 

Gegenwärtig,  d.  h.  am  52.  Tag,  bestehen  wieder  normale 
Verhältnisse. 

IV.  Breoheinungen  von  Seite  der  Lnnge. 

Während  des  IV.  Anfalles  war  sie  ganz  unbetheiligt,  doch 
folgte,  nachdem  er  aus  dem  Spital  schon  entlassen  war,  ein  Catarrh, 
welcher  noch  bei  Beginn  des  V.  Anfalles  nachweisbar  war,  jedoch 
sich  gegen  Ende  desselben  verlor.  Während  des  VI.  Anfalles  stellte 
sich  allmälig  leichter  Bronchialcatarrh  ein,  welcher  noch  lange 
nach  seiner  Entlassung  aus  dem  Spital  anhielt  und  öfters  mit 
bellendem  Husten  verbunden  war. 

Der  VII.,  Vin.  und  IX.  Anfall  verlief  ohne  Catarrh. 

Die  Respiration  war  meist  ungestört,  nur  in  den  Anfällen, 
welche  mit  bedeutendem  Gürtelgefühl  einhergingen,  verlangsamt, 
seufzend,  lieber  den  X.  Anfall  siehe  oben. 

VL  Hamsecretion  und  Stoffwechsel.  (Tabelle  6.) 

Die  Harnmengen  wurden  in  4  Anfallen  eingehender  verfolgt, 
wenn  es  auch  nicht  für  jeden  Tag  möglich  war,  die  24stündige 
Menge  festzustellen,  da  öfters  Harn  bei  Stuhlgängen  verloren  ging. 

Die  in  der  Tabelle  gegebenen  4  Curven  lassen  mit  Bestimmt- 
heit wieder  dieselben  Perioden  erkennen,  wie  sie  oben  beschrieben 
wurden. 

Die  Hammenge  nimmt  ab,  erreicht '  einen  tiefsten  Stand 
etwa  am  10. — 11.  Krankheitstag,  erhebt  sich  bereits  am  12.  und 
überschreitet  am  18.  die  zur  Norm  angenommene  Linie  von 
1500  Gem.,  über  welche  sie  dann  die  nächsten  Tage  mehr  oder 
weniger  consequent  erhöht  blieb. 

In  zwei  Anfällen  war  ihr  höchster  Funkt  am  22.  Tag. 

Beigefügte  kleine  Tabellen  7  und  8  ergeben  die  Uebersicht 
über  das  Resultat  der  quantitativen  Untersuchung  auf  Harnstoff, 
Chlor  imd  Phosphorsänre   im  Verlaufe    des  V.  und  VI.  Anfalles, 

(19)  - 


442 


Wick. 


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Casnistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  443 

Cönstatiren  wir  aus  dieser  Untersuchung  vorerst  folgendes: 

Das  Chlor  nahm  in  beiden  Anfällen  vom  1.  Beobachtungs- 
tage an  allmälig  ab,  besonders  auflTällig  vom  8. — 9.  Tag,  ver- 
schwand im  V.  Anfall  am  12. — 13.  Tag  gänzlich  aus  dem  Harn 
und  wird  im  VI.  Anfall  zwischen  den  10.  und  14.  Krankheits- 
tag auf  eine  minimale  Grösse  reducirt,  nimmt  dann  vom  15.  Tag 
an  plötzlich  zu  und  erreicht  seine   noimale  Menge  etwa  am  20. 

Der  Harnstoff,  nach  der  Liebig'schen  Methode  unter- 
sucht, nimmt  in  beiden  Anfällen  bis  zum  11. — 12.  Tag  allmälig 
zu ,  schnellt  an  diesen  Tagen  plötzlich  auf  die  doppelte  Menge 
des  bisher  Ausgeschiedenen  hinauf,  erhält  sich  aber  noch  bis 
zum  23.  Tag  ungefähr  auf  einer  in  Anbetracht  der  aufge- 
nommenen Nahrung  ungewöhnlichen  Höhe. 

Berechnet   man  sich    aus  den  Harnstoffmengen   den  Zerfall 

von  Körperöubstanz ,    so  gibt  das   im  V.  Anfall    vom  1.  bis  ein- 

+ 

schliesslich  12.  Krankheitstag,  also  in  8  Tagen:  215  U  =  99  N  = 
660  Albumen  =  3070  Muskel,  in  Wirklichkeit  mehr,  da  an  zwei 
Tagen  die  Hammenge  nicht  vollständig  gesammelt  werden  konnte. 

Bedenkt  man,  dass  schon  vor  dem  5.  Krankheitstag  Appetit- 
losigkeit und  Erbrechen  bestand,  die  aufgenommene  und  assimilirte 
Nahrung  nur  sehr  gering  sein  konnte,  so  ergibt  sich  für  diese 
12  Krankheitstage  ein  sehr  bedeutender  Verlust  an  Körpersubstanz. 

Im  VI.  Anfall  wurden  obige  Zahlen,  flir  Harnstoff  u.  s.  w. 
schon  in  6  Krankheitstagen,  nämlich  vom  7.  bis  einschliesslich  12., 
erreicht. 

Rechne  ich  die  gefundenen  Hamstoffmengen  bis  zum  15.  Tag, 
berücksichtige  ich  vor  der  Hand  nicht,  dass  an  manchen  Tagen 
die  wirkliche  Ausscheidung  grösser  war,  indem  nicht  die  ganze 
Hammenge  gesammelt  werden  konnte,  so  erhalte  ich: 

260  U  =  120  N  =  800  Alb.  =  3720  Muskel. 

Erwägt  man,  dass  sechs  Tage  vorangingen,  an  denen  die 
Hamstoffausscheidung  gewiss  nicht  unter  25  Grm.  betrag,  da  an 
diesen  Tagen  noch  theilweise  Nahrang  zu  sich  genommen  wurde 
und  veranschlagt  man  somit  die  durch  die  Nahrang  nicht  ersetzte 
Menge  von  Harnstoff  auf  durchschnittlich  15  Grm.  für  den  Tag,, 
so  gebe  das: 

(21) 


444  Wick. 


+ 


90  U  und  wir  hätten  somit  für  die  ganze  Periode  vom 
1. — 15.  Krankheitstag: 

350  U  =  161  N  =  1370  Alb.  =  4990  Muskel. 

Erwägt  man,  dass  der  Kranke  durch  das  Erbrechen  ausser 
dem  Magensaft  Schleim  und  Galle  verlor,  so  ist  der  gesammte 
Gewichtsverlust  auf  mehr  zu  schätzen. 

Während  er  vor  der  Krankheit  ohne  Kleidung  57  Kgr. 
wog,  ergab  die  Wägung  am  25.  Krankheitstag  49  Kgr. 

Die  Körperschwäche  war  so  gross,  dass  er  kaum  die  kurze 
Zeit  der  Wägung  stehend  zuzubringen  vermochte. 

Die  grosse  Ausgabe  an  Harnstoff  ging  noch  fort,  ohne 
dass  die  in  den  nächsten  Tagen  bis  zum  20.  aufgenommene 
Nahrung  ganz  die  Ausgabe  zu  decken  im  Stande  gewesen  wäre. 

Es  bedurfte  noch  weiterer  drei  Wochen,  dass  eine  Gewichts- 
zunahme von  2  Kgr.  nachgewiesen  werden  konnte;  erst  nach 
9  Wochen  hatte  er  wieder   ein  Gewicht  von  55'5  Kgr.  erreicht. 

Die  Fhosp ho rsäure- Ausscheidung  geht  parallel  mit  der 
des  Harnstoffs;  sie  nimmt  zu  bis  zum  II. — 12.  Tag,  an  diesen 
letzteren  Tagen  über  das  Doppelte  der  vorangegangenen  Aus- 
scheidung; sie  erweist  sich  auch  nach  dieser  Periode  bis  zum 
19.  Tag  in  Anbetracht,  dass  die  aufgenommene  Nahrung  noch 
keine  entsprechend  grosse  war,  vermehrt. 

Ihr  durchschnittliches  Verhältniss  zur  Stickstoffausscheidung, 
welches  in  der  Norm  l  :  6  beträgt,  war  im : 

V.  Anfall  bis  zum  12.  Tag .     .     .     .     1:6-1 

VI.       „ 1:5-5 

nach  dieser  Periode: 

V.  Anfall 1:6-7 

VI.       , 1:7-7 

In  Bezng  auf  die  erste  Periode  ist  ausser  den  gegebenen 
Zahlen  zu  beriicksichtigen,  dass  an  mehreren  Tagen  vor  dem  12. 
dieses  Verhältniss  unter  der  Norm  blieb,  sich  aber  bereits  am  12. 
selbst  etwas  über  die  Norm  und  in  der  späteren  Periode  bedeutend 
über  dieselbe  erhob. 

An  mehreren  Tagen  dieser  Periode  wurde  auch  die  an  die 
Erden  gebundene  Phosphorsäure  bestimmt  und  betrug  diese  für  sechs 

(32) 


Casuistischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  445 

Beobachtungstage  nngefähr  2*1  Grm.,  während  die  Gesammt- 
menge  der  Phosphorsäure  an  diesen  Tagen  17*4  ausmachte; 
demnach  ein  Verhältniss  von  1:8,  während  es  in  der  Norm 
1 :  3—4  ist. 

Denkt  man  sich  den  ganzen  N  ans  Mnskelsnbstanz  stammend, 
so  würde  beim  Zerfall  von  3018  Grm.  Fleisch,  welche  aaf  die 
sechs  Bestimmungstage  kommen ,  nach  der  procentnarischen  Zu- 
sanmiensetzung  desselben  etwa  13*6  Grm.  Phosphorsäure  zu 
erwarten  sein  und  von  diesen  wieder  2*3  Grm.  an  Erden  gebunden. 
Wie  man  sieht,  stimmt  diese  Zahl  mit  der  Ausgabe  von  Erd- 
phosphaten durch  den  Harn. 

Die  Resultate  der  Schwefelsäurebestimmung  wurden 
in  die  Tabelle  nicht  aufgenommen,  da  nur  die  in  Form  von  Sul- 
faten im  Harn  enthaltene  Schwefelsäure  in  nicht  ganz  fehlerfreier 
Art  bestimmt  wurde. 

Indessen  geht  daraus  doch  hervor,  dass  sie  mit  der  Aus- 
scheidung des  Harnstoffs  parallel  geht,  jedoch  derart,  dass  bis 
zum  12.  Tag  im  Verhältniss  kleinere  Mengen  (1*03 — 2'95) 
erscheinen,  gegen  die  spätere  Periode,  wo  bei  geringeren  Ham- 
stoffmengen  grössere  (2*5 — 3*4)  ausgeschieden  werden. 

Der  Unterschied  dürfte  seinen  Grund  in  der  ungleichen 
Menge  der  gepaarten  Schwefelsäure  haben,  welche  in  der  ersten 
Periode,  der  Indicanausscheidung  nach  zu  schliessen,  vermehrt 
gewesen  sein  wird. 

Die  Erscheinung  der  vermehrten  Ausscheidung  von  Indican 
wurde  bereits  beschrieben  bei  der  Besprechung   des  V.  Anfalles. 

Dasselbe  Phänomen  wiederholte  sich  in  schwächerem  Grade 
im  Verlauf  des  VL  Anfalles,  wo  ebenfalls  an  3  Tagen  vor  der 
Ausscheidung  der  Urate  die  Indicanreaction  eine  bedeutendere 
war,  als  an  späteren  Tagen;  ganz  verlor  sie  sich  erst  am  18. 
Erankheitstag.  Im  IV.  Anfall  war  diese  Reaction  gleichfalls  nach- 
weisbar, jedoch  in  sehr  schwachem  Grade  und  nur  so  lange  als 
der  Harn  sehr  concentrirt  war. 

Bemerkenswerth  ist  die  vermehrte  Ausscheidung  von  Uraten, 
u.  zw.  vom  10. — 12.  Krankheitstag  beginnend  und  2 — 3  Tage 
andauernd;  sie  tritt  entweder  gleichzeitig  mit  der  Besserung  des 
ganzen  Zustandes  auf,  oder  geht  ihr  1 — 2  Tage  vorher. 

(88) 


446  Wick. 

Die  Menge  der  zu  dieser  Zeit  ausgeschiedenen  Harnsäure 
wurde  im  Y.  Anfall  zu  0*8  am  11.  Krankheitstag  bestimmt, 
während  Proben  an  früheren  Tagen  eine  geringere  Menge  auf- 
wiesen, trotzdem  die  Concentration  des  Harnes  keine  geringere 
war.  Am  37.  Krankheitstag  war  ihre  Menge  0*84  bei  1480  Ccm. 
Harn,  später  sank  ihr  Menge  auf  0*35  Grm.  bei  einer  bedeutend 
grösseren  Menge  ausgeschiedenen  Harnstoffs. 

In  Bezug  auf  den  Harnstoff  ist  noch  zu  bemerken ,  dass  er 
sich  bei  Zusatz  von  Salpetersäure  schon  in  ganz  kurzer  Zeit 
krystallinisch  als  salpetersaurer  Harnstoff  ausschied. 

Wenn  auch  dies  in  der  Norm  bei  sehr  concentrirten  Hamen 
geschieht,  so  konnte  diese  Erscheinung  in  unserem  Falle  selbst 
noch  bei  einem  spec.  Gew.  von  1-021 — 1018  beobachtet  werden, 
während  sie  ein  anderes  Mal  bei  der  gleichen  oder  noch  höheren 
Concentration  vermisst  wurde. 

Die  Reaction  war  in  der  ersten  Periode  und  im  Beginne 
der  2.  stark  sauer,  am  15. — 17.  Krankheitstag  wurde  sie  vorüber- 
gehend alkalisch. 

Es  wurde  ausserdem  auf  Eiweiss,  Zucker,  Aceton  und  Phenol 
geprüft,  doch  fand  sich  davon  nichts  vor. 

Behufs  Vergleiches  wurden  die  Ausscheidungsgrössen  am 
42.  Tag  nach  Beginn  des  VI.  Anfalles  als  Norm,  wie  in  der 
Tabelle  ersichtlich,  genommen,  und  die  Curven  aus  den  verschie- 
denen Percentzahlen  construirt. 

Das  Verhalten  der  Harnausscheidung  im  X.  Anfall  stimmte 
der  Menge  nach  mit  den  vorausgegangenen  Anfallen  überein  und 
konnte  an  jenen  Tagen,  wo  die  Menge  den  höchsten  Stand  er- 
reichte, eine  wirkliche  Hypersecretion  nachgewiesen  werden ;  denn 
am  23.  Krankheitstag  betrug  die  Hammenge  2650  Ccm.,  während 
in  Speisen  und  Getränken  nicht  mehr  als  2400  Ccm.  aufgenommen 
wurden,  und  am  24.  war  die  Hammenge  2900  Ccm.  gegen  3000  Ccm. 
Gesammtwasseraufnahme. 

Zum  Unterschied  von  früheren  Anfällen  fand  sich  diesmal 
keine  Indicanreaction ,  jedoch  zeigte  sich  wieder,  und  zwar  ver- 
spätet, nämlich  erst  am  17.  Tag,  die  vermehrte  Ausscheidung  voa 
Uraten  und  am  20.  die  Aenderung  der  Reaction. 


Casnistischer  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Epilepsie.  447 

Die  Chlormenge  sank  am  17.  Tag  auf  0*10%  =  0*5  Grm., 
was  mit  den  Mheren  Anfallen  übereinstimmt,  and  um  so  auf- 
fallender ist,  als  an  den  yorausgegangenen  Tagen  weniger  Nahrung 
aufgenommen  wurde  und  doch  die  Chlormengen  0'4 — ^0*56  ^/o 
=  2 — 5  Grm.  betrugen.  Mit  der  Hamfluth  am  23. — 24.  stieg  auch 
die  Chlorausscheidung,  in  ihren  Grössen  in  merkwürdiger  Weise 
übereinstimmend  mit  den  Ausscheidungsgrössen  im  VI.  Anfall. 

yn.  Erscheinungen  von  Seite  des  Nervensystems. 

1.  Kopfs  chmerz. 

£r  war  in  jedem  Anfalle  das  erste  Symptom,  wurde  weiters 
immer  intensiver  und  erfuhr  erst  am  8. — 9.  Tag  eine  Erleichterung, 
eine  wesentliche  Besserung  aber  in  den  meisten  Anfallen  erst 
am  11. — 12. 

In  den  meisten  Anfallen  folgte  auf  diese  eine  mehr  weniger 
starke  Recidive,  bis  er  am  17. — 20.  Tage  ganz  aufhörte.  (Siehe 
Tabelle  5.) 

Der  Schmerz  war  meist  dumpf,  drückend,  bohrend,  hatte 
seinen  Sitz  beiderseits  in  der  Stirngegend,  oder  auch  zugleich 
in  der  vorderen  Scheitelgegend,  wurde  durch  Aufsetzen  und  Auf- 
stehen verstärkt,  dagegen  durch  Druck  auf  die  eine  oder  andere 
Carotis  augenblicklich  erleichtert,  oder  ganz  entfernt,  was  aber 
nur  sehr  kurze  Zeit  die  Compression  überdauerte. 

2.  Vasomotorische  Erscheinungen. 

In  allen  Anfällen  zeigten  sich  die  Ohrmuscheln  mehr  oder 
weniger  über  die  Norm  geröthet,  höher  temperirt;  manchmal 
auch  mehr  umschriebene  Röthe  an  den  Wangen,  während  das 
übrige  Gesicht  von  gewöhnlicher  Farbe  oder  blass  war.  Im  IV. 
Anfall  wurden  am  11.  Erankheitstag  die  Unterschenkel  und  Füsse 
in  Friessnitz-Umschläge  eingehüllt. 

Die  Extremitäten  blieben  trotzdem  kalt  und  erst  am  nächsten 
Tag,  dem  12.  also,  wo  eine  allgemeine  Besserung  eintrat  und 
der  Puls  sich  hob;  wurden  die  Extremitäten  warm,  der  Fuss- 
rücken  beiderseits  sogar  lebhaft  geröthet  und  wärmer  als  Unter- 
und  Oberschenkel ;  zu  gleicher  Zeit  nahm  die  übermässige  Röthung 
und  Wärme  der  Ohrmuscheln  ab. 

Med.  Jahrbücher.  35     (35) 


448  Wick. 

Als  dann  am  15.  Krankheitstag  sich  wieder  mehr  Kopfschmerz 
einstellte,  auch  etwas  Erbrechen,  worden  wieder  Priessnitz- 
Umschläge  angelegt;  diese  erwärmten  sich  jedoch  bald  und  anch 
am  nächsten  Tage,  als  der  Znstand  sich  wieder  gebessert  hatte, 
waren  die  Füsse  nicht  abnorm  geröthet;  jedoch  stellte  sich  am 
18.  Tag  ein  sehr  starkes  Jncken  ein,  so  dass  er  nach  kalten  Um- 
schlägen verlangte,  und  verschwand  erst  nach  mehreren  Tagen. 

Das  Verhalten  im  V.  Anfall  wurde  bereits  oben  geschildert. 

Im  Verlauf  des  VI.  Anfalles,  wo  ebenfalls  am  9.  Krankheits- 
tag  jene  Umschläge  angewendet  wurden,  fühlte  er  sich  erst  am 
11.  Krankheitstag ,  als  eine  allgemeine  Besserung  eintrat,  am 
ganzen  Körper  wärmer,  am  26.  Tag  erst  war  die  Farbe  der  Ohr- 
muscheln wieder  die  normale. 

Im  VIII.  Anfall  war  das  Gesicht  nicht,  sondern  nur  die  Ohr- 
muscheln geröthet  und  wurden  von  ihm,  wenn  er  sich  auf  sie 
legte,  unerträglich  heiss  empfunden ;  auch  objectiv  war  eine  höhere 
Temperatur  nachweisbar. 

Am  Vni.  Krankheitstag  wurde  die  Gesichtsfarbe  blass,  die 
Farbe  der  Ohrmuscheln  dunkler  und  an  den  Wangen  eine  um- 
schriebene Stelle  etwas  livid  roth.  Dies  blieb  so,  bis  am  10.  Tag 
eine  leichte  Besserung  auftrat;  am  13«  Krankheitstag  kam  ein 
Krampfanfall,  das  Gesicht  war  an  diesen  und  dem  nächsten  Tag  auf- 
fallend blass  und  am  ganzen  Körper  brach  kalter  Schweiss  aus. 
Dies  änderte  sich,  bis  am  15.  eine  wesentliche  Besserung  eintrat. 

In  allen  Anfallen  fühlte  er  in  der  ersten  Periode  in  den 
Extremitäten  Kälte  und  erst  nach  dem  12.  Tag  eine  behagliche 
Wärme,  jedoch  wurden  selbst  in  erster  Periode  kalte  Umschläge 
auf  den  Kopf  wohlthuend  gefühlt  und  begehrt. 

3.  Erscheinungen  von  Seite  der  Augen. 

In  allen  Anfällen  bestand  mitunter  ziemlich  bedeutende 
Röthung  der  Lidbindehaut  beiderseits  und  in  leichterem  Grade 
auch  der  Augapfelbindehaut. 

In  der  Zwischenzeit,  zwischen  dem  VI.  und  VIII.  Anfall,  litt 
er  ein  paarmal  an  Bindehautherpes ;  während  des  Vm.  Anfalles 
wurde  am  3.  Krankheitstag  das  Auftreten  eines  Herpesbläschens 
beobachtet.    Während  der  drei  vorausgegangenen  Anftllle  wurde 

(26) 


CasrdstiBcher  Beitrag  mr  Lehre  von  der  Epilepsie.  449 

diesbezüglich  nar  die  Bemerkimg  gemacht,  dass  die  Bindehant- 
röthong  am  19.  Tag  geringer  wurde. 

Die  Lichtscheu  war  in  allen  Anfällen  mit  Ausnahme  des  X. 
gross  und  manchmal  so  bedeutend,  dass  er  selbst  das  Nacht- 
lichtchen schwer  yertrug;  es  konnte  deshalb  eine  Augenspiegel- 
Untersuchung  nicht  vorgenommen  werden. 

Im  Allgemeinen  besserte  sie  sich  nach  dem  12.  Erankheits- 
tag,  im  VI.  Anfall  verschwand  sie  am  14.  Tag. 

Die  Pupillen  waren  stets  beiderseits  gleich,  meist  mittelweit, 
reagirten  auf  Licht  und  Beschattung.  Nur  einmal  während  des 
IV.  Anfalles  wurde  die  Bemerkung  verzeichnet,  dass  er  bei  Be- 
trachtung entfernter  Gegenstände  dieselben  kleiner  als  gewöhn- 
lich sah. 

4.  Reflexe. 

Die  Patellarreflexe  wurden  beim  IV.  und  V.  Anfall 
von  Beginn  bis  zum  Schluss  der  Beobachtung  fehlend  ge- 
funden; jedoch  ergab  die  Untersuchung  einige  Wochen  nach 
seiner  Reconvalescenz ,  dass  sie  wiedergekehrt  waren,  u.  zw. 
verstärkt. 

Im  VI.  Anfall  waren  sie  am  6.  Tag  noch  vorhanden,  jedoch 
schon  schwächer,  fehlten  am  9.  und  kehrten  erst  am  26.  in  sehr 
geringem  Grade  wieder  zurück. 

Im  Vni.  waren  sie  am  6.  Tag  noch  vorhanden,  jedoch  sehr 
abgeschwächt,  fehlten  am  8.  bereits  und  waren  erst  am  21.  im 
geringen  Grade  wiedergekehrt,  dagegen  am  28,,  in  normaler 
"Weise  vorhanden.  Ueber  das  Verhalten  im  X.  Anfall  siehe  oben. 

Hautreflexe  waren  vorhanden,  u.  zw.  schienen  sie  am 
6. — 12.  Tag  verstärkt  zu  sein. 

Cremasterreflex  war  nachweisbar,  aber  nicht  verstärkt. 

5.  Sensible  Erscheinungen. 

Oppressionsgeftihl  auf  der  Brust,  zuweilen  auch  Gtirtel- 
gefbhl  im  Unterleib,  welche  ihn  zu  fortwährendem  Herumwälzen 
von  der  einen  auf  die  andere  Seite  und  zu  seufzenden  Inspirationen 
veranlasste,  war  in  mehreren  Anfällen  vorhanden. 

36  ♦    C27) 


450  Wick. 

Es  trat  diese  Erscheinung  nicht  sogleich  im  Beginn,  sondern 
im  V.  Anfall  am  7.,  im  VI.  Anfall  am  10.,  im  VÜL  Anfall  am 
8.  Tage  anf. 

Hyperästhesie. 

Das  Verhalten  im  V.  Anfall  wurde  oben  bereits  beschrieben. 

Im  VI.  Anfall  beschränkte  sich  die  Ueberempfindlichkeit 
auf  die  Fusssohlen,  trat  auf  am  6.  und  verschwand  am   9.  Tag. 

Im  Vni.  Anfall  trat  diese  Erscheinung  im  geringsten  Grade 
am  8.  Tag  auf,  und  verschwand  am  10. 

Bemerkenswerth  ist  auch  das  Verhalten  der  Druckempfind- 
lichkeit der  obersten  4  Brustdomfortsätze. 

In  den  Pausen  zwischen  den  Anfällen  nicht  vorhanden,  wurde 
sie  sogleich  im  Beginne  des  Anfalles  nachweisbar,  wenn  auch  in 
den  verschiedenen  Anfällen  in  verschiedenem  Grade,  nimmt  zu 
mit  den  übrigen  Erscheinungen  und  beginnt  geringer  zu  werden, 
wenn  diese  sich  bessern.  Siehe  das  Verhalten  im  X.  Anfall  oben. 

6.  Sensorielle  und  motorische  Erscheinungen. 

In  Bezug  auf  den  V.  und  X.  Anfall  siehe  oben. 

Im  Verlaufe  des  VI.  Anfalles  fühlte  er  sich  am  11.  Tage, 
nachdem  er  den  Nachmittag  vorher  bis  in  die  Nacht  hinein  fort- 
während wegen  Oppressionsgeftihl  sich  hin-  und  hergewälzt,  und 
sehr  oft  erbrochen  hatte,  am  Morgen  nach  einem  kurzen  Schlaf 
etwas  besser  und  am  ganzen  Körper  wärmer,  erbrach  sich  auch 
weniger ;  —  doch  dieser  Anfang  von  Besserung  wurde  um  6  Uhr 
Abends  gestört,  durch  plötzlich  auftretenden  ungewöhnlich  heftigen 
Kopfschmerz,  fortwährendes  sehr  heftiges  Oppressionsgeftihl  und 
Zittern  in  den  oberen  Extremitäten. 

Nach  V*  Stunde  nahm  der  ärgste  Schmerz  ab  und  dauerte 
im  geringeren  Grade  bis  zum  nächsten  Tag,  wo  eine  entschiedene 
Besserung  eintrat. 

Während  des  VII.  Anfalles  kam,  nachdem  bereits  eine 
geringe  Besserung  sich  am  10.  Tag  eingestellt  hatte,  welcher 
aber  wieder  Kopfschmerz  und  Erbrechen  folgte,  um  6  Uhr  Abends 
ein  Insult  von  heftigen  Kopfschmerzen  mit  clonischen  Krämpfen 
in   den   oberen  Extremitäten   und   am   Kopf;   dabei   waren   die 

(28) 


Casiüstischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  451 

Papillen  stark  erweitert,  trag  reagirend,  bei  erhaltenem  Conjunctival- 
reflex,  das  Bewnsstsein  fast  vollständig  aufgehoben,  der  Körper 
mit  kalten  Schweiss  bedeckt ;  dieser  Anfall  dauerte  8 — 10  Minuten, 
der  Puls  war  während  desselben  68. 

Er  hatte  darauf  das  Gefühl,  als  ob  die  Zunge  gelähmt  wäre. 

Ein  2.  noch  kürzer  dauernder,  gleich  beschaffener  Insult 
trat  4  Stunden  später  ein. 

Wegen  des  noch  bestehenden  starken  Kopfschmerzes  wurde  eine 
Morphiuminjection  gemacht,  worauf  dann  ein  ruhiger  Schlaf  eintrat. 

Am  nächsten  Tag  traten  Kopfschmerzen  wieder  auf  und  erst 
den  2.  Tag  darauf  stellte  sich  nach  einem  erquickenden  Schlafe 
die  Hauptbesserung  ein. 

Hier  sei  schliesslich  noch  erinnert  an  die  in  der  Anamnese 
beschriebenen  Insulte.  In  der  Tabelle  5  wurde  versucht,  eine  Ueber- 
ßicht  über  das  zeitliche  Auftreten  des  Kopfschmerzes,  des  Er- 
brechens und  der  motorisch  sensoriellen  Erscheinungen,  die  mit  + 
bezeichnet  sind,  zu  geben. 

Epikrise. 

Den  bedeutendsten  Einblick  in  den  diesem  Krankheitsfall 
zu  Grunde  liegenden  pathologischen  Process  liefern  uns  die  Er- 
scheinungen der  Hemicranie,  deren  Erkenntniss  vor  Allem  auf  ihn 
anwendbar  erscheint. 

Neben  vasomotorischen  Erscheinungen  am  Kopfe  haben  wir 
Kopfschmerz,  Erbrechen  und  noch  mehrere  andere  Symptome 
welche  bei  der  Hemicranie  beobachtet  werden,  nur  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  in  unserem  Falle  die  derselben  als  zu  Grunde 
liegend  angenommene  Affection  des  Halssympathicus  als  auf 
beiden  Seiten  bestehend  angenommen  werden  muss. 

Für  das  Bestehen  beiderseits  spricht  die  Röthung  beider 
Ohrmuscheln  und  Bindehäute,  die  gleichmässige  Färbung  der  beiden 
Gesichtshälften,  die  Ausbreitung  des  Kopfschmerzes  über  den 
ganzen  Vorderkopf,  ferner  die  Thatsache,  dass  Druck  auf  eine 
wie  auf  die  andere  Carotis  den  Schmerz  oder  das  unangenehme 
Gefühl  im  Kopf  mildert  oder  behebt. 

Weniger  bestimmt  ist  anzugeben,  welche  Form  der  sym- 
pathischen Störung  wir  vor  uns  haben. 

(2Ö) 


452  Wick. 

Bei  der  angioparalytischen  Form  hat  man  nicht  blos  das 
äussere  Ohr,  sondern  die  eine  Gesichtshälfte  entweder  ganz  oder 
doch  in  einem  grösseren  Bezirke  entschieden  geröthet  gefunden. 

Das  ist  hier  nicht  der  Fall;  es  waren  wohl  Ohrmuscheln 
und  Bindehäute  stark,  aber  das  Gesicht  nur  unterhalb  der  Augen 
in  geringem  Grade  gerOthet,  sonst  eher  als  blass  und  in  manchen 
Phasen  des  Anfalles  entschieden  blutleer  zu  bezeichnen,  wobei 
dann  die  geröthete  Stelle  eine  livide  Farbe  annahm. 

Auch  die  tonische  Form  können  wir  nicht  annehmen,  da 
die  Gefässerweiterung  in  den  Ohrmuscheln  und  Bindehäuten  nicht 
als  secundär  betrachtet  werden  kann,  weil  sie  bereits  im  Beginne 
der  Beobachtung  existirt,  und  femer  die  Gompression  der  Carotis 
beiderseits  den  Kopfschmerz  entschieden  besserte.  Dieses  letztere 
Symptom,  sowie  der  Umstand,  dass  kalte  Umschläge  auf  den 
Kopf  eine  mildernde  Wirkung  hatten,  spricht  mehr  für  die  angio- 
paralytische  Form,  und  wir  müssen  es  dahingestellt  sein  lassen, 
ob  die  Blässe  des  Gesichtes  anzeigt,  dass  in  gewissen  Gefäss- 
bezirken  zugleich  die  tonische  Form  vertreten  war. 

Damit  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  nicht  in  manchen  Phasen 
des  Anfalles  vrirklich  eine  weiter  oder  allgemein  verbreitete 
Gefasscontraction  eintritt,  wie  solches  die  zeitweilig  vorgekommene 
allgemeine  Blässe  des  Gesichtes  und  noch  andere  Störungen 
beweisen. 

Im  Bezug  auf  die  intracraniellen  Gefasse  haben  wir  eben- 
falls nur  gewisse  Anhaltspunkte,  aber  keinen  bestimmten  Beweis. 

Was  für  Relaxation  der  Gefässe  der  äusseren  Kopftheile 
spricht,  deutet  auch  auf  intracranielle  Gefässerweiterung,  während 
die  Gehimsymptome,  wie  Kopfschmerz,  Erbrechen  und  Pulsver- 
langsamung,  nicht  so  bestimmt  für  sie  sprechen,  da  sie  auch  bei 
Anämie  und  verschiedenen  anderen  Reizzuständen  vorkommen. 

Ist  es  richtig,  dass  sich  im  sichtbaren  Gefässgebiete  des 
Kopfes  der  Zustand  der  intracraniellen  Gefässe  wiederspiegelt, 
so  wäre  auch  in  diesen  nicht  allgemeine  Paralyse  anzunehmen, 
sondern  Gefässerweiterung  gewisser  Partien  neben  Verengerung 
in  anderen,  vorwaltend  aber  wahrscheinlich  doch  die  erstere. 

Einen  Fingerzeig  in  dieser  Frage  gibt  sonst  auch  der  Zu- 
stand des  Auges  und  besonders  der  Pupillen;  bei  Sympathicus- 

(80) 


CasaistiBcher  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Epilepsie.  453 

lähmnng    wurde  Papille   und   Lidspalte    verengt,     der    Balbas 
retrahirt,  die  Reaction  auf  Licht  aufgehoben  gefunden« 

Das  war  hier  nicht  der  Fall,  sondern  die  Pupillen  waren 
massig,  d.  h.  in  Bezug  auf  die  Beleuchtung  erweitert,  manchmal 
über  Mittelweite  offen,  reagirten  auf  Lichtreiz  rechts   wie   links* 

Von  einem  Lähmungszustande  im  Gebiete  der  oculopupil- 
lären  Fasern  des  Sympathicus,  kann  demnach  nicht  die  Bede  sein. 

Die  grosse  Lichtscheu,  welche  jede  Augenspiegeluntersuchung 
verhinderte,  lässt  wohl  auf  einen  Beizzustand  des  N.  opticus 
schliessen  und  es  durfte  dieses  auf  einer  Fluxion  zum  Sehnerven, 
zur  Netzhaut  hindeuten,  auf  eine  Erweiterung  der  Arteria  ophthal- 
mica,  wie  sie  sich  in  der  Goiy'unctiva  zeigt,  und  Erweiterung 
ihres  Zweiges  der  A«  centralis  retinae  in  Folge  Lähmung  ihrer 
Vasomotoren. 

Darauf  ist  es  wohl  zu  beziehen,  wenn  er  längere  Zeit,  zu- 
weilen selbst  nach  erfolgter  Besserung,  nicht  lesen  oder  schreiben 
konnte,  oder  dasselbe  nur  wenige  Minuten  vertrug,  indem  ihm 
sehr  bald  die  Gegenstände  verschwammen. 

Auf  Accommodationsstörung  wies  nur  die  eine  Aussage,  dass 
er  einmal  die  Gegenstände  verkleinert  sah. 

Die  aus  dem  Angeführten  herausleuchtende  Sympathicus- 
affection  beschränkt  sich  nun  aber  nicht  blos  auf  den  Halstheil 
sondern  erstreckt  sich  wahrscheinlich  über  den  ganzen  Körper. 

Auch  darin  findet  unser  Erankheitsanfall  ein  Analogen  in 
den  Hemicraniefällen  von  Möllendorf  und  Anderen. 

Bei  manchen  Hemicranien  wurden  vorübergehend  Magen- 
schmerzen, Enteralgien,  wässerige  Stuhlentleerung  oder  Stuhl- 
verstopfung, Anschwellung  der  Leber,  Hypersecretion  der  Galle, 
vermehrter  Harnabgang  u.  s.  w.  beobachtet  und  in  vielen  Fällen 
auf  Lähmungszustände  im  Gebiete  der  Vasomotoren  der  Bauch- 
höhle geschlossen. 

In  unserem  Falle  ist  es  hauptsächlich  eine  Thatsache,  welche 
auf  eine  allgemeine  vasomotorische  Störung  deutet,  und  das  ist 
die  durch  längere  Zeit  anhaltende  grosse  Differenz  von  Axillar- 
und  Bectumtemperatur. 

Es  bleibt  uns  dafür  keine  andere  Erklärung  als  eine  stärkere 
Blutfülle,  unbestimmt  ob  Fluxion  oder  Stauung,  in  den  centralen 

(31) 


454  Wick. 

Eörpertheilen,  während  die  peripheren  bis  in  die  Muskelschichte , 
deren  Temperatar  ja  die  Achselhöhle  repräsentirt ,  relativ  blut- 
leer waren. 

Ausserdem  deutet  darauf  hin  die  subjeetiv  und  mitunter 
auch  objectiy  wahrgenommene  Kälte  und  Blässe  der  Peripherie, 
der  kleine,  mitunter  fadenförmige  Puls,  andererseits  das  Gefühl  von 
Brennen  im  Unterleib  (was  freilich  auch  mit  dem  oftmaligen 
Erbrechen  im  Zusammenhang  sein  konnte)  und  die  oben  bemerkte 
Verschiebung,  respective  Vergrösserung,  von  Milz  und  Leber  gegen 
Ende  des  Anfalles. 

Ein  bestimmter  Nachweis  über  das  Verhalten  der  Bauch- 
eingeweide konnte  nicht  geliefert  werden,  da  fortwährendes  Er- 
brechen bestand  und  der  Magen  im  verschiedensten  Masse  aus- 
gedehnt  war. 

Die  ursprüngliche  Verkleinerung  von  Milz  und  Leber  konnte 
ihren  Grund  in  der  fortwährend  geringen  Füllung  der  Pfortader 
in  Folge  des  Erbrechens  haben,  im  X.  Anfall  waren  sie  von  Be- 
ginn der  Beobachtung  an  vergrössert  nachzuweisen,  weil  dieses 
nur  selten  und  gering  auftrat.  Diese  Vergrösserung  deutet  mehr 
auf  Stauung  als  auf  Fluxion. 

In  Folge  des  Erbrechens  hauptsächlich  ist  es  auch  unmög- 
lich etwas  über  die  Herkunft  der  Stuhlverstopfung,  der  gänzlichen 
Unthätigkeit  des  Darmes,  auszusagen. 

Es  mochten  hier  Nerveneinflüsse,  der  Blutgehalt  des  Darmes 
eine  Rolle  spielen;  aber  den  grössten  Einfluss  musste  doch  der 
Umstand  üben,  dass  dm*ch  lange  Zeit  nahezu  alles  Aufgenommene 
durch  Erbrechen  entfernt  wurde ,  bevor  es  in  den  Darm  ge- 
langen konnte. 

Nur  der  Umstand,  dass  auch  Klystiere  wirkungslos  waren, 
könnte  auf  Reflexhemmung  hindeuten. 

Es  besteht  hierüber  nur  eine  Angabe  von  Pinkus,  dass  vaso- 
motorische Lähmung  eher  eine  Verminderung  der  Darmsecretion 
bewirkt,  im  Gegensatz  zu  den  in  anderen  Fällen  beobachteten 
Diarrhöen  und  der  Deutung  derselben  als  Folge  der  Hyper- 
secretion  durch  vasomotorische  Lähmung. 

Dass  das  Erbrechen  allein  aber  nicht  der  Grund  der  Stuhl- 
verstopfung war,  könnte  das  Verhalten  im  X.  Anfall  beweisen, 

(32) 


Casnistiscber  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  455 

WO   die  Verstopfung   8  Tage   dauerte   ohne   starkem   oder   fort- 
dauerndem Erbrechen. 

Die  Palpation  ergab  nur  in  manchen  Anfällen  Drnekempfind- 
-  lichkeit,  und  zwar  in  der  Magengrube ,  gibt  daher  fttr  eine  Be- 
theilignng  der  Bauchganglien  keinen  Anhaltspunkt. 

Die  Störung  im  Blutgehalt  wird  sich  auch  auf  die  Nieren 
erstreckt  haben,  doch  konnte  auch  hier  das  reine  Resultat  der- 
selben nicht  hervortreten,  weil  durch  das  Erbrechen  eine  Wasser- 
armuth  des  Organismus  herbeigeführt  und  dadurch  die  Menge  des 
Harnes  im  stärkeren  Grade  beeinflusst  ymrde,  als  durch  andere 
Factoren. 

Sowie  das  Erbrechen  aufhörte,  nahm  auch  die  Hammenge 
zu  und  tiberschritt  nicht  nur  die  Norm,  sondern  an  einigen  Tagen 
auch  die  Menge  der  aufgenommenen  Flüssigkeiten.  Eben  dieser 
letztere  Umstand  aber  zeigt,  dass  die  Hamverminderung  wahr- 
scheinlich nicht  vom  Erbrechen  allein  herrührte.  Als  Beweis  dafür 
kann  der  X.  Anfall  dienen,  wo  das  Erbrechen  selten  und  quanti- 
tativ gering  war,  demnach  schwerlich  eine  Wasserarmuth  des 
Organismus  herbeigefdhrt  hat,  und  doch  die  Menge  des  Harnes 
eine  verminderte  war.  Diese  Verminderung  könnte  nur  zu  schwachen 
Herzactionen,  wie  sie  sich  in  dem  sehr  kleinen  Radialpnls  kund- 
gab, in  Beziehung  gebracht  werden^  und  demnach  die  oben  ange- 
nommene Störung  im  Blntgehalt  als  Stauung  aufgefasst  werden, 
in  Uebereinstimmung  mit  der  vermuthlichen  Stauung  in  Leber 
und  Milz. 

Wie  wir  im  X.  Anfall  sehen,  steigt  daher  auch  die  Ham- 
menge mit  Zunahme  der  Pulsfrequenz,  und  im  V.  und  VI.  Anfall 
finden  wir  mit  der  neuerlichen  Senkung  der  Pnlscurve  auch  eine 
Verminderang  der  Hammenge  einhergehen.  Dass  hierbei  nicht 
die  Zunahme  der  Pulszahl  als  solche  massgebend  ist,  sondem 
die  zu  gleicher  Zeit  stattfindende  kräftigere  Action  des  Herz- 
muskels, zeigt  der  VI.  Anfall,  wo  die  Haramenge  am  selben  Tag 
schon  zunahm,  als  die  Pulsfrequenz  noch  auf  der  tiefsten  Stufe  stand. 

Beachten  wir  nun  aber  weiters  die  Eigenthümlichkeit  der 
vermehrten  Ausscheidung  der  festen  Stoffe,  das  Fehlen  der  Albu- 
minurie, wie  sie  sonst  bei  Stauung  zu  erwarten  waren,  so  macht 
uns  dies  darauf  aufmerksam,  dass  ausser  den  mechanischen  noch 

(33) 


466  Wick. 

andere,  wahrscheinUch  Innenrations-EiiiflUsse  thätig  sind  In  diesen 
allein  kann  es  dann  nnr  liegen,  wenn  wir  sehen,  dass  die  grosse 
Differenz  in  der  Temperatur,  die  Vergrösserong  von  Milz  and 
Leber  noch  fortbesteht  und  doch  die  Hamsecretion  steigt  and 
abnorm  wird;  man  kann  hierbei  nar  denken,  dass  die  Stauung 
von  einer  Fluxion  abgelöst  wird. 

Nicht  nur  im  Unterleib  haben  wir  Grund  eine  Hyperämie 
anzunehmen,  sondern  auch  in  den  Lungen,  da  für  das  Entstehen 
des  Bronchialcatarrhs  nach  dem  IV.  Anfall  und  während  des  VI. 
kein  sonstiger  Grund  aufgefimden  werden  konnte.  Auf  Stauung 
im  kleinem  Kreislauf  und  daher  höheren  Druck  in  der  Pulmonalis 
könnte  allenfalls  das  Gespaltensein  des  2.  Tones  hindeuten,  wenn 
man  dies  nicht  auf  Rechnung  einer  abnormen  Innervation  setzen  will. 

In  suspenso  muss  das  Urtheil  Über  die  gegenwärtig  aufzu- 
findende Infiltration  der  linken  Lungenspitze  bleiben.  Da  im  Sputum 
bisher  Tuberkelbacillen  nicht  aufgefunden  wurden,  so  könnte  nur 
an  einen  andern  chronischen  interstitiellen  E^tziindungsprocess, 
möglicherweise  die  Folge  häufiger  Hyperämien,  gedacht  werden. 

Wahrscheinlich  auf  Circulationsstörung  beruhen  femer  die 
spinalen  Erscheinungen.  Wir  finden  eine  Spinalirritation,  die  ja 
auch  sonst  auf  Circulationsstörung  zurückgeführt  wird;  als  Reiz- 
erscheinungen haben  wir  das  Oppressionsgefühl  auf  der  Brust, 
die  Hyperästhesie,  theils  local,  theils  über  den  ganzen  Körper 
verbreitet.  Die  Ursache  hiervon  kann  nur  eine  centrale  sein  und 
keineswegs  die  Circulationsverhältnisse  der  Peripherie,  ausser 
man  würde  annehmen,  dass  auch  Anämie  der  Haut  Hyperästhesie 
hervorbringen  kann. 

Besonders  auffällig  war  das  Verhalten  der  Reflexerregbar- 
keit, wie  es  oben  bereits  geschildert  wurde.  Dem  Ausfall  des 
Patellarreflexes  konnte  keine  Hemmung  von  Seite  des  Gehirnes  zu 
Grunde  gelegt  werden,  da  dieser  Reflex  oft  schon  am  1.  Beob- 
achtungstag, wo  die  cerebrale  Reizung  noch  nicht  bedeutend  war, 
fehlte  und  in  den  meisten  Fällen  erst  wiederkehrte,  wenn  schon 
lange  kein  anderes  Symptom  mehr  bestand.  Auffallend  ist  sein 
inconstantes  Verhalten  im  X.  Anfall  und  der  Umstand,  dass  er 
am  20.  Krankheitstag  linkerseits  wiederkehrte,  während  er  rechts 
erst  am  folgenden  Tag  nachweisbar  wurde. 

(84) 


Casnifltischer  Beitrag  siir  Lehre  von  der  Epilepsie.  457 

Bei  diesem  Verhalten  lässt  sich  doch  nnr  an  vorübergehende 
Störungen  in  den  Centren  denken,  und  zwar,  wenn  wir  die  höhere 
Temperatur  der  centralen  Theile,  die  sichtbaren  Circulations- 
störungen  berücksichtigen,  an  eine  Hyperämie;  nnr  müsste  man 
annehmen,  dass  dadurch  die  Reflexerregbarkeit  verschieden  beein- 
flusst  wird,  so  dass  das  eine  Centrum,  das  der  Hautreflexe,  durch 
sie  gereizt,  das  der  Sehnenreflexe  bereits  gelähmt  wird. 

Eine  andere  Möglichkeit  wäre,  analog  der  fttr  das  Gehirn 
gemachten  Annahme,  dass  auch  im  Rückenmark  eine  ungleiche 
Yertheilung  des  Blutes  bestand,  Hyperämie  in  den  einen  und 
Anämie  in  den  anderen  functionellen  Gebieten. 

Indem  wir  somit  Anämie  in  den  peripheren  und  Hyperämie 
in  den  centralen  Theilen  annehmen,  bliebe  noch  die  Frage,  ob  wir 
diese  letztere  nicht  als  eine  secundäre  Erscheinung  auffassen 
sollen,  insofern  das  Blut  eines  Erampfzustandes  der  Gefässe  wegen 
nicht  in  die  Peripherie  einzudringen  vermochte  und  daher  gleichsam 
mechanisch  sich  in  anderen  Gefässgebieten  Platz  schaffen  musste. 

Einen  Erampfzustand  in  der  Peripherie  können  wir  jeden* 
falls  annehmen.  Ausser  anderen  Erscheinungen  deutet  die  sphygmo- 
graphische  Curve  nud  femer  das  Verhalten  der  peripheren  Theile 
gegen  die  feuchtwarmen  Umschläge  hin. 

Diese  beiden  Erscheinungen  würden  selbst  in  dem  Falle 
einen  Erampfzustand  vermuthen  lassen,  wenn  man  die  Hyper- 
ämie in  den  inneren  Orgauen  als  primäre  Erscheinung  auffassen 
müsste. 

Wenn  man  somit  auch  Grund  hat  die  Hyperämie  in  den 
centralen  Eörperpartien  als  eine  secundäre  zu  vermuthen,  ohne 
dass  wir  für  den  Sympathicus  der  Unterleibsorgane  denselben 
Process,  wie  im  Halssympathicus  annehmen  müssten,  so  wird' 
man  doch  zugeben,  dass  dieses  nicht  sehr  wahrscheinlich  ist; 
denn  nehmen  wir  an,  die  Gefässe  der  centralen  Organe  hätten 
ihren  Tonus  beibehalten,  so  würde  das  von  der  Peripherie  rück- 
stauende  Blut  in  ihnen  ein  Hindemiss  finden  und  mit  noch 
grösserer  Gewalt  gegen  die Eopfgefässe  drängen;  es  ist  fraglich, 
ob  unter  solchen  Umständen  das  Leben  fortbestehen  könnte. 

Für  die  Betheiligung  des  Unterleibssympathicus  können  wir 
übrigens  jene  Erfahrungen  verwerthen,  welche  MöUendorf  bei 

(86) 


458  wick. 

seinen  Hemicraniefällen  gemacht  hat,  nach  deren  Natur  eine 
Relaxation  der  Unterleibsgefässe  angenommen  wurde. 

Femer  kennen  wir  ja  Experimente,  bei  welchen  für  das  aus 
einem  Bezirk  verdrängte  Blut  in  einem  anderen  Platz  geschafft  wird, 
durch  Verminderung  oder  Aufhebung  des  Tonus  auf  reflectorischem 
Wege. 

Wir  kommen  nach  dem  bisher  Gesagten  also  zu  dem 
Schlüsse,  dass  in  unserem  Fall  sich  Circulationsstörungen  abhängig 
von  einer  abnormen  Innervation  sich  über  den  ganzen  Körper 
erstrecken,  hier  Hyperämie  dort  Anämie. 

Eine  so  ausgebreitete  Störung  lässt  auf  Affection  des  vaso- 
motorischen Centrums  im  verlängerten  Marke  schliessen;  speciell 
deuten  auf  diesen  Sitz  noch  zur  Bestätigung  der  Annahme  die 
Pulsverlangsamung  und  das  Erbrechen,  Folge  einer  Reizung  der 
daselbst  gelegenen  Vaguskeme. 

Denke  man  sich  also  einen  Zustand  von  Reizung  in  dieser 
Gehirnpartie,  so  würde  eine  Irradiation  derselben  auf  das  nach- 
barliche Krampfcentrum  NothnageTs  einen  Anfall  auslösen 
können,  der  ganz  das  Gepräge  eines  epileptischen  Insultes  trägt. 

Auf  diese  Weise  wäre  demnach  das  ganze  Krankheitsbild 
erklärt,  aber  auch  nur  das  Krankheitsbild,  nicht  das  Wesen  der 
Krankheit. 


Wir  fragen,  worin  besteht  die  Reizung  im  verlängerten 
Marke,  wodurch  ist  sie  hervorgebracht? 

Aus  den  sonst  sichtbaren  Circulationsstörungen  könnte  man 
schliessen,  dass  solche  auch  in  dieser  Gehimpartie  vorhanden 
sind  und  dass  sie  die  Reizquelle  bilden,  unbestimmt,  ob  Anämie 
oder  Hyperämie. 

Es  braucht  uns  übrigens  letztere  Frage  nicht  sehr  zu 
bekümmern,  da  man  die  Symptome  von  Himreiz  sowohl  bei 
Hyperämie  als  bei  Anämie  beobachtet  hat. 

Bedenkt  man  nun  aber ,  dass  man  andererseits  genug  Fälle 
von  allgemeiner  Gehimhyperämie  oder  Anämie  sieht,  ohne  dass 
derartige  Anfälle  auftreten,  so  wird  man  die  Beziehungen  solcher 
Circulationsstörungen  zu  den  nervösen  Erscheinungen  nicht  für  so 
einfach  ansehen  können  und  bevor  man  die  Circulationsstörungen 

(36) 


Casoistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  459 

als  Reizquelle  ansehen  kann,  müsste  weiters  erst  bewiesen  werden, 
dass  sie  nicht  selbst  erst  secnndärer  Natar  seien. 

An  letzteren  Umstand  ist  jedoch  in  vielen  Fällen  kein 
Zweifel  zu  hegen. 

Wenn  das  Gehirn  ftinctionirt ,  so  findet  normaler  Weise 
dabei  eine  Fluxion  statt;  diese  ist  seeundär;  der  erste  Vorgang 
ist  ein  Impuls  in  der  Nervensubstanz  zur  Anregung  der  Vor- 
stellnngsthätigkeit ,  welche  ein  vermehrtes  Zuströmen  von  Blut 
zur  Folge  hat. 

Bei  Intoxicationen  sieht  man  Abnormitäten  im  Blutgehalt 
des  GehiiTies,  aber  das  erste  ist  die  Wirkung  des  Giftes  auf  die 
Nervensubstanz. 

Wenden  wir  dies  auf  unseren  Fall  an,  so  können  wir  wohl 
für  viele  Bezirke  die  Circulationsstörung  als  das  Erste  betrachten 
and  daher  auch  als  die  Ursache  der  Erscheinungen,  so  der  Tem- 
peratur, Stoflfwechselverhältnisse ,  vielleicht  auch  des  Kopf- 
schmerzes, aber  nicht  unbedingt  ftir  das  verlängerte  Mark,  wo 
der  Sitz  der  Affection  zu  suchen  ist. 

Es  ist  zwar  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass 
durch  irgend  einen  Reizzustand  in  der  Peripherie  ein  Reflex  auf 
die  Vasomotoren  der  Gewisse  des  verlängerten  Markes  ausgelöst 
wird,  wodurch  in  diesen  Bezirk  Hyperämie  oder  Anämie  entsteht 
nnd  in  diesem  Falle  könnte  nach  dem  Obigen  ebenfalls  das 
Krankheitsbild,  wie  es  geschildert  wurde,  hervorgerufen  werden. 

Da  wir  wissen,  dass  die  Gefässe  des  verlängerten  Markes, 
hauptsächlich  der  Art.  basilaris  entstammen,  ihre  vasomotorischen 
Nerven  vom  Grenzstrang  des  Sympathicns  erhalten,  in  welchen  ja 
periphere  Ganglien  eingeschaltet  sind,  so  muss  die  Möglichkeit 
offen  gelassen  werden,  dass  auch  ein  Reizzustand  in  diesen  vor- 
handen sein  und  das  Krankheitsbild  hervorrufen  kann,  dass  somit 
die  Gehimstörungen  sämmtlich  secundärer  Natur  seien. 

Wir  fragen  nun  aber  jetzt  weiter,  wie  kommt  es,  dass  sich 
ganz  derselbe  Anfall  durch  so  viele  Jahre  hindurch  wiederholen, 
dass  in  der  Zwischenzeit  vollständige  Gesundheit  bestehen  kann? 
Wir  finden  in  unserem  Falle  keine  periphere  Reizquelle,  weder  zur 
Zeit  der  Anfälle  noch  ausser  ihnen.  Könnten  wir  bestimmt  die 
jetzt  bestehende  Verdichtung   der  Lungenspitze   als  tnberculöser 

(87) 


460  Wick. 

Natnr  bezeichnen,  so  würden  wir  aach  denken  können,  dass  der 
Vagns  oder  Sympathicns  irgendwo  am  Halse  oder  in  der  Brost 
dnreh  tnbercnlöse  Lymphdrüsen  in  das  Bereich  eines  Drackes 
oder  einer  Entzündung  gebracht  sei  und  so  von  hier  aus  jene 
Anfälle  ausgelöst  würden.  Wir  finden  aber  keine  Tuberkelbacillen 
und  andererseits  bestanden  die  Anfälle  längst  vor  Auftreten  dieser 
Infiltration.  Der  periphere  Reiz  könnte  auch  im  Magen  gesucht 
und  dabei  an  die  Erklärang  gedacht  werden,  welche  Rossbach 
von  der  Gastroxynsis  gibt.  Der  X.  Anfall  beweist  aber,  dass  die 
Magenstörung  erst  spät  und  wenig  intensiv  auftreten  kann. 

Wir  müssen  daher  annehmen,  dass  der  ursprüngliche  Vor- 
gang ein  centraler  sei,  u.  zw.  nachdem  in  der  anfallsfreien  2ieit 
keine  Circulationsstörung  besteht,  die  Erkrankung  aber  doch  da 
ist,  da  sonst  die  Anfälle  nicht  mehr  kommen  würden,  ein  Vor- 
gang ohne  Betheiligung  der  Gefässe,  ein  eigenthümlicher  Zustand 
in  der  Nervensubstanz  selbst. 

Selbst  wenn  wir  sehen  würden,  dass  auf  gewöhnliche  periphere 
Reize  jene  Anfälle  hervorgerufen  würden,  könnten  wir  die  Gefäss- 
störung  nicht  als  primär  bezeichnen,  sondern  das  Primäre  ist 
die  besondere  Verfassung  des  Nervensystem,  vermöge  deren  es 
auf  Reize  anders  als  gewöhnlich  reagirt. 

Durch  diese  Ueberlegung  rücken  auch  die  beobachteten 
sensoriellen  und  motorischen  Erscheinungen  in  ein  anderes  Licht, 
sie  sind  vielleicht  nicht  blos  epileptiforme,  sondern  wirklich  epi- 
leptische Anfälle  und  die  Veränderung  in  der  Nervensubstanz, 
welche  wir  auch  in  unserem  Falle  als  zu  Grunde  liegend  annehmen 
müssen,  ist  vielleicht  identisch  mit  derjenigen  bei  der  echten 
Epilepsie. 

Prüfen  wir  auf  diese  Vermuthung  bin  die  in  unserem  Falle 
vorgekommenen  ErampfTormen  und  Bewusstseinsstörungen ,  so 
finden  wir  in  der  Anamnese  die  Schilderang  eines  classischen 
epileptischen  Anfalles,  sogar  die  Aura  scheint  nicht  zu  fehlen, 
denn  er  sagt  aus,  dass  er  am  Arm  einen  starken  Kitzel  und 
darauf  eine  zuckende  Bewegung  verspürt  habe,  bevor  er  das 
Bewusstein  verlor. 

Ebenso  unverkennbar  ist  die  Aussage  über  den  ID.  Anfall 
die  Schilderang  eines  schweren  epileptischen  Insultes. 

(88) 


Cagmstisclier  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Epilepsie.  461 

Die  lange  Bewnsstsemsstörnng  und  die  noch  sich  darüber 
hinaus  erstreckende  Sehstörung  mussten  damals  den  Verdacht 
einer  substantiellen  Erkrankung  des  Gehirnes  erwecken;  im  Zu- 
sammenhang mit  den  späteren  Anfällen  können  sie  nur  als  Be- 
standtheile  einer  Neurose  aufgefasst  werden,  u.  zw.  spricht  ausser 
Anderen  die  Erfahrung,  dass  nach  epileptischen  Anfallen  auch 
manchmal  Erblindung  zurückblieb,  dafür,  dass  jener  Anfall  ebenso 
wie  der  I.  ein  epileptischer  war. 

Unter  den  von  uns  beobachteten  Anfallen  steht  dem  eben 
angeführten,  deren  Natur  doch  immer  zweifelhaft  erscheinen  mag, 
da  hierüber  blos  seine  Erzählung  vorliegt,  am  nächsten  der  im 
Verlauf  des  Vin.  Anfalles  beobachtete  Insult,  ausgesprochener 
Clonus  bei  fast  vollständig  aufgehobenem  Bewusstsein,  starker 
PupUlenerweiterung. 

Im  V.  Anfall,  wie  er  oben  beschrieben  ist,  waV  das  Bewusst- 
sein auf  kurze  Zeit  ebenfalls  vollständig  aufgehoben.  Clonus  war 
zwar  nicht  da,  jedoch  erscheint  er  angedeutet  in  den  rasch  vor. 
übergehenden  Zuckungen,  welche  er  den  elektrischen  Schlägen 
vergleicht  und  durch  die  convulsiven  Bewegungen,  die  auf  die 
mildeste  Reizung  erfolgten. 

Im  VI.  Anfall  ist  keine  Bewusstseinsstörung,  sondern  nur  ein 
Anfall  von  Zittern  unter  den  heftigsten  Kopfschmerzen  aufgetreten, 
welche  in  diesem  Zusammenhang  fast  als  ein  Aequivalent  der 
Bewusstseinsstörung  angesehen  werden  könnten. 

Im  IX.  Anfall  war  blos  das  Bewusstsein  vorübergehend 
gestört,  motorische  Reizerscheinüngen  fehlten. 

Der  X.  Anfall  unterschied  sich  durch  Anzeichen  motorischer 
Lähmung. 

Wir  verzeichnen  demnach  7  Insulte,  von  denen  in  4  moto- 
rische Reizerscheinungen  neben  Bewusstseinsstörungen  auftreten, 
dagegen  in  anderen  3  entweder  motorische  Reiz-  oder  Lähmungs- 
erscheinungen oder  sensorielle  Störung. 

Was  nun  die  blosse  Form  der  Erscheinungen  anbelangt,  so 
steht  nichts  im  Wege,  diese  Insulte  für  epileptische  zu  erklären, 
und  hätten  wir  vor  uns  sowohl  den  classischen  Anfall  als  auch 
die  mildere  und  eine  rudimentäre  Form  der  Epilepsie. 

(89) 


] 


462  Wick. 

Diese  Insnlte  erweckten  ferner  nicht  immer  den  Anschein, 
als  ob  sie  eine  Steigemng  der  vasomotorischen  Stönmg  wären, 
sondern  treten  nahezu  unvorhergesehen  und,  wie  im  VI.,  Vin.  und 
X.  Anfall,  nach  bereits  vorhandenen  Zeichen  von  Besserung  ein, 
stellen  somit  gewissermassen  etwas  Apartes  dar,  umsomehr,  als 
eine  Gelegenheitsursache  nicht  immer  nachweisbar  war.  Ein  Blick 
auf  die  Tabellen  lehrt,  dass  diese  Insulte  nichts  Zufälliges  sind; 
sie  gruppiren  sich  um  den  7. — 14.  Tag  und  documentiren  sich 
dadurch  als  im  Wesen  gleichbedeutend,  wenn  die  Intensität  auch 
eine  noch  so  verschiedene  war. 

Beachten  wir  weiters,  dass  diese  Insulte  der  ersten  oder 
der  definitiven  Besserung  unmittelbar  vorangingen,  ganz  analog 
anderen  epileptischen  Zuständen,  welche  mit  einem  Insult  ab- 
schliessen. 

Ist  also  der  Verdacht  der  epileptischen  Natur  der  beschrie- 
benen Insulte  gerechtfertigt,  so  ist  auch  die  Vermuthung  gegründet, 
dass  die  Anfalle  als  Ganzes  epileptischer  Natur  seien,  dass  wir 
es  überhaupt  mit  dem  Erankheitsprocess  Epilepsie  zu  thun  haben. 

Für  letzteres  spricht  wieder  die  Anamnese,  welche  aussagt, 
dass  sein  Vater  häufig  an  Kopfschmerz  und  Schwindel  leidet;  es 
ist  also  offenbar  eine  neuropathische  Constitution  vorhanden. 

Die  Anfalle  sind  bis  jetzt  selten  gekommen,  unregelmässig, 
häufig  ohne  Veranlassung,  so  wie  dieses  bei  Epilepsie  beob- 
achtet wird. 

In  der  Zwischenzeit  war  er  gesund,  wie  das  auch  bei  vielen 
Epileptikern  vorkommt,  nur  nach  den  ersten  Anfallen  hatte  sich 
ein  Zustand  geistiger  Schwäche  eingestellt,  welcher  aber  jetzt, 
wo  die  Anfälle  immer  milder  wurden,  gewichen  ist. 

Wir  müssen  also  hier  wieder  eine  Veränderung  im  Nerven- 
system annehmen,  welche  beständig  vorhanden  ist  und  den  Unter- 
grund zu  den  Anfällen  bildet. 

Sollen  wir  hier  eine  andere  Veränderung  suchen,  als  die 
Epilepsie,  welche  wir  zwar  ihrer  Natur  nach  ebensowenig  kennen, 
deren  Annahme  aber  wenigstens  durch  so  viele  Thatsachen  und 
Experimente  begründet  ist? 

Wir  sagen  also:  vorliegende  Krankheit  ist  wirk- 
lich Epilepsie. 

(40) 


Casn  istischer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  463 

Wie  sind  nun  aber  jene  Anfälle  aufzufassen ,  welche  ohne 
epileptischen  Insult  verlaufen  und  jene  Erscheinungen,  welche 
ausser  diesen,   den  Haupttheil  des  Krankheitsbildes  ausmachen? 

Wir  könnten  sie  zur  Hemicranie  zählen,  indem  wir  aber 
constatiren,  dass  die  SympathicusafPection  nicht  einseitig  ist,  dass 
wir  weder  bestimmt  von  der  tonischen  noch  von  der  paralytischen 
Form  sprechen  können,  indem  wahrscheinlich  beide  Formen 
vertreten  sind,  dass  ferner  die  Dauer  der  Anfalle  dem  Verlaufe 
einer  Hemicranie  durchaus  nicht  entspricht,  sagen  wir  auch,  dass 
dieser  Fall  eigentlich  keine  Hemicranie  ist ;  denn  das  Massgebende 
zur  Unterscheidung  muss  uns  das  Erankheitsbild  bleiben,  da  uns 
die  pathologische  Anatomie  keinen  Aufschluss  gibt,  und  eine  Theorie 
nicht  zur  Unterscheidung  dienen  kann. 


Die  neuere  Zeit  hat  uns  noch  eine  A£fection  kennen  gelernt, 
welcher  dieser  Fall  zugezählt  werden  könnte,  und  das  ist  die  Gastro- 
xynsis  Rossbach 's  (cerebrale  Gastroxie  Rosen  thal's). 

Abgesehen  von  den  epileptischen  Insulten,  gleichen  die  be- 
schriebenen Anfälle  denen  der  Gastroxie ,  mit  welcher  sie  das 
anamnestische  Moment  der  geistigen  Ueberanstrengung,  freilich 
nur  bei  der  Entstehung,  gemeinsam  haben. 

Der  Säuregehalt  des  Erbrochenen  wurde  zwar  ausser  im 
X.  Anfall  nicht  ziffermässig  bestimmt ,  auch  nicht ,  ob  die  freie 
Säure,  Salzsäure  sei,  doch  wurde  die  Reaction  des  Erbrochenen 
besonders  stark  sauer  gefunden  und  deutet  besonders  auf  die 
übermässige  Production  von  Salzsäure  das  Fehlen  des  Chlors  im 
Harne;  zwar  nicht  ohneweiters,  da  die  Untersuchung  bei  Hun- 
gernden ergibt,  dass  die  Chlormenge  im  Harn  bei  längerer  Dauer 
der  Inanition  auf  eine  sehr  geringe  Grösse  (0*1 58 — Ol  17)  herab- 
sinken kann ,  aber  doch  im  Zusammenhang  mit  der  stark  sauren 
Beschaffenheit  des  Erbrochenen  und  mit  den  Erfahrungen,  welche 
man  bisher  bei  Magenerkrankungen  gemacht  hat. 

Der  Hambefund  gestattet,  auch  einigermassen  das  Eintreten 
und  die  Dauer  der  Gastroxie  näher  zu  bestimmen. 

Im  Verlauf  des  V.  Anfalles  finden  wir  bis  zum  8.  Krank- 
heitstag normale  oder  übergrosse  Procentzahlen  des  Chlors  im  Harne, 
wogegen  natürlich  die  Gesammtmenge  des  ausgeschiedenen  Chlors 

Med.  Jahrbücher.  1887.  37     (41) 


464  ^ick. 

entsprechend  der  geringen  Hammenge  nnd  wohl  auch  entsprechend 
der  mangelhaften  Aofnahme  von  Gl  Na  kleinere  Mengen  liefert. 

Mit  dem  9.  Tag  aber  fallt  das  Procent  rapid  nnd  damit 
noch  bedeutender  die  absolate  Menge  nnd  am  12.  and  13.  Tag 
ist  das  Chlor  aus  dem  Harne  gänzlich  verschwunden. 

Dieses  plötzliche  Fehlen  von  Chlor  kann  nicht  mehr 
auf  Rechnung  der  Inanition  gesetzt  werden. 

Während  des  VI.  Anfalles  ist  das  Procent  bis  zum  7.  Tag 
normal,  auch  die  absolute  Menge  (wenn  die  verminderte  Zufuhr 
berücl^ichtigt  wird),  dagegen  fällt  vom  18. — 14.  die  Chlormenge 
rapid  und  erscheint  ebenso  rapid  am    15.  Tag  wieder  im  Harn. 

Die  Dauer  der  Säureproduction  im  Magen  kann  daher  im 
VI.  Anfall  auf  7  Tage  veranschlagt  werden ;  wahrscheinlich  trifit 
dies  auch  fiir  den  V.  Anfall  zu. 

Daraus  geht  aber  noch  weiter  hervor,  dass  der  Anfall 
wahrscheinlich  nicht  vom  Beginn  an  eine  Gastroxie  sei,  da  zu 
dieser  Zeit  noch  normale  Chlormengen  ersichtlich  sind,  noch  bis 
zum  Schlüsse  als  selbe  gelten  kann,  da  die  Chlormengen  im  Harn 
schon  normal  werden,  bevor  der  Process  beendet  ist. 

Da  femer  die  Chlormengen  im  Harn  selbst  an  den  Tagen 
sehr  geringe  sind,  wo  kein  Erbrechen  mehr  stattfindet,  so  ginge 
daraus  hervor,  dass  entweder  Erbrechen  und  Säureproduction  von 
einander  unabhängige  Vorgänge  sind,  oder  man  müsste  annehmen, 
dass  das  Chlor  nur  deshalb  im  Harn  in  so  geringer  Menge  erscheint, 
weil  es  jetzt  im  Blute  zurückgehalten  wird. 

Am  18.  Krankheitstag  ist  das  Erbrechen  wieder  aufgetreten, 
trotzdem  bereits  grosse  Chlormengen  im  Harne  erscheinen,  was 
wieder  gegen  eine  Abhängigkeit  spricht. 

Wir  können  daher  in  unserem  Falle  nur  sagen,  die  Gastroxie 
trete  als  ein  Symptom  des  Krankheitsprocesses  auf,  aber  dieser 
selbst  decke  sich  nicht  mit  dem  gegenwärtigen  Begri£f  der  cere- 
bralen Gastroxie. 

Es  ist  dabei  femer  zu  beachten,  dass  das  anamnestische 
Moment  der  geistigen  Ueberanstrengung  bei  den  späteren  An- 
fallen fehlte. 

Der  X.  Anfall  hat  leider  nicht  genügende  Gelegenheit  ge- 
boten, obige  Annahme  einer  Säure-Ueberproduction  zu  beweisen. 

(42) 


CaBnistischer  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Epilepsie.  465 

Das  Erbrochene  konnte  nar  an  2  Tagen  gesammelt  werden,  ent- 
hielt Speisereste  nnd  Peptone,  welche  vermuthlich  das  Hervortreten 
der  Salzsänrereaction  störten.  Ein  Vergleich  mit  dem  Erbrechen  bei 
früheren  Anfällen  ist  nicht  möglich,  da  es  bei  diesen  nüchternem 
Magen  nnd  massenhaft  erfolgte.  Audällig  ist  aber  doch  der  hohe 
Chlorgehalt  8  Stunden  nach  Mittag. 

Wenn  wir  somit  diesen  Krankheitsfall  mit  vollkommenem 
Recht  weder  in  die  Kategorie  der  Hemicranie  noch  der  Gastroxie 
einstellen  können,  so  bleibt  nnr  mehr  die  Epilepsie  übrig,  nnd 
könnten  wir  dann  jene  Anfalle  ohne  epileptische  Insulte  als 
epileptische  Aequivalente  auflFassen,  welche  in  den  übrigen  An- 
fällen wirklich  durch  einen  epileptischen  Insult  als  solche  docu- 
mentirt  werden. 

Nothnagel  betrachtet  die  Erregung  des  vasomotorischen 
und  des  Krampfcentrums  im  Anfalle  als  coordinirte  Erscheinung. 
Dies  gebe  die  Möglichkeit,  zu  denken,  dass  auch  jedes  Centrum 
für  sich  erregt  werden  kann  und  die  Erregung  des  vasomotori- 
schen auch  längere  Zeit  andauern  kann,  während  die  dauernde 
Erregung  des  Krampfcentrums  der  Natur  der  Sache  nach  mit  dem 
Fortbestehen  des  Lebens  nicht  vereinbar  wäre. 

üebrigens  deuten  auch  die  verschiedenen  epileptoiden  Zu- 
stände, die  milderen  und  rudimentären  Formen  der  Epilepsie, 
darauf  hin,  dass  die  beim  epileptischen  Insult  supponirte  Ent- 
ladung in  verschiedene  Himgebiete  und  Nervenbahnen,  im 
schwächeren  und  im  stärkerem  Grade  stattfinden  kann. 

In  unserem  Falle  wäre  es  das  vasomotorische  Centrum  und 
das  Kemgebiet  des  Vagus,  in  welchem  die  Erregung  zuerst 
stattfindet,  daher  die  vasomotorischen  Erscheinungen,  die  Puls- 
verlangsamung,  das  Erbrechen  und  die  Säure-Ueberproduction  im 
Magen,  worauf  dann  nach  längerer  Zeit  erst,  aber  nicht  immer, 
das  Krampfceutrum  gereizt  wird. 

Die  einzelnen  Gebiete  sind  getrennt,  daher  kein  vollkommener 
Parallelismus;  in  manchen  derselben  muss  die  Reizung  vielleicht 
eine  intensivere  sein,  damit  die  entsprechenden  Effecte  zu  Tage 
treten. 

Thatsächlich  tritt  hin  und  wieder  Erbrechen  ein ,  wenn 
kein  Kopfschmerz  mehr  besteht  und  umgekehrt,    ist  die  Säure- 

37  ♦      (48) 


} 


466  Vici^ 

prodnction  noch  nicht  vorhanden  oder  hört  anf,  wenn  die  übrigen 
Symptome  noch  fortbestehen;  es  entsprechen  sich  Pnls  und 
Temperatnrcarve  nicht  ganz,  der  Pals  ist  noch  verlangsamt,  wenn 
Erbrechen  nnd  Kopfschmerz  aufgehört  haben,  wenn  der  epileptische 
Insult  schon  vorüber  ist ;  ebensowenig  parallel  gehen  die  localen 
vasomotorischen  Symptome  mit  den  übrigen  Erscheinungen. 


Im  grossen  Ganzen  aber  ist  der  Ablauf  sämmtlicher  Er- 
scheinungen, wie  die  Tabellen  beweisen,  ein  merkwürdig  gesetz- 
massiger  und  gerade  dieses  Verhalten  spricht  weniger  für  Hemi* 
cranie  oder  Gastroxie  als  für  Epilepsie. 

Vor  Allem  ist  es  die  Pulsfrequenz  als  das  am  besten  zu 
beobachtende  und  am  leichtesten  jedem  Impuls  nachgebende 
Moment,  mit  welchem  wir  daher  die  übrigen  Erscheinungen  am 
besten  vergleichen  können. 

An  ihrem  allmäligen  Sinken  erkennen  wir  die  Zunahme 
der  Reizung  im  Gehirn,  es  wächst  der  Kopfschmerz  und  wird 
das  Erbrechen  intensiver,  am  11. — 12.  Tag  hebt  sie  sich  und  zu 
gleicher  Zeit  nehmen  diese  beiden  Symptome  ab,  wird  das  Be- 
finden überhaupt  ein  besseres. 

Sie  senkt  sich  noch  einmal  und  wieder  tritt,  freilich  mit 
geringerer  Intensität  und  Dauer,  Erbrechen  und  Kopfschmerz 
auf;  erst  um  den  18. — 19.  Tag  herum  recidiviren  sie  nicht  mehr 
und  um  diese  Zeit  fällt  auch  die  Pulscurve  nicht  mehr  unter 
die  Norm. 

Die  dauernde  und  sehr  bedeutende  Erhebung  über  die 
Norm  kann  als  Ermüdungserscheinung  gedeutet  werden,  nachdem 
durch  die  Reizung  der  Vagus  bisher  eine  gesteigerte  Thätigkeit 
entfaltet  hatte. 

Eine  andere  Deutung  der  Pulsverminderung  wäre  die,  dass 
der  Vagus  das  üebergewicht  erlangt,  weil  seine  Antagonisten  der 
herzbeschleunigenden  sympathischen  Fasern  im  paralytischen  Zu- 
stande waren,  sowie  andere  die  Carotisverästelung  beherrschenden 
Zweige;  —  es  ist  diese  Deutung  aber  weniger  wahrscheinlich, 
da  wir  oben  gesehen  haben,  dass  auch  in  dem  übrigen  Kem- 
gebiete  des  Vagus  eine  Reizung  vorherrscht  und  wir  dann  die 
grosse  Pulsfrequenzerhöhong  auf  Rechnung   einer   Erregung   de» 

(44) 


Gasnistischer  Beitrag  cor  Lehre  von  der  Epilepsie.  467 

Sympathicas  zurückfuhren  müssten,  welche,  nachdem  der  Krank- 
heitsprocess  bereits  abgelaufen  ist,  nicht  wahrscheinlich  ist. 

Die  Beobachtung,  dass  die  durchschnittliche  Erhebung  der 
Pulscurve  über  die  Norm  ungefähr  die  gleiche  Grösse  hat,  wie 
die  vorausgegangene  Erniedrigung,  ist  vielleicht  nicht  ganz  neben- 
sächlich, es  spielt  etwas  Mechanik  dabei  mit. 

Nach  der  Pulscurve  zu  urtheilen  müssen  wir  daher  die 
Dauer  des  Anfalles  auf  etwa  18  Tage  ansetzen,  jedoch  die  Zeit 
der  Krise  bereits  in  den  10. — 12.  Tag  verlegen,  da  hier  der 
Puls  sich  zum  erstenmale  auffallend  hebt,  ebenso  die  übrigen 
Erscheinungen  die  erste  Besserung  erfahren. 

Die  Beobachtung,  so  beim  VII.  und  IX.  Anfall  beweist  auch, 
dass  um  diese  Zeit  herum  der  ganze  Anfall  zu  Ende  sein  kann. 

Man  könnte  dem  zufolge  die  nach  dem  12.  Tag  noch  ein- 
tretende Pulsvermindemng  als  Recidive  oder  selbst  als  einen 
2.  rudimentären  Anfall  auffassen. 

Einigermassen  deutet  darauf  hin,  dass  beim  VIII.  Anfall 
erst  am  13.  Tag  noch  ein  epileptischer  Insult  erfolgte,  nachdem 
am  10.  und  11.  bereits  eine  Besserung  sich  bemerkbar  machte, 
besonders  aber  der  X.  Anfall,  wo  die  Krisis  in  der  3.  Woche  eintrat. 

Die  Hirnreizung  ist  aber  das  zweitemal  nicht  so  intensiv, 
daher  ^e  geringere  Senkung  der  Pulscurve  ,  die  geringere  Heftig- 
keit der  übrigen  Erscheinnngen,  der  unvollkommene  Parallelismus, 
welcher  beweist,  dass  die  verschiedenen  Grebiete  verschiedener  Reiz- 
stärke bedürfen. 


Vergleicht  man  nun  jnit  der  Pulscurve  die  Temperaturcurve, 
fio  hat  sie  die  Periodicität  gemeinsam,  aber  die  einzelnen  Perioden 
decken  sich  nicht  vollkommen,  insbesondere  ist  der  erste  Anstieg 
der  Pulscurve  nicht  zugleich  von  einem  entschiedenen  Emporgehen 
der  Temperatur  begleitet,  wenn  man  auch  um  den  10.,  11.  und  1^. 
eine  Hebung  nicht  ganz  vermisst. 

Ausgesprochen  ist  die  Hebung  erst  am  14.,  15.  Tag,  folgt 
also  der  Pulscurve  nach. 

Ebensowenig  bestimmt  ist  die  Periode  des  Schwankens  und 
eines  Rückfalles ;  dagegen  tritt  entschieden  eine  nachherige  Tem- 
peratursteigung hervor. 

(46) 


468  wick. 

Beobachten  wir,  dass  bis  zum  14.  Tag  auch  der  Durdi- 
schnitt  an  A.-T.  and  R.-T.  nnter  die  Norm  fallt,  während  er 
später  über  dieselbe  steigt,  so  können  wir  sagen,  wir  haben  in 
der  That  es  zuerst  mit  einer  Emiedrigang  und  dann  mit  einer 
Erhöhung  der  Gesammttemperatnr  zu  thnn. 

Es  wäre  nun  nicht  allznschwer,  das  Sinken  der  Temperatur 
zu  erklären,  denn  erstens  nahm  er  keine  Nahrung  zu  sich  und 
zweitens  fanden  durch  das  Erbrechen  Wärmeverluste  statt ;  wenn 
auch  vielleicht  die  Wärmeabgabe  durch  die  Haut  in  Folge  deren 
Blutleere  verringert  gewesen  sein  mochte. 

Schwieriger  ist  es  jedoch  die  Erhöhung  über  die  Norm  zu 
zu  erklären,  da  hierzu  denn  doch  die  Thatsache,  dass  er  wieder 
Nahrung  zu  sich  nehmen  konnte,  nicht  ausreicht 

Entweder  fand  noch  weiterhin  eine  Beschränkung  der 
Wärmeabgabe  von  der  Peripherie  aus  statt,  welche  jetzt  eine 
Erhöhung  mit  sich  bringen  konnte,  da  die  übrigen  Wärmeverluste 
wegfielen,  oder  es  wurde  durch  den  Stoffwechsel  mehr  Wärme 
gebildet  oder  die  Erhöhung  ist  rein  nervösen  Ursprunges. 

Die  erstere  Möglichkeit  ist  nicht  ausgeschlossen,  da  auch 
noch  in  dieser  Periode  eine  grössere  Differenz  der  Temperaturen 
besteht;  wie  der  X.  Anfall  darthut. 


Was  nun  den  Stoffwechsel,  soweit  er  im  Harne  sich  kund- 
gibt,  betrifft,  so  ist  derselbe  in  unserem  Falle  ein  eigenthümlicher. 

Als  Vergleichsobjecte  können  uns  hierin  dienen  der  Stoff- 
wechsel bei  Hungernden  und  Fiebernden. 

Ich  benütze  hierzu  die  Befunde  von  Tuczek  bei  ab- 
stinirenden  Geisteskranken  (Archiv  für  Psychiatrie). 

Nachdem  bereits  ein,  zwei  Wochen  vorausgegangen  waren, 
untersuchte  er  von  zwei  Personen,  welche  entweder  nur  Wasser 
oder  Bier  zu  sich  nahmen,  und  fand  hierbei  in  24  Stunden: 

bei  Grnber: 


Ü  .  .  .  12-9  —5-7  —4-7      Grm. 
PjiOß    .     1-38— 0-72— 0-45        „ 
Cl  .  .  .     7-0  — 0-43-0117      „ 
kein  Indican,  aber  Aceton 

(46) 


U  .  .  .  240—640 

PjiOj   .    21—  4-8 

Cl  .  .  .     4—00 

kein  Aceton. 


CasTiiatisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  469 

Der  Vergleich  der  beiden  Reihen  ist  statthaft,  da  die  bereits 
oben  beschriebene  Appetitlosigkeit  sogleich  im  Beginn  der  Anfälle 
vorhanden  war  und  bis  zum  12.  Tag  feste  Speisen  gar  nicht 
genommen  and  die  flüssigen  fast  ihrer  ganzen  Menge  nach  er- 
brochen wurden,  auch  später  bis  zu  dem  18.  Tag  noch  nicht 
voller  Appetit  und  zeitweise  Erbrechen  bestand. 

Wie  aus  dieser  Gegenüberstellung  zu  entnehmen  ist,  war 
der  Stoffwechsel  in  unserem  Falle  in  Bezug  auf  Harnstoff  und 
Phosphorsäure  gerade  der  entgegengesetzte  und  können  wir  ihn 
dem  Fieberstoffwechsel  zur  Seite  stellen. 

Die  Analogie  erstreckt  sich  auch  auf  die  Harnsäure-Aus- 
scheidung. 

Man  Ibetr achtet  die  Sedimentirung  der  harnsauren  Salze, 
was  man  früher  eine  Erisis  nannte ,  gegenwärtig  als  eine  nichts- 
sagende Erscheinung,  da  sie  nur  abhängig  von  der  Concen- 
tration  des  Harnes  und  der  äusseren  Temperatur  sei. 

In  unserem  Falle  scheint  die  Sedimentirung  nicht  ganz  die- 
selbe geringe  Bedeutung  zu  besitzen,  denn  im  V.  und  VI.  Anfall 
waren  ihrer  Ausscheidung  gleiche  oder  noch  höhere  Concentration 
des  Harnes  vorausgegangen,  ebensowenig  war  vorher  in  den 
äusseren  Verhältnissen  eine  Ursache  der  Nichtausscheidung  gelegen. 

Es  musste  daher  an  diesen  Tagen,  wo  sie  sedimentirte,  die 
Hamsäuremenge  wirklich  vermehrt  gewesen  sein  oder  war  hier 
noch  ein  anderer  Umstand  im  Harne  selbst  gegeben,  welcher  die 
Sedimentirung  begünstigte. 

Ob  nun  das  Eine  oder  das  Andere  der  Fall  ist,  der 
Zusammenhang  mit  dem  Eintreten  einer  Wendung  im  Zustande 
ist  der  Zeit  nach  gegeben  und  unverkennbar  auch  ein  ursächlicher. 

Es  wäre  immerhin  möglich,  dass  die  Sedimentirung  der 
hamsauren  Salze  bei  Abfall  der  acuten  Fieber  doch  nicht  eine 
so  nichts  bedeutende  Erscheinung  sei,  da  der  Erisis  oft  genug 
gleich  concentrirte  Harne  unter  gleichen  übrigen  Verhältnissen 
vorangehen,  ohne  dass  man  diese  auffällige  Erscheinung  ein- 
treten sieht. 

Man  findet  weiters  bei  acut  fieberhaften  Krankheiten,  dass 
der  Harnstoff  und  die  Fhosphorsäure  noch  nach  dem  Aufhören 
des  Fiebers  vermehrt   ausgeschieden  werden,   woraus  man  eben 

(47) 


470  Wick. 

auf  eine   Retention   derselben   schliesst;   das  Gleiche   findet   iH 
unserem  Falle  statt. 

Wir  haben  also  anscheinend  einen  Fieberstoffwechsel  vor 
uns  und  doch  keine  Fiebertemperatar. 

Denke  man  sich  filr  einen  Augenblick  Pols-  und  Temperatar- 
curye  verkehrt  um  die  Normallinie  sich  hebend  und  senkend,  so 
bekäme  man  den  Eindruck  einer  acut  fieberhaften  Erkrankung 
mit  typischem  Verlauf. 

Wir  wissen  ja  auch  bei  letzterer  nicht,  wodurch  der  Typus, 
speciell  der  mehr  weniger  rasche  Abfall  des  Fiebers,  die  Lösung  • 
des  Processes  zu  Stande  kommt,  ob  durch  gewisse  Eigenschaften 
der  Noxe   oder  durch  die  Gegenwirkung   des  Körpers,    speciell 
durch  nervöse  Einflüsse. 

In  unserem  Falle  ist  der  Verlauf  ein  typischer  und  die 
Krisifl  augenscheinlich  durch  Vorgänge  im  NervenBystem  herbei- 
gefuhrt.  Es  bestehen  also  Analogien  zwischen  diesen  Processen; 
die  Herkunft  der  Erisis  in  unserem  Falle  ist  daher  geeignet  auch 
einiges  Licht  auf  die  Entstehung  der  Erisis  bei  den  fieberhaften 
Erankheiten  zu  werfen. 

Wenn  wir  nun  wirklich  einen  Fieberstoffwechsel  annehmen, 
so  ist  die  Erniedrigung  der  Temperatur  in  der  L  Periode  umso 
auffallender  und  wir  werden  sie  weniger  auf  die  oben  bemerkten 
Wärmeverluste ,  als  vielmehr  auf  nervöse  Einflüsse  zurückftihren 
müssen,  wobei  wir  uns  denken,  dass  unter  den  verschiedenen 
nervösen  Centren  auch  das  der  Wärme  und  Stoffwechselregu- 
lirung  durch  den  zu  Grunde  liegenden  Process  erregt  wird. 

Ueber  die  Wärmebildung  in  Folge  des  Stoffwechsels  lässt 
sich  natürlich  kein  Urtheil  abgeben,  da  wir  durch  die  Harnunter- 
suchung blos  den  Zerfall  von  Eiweiss  bestimmen,  und  wir  daher 
keineswegs  bestimmt  von  einem  Fieberstoffwechsel  sprechen  können. 
Es  wäre  aber  immerhin  möglich,  dass  die  Temperaturerhöhung 
der  3.  Periode  ausser  auf  die  oben  erwähnten  Einflüsse  auch  auf 
Rechnung  des  Stoffwechsels  käme. 

Eeineswegs  entspricht  die  Menge  der  aufgenommenen  Nahrung 
der  Grösse  der  zu  dieser  Zeit  beobachteten  Ausscheidung  an 
Harnstoff  und  Phosphorsäure ,  selbst ,  wie  ich  vermuthen  möchte, 
an  Chlor  (die  Uebereinstimmung  des  Befundes  am   23.  Tag  des 

(48) 


Gasnistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  471 

VI.  und  X.  Anfalles  ist  charakteristisch).  Diese  vermehrte  Aus- 
scheidung an  Stoffen  kommt  nicht  blos  auf  Rechnung  der  grösseren 
Fliissigkeitsaufnahme ,  denn  hier  überschreitet  die  Menge  des  Harns 
die  Grenzen  der  von  einer  grösseren  Fliissigkeitsaufnahme  her- 
rührenden physiologischen  Mehrausscheidung,  ist  demnach  auf 
geänderte  Verhältnisse  in  der  Niere  in  Bezug  auf  Blutgehalt  und 
Innervation  zu  beziehen.  Die  Annahme  eines  vermehrten  Stoff- 
wechsels ist  demnach  begründet. 

Einigermassen  beachtenswerth  ftir  die  hier  in  Betracht 
kommenden  Einflüsse  ist,  dass  bei  Eintritt  der  epileptischen  Insulte 
die  Temperaturcurve  eine  vorübergehende  geringe  Steigung  erfährt. 

Wenn  wir  weiters  finden,  dass  Temperatur  und  Pulscurve 
nicht  vollständig  parallel  gehen,  so  könnte  die  Erklärung  darin 
liegen,  dass  die  Körpertemperatur  von  mehr  Factoren  als  die 
Pulsfrequenz  abhängig  ist  und  nicht  so  rasch  jedem  Impuls 
folgen  kann. 

Der  vorliegende  Stoffwechsel  ist  weiters  interessant  durch 
das  vermehrte  Auftreten  von  Indican,  durch  die  Abänderung  des 
normalen  Ausscheidungsverhältnisses  von  Phosphorsäure  zu 
Stickstoff. 

Obige  Rechnung  weist  darauf  hin,  dass  besonders  die  an 
Alkalien  gebundene  Phosphorsäure  vermehrt  war,  dass  ausser  Muskel 
noch  eine  andere  phosphorhältige  Substanz  einen  vermehrten 
Zerfall  erlitt;  als  solche  könnte  das  Nervensystem  in  Anspruch 
genommen  werden,  da  wir  es  mit  einer  Neurose  zu  thun  haben. 

Die  Zahl,  welche  auf  Rechnung  dieses  käme,  ist  aber  doch 
zu  gross,  als  dass  es  allein  herangezogen  werden  könnte,  denn 
der  Gehalt  des  ganzen  Nervensystems  an  Phosphor  wird  auf  nur 
12  Grm.  geschätzt. 

Was  die  Indicanausscheidung  anbelangt,  so  liegt  es  nach 
der  besonders  im  V.  Anfall  gemachten  Beobachtung  nahe,  an 
einen  directen  Zusammenhang  mit  dem  nervösen  Vorgang  zu 
denken;  man  wird  sich  dabei  aber  erinnern,  dass  vermehrte 
Indicanausscheidung  auftreten  gesehen  wurde  bei  raschem  Zerfall 
von  Organeiweiss,  bei  Hindernissen  in  der  Defäcation,  Momente, 
welche  hier  ebenfalls  vorlagen. 

(49) 


472  Wick. 

Yergleicfaen  wir  nun  Kopfschmerz  und  Pulsfrequenz,  so  stellt 
sich  heraus,  dass  mit  dem  Steigen  des  Pulses  der  Kopfschmerz 
aufhört,  mit  dem  Sinken  desselben  wieder  beginnt. 

Besonders  genau  trifft  dieses  Verhältniss  zu  beim  IV.,  VI. 
und  VII.  Anfall. 

Dass  diese  beiden  Erscheinungen  nur  parallel  laufen,  aber 
nicht  im  Gausalnexus  stehen,  beweist  die  Beobachtung  des  Y.  und 
VIII.  Anfalles,  wo  trotz  sehr  yerlangsamten  Pulses  der  Kopfschmerz, 
wenn  auch  nur  ftir  kurze  Zeit,  cessirte. 

Es  ist  auch  kein  Gausalnexus  mit  der  Temperatur  vorhanden, 
da  er  wieder  beginnt,  während  die  Temperatur  bereits  gestiegen 
ist,  auch  nicht  mit  dem  Erbrechen  und  der  Säureproduction  im 
Magen,  wie  die  Uebersicht  lehrt ;  allerdings  ist  hierbei  zu  berfick- 
sichtigen,  dass  diese  Discontinuität  erst  beginnt  nach  dem 
12.  Krankheitstag;  bis  dahin  läuft  er  mit  der  Erscheinung  des 
Erbrechens  parallel. 

Dagegen  scheint  das  Experiment  der  Garotiscompression 
eine  Abhängigkeit  von  vasomotorischen  Zuständen,  von  einer 
Fluxion  im  Gebiete  der  Garotis  zu  ergeben. 

Der  vasomotorische  Ursprung  des  Kopfschmerzes  scheint 
weiters  noch  daraus  hervorzugehen,  dass  am  11. — 12.  Krankheits- 
tag, wo  die  erste  und  ausgiebigste  Aenderung  im  Zustand  eintritt, 
auch  die  übrigen  vasomotorischen  Erscheinungen  geringer  werden, 
so  die  Rötbung  der  Ohrmuscheln,  der  Bindehäute  etc. 

Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  die  Fluxion  dazu  allein 
ausreicht. 

Von  Eulenburg  wird  das  Hauptgewicht  auf  acute  Schwan- 
kungen des  endocraniellen  Blutgehaltes  und  die  asymmetrische 
Blntvertheiluug  gelegt. 

Solche  Schwankungen  müssen  wir  wohl  annehmen,  wenn 
z.  B.  im  V.  und  VIII.  Anfall  das  Gesicht  auffallend  blass  wird, 
die  gerötheten  Stellen  etwas  livid  werden. 

Dagegen  an  den  Tagen  vor  den  Insulten  oder  in  jenen 
Anfällen,  welche  ohne  Insulte  verliefen,  hatte  man  keineswegs 
den  Eindruck ,  dass  solche  Schwankungen  stattfanden  und  damit 
stimmt  auch  überein ,  dass  der  Schmerz  nahezu  ein  continuir- 
licher  war. 

(50) 


Gasnistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  473 

Eine  Asymmetrie  in  der  Blutvertheilmig  ist  nicht  anzunehmen, 
da  ja  beide  Carotiden  zu  gleicher  Zeit  im  selben  Zustande  waren. 

Wenn  schon  eine  Asymmetrie  in  unserem  Falle  bestand ,  so 
war  dies  nicht  zwischen  links  und  rechts,  sondern  zwischen  den 
vorderen  und  hinteren  Partien  der  Fall. 

Denkt  man  sich  die  Vertebralarterien ,  sowie  die  Radialis 
blutleer,  verengt,  so  wird  trotz  des  Circulus  Willisii  in  den  von 
ihnen  versorgten  Gehimtheilen,  also  besonders  im  Gehimstamme, 
eine  gewisse  Anämie  vorherrschen,  während  in  den  von  der 
Carotis  versorgten  Hirntheilen  Fluxion  bestünde. 

Die  Thatsache  dagegen,  dass  er  namentlich  zur  Zeit  der 
epileptischen  Insulte  von  aussergewöhnlicher  Heiligkeit  war  und, 
wie  bereits  oben  bemerkt,  einmal  die  Stelle  der  Bewusstseins- 
Störung  zu  vertreten  schien,  deutet  auf  einen  Zusammenhang 
weniger  mit  den  vasomotorischen  Erscheinungen,  als  mit  dem  rein 
nervösen  Processe  des  Insultes,  überhaupt  der  Epilepsie.  Es  ist 
keine  Gephalalgia  vasomotoria, sondern  epileptica,  wie  Sieveking 
vorgeschlagen  hat,  die  Migräne  zu  bezeichnen. 

In  Bezug  auf  den  Ort  seiner  Entstehung  können  die  übrigen 
Erscheinungen,  welche  so  bestimmt  auf  das  verlängerte  Mark 
deuten,  zu  der  von  M  o  e  b  i  u  s  gemachten  Annahme  einer  Reizung 
der  absteigenden  Trigeminuswurzel  verwerthet  werden. 

Füge  ich  noch  hinzu,  dass  der  Kopfschmerz  vermehrt  wurde, 
durch  in  Anspruchnahme  des  Denkens,  durch  Lageveränderungen, 
einmal  durch  Gigarrenrauchen ,  so  sind  die  wichtigsten  Momente 
zur  Beurtheilung  seiner  Herkunft  gegeben,  aber  eine  sichere  Er- 
klärung gebt  aus  dem  Falle  nicht  hervor. 

Auch  die  Thatsache  seiner  Verminderung  auf  Carotiscom- 
pression  muss  nicht  nothwendig  auf  die  Hyperämie  als  Quelle 
deuten,  da  bei  Compression  der  Carotisgegend  auch  andere  Theile 
gedrückt  werden  und  ein  Reflex  ausgelöst  werden  könnte. 

Wäre  die  endocranielle  Blutschwankung  als  solche  Schuld, 
am  Kopfschmerz ,  so  müsste  ein  Druck  auf  die  Carotis  ihn  eher 
vermehren,  indem  dadurch  plötzlich  eine  bedeutende  Schwankung 
derselben  herbeigeführt  wird. 

Es  scheint  mir  demnach  der  vasomotorische  Ursprung  des 
Kopfschmerzes  nicht  bewiesen,  dagegen  scheint  es  selbstverständ- 

(61) 


\ 


474  Wict 

lieh,  dass,  wenn  er  aus  anderen  Ursachen  schon  besteht,  Circnlations- 
stömngen  den  grössten  Einflnss  anf  ihn  ausüben  nnd  ich  hatte 
selbst  in  einem  Falle  beobachtet,  wie  auf  Compression  der  linken 
Carotis  der  Kopfschmerz  links  verschwand  nnd  sofort  rechts  auftrat. 

Wie  immer  nnn  der  Kopfschmerz  erklart  werden  mag,  so 
yiel  scheint  hervorzogehen ,  dass  er  im  Yorliegenden  Falle  Yon 
derselben  Natar  wie  bei  der  Hemicranie  ist. 

Indem  wir  nnn  aber  den  ganzen  Process  ans  den  bereits 
angegebenen  Gründen  fbr  Epilepsie  erklaren,  so  werden  wir  anch 
sagen  müssen,  der  Kopfschmerz  in  unseren  Fall  sei  ein  Symptom 
der  Epilepsie. 

Daraus  würde  man  weiter  zur  Auffassung  gelangen,  dass 
die  genuine  Hemicranie  selbst  nichts  Anderes  als  Epilepsie  sei, 
dass  die  gegenwärtig  angenonmiene  hemicranische  Veränderung 
die  epileptische  sei. 

Bereits  wurden  Fälle  beobachtet  (Eulenburg,  Bins- 
w  a  n  g  e  r) ,  wo  Migräneanfalle  mit  epileptischen  abwechselten 
oder  diesen  vorangingen;  aber  ein  Anfall,  wo  während  einer 
Migräne  auch  epileptische  Insulte  aufgetreten  wären,  wurde  bisher 
nicht  beobachtet. 

Ein  solcher  Fall  aber  ist  (wenn  wir  von  obiger  Einwendung 
gegen  die  Bezeichnung  als  Hemicranie  absehen)  der  oben 
beschriebene. 

Wir  wissen,  dass  an  Stelle  der  epileptischen  Anfälle  bei 
gewissen  Individuen  Psychosen  auftreten,  die  häufig  mit  einem 
epileptischen  Anfall  abscbliessen,  welcher  mitunter  erst  Licht  über 
die  Natur  der  vorausgegangenen  Störung  verbreitet. 

Leidesdorf  will  solche  Psychosen  nicht  blos  als  epilep- 
tische Aequivalente,  sondern  als  epileptische  Psychosen  geradewegs 
aufgefasst  wissen. 

Dasselbe  Yerhältniss  findet  in  unserem  Falle  statt ;  der  An- 
fall beginnt  als  Hemicranie  und  endet  mit  vollständigen  oder 
rudimentären  epileptischen  Anfällen,  welcher  dann  ftlr  den  epilep- 
tischen Charakter  der  Erkrankung  zeugt,  kann  aber  auch  ganz  als 
Hemicranie  verlaufen. 

Hält  man  dies  zusammen  mit  den  Beobachtungen  Eulen- 
burg^s  und  Binswanger^s,  so  geht   daraus    hervor,   dass  an 

(62) 


Casnistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  475 

Stelle  des  epileptischen  Anfalles  ein  hemieranischer  treten  kann, 
als  Aeqnivalent  desselben  und  weiters,  dass  die  genuine  Hemi- 
cranie  selbst  nur  eine  Form  der  Epilepsie  sei. 

Als  Erklämng  hierfür  könnte  man  sich  denken,  dass  die 
epileptische  Verändemng  auch  nur  in  einer  Gehirnhälfte  ihren 
Sitz  haben  kann,  und  die  supponirte  Entladung  ebenfalls  nur  auf 
einer  Seite  vor  sich  geht,  und  aus  diesem  Grunde  auch  zu  wenig 
intensiv  ist,  um  die  Hemmung  in  den  motorischen  Gentren  zu 
überwinden. 

In  unserem  Falle  wäre  nun  wohl  die  epileptische  Verände- 
rung auf  beiden  Seiten  vorhanden  zu  denken,  darum  kommt  es 
auch  zu  einem  epileptischen  Insult. 

In  den  übrigen  Anfällen  ohne  Insulte  ist  aber  die  Entladung 
in  einer  weniger  intensiven  und  auf  gewisse  Bahnen  beschränkte 
Weise,  in  einem  langsameren  Ablaufe  zu  denken,  analog  dem  Ver- 
halten der  epileptischen  Psychosen. 

Der  classische  epileptische  Anfall  wäre  unter  den  verschie- 
denen Möglichkeiten  des  Ablaufes  der  Entladung  nur  der  specielle 
Fall,  wo  die  supponirte  Entladung  beiderseits  zu  gleicher  Zeit 
plötzlich  und  im  heftigsten  jede  Hemmung  überwindendem  Masse 
stattfindet. 


Die  gleiche  Argumentation  gilt  von  der  in  diesem  Falle 
beobachteten  Gastroxie ;  sie  ist  hier  nur  Symptom  der  epileptischen 
Grundkrankheit,  und  es  bestätigt  dieser  Fall  die  Erklärung  der 
Gastroxie  von  M.  Rosenthal  als  auf  centraler  und  direct  fort- 
geleiteter Beizung  beruhend. 

Bisher  wurde  sie  zwar  nicht  altemirend  mit  Epilepsie  beob- 
achtet ;  aber  die  Möglichkeit,  dass  man  einmal  ein  solches  Alter- 
niren  beobachtet,  wäre  nicht  ausgeschlossen. 

Wir  könnten  in  unserem  Falle  diejenigen  Anfälle,  welche 
ohne  epileptischen  Insult  verliefen,  statt  als  Hemicranie  und  viel- 
leicht richtiger  auch  als  Gastroxie  bezeichnen. 

Es  wäre  dann  dies  die  epileptische  Gastroxie  zum  Unter- 
schiede von  aus  anderen  Gründen  auftretenden  Gastroxien. 


(58) 


476  Wick. 

Die  Thatsacbe,  dass  in  diesen  Anfällen  die  Patellarreflexe 
verschwanden,  mnsste  im  Beginne  der  Beobachtung  die  Frage 
einer  gastrischen  Krise,  wie  sie  bei  Tabes  beobachtet  wird,  auf- 
werfen  lassen,  deren  Beginn  darch  ebensolche  Krisen  mitunter 
bezeichnet  wird. 

Abgesehen  vom  weiteren  Verlauf  hätte  die  Wiederkehr  des 
Reflexes  eine  derartige  Vermuthung  gegenstandslos  gemacht. 

Es  fällt  aber  durch  obige  Beobachtung  einiges  Licht  auf  die 
Entstehung  der  gastrischen  Krisen  selbst. 


Die  Abnormitäten  in  der  Harnausscheidung,  im  Stoffwechsel 
lassen  auch  noch  die  Frage  aufwerfen,  ob  man  es  in  diesem  Falle 
nicht  mit  einer  Autointoxication  gleich  der  Urämie  oder  Acetonämie 
zu  thun  habe. 

Den  Anfall  als  Ganzes  können  wir  nicht  leicht  darauf  zurück- 
ilihren,  da  der  Stoffwechsel  im  Beginne  anscheinend  nicht  gestört 
war,  also  höchstens  die  epileptischen  Insulte. 

Diese  Möglichkeit  ist  nicht  ganz  ausgeschlossen,  da  in  der 
That  eine  Retention  von  Stoffwechselproducten  stattfand,  und 
nach  den  neuesten  Untersuchungen  selbst  der  Harnstoff  nicht  als 
so  indifferent  für  das  verlängerte  Mark  sich  herausstellt. 

Wahrscheinlich  ist  eine  solche  Erklärung  aber  doch  nicht, 
da  diese  Insulte  selbst  zu  einer  Zeit  auftraten,  wo  keine  Retention 
mehr  anzunehmen  war,  und  wir  in  Bezug  auf  den  Harnstoff 
geradezu  finden,  dass  er  in  abnorm  grosser  Menge  ausgeschieden 
wurde,  andere  abnorme  Stoffe  aber  fehlten. 

Man  musste  daher  nur  annehmen,  dass  ganz  unbekannte 
Verbindungen  entstanden  seien,  welche  man  nicht  findet,  weil 
man  nicht  darnach  sucht,  oder  weil  sie  bereits  in  die  Endprodncte 
umgewandelt,  ausgeschieden  werden. 

Schliesslich  sei  mir  noch  gestattet,  zu  bemerken,  dass  mit 
dem  Vorstehenden  keineswegs  alle  Analogien  und  Möglichkeiten 
erschöpft  wurden;  es  sind  jedoch  noch  weiterhin' Anfälle  zu  er- 
warten, welche  möglicher  Weise  neue  Thatsachen  bringen  und 
damit  eine  Fortsetzung  obiger  Ausführungen  ermöglichen  könnten. 

(54) 


Gasoistisclier  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Epilepsie.  477 

Anhang. 

Inzwischen  brachte  die  Berliner  klinische  Wochenschrift  einen 
Bericht  tiber  den  Hungerversuch  C  e  1 1  Ts ,  und  so  sei  mir  gestattet, 
eine  kleine  Parallele   in  Bezug  auf  den  Stoffwechsel  zu  ziehen. 

Vergleicht  man  die  Hamstoffausscheidung  in  unserem  Falle 
mit  derjenigen  Cetti's,  so  sieht  man  sie  bis  zum  11.  (V.)  —  12. 
(VI.)  Krankheitstag  grösser  als  bei  C  e  1 1  i ,  wo  sie  auf  20  Grm. 
sank.  Die  Ursache  kann  darin  liegen,  dass  besonders  im  Beginne 
nicht  jeden  Tag  Alles  aus  dem  Magen  durch  Erbrechen  entfernt 
wurde.  Die  Fhosphorsäure-Ausscheidung  war  in  unserem  Falle  bis 
zum  11. — 12.  Tag,  besonders  im  V.  Anfall  geringer,  das  Verhältniss 
zum  N  wich  nicht  so  bedeutend  von  der  Norm  ab  wie  bei  C  e  1 1  i, 
während  sich  im  VI.  Anfall  die  absoluten  und  relativen  Zahlen 
denen  bei  Cetti  (im  Durchschnitt  bei  Gruber  1 :  5,  bei  Cetti 
1  :  4'5)  bedeutend  nahem. 

Man  wird  demnach  nicht  weit  fehlgehen,  wenn  man  die 
Befunde  der  N-  und  P^  Os-Ausscheidung  bei  G  r  u  b  e  r  bis  zum 
11. — 12.  Tag  auf  Rechnung  der  Inanition  setzt. 

Im  Allgemeinen  gilt  dies  auch  von  der  Cl-Ausscheidung, 
doch  weicht  unser  Fall  darin  ab,  dass  die  Cl-Menge  im  Harn 
rapid  sinkt  und  gänzlich  verschwindet,  während  bei  Cetti  noch 
am  letzten  Hungertag  0*6  Grm.  Cl  zu  finden  waren. 

Diese  Abweichung  weist  noch  auf  einen  anderen  Einfluss 
hin,  der  natürlich  nur  die  Cl-Ausscheidung  durch  das  Erbrechen 
sein  kann. 

Indem  wir  oben  das  rapide  Sinken  des  Cl  zu  einem  Beweis 
für  das  Bestehen  einer  Gastroxie  und  zur  Bestimmung  des  Ein- 
tritts derselben  verwertheten,  gibt  uns  der  Befund  bei  Cetti  ein 
weiteres  Recht  dazu.  Dieses  Recht  könnte  nur  durch  den  Hinweis 
auf  die  Erfahrung  beim  hungernden  Hunde,  wo  die  Cl-Menge 
ebenfalls  rapid  und  auf  ein  Minimum  sinkt,  in  Frage  gestellt  werden ; 
aber  es  wurde  oben  ausserdem  constatirt,  dass  das  Erbrechen  von 
stark  saurer  Beschaffenheit  war,  und  im  X.  Anfall  wurden  sowohl 
Acidität  wie  ungewöhnlich  hoher  Cl-Gehalt  festgestellt.  Die  Ina- 
nition war  ja  Folge  des  Erbrechens  und  muss  für  die  Aus- 
scheidungsverhältnisse vor  Allem  die  Ursache  der  Inanition  mass- 
gebend sein. 

(65) 


478  Wick. 

Im  Falle  Cetti  wurde  ferner  festgestellt,  dass  an  der 
Phosphorsäure-Ausscheidang  hauptsächlich  die  Knochen  betheiligt 
waren.  In  unserem  Falle  dagegen  entsprach  die  Menge  der  an 
die  Erden  gebundenen  Phosphorsäure  diesem  Verhalten  nicht.  Auf 
die  Frage  aber,  woher  jenes  Plus  an  Phospborsäure  stammt,  kann 
ich  gegenwärtig  schon  deshalb  nicht  eingehen,  weil  die  quanti- 
tative Bestimmung  der  Erden  und  Alkalien  fehlt. 

Ein  weiterer  Unterschied  liegt  darin,  dass  im  Falle  Cetti 
im  Harn  eine  grosse  Menge  von  Aceton  und  Phenol,  dagegen 
kein  Indican  gefunden  wurde,  während  in  unserem  Falle  Indican 
vermehrt  war,  dagegen  Aceton  und  Phenol  fehlten. 

In  diesem  Verhalten  stimmt  unser  Fall  eher  mit  den  Er- 
fahrungen beim  hungernden  Hund  tiberein,  wo  die  Indicanaus- 
scheidung  eine  colossale,  dagegen  der  Phenolgehalt  des  Harns  ein 
minimaler  ist.  Ein  directer  Zusammenhang  der  vermehrten  Indican- 
ausscheidung  mit  der  Neurose  ist  demnach  wohl  abzulehnen,  aber 
andererseits  auch  schwer  zu  bestimmen,  worin  die  besprochenen 
Unterschiede  begründet  sind. 

Indem  uns  nun  der  Hungerversuch  G  e  1 1  i's  die  Möglichkeit 
offen  lässt,  dass  auch  in  unserem  Falle  bis  zum  11. — 12.  Tag  nur 
der  Stoffwechsel  der  Inanition  vorliege,  so  ist  doch  hierdurch  obige 
Anknüpfung  an  den  Fieberstoffwechsel  (soweit  natürlich  der  Harn 
ein  Urtheil  zulässt)  nicht  gegenstandslos  geworden. 

Auch  beim  Fieber  ist  ja  Inanition  vorhanden,  und  darum 
müssen  die  drei  verglichenen  Processe,  nämlich  Fieber,  Hunger 
und  vorliegende  Neurose  gewisse  Ausscheidungsverhältnisse  ge- 
meinsam haben;  für  uns  aber  handelt  es  sich  mehr  die  unter- 
scheidenden Merkmale  festzustellen,  und  an  solchen  mangelt  es, 
wie  die  obigen  Ausführungen  darthun,  nicht.  Auf  den  einen 
Umstand  sei  bei  Beurtheilung  der  grösseren  Hamstoffinengen  auf- 
merksam gemacht,  dass  unser  Patient  zur  Zeit  des  V.  und  VI.  An- 
falles im  Ganzen  gut  genährt  und  das  Unterhautzellgewebe  ent- 
sprechend fettreich  war,  während  Cetti  als  mager  bezeichnet  ist. 


-m^ 


a^ 


xvni. 

lieber  Harnsäure  im  Bhte  and  einigen  Organen 

und  Geweben. 

Von 

Dr.  M.  Abeles. 

(Aus  dem  Lik  Oratorium  dos  Horrn  Prof.  E.  Ludwii  in  Wien.) 

(Am  31.  Mai  1887  von  der  Bedaction  übernommen.) 


Kleine  Mengen  von  Hamsäare  wurden  schon  vor  langer 
Zeit  in  yerschiedenen  thierisehen  Organen  gefunden,  so  in  der 
Leber ^)  (besonders  bei  Vögeln),  in  der  Milz  (Scherer,  Cloetta, 
Gornp-Besanez^),  in  den  Muskeln  (L i e b i g ^).  Im  Rinderblute 
wurde  Harnsäure  von  Scherer  und  Strecker^)  und  im  Blute 
mit  Fleisch  gefütterter  Hühner  von  Meissner^)  nachgewiesen. 
Garrod^)  bestimmte  den  Hamsäuregehalt  des  Blutserums  bei 
Arthritis  urica  und  bei  Morbus  Brightii  mit  0*045 — 0'175  pro  Mille 
und  er  wies  in  zahlreichen  Fällen  von  Arthritis  die  Anwesenheit 
von  Harnsäure  im  Blute  mittelst  seines  „ Fadenexperimentes ^  nach, 
in  dem  er  sie  an  einen  in^s  Blut  getauchten  Faden  ankrystallisiren 
liess  —  Angaben,  die  einer  Ueberprüfung  nach  neueren  Methoden 
sehr  bedfirftig  sind. 


^)  Hoppe-Seyler,  Fhysiol.  Ghem.,  pag.  430,  646,  717  u.  720. 
')  Katar  n.  BehandL  d.  Gicht.  Deutsch  Ton  Eisenmann.  Würzbnrg  1861. 
Med.  Jahrbücher.  1887.  33      (i) 


1 


480  Abeles. 

In  jüngster  Zeit  hat  y.  Schröder i)  Leber  und  Blut  von 
Vögeln  anf  ihren  Gehalt  an  Hamsänre  untersucht.  Er  fand  im 
Blute  Spuren  bis  0-010«/o  und  in  der  Leber  O'Oll— 0-440Vo. 
Y.  Sehröder  bediente  sich  zur  Tsolirung  der  Harnsäure  der 
Salkowskfschen  Methode,  deren  Genauigkeit  er  vorher  neuer- 
dings feststellte.  Er  konnte  mit  derselben  aus  wässeriger  alka- 
lischer Lösung  noch  1  Milligrm.  Harnsäure  ans  200  Ccm.  Wasser 
fällen  und  mit  der  Murexidprobe  nachweisen.  Ebenso  gelang  es 
ihm,  nach  Zusatz  von  1  Milligrm.  Harnsäure  auf  100  Gem.  defibri- 
nirtes  Rinderblut  erstere  noch  mit  Sicherheit  nachzuweisen. 

Ich  habe  verschiedene  Organe,  sowie  normales  Thier-  und 
Menschenblut  auf  die  Anwesenheit  von  Harnsäure  geprüft  und 
mich  dabei  der  Methode  von  E.  Ludwig^)  bedient,  welche  eben  so 
genau  ist  wie  die  S  a  1  k  o  w  s  k  i'sche,  aber  den  Vortheil  schnellerer 
Ausführbarkeit  bietet.  Sie  unterscheidet  sich  bekanntlich  haupt- 
sächlich darin  von  der Salkowsk i'schen,  dass  durch  gleichzeitigen 
Zusatz  von  Magnesiamixtur  und  ammoniakalischer  Silberlösung  die 
Harnsäure  als  Magnesiumsilbersalz  und  die  Phosphorsäure  als  phos- 
phorsaure Ammoniakmagnesia  gefällt  und  der  Niederschlag  einfach 
mit  Schwefelnatrium  zerlegt  wird. 

Meine  Untersuchungen  erstreckten  sich  auf  Leber  nnd  Blut 
vom  Pferde,  Leber,  Muskel  und  Blut  vom  Hunde  und  auf  Leber, 
Milz,  Muskel,  Kniegelenk  und  Blut  vom  Menschen. 

Leber,  Milz  und  Muskel  wurden  mit  einer  Fleischmaschine 
zerkleinert,  in  viel  Wasser,  dem  etwas  Kalilauge  zugesetzt  war, 
gebracht ,  darin  eine  halbe  Stunde  gelassen ,  darauf  Essigsäure 
bis  zur  deutlichen  sauren  Beaction  zugesetzt  und  durch  2  Stunden 
gekocht,  dann  colirt  und  abgepresst.  Die  Colatur  wurde  nach 
Schmidt-Mülheim  mit  essigsaurem  Natron  nnd  Eisenchlorid 
enteiweisst  und  bei  schwach  saurer  Reaction  auf  ein  Volumen 
von  70 — 100  Com.  eingedampft.  Es  war  nicht  zu  befürchten,  dass 
so  kleine  Mengen  Harnsäure,  die  in  den  genannten  Organen  ent- 
halten sein  konnten,  etwa  bei  saurer  Reaction  herausfallen  würden, 
hingegen  ist  die  Anwesenheit   von  freiem  Alkali  schädlich.     Ich 

*)  Hamsäuregeh.  d.  Blutes  u.  d.  Leber  der  Vögel.  *  Separatabdr.  aus  der 
C.  Lndwig'schen  Jnbilänmsfestschrift. 
»)  Wien.  med.  Jahrb.  1884. 

(2) 


üeber  Hamsänre  im  Blute  und  einigen  Organen  und  Geweben.        481 

habe  auch  bei  dieser,  sowie  bei  einer  anderen  Arbeit  über  Harn- 
säure, mit  der  ich  seit  langer  Zeit  beschäftigt  bin,  sowie 
V.  Schröder  stets  die  Vorsicht  gebraucht,  Harnsäure  nie  lange 
in  alkalischer  Lösung  zu  lassen. 

Von  den  Kniegelenken  wurden  Kapsel,  Bandapparat  und 
der  grösste  Theil  des  Knorpels  lospräparirt  und  durch  eine  Stunde 
gekocht,  colirt  und  weiter  wie  die  anderen  Organe  behandelt. 

Die  vom  Knorpel  und  Bandapparat  zum  grössten  Theil 
befreiten  Gelenksenden  wurden  gesondert  in  derselben  Weise 
verarbeitet. 

Das  Blut  wurde  auf  das  5 — lOfache  Volumen  verdünnt, 
essigsaures  Natron  und  Eisenchlorid  zugesetzt  und  wie  früher  bei 
schwach  saurer  Keaction  gekocht,  colirt  und  abgepresst. 

Da  bei  der  Schmidt-Mülheim'schen  Enteiweissungs- 
methode  auch  die  Phospbate  mitgefällt  werden,  so  wurde  den 
enteiweissten ,  eingedampften  Lösungen  zuerst  etwas  phosphor- 
saures Natron  zugesetzt,  dann  erst  mit  der  Mischung  von  ammoniaka- 
lischer  Silberlösung  und  Magnesiamixtur  gefällt,  der  Niederschlag 
aufs  Filter  gebracht,  mit  ammoniakalischem  Wasser  gewaschen, 
mit  der  Luftpumpe  gut  abgesaugt  und  mit  Einfach-Schwefel- 
natrium  zerlegt,  dann  vom  Schwefelsilber-Niederschlag  abfiltrirt 
und  das  mit  Salzsäure  angesäuerte  Filtrat  in  einer  Glasschale  ein- 
gedampft. In  jenen  Fällen,  wo  das  Schwefelsilber  sich  nicht  gut 
absetzte,  sondern  in  der  Lösung  fein  vertheilt  blieb,  habe  ich 
noch  vor  dem  Filtriren  angesäuert,  da  sich  erfahrungsgemäss 
Schwefelmetalle  besser  aus  sauren  als  aus  alkalischen  Flüssigkeiten 
abscheiden.  Die  Lösung  ging  dann  klar,  gewöhnlich  ohne  mit- 
gerissenes Schwefelsilber  durch  das  Filter.  Zuweilen  aber  ballten 
sich  während  des  Eindampfens  doch  noch  einige  schwarze  Klümp- 
chen  zusammen,  in  welchem  Falle  rasch  nochmals  filtrit  wurde. 
Da  es  sich  mir  überhaupt  nur  um  qualitativen  Nachweis  handelte 
und  die  Lösungen  sehr  verdünnt  waren,  habe  ich  die  Möglich- 
keit, dass  aus  der  sauren  Lösung  sofort  ein  Bruchtheil  der  Harn- 
säure herausfallen  könnte,  nicht  weiter  berücksichtigt.  Ich  glaube 
aber,  dass  man  ohne  wesentliche  Schädigung  der  Genauigkeit  auch 
bei  quantitativen  Bestimmungen  im  Harn  so  vorgeben  könnte, 
wenn  das  Schwefelsilber  —  gleichviel  ob  bei  der  Ludwig'schen 

38  ♦     <3> 


1 


482  Abeles. 

oder  der  SalkowskTschen  Methode  —  in  der  Lösung  saspen- 
dirt  bleibt  und  durehs  Filter  geht.  Würde  man  heiss  und  schnell 
filtriren,  so  dürfte  kaum  ein  Verlust  an  krystallinischer  Harnsäure 
eintreten.  Doch  besitze  ich  darüber  keine  Erfahrung. 

Die  saure  Flüssigkeit  in  der  Glasschale  wurde  auf  wenige 
Cnbikcentimeter  eingedampft  und  behufs  Ausscheidung  der  Harn- 
säure 24  Stunden  in  der  Kälte  stehen  gelassen.  Dann  wurde 
der  gesammte  Rückstand  auf  ein  kleines  Filter  gebracht,  ge* 
waschen,  nach  der  Vorschrift  £.  Ludwig's  mit  Alkohol  und 
Aether  entwässert,  mit  Schwefelkohlenstoff  entschwefelt,  dann 
trocken  vom  Filter  abgekratzt  und  die  Murexidprobe  angestellt. 

Da  nach  den  Untersuchungen  von  Salkowski  und  M a  1  y 
die  Harnsäure  auch  aus  concentrirter  salzsaurer  Flüssigkeit  nicht 
YoUstandig  herausfällt,  sondern  ein  kleiner  Theil  immer  noch  in 
Lösung  bleibt,  und  da  die  Murexidprobe  sehr  empfindlich  ist, 
habe  ich  in  jenen  Fällen,  wo  der  Rückstand  in  der  Schale  sehr 
geringfügig  war  und  gewiss  nur  zum  kleinsten  Theile  aus  Harn- 
säure bestehen  konnte,  einige  Tropfen  der  Flüssigkeit  aus  der 
Schale  mit  einer  Pipette  abgehoben,  dieselben  in  ein  Porzellan- 
schälchen  gegossen,  mit  einigen  Tropfen  Ammoniak  neutralisirt, 
auf  dem  Wasserbade  zur  Trockne  eingedampft  und  dann  in 
dem  Schälchen  die  Murexidprobe  angestellt.  Es  gelingt  dies  sehr 
gut ,  nur  ist  dabei  die  Vorsicht  zu  beobachten ,  dass  beim  Er- 
wärmen mit  Salpetersäure  das  Schälchen  stetig  so  herumgedreht 
wird,  dass  die  Flüssigkeit  in  möglichst  dünner  Schichte  vertheilt 
wird.  Man  merkt  dann  zuerst  vom  Rande  her  die  zwiebelrothe 
Färbung,  die  auf  Zusatz  von  Ammoniak  in  das  bekannte  Purpar 
und  mit  Kalilauge  in  Violett  übergeht. 

L  400  Grm.  frische  Pferdeleber.  Der  auf  den  gewaschenen 

und  getrockneten  Filter  bleibende  Rückstand  gibt 
deutliche  Murexidprobe. 
300     „     defibrinirtes  Pferdeblut.  Keine  Reaction. 

n.  250     »     Pferdeleber.  Deutliche  Murexidprobe. 

300      „      defibrinirtes  Pferde  bin  t.  Keine  Reaction. 
ni.  150     „     Hundeleber.  Schwache  aber  noch  charakteri- 
stische Murexidreaction. 

<4) 


Ceber  Harnsäare  im  Bhite  nad  einigen  Organen  und  Geweben.        483 

320  Grm«  Hnndemnskel.  Schwache,  aber  noch  charakteri- 
stische Mnrexidreaction. 
250     j,     nicht  defibrinirtes  arterielles  Hnndeblut.  Keine 
Reaction. 
IV.  230      j,     nicht  defibrinirtes  venöses  Hnndeblnt.  Keine 

Reaction. 
Der    negative    Befnad    im    Blnte    veranlasste    mich ,     die 
Lndwig^sehe  Methode  auf  ihre  Genauigkeit   fiir  meine  Zwecke 
2n  prüfen  (die  erwähnte  Arbeit  v.  Schröder  war  zur  Zeit,  da 
ich  diese  Untersnchnngen  anstellte,  noch  nicht  erschienen). 
V.  Zn  200  6rm.    frischen    nicht    defibrinirten   Hnndeblnts 
werden  0*004  6mL  in  Kalilauge  gelöste  Harnsäure  gesetzt  und 
das  Blut  wie  früher  behandelt.  Sowohl  mit  einigen  Tropfen 
der  eingedampften  Lösang,  wie   mit  dem  trockenen  Rück- 
stand auf  dem  Filter  gelingt  schöne  Mnrexidprobe. 
VI.  Zn  200  Grm.  friscb^i  nicht  defibrinirten  Hundebluts  werden 
0*002  GmL  Harnsäure  gesetzt.  Deutliche  Mnrexidreaction  wie 
früher. 

Mit  der  Lndwi  gesehen  Methode  lässt  sich  demnach  noch 
Harnsäure  im  frischen  nicht  defibrinirten  Hundeblut  in 
unzweifelhafter  Weise  nachweisen,  wenn  man  2  Milligrm.  auf 
200  Grm.  zusetzt. 

Die  Untersuchungen  v.  Schröder's^)  über  die  hamstoflf- 
bildende  Thätigkeit  der  durchbluteten  Leber,  sowie  die  neuere 
Arbeit  von  Minkowski^),  der  bei  Vögeln  durch  Ausschaltung 
der  Leber  aus  dem  Kreislauf  eine  rasche  Verminderung  der  aus- 
geschiedenen Harnsäure  beobachtete,  legten  mir  den  Gedanken 
nahe,  dass  das  die  Leber  durchströmende  Blat  in  diesem  Organe 
die  Hauptmenge  der  Harnsäure  aufnehmen  könnte,  so  zwar,  dass 
sie  im  Blute  der  Lebervenen  nachweisbar  wäre,  während  im 
übrigen  Kreislauf  die  Verdünnung  hierfür  eine  zu  grosse  ist.  Ich 
habe  deshalb  in  zwei  Versuchen  an  Hunden  sowohl  Pfortader-, 
als  Lebervenenblut  auf  Harnsäure  untersucht.  Die  Blutproben 
wurden  noch  nach  der  von  v«  Mering')  angegebenen  und  von 

^)  Arch.  f.  exper.  Fatii.  nnd  Fhann.  Bd.  XY,  pag.  364. 
')  Ebenda.  Bd.  XXI,  pag.  4L 
•)  Du  Bois*  Areh.  1877. 

(5) 


] 


484  Abeles. 

T.  Basch  modificirten  Methode  entnommen,  ganz  80  wie  es 
See  gen')  undich^)  anlässlich  vergleichender  Bestimmungen  de» 
Zuckergehaltes  des  Blutes  der  Pfortader  mit  dem  der  Lebervenen 
gethan.  Das  Resultat  war  ganz  negativ. 

Vn.  Grosser  Hund  wird  mit  Fleisch  gefüttert.  3  Stunden  nach  der 
Fütterung  werden  je  200  Grm.  Blut  aus  der  Pfortader  und 
den  Lebervenen  entnommen.  Keine  Murexidreaction. 
Vni.  Derselbe  Versuch  wird  wiederholt.  Keine  Reaction. 

Es  lässt  sich  aus  diesem  negativen  Ergebnisse  kein  Schluss 
ziehen,  ob  das  Blut  in  der  Leber  Harnsäure  aufnimmt  oder  nicht. 
Der  Hund  ist  jedenfalls  für  diesen  Versuch  nicht  geeignet,  da  er 
fiberhaupt  nur  sehr  wenig  Harnsäure  erzeugt,  denn  auch  der 
Hundeham  ist  verhältnissmässig  sehr  arm  daran.  Im  Hundeblat 
kann  nur  eine  äusserst  geringe  Menge  vorhanden  sein,  die  selbst 
den  heutigen  verfeinerten  Methoden  entgeht. 

Es  ist  mir  aber  gelungen,  imnorm^alen  menschlichen 
Blut  Harnsäure  aufzufinden.  Ich  hatte  Gelegenheit  Organe  und 
Blut  zu  untersuchen,  die  von  einem  24jährigen,  durch  den  Strang 
justificirten  Mörder  herrührten.  Die  üntersuchungsobjecte  gelangten 
4  Stunden  nach  eingetretenem  Tode  in  meine  Hände. 
IX.  187  Grm.  Blut,  wie  früher  verarbeitet.  Einige  Tropfen  aus 

der  Glasschale  geben  sehr  schöne  Murexid- 
reaction. 
143      „      Leber.  Sehr  deutliche  Reaction. 
110      j,     Milz.  Sehr  deutliche  Reaction. 
4B0     n      Muskel.  Schwache  durch  beigemengtes 
Schwefelsilber    undeutlich    gemachte 
Reaction. 
Knorpel  und  B  an  dapparat.Sehrschöne  Reaction. 
Die  Gelenksenden  (denen  aber  noch  Reste  von  K norpel 
und  Bandapparat  anhingen)  gesondert   verarbeitet.     Sehr 
schöne  Reaction. 
X.  Ganz  dieselben  Resultate  erhielt  ich  bei  der  Untersuchung 
von  Leber,  Milz,  Muskel  und  Kniegelenk  einer  an 


<)  Pflüger's  Arch.  f.  Phys.  XXXIY  a.  Gesaram.  Abhandlg.  Berlin  1887. 
»)  Med.  Jahrb.  1887,  S.  383. 


(6) 


üeber  Harnsänre  im  Blute  und  einigen  Organen  nnd  Geweben.        485 

Herzparalyse  in  Folge  von  Fettherz  plötzlich  verstorbenen 

50jährigen  Frau,  nur  dass  diesmal  auch  die  Muskel  sehr 

schöne  Reaction  ergaben.  In  den  genannten  Organen  war 

nichts  Abnormes  auffallend,  doch  ist  es  nicht  ausgeschlossen, 

dass  die  Person  an  arthritischen  Erscheinungen  gelitten. 

Meine  Untersuchungen  bestätigen  die  alten  Angaben ,   dass 

die  Leber,   Milz   und  Muskel  Harnsäure   enthalten   und 

weisen  diesen  Körper  auch  in  den  Gelenken  und  im  normalen 

menschlichen  Blut  nach. 


•>§»«• 


(7) 


1 


Heber  die  wechselseitigen  Beziehnngen  zwischen 
den  centralen  ürsprongsgebieten  der  Augen- 

muskelneryen. 

Von 

Dr.  Jiillns  Nnssbaiim^ 

Seoundsiarst  am  k.  k.  allgem.  Krankenhame  la  ^en* 

(ti8  dBRi  LakontoriBD  loi  Prof.  ObersteioBr  zu  WIbi.) 

(Von  der  Bedaotion  am  22.  Juni  1887  tlbemommen.) 


Durch  einige  angeblich  zufällige  Befunde  im  Gehirne  einer 
Katze  und  durch  von  anderer  Seite  mitgetheilte  klinische  Beob- 
achtungen am  Menschen  aufmerksam  gemacht,  hatten  Duval 
und  Laborde  die  Frage,  in  welchen  Beziehungen  die  Kerne 
und  Wurzelfasem  der  Bewegungsnerven  des  Auges  zu  einander 
stünden,  einer  eingehenden  anatomischen  und  experimentellen 
Untersuchung^)  unterzogen. 

Als  Resultat  der  ersteren,  wozu  sie  Gehirne  von  Affen  ver- 
wendeten, hatten  sie  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  vom  Ab- 
ducenskeme  jeder  Seite  Fasern  zum  hinteren  Längsbündel  ziehen 
und  dass  jedes  hintere  Längsbündel  seinerseits  Fasern  erstens  zu 
den  Wurzelfasem  des  Trochlearis,  zweitens  zu  denen  des  Oculo- 
motorius  der  anderen  Seite  entsende. 


')  Bobin,  Jonrnal  de  T Anatomie  et  Physiologie.  1880.  De  l*inneryation 
des  monyements  associte  des  globes  ocnlaires. 

(1) 


} 


488  Nnssbanm. 

Diese  Behauptungen  finden  sich  in  allen  seither  erschienenen 
Lehrbüchern  citirt,  ohne  dass  dieselben  eine  directe  Bestätigung 
erfahren  hätten.  Meines  Wissens  hat  sich  blos  Obersteiner 
mit  dieser  Frage  näher  beschäftigt  und  war  zu  dem  Schlüsse 
gelangt^),  „dass  er  aus  eigenen  Präparaten  keine  Thatsachen  ge- 
winnen könne,  die  die  Ansicht  von  Duval  widerlegen  würden* ♦ 

Durch  eine  mündliche  Erörterung  dieser  Frage  seitens  meines 
hochverehrten  Lehrers,  Herrn  Professors  Obers  teiner  angeregt, 
ging  ich  daran,  mich  mit  der  anatomischen  Seite  dieser  Frage  zu 
beschäftigen,  was  mir  umsomehr  ermöglicht  wurde,  als  mir  der- 
selbe in  dankenswerther  Weise  passende  Eatzengehime  zur  Ver- 
fügung stellte. 

Von  der  Erfahrung  ausgehend,  dass  die  Fasern  des  hinteren 
Längsbündels,  gleich  den  Wurzelfasem  der  Gehimnerven,  schon 
in  einer  früheren  Lebensperiode  dieser  Thiere  und  früher  als 
andere  Nervenfasern  im  Gehirne  markhaltig  werden,  glaubte 
ich  in  einer  solchen  Zeit  am  besten  die  Verhältnisse  vorfinden 
zu  können,  die  zur  Lösung  der  bewussten  Frage  beizutragen  ge- 
eignet wären. 

Nicht  gleichgiltig  schien  mir  auch  die  Schnittrichtung;  ich 
verwendete  nach  dem  Muster  der  beiden  französischen  Forscher 
sogen.  Basalschnitte,  Schnitte,  die  parallel  dem  Boden  des  IV.  Ven- 
trikels verlaufen  sollten,  wodurch  es  möglich  war,  bei  gelungener 
Schnittrichtung  eine  möglichst  lange  Strecke  des  hinteren  Längs- 
bündels auf  einem  Schnitte  zu  verfolgen. 

In  dieser  Weise  verarbeitete  ich  das  Gehirn  einer  8tägigen 
und  das  einer  18tägigen  Katze  und  suchte  die  hier  gefundenen 
Verhältnisse  mit  den  Frontalschnitten,  die  mir  von  erwachsenen 
Thieren  bekannt  sind,  zu  vereinigen. 

Als  ein  gewiss  nicht  zu  unterschätzendes  Hilfsmittel  der 
Untersuchung  verwendete  ich  die  mit  Carminfärbung  combinirte 
Markfaserfärbung.  Die  Entfärbung  der  mit  der  Weigert'schen 
Lösung  gefärbten  Schnitte  erfolgte  nach  der  von  Päl  in  Wien 
in  jüngster  Zeit  angegebenen  Methode,  die  für  die  zwischen 
Gollodiumschichten  eingebetteten  Schnittserien  sehr  gut  verwend- 


<)  SitzimgsprotokoU  der  k.  k.  GeseUschaft  der  A^rste  in  Wien.  1880,  Nr.  33- 

(S) 


üeb.  d.  wechselsei t.  Bezieh,  zwischen  d.  central.  Ursprnngsgebieten  etc.     489 

bar  ist  und  den  Yortheil  hat,  dass,  da  der  Grand  bei  ihr  ganz 
weiss  wird,  die  spätere  Färbung  mit  Carmin  (resp.  Pikrocarmin) 
vollkommen  gelingt.  Man  erhält  bei  dieser  Behandlung  Bilder,  die 
an  Klarheit,  aber  auch  an  Schönheit  fast  nichts  zu  wünschen  übrig 
lassen.  Die  untersuchten  Gehirne  wurden  in  vollkommen  lücken- 
lose Serien  vom  Ventrikelboden  bis  zur  ventralen  Ponsfläche 
zerlegt. 

Indem  ich  auf  den  eigentlichen  Inhalt  der  mich  hier  interes- 
sirenden  Frage  tibergehe,  werde  ich  aus  der  fortlaufenden  Serie 
der  Schnitte  nur  jene  hervorheben,  die  mir  flir  die  Darstellung 
der  Verhältnisse,  welche  den  Zweck  meiner  Untersuchung  bildeten, 
von  Bedeutung  scheinen. 

Wenn  man  dorsal,  vom  Ventrikelboden  her,  beginnt,  so  be- 
kommt man,  sobald  der  letzte  Rest  jener  gebogenen  Fasern 
des  Facialis ,  die  sein  Knie  bilden ,  verschwunden  ist ,  einige 
Schnitte,  auf  denen  der  Kern  des  Abducens  in  seiner  grössten 
Ausdehnung  vorhanden  ist  und  in  seinem  Gebiete  auch  schon  die 
Querschnitte  markhältiger  Wurzelfasem  enthält.  An  seiner  medialen 
Seite  zieht  das  aus  ziemlich  dicht  neben  einander  liegenden 
Längsfasern  bestehende  hintere  Längsbündel  vorbei,  das  auf  diesen 
Schnitten  nur  bis  zum  Kemgebiete  des  Oculomotorius  sichtbar 
ist.  Aus  der  vorderen  Begrenzung  des  Abducenskemes  sieht  man 
nun  einzelne  Faserbündel  herausziehen,  die  eine  kurze  Strecke 
parallel  dem  hinteren  Läugsbündel  verlaufen ,  dann  ,  indem  sie 
sich  demselben  in  einem  flachen  Bogen  nähern  und  seinem  lateralen 
Rande  anschliessen,  sich  in  dessen  Fasercomplex  verlieren.  Auf 
allen  Schnitten,  auf  denen  diese  aus  dem  Abducenskeme  aus- 
tretenden Fasern  zu  verfolgen  sind,  bilden  sie  nur  einzelne  diffuse 
Bündel  und  nirgends  ein  so  compactes  und  breites  Faserband, 
wie  Duval  und  Laborde  es  vom  Affen  beschreiben  und 
zeichnen. 

Auf  mehr  ventralen  Schnitten  sieht  man  im  Kerngebiete  des 
Oculomotorius  eine  Kreuzung  feiner  Fasern.  Diese  entstehen  in 
den  Kernen  jeder  Seite  und  ziehen  zur  Raphe,  durch  welche  sie, 
wie  ich  wohl  annehmen  kann  (ohne  dass  es  mir  gelungen  wäre 
eine  einzelne  Fasern  auf  ihrem  ganzen  Verlaufe  zu  verfolgen) 
zum  Kerne  der  anderen  Seite  gelangen. 

(8) 


490  NnBsbamn. 

Sie  scheinen  also  sozusagen  eine  Commissor  zwischen  beiden 
Kernen  zu  bilden. 

Dass  eine  solche  sich  hier  finden  würde ,  konnte  nach  den 
physiologischen  Erfahrungen  als  selbstverständlich  erscheinen; 
auffallend  war  mir  blos,  dass  eine  solche  Verbindung  nur  zwischen 
einem  Theile  des  Oculomotoriuskemes  zu  sehen  war,  und  zwar 
ungefähr  der  spinalen  Hälfte  entsprechend. 

Spinal  wärts  und  etwas  dorsal wärts  vom  Oculomotorinskeme, 
von  diesem  selbst  nicht  scharf,  nach  allen  anderen  Seiten 
aber  deutlich  abgegrenzt,  liegt  der  Trochleariskem.  Von  seinem 
medialen  Bande  sowohl,  als  von  seinem  lateralen  treten  Fasern 
:aus,  die  daselbst  entstehen.  Die  ersteren,  die  ihre  Richtung 
direct  gegen  die  Raphe  nehmen,  dürften  den  früher  erwähnten 
Commissurenfasem  des  Oculomotorinsgebietes  homolog  sein,  die 
letzteren  ziehen  nach  aussen  und  spinalwärts ;  sie  sind  die  Wurzel- 
fasern  und  man  kann  sie  an  anderen  Schnitten  bis  zu  der  dorsal 
gelegenen  Kreuzung  verfolgen.  Diesen  kann  man,  sobald  sie  den 
Kern  verlassen  haben,  von  keiner  Seite  sich  weitere  Fasern  bei- 
gesellen sehen. 

An  noch  weiter  ventral  gelegenen  Schnitten,  in  dem  Niveau, 
in  welchem  bei  der  IStägigen  Katze  die  Bindearmkreuzung  bereits 
deutlich  sichtbar  wird,  bemerkt  man  eine  kurze  Strecke  proximal- 
wärts von  dieser  eine  ziemlich  dichte  und  breite  Kreuzung,  in 
welche  parallel  mit  der  Raphe  verlaufende  Längsfasem  von  hinten 
her  eintreten.  Vor  der  Kreuzung  proximalwärts  weiter  ziehend) 
sieht  man  beiderseits  das  hintere  Längsbündel,  das,  vom  Oculo- 
motoriuskeme  in  die  Tiefe  gedrückt,  hier  erst  in  diesem  Niveau 
wieder  sichtbar  wird,  und  das  in  einem  Theile  von  ziemlich 
dicken  Bündeln  quer  getroffener  Nervenfasern,  den  Wurzelfasem 
des  Oculomotorius ,  durchzogen  ist.  Da  diese  Kreuzung  bei  der 
durch  eine  wohlgelungene  Serienmethode  gewonnenen  lückenlosen 
Schnittreihe  die  einzige  ist,  die  in  dieser  Gegend  von  Längsfasem 
gebildet  wird,  so  glaube  ich,  auf  dieselbe  näher  eingehen  zu  sollen. 

Es  handelt  sich  hier  um  die  Fragen,  welche  Fasern  es  sind, 
die  nach  vorne  ziehend  in  die  Kreuzung  eintreten,  und  wohin 
die  Fasern  nach  stattgefundener  Kreuzung  proximalwärts  weiter- 
verlaufen. 

(4) 


Ueb.  d.  wechselseit.  Bezieh,  zwischen  d.  central,  ürsprong^gebieten  etc.     49  t 

In  ersterer  BeziehuDg  glaube  ich  sicher  behaupten  zu  können, 
dass  ein  grosser  Theil  der  die  Kreuzung  formirenden  Fasern  aus 
den  ventral  vom  hinteren  Längsbiindel  gelegenen  Längsfasern 
der  Haube  im  engeren  Sinne  gebildet  werde.  Um  das  eigent- 
liche hintere  Längsbtindel  kann  es  sich  hier  nicht  handeln.  Die 
Fasern  liegen  hier  schon  zu  weit  ventral,  sie  durchflechten  den 
quer  auf  die  andere  Seite  ziehenden  Bindearm,  werden  von  dem- 
selben zum  Theile  überkreuzt  und  bilden  endlich  nicht  einen  so 
compacten  Faserzug  wie  das  hintere  Längsbündel,  sondern  man 
sieht  nur  mehr  diffase  und  weiter  lateral  ausgebreitete  Längsfasem 
in  die  Kreuzung  eintreten.  Dass  auch  einzelne  Fasern  des  hinteren 
Längsbündels  an  dieser  Kreuzung  theilnehmen  können,  lässt  sich 
allerdings  nicht  leugnen.  Wir  wissen  von  Frontalschnitten  her, 
dass  in  der  Gegend  des  Oculomotorius  im  hinteren  Längsbündel 
viele  schief  nach  ab-  und  einwärts  ziehende  Fasern  sichtbar  sind 
und  dass,  wenn,  was  ziemlich  sicher  erwiesen  ist,  eine  Kreuzung 
derselben  in  der  Raphe  stattfindet,  diese  ventraler  als  die  Fasern 
des  hinteren  Längsbündels  liegen  muss,  so  dass  man  an  Basal- 
schnitten  ein  Eintreten  derselben  in  die  Kreuzung  nicht  verfolgen 
kann.  Die  obersten  Bündel  dieser  Kreuzung  könnten  daher  immer- 
hin dem  hinteren  Längsbündel  ihren  Ursprung  verdanken. 

Nach  erfolgter  Kreuzung  ziehen  die  Fasern,  eine  ziemliche 
Breite  von  vom  nach  hinten  einnehmend  und  sich  lateralwärts 
stärker  auflösend,  nach  aussen  und  durchflechten  das  hintere 
Längsbündel,  indem  ein  Theil  in  der  Gegend  zwischen  den  Quer- 
schnitten der  Oculomotoriusbündel  hindurchzieht,  ein  Theil  aber 
weiter  cerebralwärts,  ein  anderer  endlich  mehr  spinalwärts  verläuft. 

Vom  lateralen  Bande  des  hinteren  Längsbündels  nehmen  die 
Fasern  einen  getheilten  Verlauf.  Ein  Theil  derselben  biegt  in 
einem  Bogen  nach  vorne,  dorsalwärts  und  innen  um,  nimmt,  was 
man  an  etwas  schiefen  Schnitten  deutlich  sehen  kann,  in  seinem 
weiteren  Zuge,  an  der  lateralen  Seite  der  absteigenden  Trigemi- 
nuswurzel  angelangt,  einen  dieser  parallelen  Verlauf  und  scheint 
zwischen  ihr  und  der  von  der  Seite  konunenden  Schleife  in  das 
tiefliegende  Mark  der  Vierhügel  einzustrahlen. 

Diese  Fasern  scheinen  mir  jenen  zu  entsprechen,    die  von 
Meynert  Quintus stränge  genannt  wurden  und  von  denen  W er- 
es) 


1 


492  NuBsbaain. 

nicke  für  den  Menschen  angibt,  dass  sie  durch  AasBtrahlnng 
ans  dem  tiefliegenden  Marke  der  Vierhügel  entstehen,  sich  am 
Rande  des  hinteren  Längsbündels  wieder  sammeln  und  nach 
Durchflechtung  dieses,  sich  in  der  Raphe  mit  den  identischen  der 
anderen  Seite  kreuzen,  von  wo  man  sie  nicht  mehr  weiter 
verfolgen  könne.  Nach  dem  oben  Auseinandergesetzten  finden 
manche  von  ihnen  ihre  spinale  Fortsetzung  in  den  Längsbündeln 
der  Haube. 

Ein  anderer  Theil  der  aus  der  Kreuzung  austretenden  Fasern 
nimmt  seinen  Verlauf  gegen  die  seitliche  Bcgi'enzung  des  vorderen 
Vierhtigelpaares.  Während  von  diesen  die  Mehrzahl  direct  dahin 
zieht,  benützen  andere  ebenfalls  zuerst  die  Bahn  der  früher  be- 
schriebenen, mit  der  absteigenden  Trigeminuswurzel  parallelen 
Fasern,  um  erst  später  lateralwärts  umzubiegen,  so  dass  es  mir 
bei  der  ersten  Betrachtung  dieser  Präparate  fast  schien,  als  ob 
Fasern  der  absteigenden  Quiutuswurzel ,  die  auf  den  schieferen 
Schnitten  in  langem  Zuge  verfolgt  werden  kann,  in  diese  Bahn 
einlenken  würden. 

Ob  ein  Theil  der  zwischen  den  Oculoraotoriuswurzeln  durch- 
ziehenden Fasern  sich  diesen  anschliesst,  was  zu  entscheiden  für 
die  uns  beschäftigende  Frage  besonders  wichtig  wäre,  lässt  sich 
aber  aus  den  Basalschnitten  nicht  beurtheilen. 

Eine  etwaige  Schätzung  der  Zahl  der  in  dieses  Gebiet 
eintretenden  und  dasselbe  verlassenden  Faserbündel  hätte  bei  der 
lateralen  Entbündelung  derselben  nur  problematischen  Werth. 

Wenn  man  den  Ort  und  die  Art  der  Kreuzung  noch  einmal 
in's  Auge  fasst,  so  erinnert  sie  deutlich  an  eine  Kreuzung,  die 
an  Frontalschnitten  von  Menschen-  und  besonders  von  Thier- 
gehirnen  sehr  deutlich  ist,  nämlich  an  die  sogenannte  vordere 
Haubenkreuzung,  mit  der  sie  zum  grössten  Theile  identisch 
sein  dürfte. 

Von  einer  Aehnlichkeit  der  hier  gesehenen  Kreuzung  mit 
den  Faserkreuzungen  beimAflfen,  auf  dieDuval  und  Labor  de 
ihre  Behauptungen  stützen,  kann  keine  Rede  sein.  Nach  der  Be- 
schreibung und  den  Zeichnungen,  die  diese  Autoren  geben,  müsste 
man  annehmen,  dass  aus  der  Masse  des  zu  beiden  Seiten  der 
Raphe  verlaufenden   hinteren  Längsbündels   sich  von  der  Innen- 


üeb.  d.  wechselseit.  Bezieh,  zwischen  d.  central,  ürspnmgsgebieten  etc.     493 

Seite  desselben  2  Paare  von  NeiTenbündeln  loslösen,  von  denen 
das  eine  eine  Kreuzung  in  der  Trochlearis-  das  andere  in  der 
Ocnlomotorinsgegend  bildet.  Die  Kreuzung  aber,  die  ich  yon  den 
Gehimschnitten  dieser  jungen  Katzen  beschrieben  habe,  ist  breiter, 
besteht  hingegen  nicht  aus  so  compacten  Bündeln,  liegt  nicht  im 
Niveau  des  hinteren  Längsbündels  und  erfolgt  auch  nicht  unter  so 
spitzem  Winkel,  wie  sie  es  zeichnen. 

Andere  Kreuzungen  habe  ich  in  den  entsprechenden  Gebieten 
nicht  sehen  können.  Ebenso  wenig  konnte  ich  an  frontalen  und 
basalen  Schnittserien  aus  dem  Gehirne  des  Afifen  (Cercopithecus) 
die  Verhältnisse  ganz  so  wieder  finden,  wie  sie  von  den  genannten 
Autoren  abgebildet  wurden. 

Wenn  ich  noch  auf  die  Schlusssätze  der  Eingangs  erwähnten 
Arbeit  zurückkomme,  glaube  ich  Folgendes  behaupten  zu  können : 

I.  Der  Abducenskern  jeder  Seite  entsendet  deutlich  einzelne 
diffuse  Faserbündel,  die  sich  dem  hinteren  Längsbündel  zagesellen. 

n.  Wenn  aueh  die  Möglichkeit  zugegeben  werden  muss, 
dass  das  hintere  Längsbündel  mit  dem  in  dasselbe  eingebetteten 
Kerne  oder  den  Wurzelfasem  des  Trochlearis  Verbindungen  ein- 
geht, so  haben  sich  aus  den  Präparaten  gar  keine  Anhaltspunkte 
ergeben,  die  auf  eine  gekreuzte  Verbindung  des  hinteren 
Längsbündels  mitdenWurzel  fasern  dieses  Nerven  schliessen 
lassen. 

ni.  Für  den  Oculomotorius  (Kern  oder  Wurzelfasern)  lässt 
sich  eine  gekreuzte  Verbindung  mit  Längsfasem  aus  dem  Hanben- 
gebiete und  damit  eventuell  mit  dem  Abducenskeme  der  anderen 
Seite  nicht  ausschliessen. 


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(7) 


Wiener  medii  in.  J^rbnchfT,  Jährten  i  18KJ 


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Verlag  ton  Airrtd-Hiilder  h.Ucf-ullniKratats-BuchliaiidletinVil 


ernicdiiüi.JiUu'bucher.Jabr^ang  1881. 


Hi>tar«tiiis»r  Sttttnt  Muikthimältt-  jt  Wir.  f.  in 

Ve;liq  vün  Alfred  Holder  k  k  (isf-u  UnMrntJi^Btichhsntei»*! 


nencTnt«diiüi.Jjhrtiüi)ier,Jahr{a[iJ  1887. 


lll>NnNitiir:  SelMne  MnikBinrieliM  üt  UiI>IIit|Qi1Iiii 

fcrieg  IQ«  Airred  Holder  kh  Höh  Iliih(rsit9b-«udiluidlefi*«ieii. 


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Hintir«tQiuit:  Seltent  KustelfanclilM  iiit  Uui<  'i^io 

feiliigion  Alfred  Holder  k  kl1ri[.i,ljni«Ersit3lvBuchh3n[llerinVi«ti 


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XX. 

Zur  Frage  der  Rachitis  der  Neugeborenen. 

Von 

Dr.  Felix  Schwarz^ 

em.  Operateur  der  Kliniken  der  Herren  Hofräthe  Billroth  nnd  Breisky. 

(Von  der  Redaction  am  7.  Juni  1887  übernommen.) 

(Hierzu  Tafel  XXIV  und  XXV.) 


Die  Rachitis  gehört  zu  jenen  Krankheiten,  die  schon  vor 
Jabrhnnderten  durch  ihre,  selbst  dem  Laien  auffallenden  Folge- 
erscheinungen das  Interesse  der  Forscher  in  hohem  Grade  in 
Anspruch  nahm.  Erst  aus  dem  16.  Jahrhunderte  stammen  jedoch 
die  ersten  genaueren  Beschreibungen  des  Processes,  deren  Autor 
der  Baseler  Arzt  Reusner  im  Jahre  1582  war.  Ihm  folgte  im 
Jahre  1593  Samuel  Formius  mit  seiner  „Pathologie  und  Therapie 
der  Genua  vara".  Doch  erst  im  Jahre  1650,  nachdem  die 
epochemachende  Monographie  von  Glisson,  der  auch  der 
Krankheit  den  noch  jetzt  gebräuchlichen  Namen  gab ,  erschienen 
war,  wurde  allerorten  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  auf  das  so 
häufige  Knochenleiden  gelenkt  und  eine  ungeheuere  Literatur  ist 
bis  zum  heutigen  Tage  über  dieses  Thema  angewachsen.  Und 
doch  können  wir  im  Grossen  und  Ganzen  nur  awei  weitere  Haupt- 
etapen constatiren:  Publicationen ,  die  jedesmal  der  Pathologie 
der  Rachitis  einen  ganz  neuen  Standpunkt  eroberten,  und  die 
Beobachtungen  des  rachitischen  Krankheitsprocesses  auf  ein  bis 
dahin  völlig  ungekanntes  Terrain  leiteten. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  39        (l) 


496  Schwan. 

Das  bekannte  Werk  von  Elsässer:  „lieber  den  weichen 
Hinterkopf",  das  im  Jahre  1843  erschienen  und  in  jüngster  Zeit 
die  classischen  Publicationen  von  Kassowitz. 

Trotz  des  nngeheaer  reichen  Materials,  trotz  der  so  viel- 
fachen und  ausgezeichneten  Beobachtungen  existiren  noch  viele 
streitige  Punkte  in  der  Pathologie  der  Rachitis. 

Eine  der  interessantesten  und  vielleicht  auch  actuell  wich- 
tigsten Streitfragen  ist  die  über  den  Beginn  der  Rachitis; 
wichtig  wohl  deshalb,  weil  der  Arzt,  wenn  er  einmal  zur  richtigen 
Erkenntniss  des  wahren  Sachverhaltes  gelangt,  im  Stande  sein 
wird,  auf  dem  Wege  der  Prophylaxe,  sowie  durch  ein  rechtzeitiges 
therapeutisches  Eingreifen  so  manches  Oute  zu  leisten,  so  manche 
Opfer  der  Rachitis  zu  entreissen  und  einer  schädlichen,  hoch- 
gradigen Entwicklung  derselben  vorzubeugen.  Dies  ist  auch  der 
Orund,  warum  Schreiber  dieser  Zeilen  ein  kleines  Scherflein  zur 
Aufhellung  und  Sicherstellung  der  Frage  über  den  Beginn  der 
Rachitis  beizutragen  bemüht  ist. 

Die  meisten  Autoren  verlegen  den  Beginn  der  Erkrankung 
in  das  erste  Lebensjahr,  und  zwar  in  Orenzen,  die  vom  ersten 
Trimester  bis  zum  vollendeten  ersten  Lebensjahre  sich  erstrecken. 

Und  doch  hat  schon  Storch,  im  Jahre  1750,  auf  Orund 
seiner  Beobachtungen  auf  das  Bestimmteste  behauptet ,  dass  die 
Kinder  die  Anfänge  der  Krankheit  mit  aus  dem  Mutterleibe 
bringen. 

Ritter^)  fand  bei  seinem  Materiale  eine  so  riesige  Anzahl 
von  Rachitikem  im  Alter  von  2 — 12  Lebenswochen,  dass  er 
unwillkürlich  zu  dem  Schlüsse  gedrängt  wird,  dass  so  junge 
Individuen  entweder  die  Krankheit  selbst  oder  wenigstens  eine 
sehr  entwickelte  Anlage  zu  derselben  mit  auf  die  Welt  gebracht 
haben  dürften.  Er  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  Rachitis 
in  den  poliklinischen  Journalen  deshalb  wohl  in  so  geringer 
relativer  Häufigkeit,  im  Verhältnisse  zu  ihrem  wirklichen 
Vorhandensein,  erscheine,  weil  einerseits  nur  die  hochgradigen 
Fälle  als  solche  geführt  würden  und  andererseits  nur  die  be- 
gleitenden öder  Folgeerscheinungen    als  die  Hauptleiden  einge- 


0  Path.  n.  Therapie  d.  B.  1863. 


Znr  Frage  der  RacMtis  der  Neugeborenen.  497 

tragen  werden  und  „häufig  genug  mag  sie  der  Aufmerksamkeit 
der  Aerzte  ganz  entgehen*^. 

„Die  meisten  statistischen  Uebersichten  aber,  sagt  Kitt  er, 
haben  den  gemeinsamen  Fehler,  dass  sie  eigentlich  nur  lehren, 
in  welcher  Lebenszeit  der  Arzt  den  rachitischen  Kranken  zu 
Gesichte  bekommen  hat,  aber  nicht  in  welchem  Alter  sich  die 
Krankheit  zuerst  gezeigt  hat.^ 

Nach  seinen  Untersuchungen  beträgt  die  Summe  der  im 
1.  Lebensjahre  stehenden  Rachitiker  51-57o  ^on  der  Gesammt- 
summe  der  an  dieser  Krankheit  leidenden  Kinder. 

Und  dabei  fällt  fast  ein  Drittel  der  schon  deutlich  ent- 
wickelten rachitischen  Erkrankungen  des  ersten  Lebensjahres  in 
das  erste  Halbjahr. 

Er  glaubt  annehmen  zu  dürfen,  dass  die  Anfange  der 
Rachitis  in  einen  der  Geburt  viel  näheren  Zeitabschnitt  verlegt 
werden  müssen,  als  es  die  Schriftsteller  bis  zu  seiner  Zeit  ange- 
nommen hatten,  ja  durch  Speculation  gelangt  auch  er  zu  der 
Anschauung,  dass  die  Entstehung  der  Rachitis  in  den  Entwicklungs- 
verhältnissen der  Frucht  und  des  Neugeborenen  vorbereitet  sein 
können,  dass  sie  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  vorbereitet  sein 
müssen. 

Wie  wir  jedoch  aus  der  Literatur  ersehen,  blieben  Storch, 
der  schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  diese  Ansicht  aus- 
gesprochen, und  Ritter  ziemlich  vereinzelt;  man  half  sich 
damit,  dass  man  die  Formen  der  Rachitis  foetalis  und  der  Rachitis 
congenitalis ,  deren  Auftreten  aber  als  ein  ungleich  selteneres 
angesehen  wurde  und  die,  nach  den  Untersuchungen  von  K  a  s  s  o- 
witz,  zum  Theil  mit  dem  wirklichen  rachitischen  Processe  gar 
nicht  identisch  sein  dürften,  aufstellte. 

Erst  Ka SSO  witz^)  war  es,  der  auf  Grund  von  zahlreichen 
pathologisch-histologischen  Beftmden  den  unwiderleglichen  Beweis 
von  der  Richtigkeit  der  Ritter'schen,  auf  speculativem  Wege 
gewonnenen  Theorie  erbrachte. 

Kassowitz  hat  die  Leichen  von  92  Individuen  auf  das 
Vorhandensein  der  Rachitis  untersucht.  Unter  36  Frühgeburten 


^)  Pathogenese  der  Kachitis.  1884. 

39  *      W 


498  Schwarz. 

zeigten  vier  einen  normalen  oder  fast  normalen  Befand,  bei  10 
der  nntersuchten  Leichen  fanden  sich  aasgeprägte  rachitische 
Erscheinungen ,  22mal  musste  ein  weit  vorgeschrittener  rachiti- 
scher Process  angenommen  werden. 

Unter  29  Todtgebarten  fanden  sich  nar  3  normale 
Kinder,  14  zeigten  eine  massige  and  12  intensive  Affectionen. 

Bei  20  Kindern  aas  dem  1 — 3  Lebensmonate  waren  2 
normal,  10  intensiv  and  8  sehr  hochgradig  erkrankt. 

Kassowitz  schliesst  mit  vollem  Rechte  daraas,  dass  der 
Beginn  der  Rachitis  angemein  häafig  in  die  intraaterine  Periode 
falle.  „Aber  noch  immer  ist  es, ^  wie  Kassowitz  sich  aasdrückt, 
„nicht  allgemein  genag  anerkannt,  dass  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  die  Rachitis  in  einer  sehr  frühen  Periode 
der  Entwicklang  beginnt,  insbesondere  halten  die  meisten  Aatoren 
die  congenitale  Rachitis  noch  irrthümlicherweise  für  ein  seltenes 
Vorkommniss.** 

Congenitale  Rachitis  müssen  wir  aber  jene  Erkrankung  nennen, 
bei  welcher  schon  zur  Zeit  der  Geburt  sich  die  entwickelten,  bekann- 
ten makroskopischen  und  insbesondere  auch  die  mikroskopischen 
Zeichen  der  gewöhnlichen  rachitischen  Affection  vorfinden. 

Der  normale  Befund  gehört  aber  nach  den,  von  diesem  Autor 
an  dem  Materiale  des  Wiener  Gebär-  und  Findelhauses  ange- 
stellten Untersuchungen  positiv  zu  den  Ausnahmen. 

Als  entschiedener  und  eifrigster  Anwalt  der  Kassowitz- 
schen  Theorie  ist  bisher  nur  Unruh i)  aufgetreten,  der  aus  den 
Beobachtungen  der  Kinder,  unmittelbar  nach  der  Geburt,  bis  zur 
Vollendung  des  Alters,  in  dem  für  gewöhnlich  nach  den  bis  jetzt 
üblichen  Anschauungen  keine  Rachitis  mehr  auftrete,  die  Ueber- 
zeugung  geschöpft,  dass  die  Rachitis  stets  als  eine  con- 
genitale anzusehen  sei  und  proponirt  in  Folge  dessen  auch, 
die  Unterscheidung  der  Rachitis  in  eine  fötale,  congenitale  und 
acquirirte  fallen  zu  lassen. 

Nach  seiner  Anschauung  könne  sich  die  Rachitis  nur  auf 
Grund  einer  bereits  pathologischen  Veranlagung  des  kindlichen 
Gewebes,  die  mit  auf  die  Welt  gebracht  werde,  entwickeln. 


')  Wiener  Med.  Blätter.  Nr.  31,  32,  33. 
(4) 


Zur  Frage  der  Bachitis  der  Nengeborenen.  499 

Weder  Eassowitz,  noch  Unruh  waren  aas  Mangel  an 
Material  in  der  Lage,  ihre  Anschauungen  durch  eine  grössere 
Beobachtungsreihe  an  neugeborenen  Kindern  zu  erhärten  und 
schon  Ritter  war  der  Meinung,  dass  diese  Frage  nur  von  den 
Aerzten  der  Gebär-,  respective  Findelhäuser  gelöst  werden  könne. 
Nachdem,  so  weit  ich  in  der  Lage  war,  die  Literatur  zu  be- 
herrschen, bis  jetzt  von  dieser  Seite  her  noch  keine  Publicationen 
vorliegen,  habe  ich  mit  der  gütigen  Erlaubniss  meines  hochverehrten 
Lehrers  mich  daran  gemacht,  alle  in  den  Monaten  December  1886 
bis  März  1887  auf  der  11.  Wiener  Oebärklinik  geborenen  Kinder, 
einige  Stunden  nach  der  Geburt,  auf  die  manifesten  Erscheinungen 
der  Rachitis  hin,  wie  des  Weiteren  unten  ausgeführt  werden  soll, 
zu  untersuchen. 

Die  Zahl  der  untersuchten  Kinder  beträgt  500. 

In  meinem  Protokolle  habe  ich  das  Alter  der  Mutter,  die 
Anzahl  der  von  ihr  geborenen  Kinder,  das  Schwangerschaftsmonat, 
in  dem  das  Kind  geboren  (ob  Reif-  oder  Frühgeburt),  Geschlecht 
und  Gewicht  der  Kinder  notirt. 

In  gewissen  noch  näher  zu  besprechenden  Fällen:  die  Be- 
schäftigung und  eventuell  auffallende  Symptome,  überstandene 
Bachitis  der  Mutter  notirt,  obwohl  ich  auf  diesen  letzteren  Punkt 
etwas  weniger  Gewicht  gelegt  habe. 

Zum  Schlüsse:  die  Symptome  von  Rachitis  an  den  Neuge- 
borenen selbst. 

Bevor  ich  des  Näheren  auf  die  Besprechung  meiner  Resultate 
eingehe,  möchte  ich  mir  noch  einige  Bemerkungen  zu  dem  letzten 
Punkte  gestatten. 

In  dem  einen  Punkte  stimmen  fast  alle  Autoren  überein, 
dass  sich,  in  weitaus  der  grössten  Anzahl  der  Fälle,  die  Rachitis 
am  frühesten  am  Thorax  und  Schädel  finde,  und  zwar  an  ersterem 
Orte  am  vorderen  Rippenende  in  der  Form  der  Anschwellungen 
an  der  Grenze  zwischen  Knochen  und  Knorpel  und  als  Craniotabes 
am  Schädel. 

Schon  Glisson  macht  die  Bemerkung:  „Ertremitates  etiam 
eostarum  multo  magis  spongiosae  sunt  et  moUes  quam  ceterae 
earum  partes.'' 

(5) 


500  Schwarz. 

Virchow^)  hebt  anlässlich  der  Besprechang  der  Ver- 
änderungen an  den  Juneturen  der  Rippenknorpel  und  Knochen 
hervor,  dass  sich  die  Anschwellungen  besonders  gegen  die  Pleura 
hin  ausbilden,  so  dass  dieselben  oft  „wie  ein  Becher  über  dem 
Wulst^  angesetzt  sind. 

Ritter  erklärt,  dass  er  wohl  Fälle  von  ausgezeichneter 
Thoraxrachitis  ohne  Schädelrachitis,  nicht  aber  das  umgekehrte 
Verhältniss  beobachtet  habe. 

Er  proclamirt  die  Auftreibungen  als  die  ersten  klinisch 
wahrnehmbaren  Veränderungen  und  der  rachitische  Rosenkranz 
ist  ihm  ein  unumstösslicher  Beweis  für  das  Vorhandensein  der 
Erkrankung.  Degner')  fasst  jene  Fälle  als  beginnende  Rachitis 
auf,  die  sich  durch  eben  wahrnehmbare  Anschwellung 
der  Rippenenden  *charakterisiren.  Nach  Kassowitz 
geht  im  normalen  Zustande  die  knorpelige  Rippe  ohne  Niveau- 
Verschiedenheit  in  die  knöcherne  Rippe  über,  so  dass  man  durch 
das  Tastgefühl  gar  nicht  die  Grenze  unterscheiden  kann.  Sowie 
sich  eine  Vorwölbung  bemerkbar  mache,  findet  man  auf  dem 
Durchschnitte  ausnahmslos  die  charakteristischen  Zeichen  der 
rachitischen  Erkrankung;  eine  Annahme,  die  er  durch  mikro- 
skopische Untersuchung  bis  zur  Unumstösslichkeit  festigte. 

Der  rachitische  Process  wird,  nach  Kassowitz,  fast  in 
keinem  einzigen  Falle,  wo  überhaupt  eine  solche  Affection  des 
Skelettes  besteht,  an  den  vorderen  Rippenenden  vermisst,  so 
dass  also  die  Anschwellung  der  vorderen  Rippenenden  (der  Rosen- 
kranz) und  die  dazu  gehörigen,  mikroskopisch  nachweisbaren  Er- 
scheinungen der  Rachitis  zu  der  regelmässigsten  und  auch  frühesten 
Manifestation  derselben  gehören. 

Auch  Unruh  schliesst  sich  nach  seinen  zahlreichen  Unter- 
suchungen entschieden  der  Ansicht  an,  dass  jede,  auch  noch  so 
geringe  Anschwellung  an  den  Rippen  als  ein  charakteristisches 
Symptom  der  Rachitis  anzusehen  sei. 

Nicht  die  gleiche  Uebereinstimmung  der  Ansichten  herrscht 
in  dem  Capitel  der  Schädelrachitis.  Obzwar  seit  der  Arbeit 
Elsässer's  alle  Autoren  darüber  einig  sind,    dass   der  weiche 

»)  Virchow's  Archiv.  1853,  Bd,  5. 
')  Jahrbucli  f.  Kinderheilk.  N.  F.  Vni,  pag.  413. 
(6) 


Zur  Frage  der  Rachitis  der  Nengeborenen.  501 

Hinterkopf  und  seine  Folgen  als  directes  nnd  absolut  sicheres 
Symptom  der  Rachitis  anzusehen  sei,  sind  doch  die  Meinungen 
der  Autoren  in  Betreff  der  Craniotabes  im  weiterem  Sinne,  der 
Ossificationsdefecte  im  Bereiche  des  knöchernen  Schädels  noch 
immer  getheilt,  wenn  auch  die  Gegner  der  Anschauung,  dass 
dieses  Symptom  als  ein  der  Rachitis  eigenthiimliches  anzusehen 
sei,  sich  in  der  entschiedenen  Minorität  befinden. 

Elsässer  war  der  Erste,  der  im  Jahre  1843  auf  die  am 
Schädel  häufig  sich  findenden  Stellen  aufmerksam  machte,  welche 
dem  auf  sie  drückenden  Finger  keinen  oder  höchstens  den 
Widerstand  eines  Eartenblattes  bieten,  oder  doch  bei  einem  nur 
geringen  Drucke  sich  als  nachgiebig  zeigten,  sich  aber  bei 
Nachlass  des  Druckes  sogleich  wieder  ausglichen.  Elsässer 
fand  diese  Erscheinung  meist  im  zartesten  Alter,  bald  nach  der 
Geburt  und  wie  er  ausdrücklich  hervorhebt  an  solchen  Kindern, 
welche  schon  entweder  gleich  oder  im  weiteren  Ver- 
laufe der  Krankheit  noch  andere  Spuren  der  Er- 
krankung an  ihrem  Skelette  erkennen  liessen.  Er  hält 
dieselbe  für  die  früheste  Manifestation  der  rachitischen  Ver- 
änderungen am  Skelette  überhaupt,  ja  für  eine  acute,  dieser 
Periode  der  Krankheit  eigenthümliche  Rachitis.  Zehn  Jahre  später 
erkannte  auch  Virchow  diese  membranösen  Stellen  als  ein  für 
die  Rachitis  charakteristisches  Symptom  an  und  erklärt  dieselbe 
anatomisch  als  eine  Absorption  der  Knochen  in  ihrer  ganzen  Dicke, 
wobei  die  äussere  Auflagerung  nicht  gleichen  Schritt  mit  der  von 
innen  her  erfolgenden  Absorption  halte,  und  je  stärker  dabei  ein 
von  innen  wirkender  Druck  concurrire,  desto  früher  sollen  diese 
membranösen  Lücken  entstehen. 

Friedleben  und  nach  ihm  Ritter  traten  als  Gegner  dieser 
Anschauungen  auf,  indem  Ersterer  diese  Ossificationsdefecte  als 
physiologisch  erklärte  und  sie  nur  da  als  pathologische  Erscheinung 
gelten  Hess,  wo  noch  andere  Symptome  der  Rachitis  (namentlich 
am  Thorax)  zugegen  seien,  und  vielleicht  auch  da,  wo  die  Ver- 
dünnung   besonders  umfangreich  und  hochgradig  sich    darstellte. 

Ebenso  gezwungen  ist  die  Theorie  Ritter's,  der  aber  mit 
noch  grösserer  Leichtigkeit  durch  seine  eigenen  Anschauungen 
zu  widerlegen  ist. 

(7) 


502  SchwarE. 

Ritter  gibt  nämlich  den  rachitischen  Charakter  der 
Craniotabes  in  dem  weitesten  Sinne,  von  dem  wir  sprechen,  für 
die  späteren  Lebensperioden  zu,  gibt  aber  irgend  einen  meri- 
torischen  Unterschied  zwischen  der  seiner  Ansicht  nach  physio« 
logischen  und  der  für  spätere  Zeiten,  von  ihm  selbst  als  solche 
anerkannten  pathologischen  Verhältnisse  nicht  an,  so  dass  man 
sie  trotz  alldem  für  vollständig  identisch  halten  muss. 

In  klarster  Weise  nnd  an  der  Hand  der  Ritter'schen 
Argumente  hat  schon  Degner  im  Jahre  1874^)  die  Unhaltbar- 
keit  der  Bitte  raschen  Anschauungen  plausibel  gemacht. 

Degner  selbst  schätzt  nach  seinen  Untersuchungen  das 
Yerhältniss  der  Schädelrachitis  zum  Auftreten  der  Rachitis  über- 
haupt  auf  50%  • 

Auf  Grund  seiner  langjährigen  Erfahrungen  äussert  sich 
Pollitzer*)  über  die,  unter  der  physiologischen  Grenze  zurück- 
gebliebene, Ossification  am  Schädel  dahin,  dass  dies  ein  für  den 
Beginn  der  Rachitis  massgebendes  Symptom  sei,  dessen  Vor- 
handensein man  durch  die  Palpation  in  wenigen  Secunden  fest- 
stellen könne,  dessen  Uebersehen  einen  schweren  Fehler  des 
Arztes  involvire,  da  die  Rachitis  eine  jener  Krankheiten  sei, 
die,  bei  ihrem  Entstehen  erkannt,  leicht  zu  heilen  sei,  zu  spät 
aber  in  Angriff  genommen,  der  ganzen  weiteren  Entwicklung  und 
Constitution  ein  krankhaftes  Gepräge  aufdrücke. 

Pollitzer  schlägt  vor,  auf  das  Minutiöseste  die  sämmtlichen 
Fontanellen,  die  Pfeil-  und  Lambdanaht,  die  Scheitelbeine  in 
ihrer  Gontinuität  durch  Druck  auf  den  Grad  ihrer  Härte  und 
Nachgiebigkeit  zu  prüfen. 

Als  Kronzeugen  müssen  wir  an  dieser  Stelle  wieder  Kassowitz 
anführen,  der  auf  Grnnd  seiner  mikroskopischen  Untersuchungen 
die  deutlichsten  Zeichen  der  yermehii;en  Einschmelzung  der  ver- 
kalkten Textur  und  die  Neubildung  von  kalklosem  Knochen- 
gewebe erwiesen  hat,  und  der  es  in  keiner  Weise  gerechtfertigt 
hält,  diese  weitgehenden  Veränderungen  als  physiologische  Er- 
scheinungen aufzufassen.  Derselbe  Autor  erklärt  auch,  dass  man 
bei  jeder  nur  halbwegs  ausgebildeten  Schädelrachitis  die  Sagittal- 

')  1.  c. 

»)  Jahrbuch  f.  Kinderheilk.  XXI,  pag.  38,  884. 

<8) 


Zar  Frage  der  Rachitis  der  Neugeborenen.  503 

naht  weich  nnd  nachgiebig  finde,  während  dieselben  Erscheinungen 
nur  selten  nnd  in  besonders  schweren  Fällen  an  der  Temporal* 
naht  beobachtet  werden. 

Bis  jetzt,  schliesst  Kassowitz  seine  AnsfÜhrongen ,  hat 
man  noch  nicht  die  richtige  Vorstellung  von  der  ausserordent- 
lichen Häufigkeit  der  frühzeitig  entwickelten  Rachitis. 

Geflissentlich  habe  ich  diese  beiden  Punkte,  als  wichtig  zur 
Diagnose  der  Rachitis,  etwas  ausführlicher  behandelt  und  durch 
Oewährsmänner  die  Richtigkeit  dieser  Anschauung  zu  erhärten 
versucht,  um  dem  eventuellen  Einwand  zu  begegnen,  als  sei 
ich  bei  meinen  Untersuchungen  zu  schnell  mit  der  Diagnose  der 
Rachitis  bei  der  Hand  gewesen. 

Bei  dem  Materiale  aber,  das  mir  znr  Verfligung  gestanden, 
fanden  sich  fast  ausschliesslich  die  beiden  Symptome,  die  wohl 
als  die  am  frühesten  auftretenden  und  schon  in  utero  acquirirten 
Veränderungen  anzusehen  sind,  während  ich  die  weiteren  Sym- 
ptome: die  von  Fl  ei  seh  mann  ^)  angegebenen  Abnormitäten  am 
Kiefer,  sowie  die  ferneren  sattsam  bekannten  Symptome  der 
Rachitis,  bei  den  Neugeborenen  höchst  selten  und  dann 
nur  andeutungsweise  vorgeftmden  habe,  weshalb  ich  keinen 
grossen  Beobachtungsfehler  durch  deren  Nichtberücksichtigung 
begangen  zu  haben  glaube. 

Von  den  von  Kassowitz  statuirten  vier  Graden  der  rachi- 
tischen Erkrankung  fand  ich  bei  meinem  Materiale  nur  die  unter 
die  beiden  ersten  Grade  rangirten  Erscheinungen.  Die  Schädel- 
erweichung massigen  Grades,  die  deutliche  Anschwellung  der 
vorderen  Rippenenden,  die  hochgradige  Craniotabes  und  knopf- 
fbrmige  Auftreibung  der  vorderen  Rippenenden. 

Die  Veränderungen  an  den  Diaphysenenden ,  sowie  die 
weiteren  hochgradigen  Difformitäten,  die  Kassowitz  unter  dem 
dritten  und  vierten  Grad  der  Rachitis  subsumirt,  konnte  ich  nicht 
nachweisen.  An  500  Kindern  fand  ich  41  Mal  eine  unbegrenzt 
grosse  Fontanelle,  i.  e.  in  8'2Vo?  doch  behalte  ich  mir  vor,  über 
eingehende,  nach  dieser  Richtung  hin  anzustellende  Untersuchungen 
seinerzeit  zu  berichten. 


»)  Jahrb.  f.  Kinderheilkunde.  1878.  XVI. 

(9) 


604 


Schwan. 


Der  leichteren  Uebersicht  halber  habe  ich  mein  Materiale 
in  fllnf  Kategorien  eingetheilt,  und  zwar: 

a)  AnschweUnng  der  unteren  Rippen  (daninter  verstanden: 
ab  6.  Rippe)  bis  znm  stark  nnd  deutlich  entwickelten  Rosen- 
kranz, in  Combination  mit  Veränderungen  an  den  Schädelknochen, 
und  zwar  von  der  deutlich  zu  constatirenden  Weichheit  der  Pfeil- 
nahtränder bis  zu  den,  fast  die  ganzen  Schädelknochen  sub- 
stituirenden  Ossificationsdefecten,  die  sich  dem  palpirenden  Finger 
als  membranöse,  pergamentähnliche  Partien  präsentiren.^) 

b)  Isolirte  Erkrankung  der  Rippen  allein  in  den  oben  an- 
geführten Grenzen. 

c)  Affection  der  Schädelknochen  für  sich  allein,  gleichfalls 
in  den  oben  angeführten  Grenzen. 

d)  Eben  noch  wahrnehmbare  Anschwellung  der  Rippen- 
knorpelgrenze. 

e)  Normale  Früchte. 

Je  hundert  Fälle  wurden  zusammengefasst  und  mit  C^,  Cs, 
Ca,  C4,  Cß  bezeichnet, 

lieber  das  Verhältniss  der  Rachitis  in  diesen  Fällen  gibt 
uns  nun  die  folgende  Tabelle  Nr.  1  Aufschluss: 

Tabelle  1. 


a 

b 

c, 

37 

21 

c. 

39 

28 

c. 

32 

36 

C4 

38 

36 

c, 

42 

34 

Summe 

188 

155      1 

d 


5 

10 

10 

4 

7 


7 
6 
5 
4 
2 


36 


24 


Summe 

der 

Bachitiker 

e 

70 

30 

83 

17 

83 

17 

82 

18 

i        85 

15 

403 

97 

d.  h.  im  Percentualverhältnisse : 


^)  Als  classisches  Beispiel  dieser  Art  möchte  ich  den  Fall  196  anführen, 
bei  dem  der  ganze  Schädel  bis  anf  eine  schmale ,  knöcherne ,  auf  die  beiden 
Schläfentheile  redacirte  Zone  hantig  war  nnd  in  welchem  die  Diagnose  auf  eine 
höchstgradige  Craniotabes  schon  durch  die  Untersuchung  per  vaginam  gestellt 
werden  konnte.  Das  Kind  wog  3250*0  Grm. ,  zeigte  einen  stark  entwickelten 
Bosenkranz.  Die  Mutter  war  yollkommen  gesund. 

(10) 


Zur  Frage  der  Bachitis  der  Neugeborenen. 


505 


Tabelle  2« 


e 


37*6 


31 


7-2 


4-8 


19-4 


Wir  ersehen  aus  diesen  Tabellen,  dass  die  Zahlen  der  an 
Rachitis  erkrankten  Kinder,  die  in  die  einzelnen  Rubriken:  Ci 
Ca  etc.  rangirt  sind,  in  allen  fünf  Hanptkategorien  so  ziemlich 
übereinstimmen;  ein  Symptom,  das  man  in  seiner  auffallenden 
Regelmässigkeit  wohl  nicht  leicht  als  ein  Spiel  des  Znfalles  wird 
auffassen  können. 

Die  Oesammtsumme  aller  Rachitiker  beträgt  in  Percenten 
ausgedrückt:  80'6Vo-     Die  Summe  der  normalen  Kinder  19-4Vo« 

Reihen  wir,  um  allen  Einwänden  zu  begegnen,  die  unter  der 
Kategorie  „d**  geflihrten  Kinder  noch  zu  den  normalen,  so  ergibt 
sich  dennoch  ein  Percentsatz  von  nur :  24*25%  normalen  Kindern. 

Von  67  der  Mütter,  die  normale  Kinder  geboren  haben, 
constatirte  ich  die  Berufsbeschäftigung,  um  den  eventuellen  Ein- 
fluss  derselben  auf  die  Erkrankung  der  Kinder  kennen  zu  lernen. 

Es  waren  darunter  Frauen,  die  am  Lande,  theils  direct  als 
Bauemmägde  bei  der  Feldarbeit  oder  bei  den  diversen  häus- 
lichen Verrichtungen  beschäftigt  waren  (I);  Fabriks-  und  Hand- 
arbeiterinnen (ü) ;  Dienstmädchen  aus  Wien  (III) ;  ohne  Beschäfti- 
gung (IV). 

Tabelle  3. 


II 


III 


IV 


/o 


30 


44-8 


20 


15 


29-8 


22-3 


2-98 


Ich  lasse  hier  des  Vergleiches  halber  eine  Tabelle  folgen, 
welche  die  Berufsbeschäftigung  von  400  Wöchnerinnen  illustrirt 
und  als  Ergänzung  zur  Tabelle  Nr.  3  dienen  mag. 

Tabelle  4. 


I 

n 

m                  rv 

94 

133 

156 

17 

'0 

23-5 

33-2 

39 

4-2 

(11) 


506  Schwarz. 

Worans  zu  ersehen,  dass  die  weitaus  grössere  Zahl  (II  und 
UI)  der  hier  in  Betracht  kommenden  Personen  unter  relativ  un- 
günstigen äusseren  Verhältnissen  leben ,  ein  Punkt,  auf  dessen 
Bedeutung  wir  noch  des  Weiteren  zurückkommen  werden. 

Unter  den  97  Müttern  normaler  Kinder  waren: 
27  I.  Gebärende, 
33  n.  Gebärende, 
37  mehr  als  ü.  Gebärende. 

Unter  88  dieser  Frauen  standen  im  Alter: 

Tabelle  5. 


unter  20  Jahren     .... 
Zwischen  20  und  30  Jahren 
üeber  30  Jahren     .... 


7 
69 
12 


circa  18    Procent 
n    78-4      „ 

n      13-8       „ 


Das  Gewicht  der  normalen  Neugeborenen  betrug  bei  einer 
Gesammtzahl  von  85  nach  dieser  Richtung  untersuchten  Kindern 
bei  57  derselben  mehr  als  das  normale  Gewicht  von  30(X)'0  Grm., 
i.  e.  das  Gewicht  tiberstieg  in  61  ^/o  mehr  weniger  die  Norm. 
12  der  normalen  Neugeborenen  stammten  aus  dem  9.  Lunar- 
monate,  3  aus  dem  8.  Lunarmonate;  d.  h.  aus  dem  9.  Lunar- 
monate  14<>/o,  aus  dem  8.  Lunarmonate:  3*5%. 

Bei  einem  normalen  Kinde  ist  ausdrücklich  erwähnt,  dass 
es  eine  atrophische  Frucht  gewesen  sei.  In  einem  dieser  Fälle 
finde  ich  Lues  der  Mutter  notirt. 

Dem  Geschlechte  nach  waren  unter  84  normalen  Kindern  34 
Knaben  gegen  50  Mädchen  oder  40'4<^/o  gegen  59*5Vo. 

Unter  den  500  Fällen  finden  sich  6  Zwillingsgeburten. 

Bei  dreien  dieser  Geburten  fand  sich  je  ein  Kind  normal, 
das  andere,  stets  schwächer  entwickelte  Kind  zeigte  in  2  Fällen 
hochgradige  Thorax-  und  Schädelrachitis.  In  einem  Falle  fand 
sich  nur  Thoraxrachitis  massigen  Grades.  In  den  anderen  Fällen 
waren  stets  beide  Kinder  rachitisch. 

Von  den  im  7.  Lunarmonate  der  Schwangerschaft  geborenen 
Kindern,  deren  Zahl  15  betrug,  subsumirten  entsprechend  den  ver- 
schiedenen Intensitätsgraden  der  Erkrankung  (siehe  pag.  504)  unter : 


Zur  Frage  der  Bachitis  der  Neugeborenen.  507 

a  h  0  d  e 

9  3  2—1 


14  Rachitiker,    l  Nonnaler.  93-3«/o  Räch. 

Von   dem   im  8.    Lmiarmonate  Geborenen,   deren  Anzahl 
81  betrug,  unter : 

a  b  c  d  e 

16  7  2  2  4 

27  Rachitiker,   4  Normale.  87%  ßach. 

Die  Summe  der  im  9.  Lunarmonate  geborenen  Kinder  be- 
trug 62;  davon  rangirten  unter: 

a  b  c  d  e 

31  14  3  1  12 

60  Rachitiker,^  12  Normale.  80-6Vo  Räch. 

Die  übrigen  392  Neugeborenen  waren  reife  Frttchte. 

Auch  bei  dem  vorliegenden  untersuchten  Materiale  liess  sich, 

was  den  Einfluss  des  Geschlechtes  auf  die  Rachitis  betrifft,  keine 

Differenz  constatiren,    da   unter  490  Kindern   250  Knaben   und 

234  Mädchen  sich  befanden. 

In  15  Fällen  konnten  an  den  Müttern  der  rachitischen  Kinder 
Residuen  einer  hochgradigen  Rachitis  erkannt  werden. 

Von  der  relativ  kleinen  Zahl  der  während  ihres  kurzen  Auf- 
enthaltes an  der  Klinik  gestorbenen  Kinder  (die  Mütter  und 
Eander  verlassen  in  der  Regel  am  9.  Tage  die  Klinik)  standen 
mir  11   zu  Gebote. 

5  stammten  aus  dem  7.  Lunarmonate 
1  stammte      „        »8.  „ 

3  stammten    „        „     9.  „ 

12  waren  reife,  ausgetragene  Früchte. 
Nach  den  verschiedenen  Intensitätsgraden    der  Erkrankung 
konnten  unter    a    b    c 

5  5  1  eingereiht  werden. 
Die  von  mir  an  den  Leichen  vorgenommenen  Control- 
untersuchungen,  die  ich  geflissentlich,  ohne  frühere  Einsichtnahme 
in  meine  Protokolle,  abgefasst  habe,  ergaben  in  allen  Fällen  eine 
volle  Uebereinstimmung  mit  den  im  Leben  als  solche  erkannten 
und  notirten  Abnormitäten  und  konnte   nur  nach    der   Richtung 

(18) 


508  Schwarz. 

hin  eine  Abweichung  constatirt  werden,  dass  die  Erkrankung  der 
Bippen  sich  insoweit  hochgradiger  erwies,  als  die  gegen  die 
Pleura  hin  gekehrte  Seite  der  Rippen  stets  eine  bedeutend  inten- 
sivere Anschwellung  erkennen  liess.  Eine  Thatsache,  die  schon 
von  Yirchow  anerkannt  und  beschrieben  wurde. 

Um  die  Bestätigung  der  Diagnose  vollkommen  sicher  zu 
stellen,  habe  ich  in  allen  Fällen  die  mikroskopische  Untersuchung 
sowohl  der  vorderen  Rippenknorpelgrenze,  wie  der  Schädelknochen 
vorgenommen. 

Ich  bediente  mich  bei  der  Präparation  der  gewöhnlichen 
raschen  Entkalkungsmethode  mit  salpetersäurehältigem  Alkohol 
nach  vorhergegangener  Härtung  in  Mü Herrscher  Flüssigkeit. 

Die  Schnitte  werden  theils  mit  der  Doppelfarbung  von 
Picrocarmin  und  Hämatoxjlin,  theils  mit  der  einfachen  Picrocarmin- 
farbung  behandelt. 

An  den  Längs-  und  Querschnitten  der  Rippenknorpelgrenze 
fand  ich  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  ausnahmslos  die 
von  Eassowitz  geschilderten  und  auch  abgebildeten  deutlichen 
und  charakteristischen  Symptome  einer  floriden  Rachitis. 

An  allen  Präparaten  ist  die  starke  Verbreiterung  der  Pro- 
liferations- und  Säulenzellenzone,  femer  die  ausserordentlich  auf- 
fallende Hyperämie  des  Perichondrium  ersichtlich.  Aus  dem  gefäss- 
reichen  Oewebe  desselben  sieht  man,  besonders  deutlich  auf  den 
Querschnitten,  die  zahlreichen,  zapfenförmigen  Gefassschlingen 
in  radiärer  Richtung  in  den,  normaler  Weise  gefässlosen  Knorpel 
eindringen  und  als  Ausdruck  derselben  auf  den  Längsschnitten 
die  quer-  und  schiefgetroffenen  Gefässlumina,  die  scheinbar  nach 
abwärts  gegen  die  Yerkalkungszone  tendiren. 

Diese  letzte  präsentirt  sich  leider  in  Folge  der  Präparations- 
methode nicht  in  ihrer  eigenthümlichen,  durch  die  Tinction  deut- 
licher sich  abhebenden  Färbung.  Nichtsdestoweniger  ersehen 
wir,  dass,  durch  das  nnregelmässige  Vordringen  der  endostalen 
Gefässräume ,  nicht  die  normale ,  fast  vollkommen  gerade  vom 
Knorpel  sich  abgrenzende  Linie,  sondern  die  festonartige ,  un- 
regelmässige, flir  Rachitis  charakteristische  Abgrenzung  der 
Verkalkungszone  von  dem  einseitig  wachsenden  Knorpel  sich 
darbietet. 

(14) 


Znr  Frage  der  Rachitis  der  Nengeborenen.  509 

Anf  den  Querschnitten  ersehen  wir  deutlich  den  Vor- 
gang der  directen  Umwandlung  des  Inhaltes  der  geschlossenen 
Enorpelzellen  in  Bluträume  mit  ihrem  hämoglohinhaltigen  Zellen- 
inhalte, in  den  verschiedensten  Entwicklungsphasen.  Gleich  deut- 
lich ist  die  enorme  Hyperämie  im  Bereiche  der  Spongiosa  und 
die  consecutiv  gesteigerte  Einschmelzung  an  den  Enochenhälkchen 
derselben. 

Von  Schädelpräparaten  bringt  Eassowitz  keine  speciellen 
Bilder  und  möchte  ich  mir  deshalb  erlauben,  an  der  Hand  eines 
in  der  Abbildung  beigegebenen  Präparates,  der  Gegend  der  grossen 
Fontanelle  entsprechend,  die  ganz  ausserordentlich  schön  ent- 
wickelten Symptome  der  Rachitis  zu  demonstriren. 

An  dem  Präparate  ist  das  die  grosse  Fontanelle  begrenzende 
linke  Stirn-  und  Scheitelbein  ersichtlich. 

Schon  bei  ganz  oberflächlicher  Betrachtung  ist  der  ganz 
enorme  Blutreichthum  des  sub-  und  periostalen  Stratum,  das  fast 
an  ein  cavemöses  Gewebe  erinnert,  äusserst  auffallend. 

Aeusserst  deutlich  hebt  sich,  in  Form  eines  schmalen  roth- 
gefärbten Saumes,  das  neugebildete,  kalklose,  osteoide  Gewebe 
von  dem  durch  Resorption  stark  reducirten  und  orangeroth  ge- 
^färbten  kalkhaltigen  Enochen  ab. 

Statt  der  normalen,  kleinen  seichten  Lacunen  sehen  wir 
die  in  den  verschiedensten  Formen  sich  präsentirenden ,  den 
Enochen  einschmelzenden  Bluträume,  die  in  demselben  vielfach 
ausgebreitete  tiefe  Gruben  geschaffen  und  stellenweise  sogar  fast 
die  Continuität  desselben  unterbrechen. 

Das  Präparat  entstammt  einem  reifen  Einde.  In  meinen 
Protokollen  finde  ich  die  folgende  Notiz: 

Sehr  starker  Rosenkranz  und  beide  Scheitelbeine  in  der 
ganzen  Länge  und  Breite  bis  zu  den  Scheitelbeinhöckem  hin 
membranö^. 

Es  dürfte  an  der  Hand  dieser  mikroskopischen  Be- 
funde, die  sich  ausnahmslos  in  mehr  weniger  ausgesprochenem 
Masse  an  allen  meinen  Präparaten  finden  und  die  ich  auch  zur 
Begutachtung  Herrn  Dr.  Eassowitz  demonstrirt  habe,  wohl 
bewiesen  sein,  dass  die  weichen  Stellen  am  Schädel  durchaus 
nicht  als  physiologische,  sondern  als  pathologische  Befunde  anzu- 

(16) 


510  ScliwarB. 

jsprechen  seien,   die  sogar  aaf  einen   vorgeschrittenen  Grad    der 
rachitischen  Erkrankung  hinweisen. 

Gehen  wir  non  daran,  die  sich  ans  der  Statistik  ergebenden 
Schlüsse  zu  ziehen,  so  finden  wir  eine  volle  und  auf  Zahlen 
basirte  Bestätigung  aller  von Kassowitz  ausgesprochenen  Grund- 
sätze. Vor  Allem  ist  es  die,  keineswegs  bis  jetzt  genügend 
gewürdigte  Häufigkeit  der  congenitalen  Rachitis. 

Die  naturgemässe  Frage  nach  den  Ursachen  dieser  auf- 
fallenden Erscheinung  ist,  ganz  abgesehen  von  den  durch  Kasso- 
witz auf  das  Klarste  und  Unzweideutigste  erbrachten  Theorien 
über  die  Pathogenese  der  Rachitis  durch  nähere  Betrachtung 
des  Materiales,  das  der  Beobachtung  zur  Verfügung  gestanden, 
vielleicht  zu  erbringen. 

Die  grösste  Mehrzahl  dieser  Frauen  gehört  der  dienenden 
Classe  an,  die,  wenigstens  in  der  Hauptstadt,  bei  in  qualitativer 
Hinsicht  ungenügender  Kost  und  meist  in  den  ungünstigsten 
hygienisch-diätetischen  Verhältnissen  lebend,  wozu  noch  der  Mangel 
an  der  nöthigen  Körperpflege,  des  Genusses  der  freien  Luft ,  die 
ungünstigen  übicationen  etc.,  zu  rechnen  sind,  während  der  Gra- 
vidität die  schwersten  körperlichen  Arbeiten  verrichten  müssen. 

Deutlich  genug  für  den  ungünstigeren  Einflnss  dieser  eben 
angeführten  Schädlichkeiten  scheinen  mir  die  sich  aus  Tab.  Nr.  3 
ergebenden  Resultate  zu  sprechen,  da  unter  der  kleinen  Anzahl 
von  Müttern  normaler  Kinder  nahezu  die  Hälfte  Personen  waren, 
die,  auf  dem  Land  lebend,  ihrer  Beschäftigung  in  fortwährendem 
Genüsse  von  unverdorbener  Luft  nachgehen  konnten,  während; 
wie  aus  Tabelle  4  ersichtlich,  ein  ungleich  grösserer  Percentsatz 
des  vorliegenden  Materiales  sich  aus  Personen  recrutirt,  die  den 
oben  angeführten  Schädlichkeiten  in  grösserem  oder  geringerem 
Grade  unterworfen  sind. 

Diese  Thatsache  findet  eine  Bestätigung  in  den  Angaben  von 
Kassowitz  über  den  Einflnss  der  „respiratorischen  Noxen ^  auf 
den  in  Rede  stehenden  Krankheitsprocess ,  wobei  wir  uns  die 
Wirkung  derselben  in  der  Weise  erklären  müssen,  dass  der  uns 
vorläufig,  seinem  näheren  Wesen  nach,  noch  unbekannte  Krank- 
heitserreger, resp.  der  die  Krankheit  bedingende  Reiz,  mag  man 
sich  über  seine  Natur  und  Beschaffenheit  welche  Vorstellun  g  immer 

(16) 


Zur  Frage  der  Racliitis  der  Neugeborenen.  511 

machen,  entweder  auf  dem  Wege  der  Lungen  oder  mittelst  des 
Intestinaltractes  wohl  in  das  Blut  der  Matter  gelangen,  bei  dieser 
selbst  keinen  günstigen  Boden  finden,  dagegen,  durch  Ueber- 
wanderung  in  den  fötalen  Kreislauf,  daselbst  die  günstigsten  Ent- 
wicklungsbedingungen antreffen  kann. 

Ein  Einfluss  der  hereditären  Syphilis  konnte  in  dem  vor- 
liegenden Materiale  durchaus  nicht  als  irgendwie  in  Betracht 
kommend  berücksichtigt  werden.  Auch  glaube  ich,  kann  man  bei 
der  enormen  Häufigkeit  der  Kachitis  den  Einflass  der  Heredität 
nicht  allzu  hoch  anschlagen,  da  anderweitige  Einflüsse  mass- 
gebender sein  dürften. 

Es  dürfte  sich,  wenn  die  Richtigkeit  der  angegebenen  Daten 
auch  Yon  anderer  Seite  bestätigt  werden,  ergeben,  dass  auch  die 
weiteren,  bisher  als  directe  Ursachen  der  Rachitis  beschuldigten 
Schädlichkeiten :  die  Ernährung  der  Säuglinge,  die  schweren  acuten 
wie  chronischen  Erkrankungen,  die  Wohnungsverhältnisse  nicht 
als  die  Krankheit  direct  hervorrufende  Agentien  anzusehen  sind. 

Bei  der ,  in  den  allermeisten  Fällen ,  bereits  auf  die  Welt 
mitgebrachten  Anlage  oder  der  schon  manifesten  Erkrankung, 
wären  diese  Einflüsse  nur  als  den  Ausbruch  beschleunigende, 
resp.  die  vorhandene  Krankheit  steigernde  Schädlichkeiten  an- 
zusehen. 

Auch  die  Bestätigung  der  Kassowit zischen  Angabe  von 
dem  umgekehrten  Verhältnisse  des  Alters  der  Mutter  zu  der 
Häufigkeit  der  Erkrankung  an  den  Kindern  ergibt  sich  aus  dem 
vorliegenden  Materiale;  gleichwie  sich  zeigt,  dass  mit  der 
steigenden  Anzahl  der  Geburten  die  Kinder  weniger  Anlage  zur 
Erkrankung  zeigen« 

Obzwar  das  Geschlecht  der  Kinder  auch  unter  meinem 
Materiale  keine  Differenz  ergibt,  ist  doch  unter  den  normalen 
Neugeborenen  das  Ueberwiegen  des  weiblichen  Geschlechtes  auf- 
fallend, ohne  dass  ich  im  Stande  wäre,  aus  meinen  Notizen 
irgend  einen  Anhaltspunkt  zur  Erklärung  dieses  Factums  zu 
schöpfen. 

Auch  das  Yerhältniss,  dass  unter  der  kleinen  Zahl  von 
Zwillingen  in  der  Hälfte  der  Fälle  je  ein  Kind  normal  war,  ver- 
dient hervorgehoben  zu  werden. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  40     <17) 


512  Schwarx. 

Der  EinflusB  der  Frühgebarten  auf  das  Häafigkeitspercent 
der  Erkrankung  an  Rachitis  geht  zur  Evidenz  aus  den  yorliegenden 
Daten  hervor,  da  wir  sehen,  dass  mit  der  zunehmenden  Reife 
der  Kinder  der  Percentsatz  der  Erkrankten  abnahm. 

Für  den  praktischen  Arzt  ergibt  sich  aus  den  vorliegenden 
statistischen  Uebersichten  die  Pflicht,  in  erster  Linie  sein  beson- 
deres Augenmerk  auf  die  Diätetik  der  Schv^angeren  im  weitesten 
Sinne  zu  richten,  um  jene  schädlichen  Einflüsse  zu  eliminiren, 
die  zwar  der  Mutter  selbst  keinen  augenfälligen  Schaden  bringen, 
wohl  aber  dem  zarten  und  im  Entstehen  begriffenen  kindlichen 
Organismus  gegenüber  sich  als  ein  intensiv  wirkendes  Gift  erweisen. 

In  zweiter  Linie  hat  der  Arzt  möglichst  bald  nach  der 
Geburt  genau  auf  die  etwa  vorhandenen  Symptome  der  congenitalen 
Rachitis  an  der  Frucht  zu  invigiliren,  um,  wie  dies  auch  Unruh 
proponirt  hat,  im  gegebenen  Falle  auf  eine  möglichst  frühzeitige 
Behandlung  der  Rachitis  mit  aller  Energie  zu  dringen. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  mir  noch  erlauben,  auch  an  dieser 
Stelle  dem  Herrn  Docenten  Dr.  Kassowitz,  sowie  Herrn 
Dr.  C.  Hoch  Singer  für  ihre  freundlichen  Rathschläge  meinen 
innigsten  Dank  auszusprechen. 

Erklärung  der  beigegebenen  Tafeln. 

Präparat,  einem  reifen  Kinde  männliclien  Geschlechtes  angehörend. 

Scheitel-  und  Stirnbein  der  linken  Seite  mit  ihren  die  grosse  Fonianelle 
begrenzenden  Partien. 
Taf.XXIY.  Stirnbein. 
Taf.  XXV.  Scheitelbein. 
F.  P.:  Faserschichte  des  Pericraninm. 
Z.  F.:  Zellenschichte  des  Pericraninm   (mit  zahlreichen   stark  erweiterten  und 

strotzend  gefällten  Blutgefässen). 
V.  K, :  Verkalkter  Knochen. 
ü.  0,:    ünverkalktes  osteoides  Gewebe. 
Z,  E.:    Zellenschichte  des  Endocraninm. 
F,  E,:   Faserschichte  des  Endocraninm. 
D.:        hyperämisches  Doragewebe. 
F.  M.:  FontaneUmembran. 


->M<- 


(18) 


XXI. 

Zur  Kenntniss  der  Strophanthinwirkung. 

Von 

Docent  Dr.  H.  Faschkis  und  Dr.  Th.  Zemer  jnn. 

(Am  11.  Juli  1887  von  der  Bedaction  übernommen.) 


Zu  den  im  Nachstehenden  geschilderten  Versuchen  bedienten 
wir  uns  erstens  einer  nach  Fraser's  (^^)  Vorschrift  aus  Samen 
von  Strophanthus  Eombä  bereiteten  alkoholischen  Tinctur,  zweitens 
einer  wässerigen  Lösung  von  Strophanthin  selbst.  Die  erstere 
verhält  sich  so,  wie  Fräser  angegeben,  bis  auf  den  Umstand, 
dass  sie  sich  (nach  der  Extraction  der  Samen  mit  Aether)  mit 
grösseren  Mengen  Wassers  nicht  ohne  Trübung  mischen  lässt. 
Sie  schmeckt  intensiv  und  nachhaltig  bitter.  Das  von  E.  Merk 
bezogene  Strophanthin  (nach  brieflicher  Mittheilung  gleichfalls 
aus  Strophanthus  Kombä  dargestellt)  ist  ein  weisses,  krystallinisches, 
in  Wasser  lösliches  Pulver.  Die  wässerigen  Lösungen  sind  nicht 
vollkommen  klar,  sondern  opalisirend.  Die  Opalescenz  ninmit  mit 
der  Concentration  zu.  Die  Lösungen  rea^ren  neutral.  In  kalter 
concentrirter  Salzsäure  löst  sich  das  Strophanthin  farblos;  beim 
Erwärmen  färbt  sich  die  Lösung  unter  Trübung  schön  grünlich- 
gelb ;  in  concentrirter  Salpetersäure  ist  es  ebenfalls  farblos  löslich, 
beim  Erwärmen  wird  die  Lösung  schön  gelb,  bleibt  aber  klar; 
in  concentrirter  Schwefelsäure  löst  es  sich  mit  purpurbrauner 
Farbe,  die  bei  massigem  Erwärmen  schwarzgrün  wird.  Beim  Er- 
wärmen mit  Säuren   oder  mit  Alkalien,   mit    welch   letzteren  es 

40  ♦     ^i> 


514  Pasclikis  und  Zerner  jun. 

sich  nicht  sichtlich  verändert,  entwickelt  sich  ein  Geruch  wie 
nach  Harz.  Wird  Strophanthin  mit  verdünnten  Mineralsänren 
einige  Zeit  erwärmt,  so  redncirt  die  Lösnng  Fehl  Ingusche 
Flüssigkeit.  (Die  Autoren  sind  nicht  einig,  ob  das  Strophanthin 
ein  Glycosid  ist,  wie  ursprünglich  Fräser  angegeben  hat.  Das 
von  uns  verwendete  Strophanthin  wird  von  Merck  einmal  als 
Qlycosid,  einmal  ausdrücklich  als  kein  Glycosid  bezeichnet.)  Wird 
etwas  Strophanthin  in  Alkohol  gelöst,  etwas  Weniges  Eisen- 
chlorid und  dann  concentrirte  Schwefelsäure  hinzugefligt,  so  färbt 
sich  die  alkoholische  Lösung  gelblichgrün.  ^)  LOst  man  Strophanthin 
in  wenig  Wasser,  fügt  eine  Spur  Eisenchlorid  hinzu  und  setzt 
sodann  concentrirte  Schwefelsäure  hinzu,  so  trübt  sich  die  Flüssig- 
keit imd  färbt  sich  lauchgrün.  >) 

L  Venuohe  am  Frosch. 

An  einer  kräftigen  Rana   esculenta   beträgt   die  Zahl   der 
Schläge  des  blossgelegten  Herzens  46  in  der  Minute. 
10^  40'  Strophanthin  1 :  lO'OOO,  ein  Tropfen  aufs  blossgelegte  Herz. 

—  41'  Energischere  Systole  und  ausgiebigere  Diastole. 

—  53'  Das  Herz  schlägt  wieder  wie  zu  Beginn  des  Versuches. 

—  54'  2  Tropfen. 

—  58'  Puls  40,   Systole   viel  energischer;   während  derselben 

wird  das  Herz  vollkommen  blutleer. 
11  ^  —    An  der  Spitze  und  den  beiden  Winkeln  der  Basis  blasen- 
artige  partielle  Diastole;  Peristaltik  des  Ventrikels. 

—  4'  P.  20,  continuirliche  Peristaltik ;  keine  vollständige  Systole. 

—  6'  Kegelmässige  Diastole  mit  partieller  abwechselnd. 

—  11'  Diastole  wieder  regelmässig,  gering  entwickelt  und  erfolgt 

in  Absätzen. 

—  36'  P.  17,  Peristaltik  wechselt  mit  regelmässigen   Diastolen 

von  immer  geringerer  Ausdehnung  ab. 

—  40'  Auf  zwei  Vorhofscontractionen  kommt   eine  Contraction 

des  Ventrikels. 


')  Lafond'sche  Beaction  auf  Digitalin. 

0  Helbing*8clie   Eeaction   auf  Strophanthin.    (The  Pharm.  Jonm.  and 
Transact.  1887,  pag.  924.) 

(2) 


Zur  Kenntniss  der  Strophanthiiiwirkaiig.  515 

11^  46'  Die  vordere  Wand  des  VentrikelB   dehnt  sich  gar  nicht 

mehr  ans. 
—  52^  Die  Kammer  steht  in   der  Systole  still,    die  Wand   ist 
vollständig    erblasst,     der    enorm    ausgedehnte    Yorhof 
pulsirt  noch. 
— .  68'  Die  Vorhofspnlsationen  werden  immer  kleiner. 
12^    5'  Stillstand  des  stark  aasgedehnten  Vorhofes. 

Aehnlich  verliefen  die  übrigen  Versnche,  welche  in  der  bei- 
liegenden kleinen  Tabelle  zusammengestellt  sind.  Bei  Bana  tem- 
poraria  war  in  gleicher  Weise  vergrösserte  Energie  der  Systole  und 
schliesslicher  Stillstand  in  Systole  zu  constatiren,  während  die 
überaus  charakteristischen  partiellen  Diastolen  und  die  Peristaltik 
fehlten  oder  nur  andeutungsweise  auftraten. 

Wie  Schmiedeberg  und  Koppe ^)  constatirt  haben,  ist 
das  Verhalten  von  B.  esculenta  und  temporaria  gegen  Digitalin 
gerade  umgekehrt.  Die  typisc&e  Wirkung,  besonders  die  Peristaltik, 
tritt  bei  der  letzteren  leicht  und  rasch  ein;  bei  jener  langsam 
und  undeutlich.  Bei  dem  Strophanthin  konnte  weder  die  Ver- 
grösserung,  noch  die  Verringerung  der  Gaben  diesen  Theil  der 
Wirkung  an  B.  temporaria  beeinflussen.  Die  Wirkung  des  Stro- 
phanthins  (gleichgiltig,  ob  in  wässeriger  Lösung  oder  als  Tinctur, 
nur  dass  bei  letzterer  mitunter  im  ersten  Moment  ein  Stillstand 
eintritt)  entspricht  bis  auf  kleine  Differenzen  ganz  der  des  Digi- 
talins:  Erhöhung  des  Blutdruckes,  mit  dieser  zugleich 
Verlangsamung  der  Pulsfrequenz,  peristaltische 
Bewegung  des  Ventrikels,  Stillstand  desselben  in 
Systole  und  kurz  nachher  auch  Stillstand  der  Vorhöfe 
in  Diastole. 

Eine  Aenderung  dieser  Erscheinungen  tritt  auch  nach  vor- 
hergängiger Atropinapplication  nicht  ein. 

Der  Ort  der  Application  des  Strophanthins  hat  auf  den  Ver- 
lauf der  Erscheinungen  keinen  Einfluss.  Wir  haben  die  Strophan- 
tbinlösung  direct  auf  das  Herz  geträufelt,  subcutan,  in  die  Bauch- 
höhle, in  den  dorsalen  Lymphsack  injicirt,  ohne  eine  Aenderung 
in  der  Wirkung  wahrzunehmen. 

')  lieber  die  Digitalinwirkimg  am  Her2aniiskel  des  Frosches.  Beiträge  xar 
Anatomie  und  Physiologie.    Festgabe  an  G.  Ludwig,  Leipzig  1874. 

(3) 


516  PaHchkis  und  Zerner  jnn. 

Das  ausgeschnittene  Frosehherz  zeigte  im  Grossen  und 
Ganzen  dieselben  Vergiftungserscheinnngen ,  wie  das  in  situ  be- 
befindliche. Es  war  jedoch  anfangs  oft  eine  Polsbeschleunignng 
zu  constatiren  und  die  Peristaltik  war  nur  von  kurzer  Dauer. 

Der  schliessliche  Stillstand   in  Systole   dauert  stundenlang. 

Von  den  genannten  Symptomen  haben  wir  nur  die  Blut- 
druckserhöhung graphisch  dargestellt.  Fig.  1  ist  das  Bild  einer 
Cnrve,  welche  das  mit  Strophanthus  vergiftete  Herz  eines  leicht 
curarisirten  Frosches  lieferte. 

Fig.  1. 


In  der  folgenden  Tabelle  geben  wir  einen  Ueberblick  über 
unsere  nach  der  geschilderten  Methode  ausgeführten  Versuche. 

Um  die  Einwirkung  des  Giftes  auf  die  Gefasse  zu  prüfen, 
wurde  das  Mesenterium  schwach  curarisirter  Frösche  unter  das 
Mikroskop  gebracht  und  den  Fröschen  entweder  von  der  Tinctur 
2—10  Tropfen  oder  von  der  wässerigen  Lösung  des  Strophanthins 
(1 :  10.000)  5 — 20  Tropfen  subcutan  injicirt,  hin  und  wieder  auch 
diese  Flüssigkeiten  direct  auf  das  Mesenterium  aufgeträufelt.  Bei 
der  Injection  konnte  niemals  Gefässverengerung  beobachtet 
werden. 

Bei  der  localen  Application  trat  allerdings  eine  zum  voll- 
kommenen Verschluss  der  Gefasse  ftihrende  Verengerung  ein. 
Doch  ist  zu  bemerken,  dass  die  locale  Wirkung  bei  Anwendung 
der  Tinctur  zum  Tbeil  auf  den  Alkoholgehalt  der  letzteren '  bei 
der  wässerigen  Lösung  natürlich  nur  auf  das  Strophanthin  zu 
beziehen  ist. 

2.  Versuche  an  Händen. 

1.  Protokoll. 

Hund,  8  Kilo  schwer,  tracheotomirt,  schwach  curarisirt. 
11^  55'.  P.  46.  Bldr.  134  Mm. 

—  56'.  Injection   von  0*0002  Grm.   Strophanthin  in  die  Vena 

jugularis. 

—  58'.  P.  46.  Bldr.  134  Mm. 

(4) 


Znr  EenutniBB  der  Strophanthinirirbiing. 


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518  Paachkis  und  Zerner  jtm. 

12^  — .  Bl.  134.  Lyection  von  0-0002  Qrm.  Strophanthin. 

—  3'.  P.  46.  Bldr.  134  Mm. 

—  4'.  Injection  von  0*0005  Grm.  Strophanthin. 

—  5'.  Arrhythmie  der  Pulse,  der  Blntdruck  beginnt  zu  sinken. 

—  6'.  P.  28  (?).  Bldr.  119  Mm.  (die  kleinsten  Pulse  vielleicht 

nicht  gezählt). 

—  7'.  Pulse  wieder  regelmässig,  Blutdruck  steigt. 

—  9'.  P.  45. 

—  11'.  Bldr.  189  Mm.  Blutdruck  sinkt. 

—  13'.  P.  50.  Bldr.  172  Mm. 

—  16'.  P.  46.  Bldr.  154  Mm.  Blutdruck  ändert  sich  nicht  mehr. 

—  17'.  Bldr.  154  Mm.  Injection  von  0*005  Strophanthin. 

—  18'.  P.  47.  Blutdruck  beginnt  zu  sinken. 

—  19'.  P.  50.  Bldr.  125  Mm. 

—  20'.  Arrhythmie  des  Pulses.  Nach  wenigen  solchen  Pulsen  sinkt 

der  Schreiber  rapid  auf  die  Abscissenaxe. 
Die  Section  zeigt  Ventrikel  und  Vorhöfe  dilatirt. 

2.  Protokoll. 

Hund,  5  Kilo  schwer,  Vagi  durchschnitten,   sonst  dieselbe  Vor- 
bereitung. 
4^     3'.  Bldr.  200  Mm.  Injection  von  0001  Grm.  Strophanthin. 

—  7'.  Bldr.  1S2  Mm. 

—  10'.  Bldr.  140  Mm. 

—  11'.  Bldr.  118  Mm.  Arrhythmien,  wechseln  mit  regelmässigen 

Pulsen. 

—  12'.  Bldr.  110  Mm.  Continuirliche  Arhrythmien  des  Pulses. 

—  13'.  Bldr.  110  Mm. 

—  14'.  Der  Druck  beginnt  wieder  zu  steigen. 

—  15'.  Bldr.  148  Mm. 

—  17'.  Bldr.  174  Mm. 

—  19'.  Injection  von  0'0005  Grm.  Strophanthin. 

—  22'.  Bldr.  162  Mm.  Druck  beginnt  zu  sinken. 

—  23'.  Bldr,  154  Mm. 

—  24'.  Bldr.  132  Mm.  Arrhythmie  des  Pulses. 

—  25'.  Bldr.  92  Mm.  Nach  wenigen  arrhythmischen  Pulsen  sinkt 

der  Schreiber  auf  die  Abscissenlinie. 

(6) 


Zar  Kenntnisa  der  Strophanthinwirkniig.  519 

Bei  der  Section  sind  Ventrikel  und  Vorhöfe  im  Zustande 
der  Dilatation. 

Die  mit  Hilfe  des  Kymographion  von  den  verschiedenen 
Forschem  ausgeführten  Versuche  haben  bisher  keine  vollständig 
identischen  Resultate  geliefert.  F  r  a  s  e  r  (")  erhielt  bei  seinen  Ver- 
suchen —  an  vp^elchen  Thieren  gibt  er  nicht  an  —  stets  anfäng- 
liche Blutdrucksteigerung,  nach  Langgaard(^^)  kommt  es 
nach  Injection  ganz  kleiner  Dosen  in  die  Vene  eines  Kaninchens 
stets  zu  einer  primären  nicht  unerheblichen  Blutdrucksenkung  und 
dann  zum  Tod. 

Unsere  Versuche  an  Hunden  ergaben,  dass  eine  Injection 
kleiner  Dosen  (0-0005  Grm.)  Blutdrucksteigerung  zur  Folge  hat, 
wonach  der  Druck  wieder  zur  ursprünglichen  Höhe  absinkt  und 
constant  bleibt.  War  die  Dosis  um  etwas  grösser,  so  geht  dieser 
Blutdrucksteigerung  ein  anfängliches  Sinken  mit  Arrhythmie  des 
Pulses  voraus.  Nach  Injection  grösserer  Dosen  (O'OOl  Grm.)  sinkt 
der  Blutdruck  im  Verlaufe  von  2 — 3  Minuten.  Immer  aber  kann 
sich  das  Herz,  auch'  wenn  Arrhythmien  auftreten  und  der 
Druck  sehr  niedrig  ist,  wieder  vollständig  erholen.  Nach  Injection 
noch  grösserer  Dosen  (0005  Grm.)  sinkt  der  Druck  sofort  und 
binnen  wenigen  Minuten  (2 — 3)  tritt  Herzstillstand  ein.  Eine  Puls- 
verlangsamung  konnten  wir  bei  allen  Versuchen  an  Hunden  mit 
Sicherheit  nicht  wahrnehmen.  Die  Vagusdurchschneidung  führte 
keine  Veränderung  in  den  Erscheinungen  herbei. 

3.  Versuche  am  Menschen.  0 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  einige  Bemerkungen  über 
die  Wirkung  des  Strophanthins  beim  Menschen  hinzufügen. 

Pins(^^)  hat  in  neuester  Zeit  ohne  Angaben  genauer  Daten 
mitgetheilt,  dass  „bei  gesunden  erwachsenen  Personen  die  Tinctur 
in  täglich  dreimaliger  Dosis  von  5 — 10  Tropfen  keinen,  wie 
immer  gearteten  Einfluss  auf  die  Herzthätigkeit,  Pulsfrequenz  oder 
Diurese   gehabt   habe.    Wurden   20,  respective    15  Tropfen  am 


*)  Ansfölirlichea  darüber  erfolgt  in  einer  Arbeit  des  Einen  von  nns 
(Z.)  im  Vereine  mit  cand.  med.  Low  aas  der  Klinik  des  Herrn  Hofrath 
y.  Bamberger. 

(7) 


520 


Paschkis  und  Zerner  jnn. 


selben  Tage  2mal  gegeben,  so  erschien  die  Hammenge  in  den 
nächsten  24  Stunden  im  Vergleiche  zu  den  vorangegangenen  Tagen 
wesentlich  vermehrt**. 

Wir  wollen  an  der  Hand  einiger  Fälle  unsere  Resultate  anfügen. 

1.  S.,  28  Jahre  alt,  Tischler,  die  klinische  Untersuchung 
ergibt  einen  völlig  normalen  Befand  an  Lungen,  Herz  und  Arterien. 
Demselben  wurden  um  10  Uhr  57  Min.  20  Tropfen  Tinct  Stro- 
phanthi  gegeben.  Die  Pulszahl  betrug  57,  der  Blutdruck  mit  dem 
V.  Base  h'schen  Sphygmographen  an  der  Arteria  radialis  gemessen 
80  Mm.  Nach  30  Min.  sank  die  Pulszahl  auf  55 ,  der  Blutdruck 
war  auf  89  Mm.  gestiegen.  Der  Patient  gab  an,  sonst  absolut  nichts 
zu  verspüren.  Die  Pulscurven  mit  dem  Du dgeo  n'schen  Sphygmo- 
graphen bei  derselben  Spannung,  vor  und  30  Min.  nach  der  Gabe 
aufgenommen,  boten  folgende  Bilder:   Fig.  2  (vor)  und  3  (nach). 

Fig.  2. 


Fig.   3. 


Die  Pulswelle  ist  bedeutend  höher.  Der  aufsteigende  Schenkel 
besonders  in  seiner  oberen  Hälfte  steiler  ansteigend,  der  ab- 
steigende in  eben  demselben  Theile  steiler  abfallend,  der  Gipfel 
demgemäss  spitzer  —  Erscheinungen,  die  auf  eine  ausgiebigere  and 
raschere  Thätigkeit  des  linken  Ventrikels  zurückschliessen  lassen. 
Dem  entspricht  auch  die  stärker  ausgeprägte  Eückstosselevation. 

Um  die  Einwirkung  auf  die  Diurese  zu  prüfen,  gaben  wir  in 
einem  anderen  Falle  im  Verlaufe  von  16  Stunden  3mal  15  Tropfen. 

2.  Z. ,  30  J. ,  Kutscher,  zeigt  gleichfalls  in  Bezug  auf 
Lungen,  Herz,  Arterien  und  Nieren  einen  völlig  normalen  Befund. 
Die  Diurese  in  den  früheren  Tagen  schwankte  zwischen  600 
und  400  Ccm. 

Vor  der  ersten  Gabe  4  h.  p.  m.  war  die  Pulstrequenz  76  in 
der  Minute,  vor  der  3.  Gabe  8  h.  a.  m.  74,  15  Min.  nach  der- 

(8) 


Zur  Kenntniss  der  Strophanthinwirknng;  521 

selben  68,  nach  weiteren  37  Min.  60  Schläge  in  der  Minute.  Die 
Diärese  war  an  diesem  Tage  und  dem  folgenden  Tage  400  Cem. 
Andere  Versuche  am  gesunden  Individuum  zeigen  das  gleiche 
Resultat. 

Eine  Vermehrung  der  Diurese  bei  Gesunden  durch  Dosen 
bis  45  Ott.  Tinct.  stroph.  lässt  sich  daher  nicht  annehmen. 

Die  pathologischen  Fällen  entnommenen  Gurren  zeigen  die 
oben  geschilderte  Wirkung  des  Strophanthins  noch  um  Vieles 
deutlicher.  Wir  fügen  hier  2  derartige  Curven  an,  Fig.  4  u.  5,  die 
einem  Falle  von  Mitralinsufficienz  entstammen,  bei  dem  hochgradige 
Compensationsstörungen  bestanden,  die  nach  vergeblicher  Verab- 
reichung der  verschiedensten  Herzmittel,  darunter  auch  der  Digi- 
talis, erst  durch  Tinctura  Strophanthi  behoben  wurden.  Die  erste 
Curve  wurde  vor  der  Darreichung  des  Medicamentes,  die  zweite 
1  Woche  später  aufgenommen. 

Fig.  4.  Fig.  6. 


Auch  hier  ist  die  Celerität  des  Pulses  eine  mehr  ausge- 
sprochene, die  Pulswelle  höher,  aber  es  tritt,  der  bedeutend  ge- 
stärkten Herzthätigkeit  entsprechend,  die  erhöhte  Spannung  durch 
die  stärkere  Ausprägung  der  Elasticitätselevationen  deutlicher 
hervor  und  endlich  lernen  wir  noch  eine  weitere  Eigenschaft  des 
Strophanthins  kennen,  nämlich  das  Vermögen,  die  Arrhythmie  des 
Pulses  zu  beheben. 

Fassen  wir  Alles  zusammen,  so  muss  das  Strophanthin  als 
ein  intensives  Herzmittel  aufgefasst  werden,  dem  am  Krankenbette 
gewiss  noch  eine  Zukunft  bevorsteht. 

Die  Thierexperimente  wurden  im  Laboratorium  für  allgemeine 
imd  experimentelle  Pathologie  zu  Wien  ausgeftlhrt,  die  Versuche 
am  Menschen  an  der  H.  medicinischen  Klinik. 

Literatur: 

1.  D.  et  Ch.  Liyingstoiie,  Bzplorfition  du  Zamb^  et  de  ses  affloants 
et  la  d^conyerte  des  lacs  Chirona  et  Nyassa  1858—1864.  Tradnit  par  lime. 
Lorean.  Paris  1868,  pag.  434. 

2.  Pelikan,  Snr  nn  nonvean  poison  dn  coenr  provenant  de  rin6e  on 
Onage  et  employ^  on  gaben  (Afriqne  occidental)  comme  poison  des  fldclies. 

(9) 


522  Pasclikis  und  Zerner  jim. 

3.  Sliarpey,  Prooeedinga  of  the  Rojal  Society.  Mai  1865. 

4.  Fagge  and  Steyenson,  Pharmaoentical  Jonmal  and  Transactionfl. 
1866—1866  Vol.  H. 

5.  Fräser,  On  the  Kombi   arrow  poison  of  Africa.  Jonmal  of  Anat. 
and  Phys.  VH,  139. 

6.  Fräser,  Proceed.  of  the  Royal  society  of  Edinb.  Session  1869—1870. 

7.  Poillon   etCaryille,    J^tnde  pbysiologiqne  sur  les  effets  toxiqnes 
de  rinöe.  Arch.  de  pbys.  norm,  et  path.  1872,  pag.  528 — 680. 

8.  Valentin,   Die    Giftwirknngen    des   KombL    Zeitschr.    f.  Biologie. 
1874,  X,  133. 

9.  Hardy  et  Gallois,  Gaz.  m^d.  de  Paris.  1877,  pag.  113. 

10.  Hardy  et  Gallois,  Snr  le  principe  actif  dn  Stropbanthns  hispidns. 
Journal  de  Pharmac.  et  de  Chim.  1877,  Bd.  25,  pag.  177. 

11.  Fräser,  The  action  and  nses   of  Digitalis  and  its  snbstitatea  with 
special  reference  to  Strophanthns  (Hispidns?).  The  Brit.  Med.  Journal.  1885,  pag.  904. 

12.  Fräser,  Note  on  Tincture  of  Strophanthus.  The  British  Med.  Joum. 
1887,  pag.  151. 

13.  W.  Elborne,  A  contribution  to  the  Pharmac ognosy  of  Strophanthus. 
The  Pharmaceutical  Joum.  12.  March  1887. 

14.  T.  C  h  r  i  8 1  y ,  Strophanthus  Komb^.  New  commercial  Plauts  and  Drugs. 
1836,  Nr.  9. 

15.  Briefe  aus  England.  Pharmaceutische  Zeitung.  1887,  Nr.  27. 

16.  The  Chemist  and  Droggist.  Vol.  XXX,  Nr.  352,  pag.  55. 

17.  Oliyer,  Chemiker-Zeitung.  1887,  Nr.  11,  pag.  20. 

18.  Hei  hing,  Pharmaceutische  Zeitschrift.  1837,  XXXII,  Nr.  6. 

19.  Dräsche,  Sitzungsbericht   der   k.  k.  Gesellschaft   der  Aerzte  vom 
29.  April  1887.  Wiener  med.  Blätter.  5.  Mai  etc.  18S7. 

20.  Pins,  Sitzungsber.  d.  Wien.  med.  Doctoren-Colleg.  v.  18.  April  1887. 
Therapeutische  Monatshefte.  Juni  1887. 

21.  Xleinschmidt,  The  Glasgow  Medical  Joumal.  December  1886. 

22.  Hill,  Brit.  Med.  Joum.  1887,  Bd.  I. 

23.  Langgaard,  Therapeutische  Monatshefte.  Maiheft  1887. 


-m^ 


(10) 


XXII. 

Das  Eiweiss  der  Kiebitzeier  als  Nährboden 

für  Mikroorganismen. 

Von 

Dottore  Domenico  Dal  Pozzo  ans  Fafinza  (Italien). 
(Iu8  dem  k.  k.  enbryoloiisclien  Institute  des  Prof.  Schenk  in  Wien.) 

(Von  der  Bedaction  am  3.  Juli  1887  ftbemommen.) 


Die  bedeutenden  Fortschritte,  welche  im  Stndium  über  die 
Mikroorganismen  in  den  letzten  Jahren  sich  zeigten,  haben  ihren 
Grund  wesentlich  darin  gefunden,  dass  ihr  Nährboden  derart 
geordnet  wurde,  damit  deren  Eigenthümlichkeiten  griindlicher  als 
vorher  erkannt  werden.  Die  bahnbrechenden  Arbeiten  von  Koch 
imd  seiner  Schule  in  Berlin  waren  es,  welche  den  Impuls  zur 
Förderung  der  Lehren  über  die  Mikroorganismen  gaben.  Es  fanden 
sich  eine  grössere  Anzahl  bewährter  Männer,  deren  Mittheilnngen 
besonders  fördernd  in  der  Eenntniss  der  Pathologie  des  menschlichen 
und  thierischen  Organismus  wurden. 

Männer  wie  Pasteur,  A.  de  Bary,  Nägeli,  Cohn,  Elebs, 
Salomonsen,  Brefeld,  Zopf,  Buchner,  Flügge, 
Lydtin,  Bizzozero,  Schottelius,  Miguel,  Levis, 
Finkler,  Prior,  Löffler,  Hesse  etc.,  femer  die  jüngeren 
Schüler  EocFs:  Gaffky,  Gärtner,  Plagge,  Weisser, 
Frank,  dannHueppe,  Fränkel,  Johne,  Babes  etc.  haben 
sich  als  Forscher  und  Lehrer   auf  dem   fraglichen  Gebiete  ihre 

(1) 


524  ^a1  Pozzo. 

bedeutenden  und  hochzoschätzenden  Verdienste  erworben.  Es  sei 
sogleich  zu  Beginne  meiner  Mittheilung  herrorgehoben,  da^s  bei 
der  in  letzter  Zeit  sich  täglich  mehrenden  Literatur  in  einer 
so  kurzen  Schrift,  wie  die  vorliegende,  kaum  an  eine  Erschöpfung 
der  Literatur  des  Faches,  in  welche  diese  Abhandlung  fällt,  zu 
denken  ist.  Nur  eine  kurze  Andeutung  der  Lehren  über  die  gegen- 
wärtig in  Anwendung  stehenden  Nährböden  zur  Züchtung  der 
Mikroorganismen  wollen  wir  anführen.  An  diese  sollen  dann 
die  Ergebnisse  über  den  von  mir  gewählten  Nährboden  und 
einige  Resultate,  welche  wir  damit  erzielten,   angereiht  werden. 

In  den  Handbüchern  von  Hueppe^)  und  FränkeP)  ist 
die  Zusammenstellung  der  Literatur  über  die  verschiedenen  Nähr- 
böden und  die  Methoden  zur  Reincultur  der  Bacillen  und  Coccen 
genau  angegeben.  Es  stellt  sich  heraus,  dass  man  durchsichtige 
flüssige  Nährböden  von  verschiedener  Zusammensetzung  angewendet 
hat.  Dieselben  sind  von  verschiedenen  Autoren  auch  in  ver- 
schiedener Weise  zur  Züchtung  benutzt  worden.  Femer  wurden 
undurchsichtige  feste  Nährsubstrate  in  Anwendung  gebracht.  Die 
bedeutendsten  Erfolge  auf  diesem  Gebiete  sind  durch  die  Ein- 
führung der  Gelatinculturen  zu  verzeichnen.  Klebs')  wandte 
zuerst  die  Hausenblase  zur  Cultur  der  Coccen  an,  Brefeld*) 
versetzte  die  Nährlösungen  mit  Carraghen  oder  Gelatine.  Erst  mit 
der  Verwendung  der  festen  Gelatine  und  Agar-Agar-Nährböden  in 
der  Form  von  Platten-  und  Stichculturen,  mit  der  Benützung  des 
coagulirten  Blutserums  in  der  Weise,  wie  diese  Methoden  durch 
Koch  und  seine  Schule  gelehrt  werden,  sind  die  Studien  leichter 
ermöglicht  worden  und  zur  allgemeinen  Benützung  den  Fach- 
männern zugänglich. 

Obgleich  man  sich  gestehen  muss,  dass  die  Erfolge,  welche 
mit  Hilfe  dieser  Methoden  aufzuweisen  sind,  geradezu  überraschend 


^)  Ferd.  H neppe,  Die  Methoden  der  Bacterienforschnng.  4.  Anfl.  Wies- 
baden 1886. 

*)  C.  Fränkel,  Gmndriss  der  Bacterienknnde.  Berlin  1887. 

^)  Klebs,  Beiträge  znr  Kenntniss  der  Mikrococcen.  Archiv  f.  experiment. 
Pathol.  1873,  Bd.  I. 

*)  Brefeld,  Botanische  üntersnchnng  der  Schimmelpilze.  1872^1881, 
Bd.  I-IV. 

(2) 


Das  Eiweiss  der  Kiebitzeier  als  Nährboden  für  Mikroorganismen.     525 

wirkten,  so  Bcheint  es  doch  nicht  ausgeschlossen,  dass  man  es 
nicht  wagen  dürfte,  die  Reihe  der  Nährböden  zu  vermehren,  in 
der  Erwartung,  vielleicht  auf  diesem  Wege  noch  Einiges  über  die 
Lebensweise  der  Mikroorganismen  zu  erfahren. 

Ich  suchte  daher  eiweisshaltige  Nährböden  anzuwenden.  Diese 
zeigten  sich  aber  wegen  ihrer  Trübung,  welche  sie  bei  der  Ge- 
rinnung erlangen,  weniger  verwendbar.  Es  war  daher  angezeigt, 
das  Eiweiss  aus  den  Eiern  der  Nesthocker  zu  wählen,  welches 
bei  der  Gerinnung  nicht  zu  einer  opaken  weissen  Masse  erstarrt, 
sondern  bei  einer  Temperatur,  wo  das  Eiweiss  gerinnt,  sich  zu 
einer  durchsichtigen  starren  opalisirenden  Masse  gestaltet.  Auf 
diese  Verschiedenheit  des  Eiweisses  der  Vogeleier  wurde  von 
Tarchanoff^)  hingewiesen,  indem  er  durch  seine  Untersuchungen 
zeigte,  dass  bei  den  gefiedert  geborenen  Vögeln  (Nestflüchter)  das 
Eiereiweiss  zu  einem  opaken  Coagulum  in  der  Hitze  wird,  während 
bei  den  nacktgeborenen  (Nesthocker)  dasselbe  bei  der  gleichen 
Behandlungsweise  klar  und  durchsichtig  bleibt.  Tarchanoff 
führt  eine  längere  Reihe  der  Vögel  an,  deren  Eiereiweiss 
dieses  Verhalten  zeigt.  Auch  suchte  dieser  Autor  nach  einer 
Möglichkeit  der  Umwandlung  des  in  der  Hitze  trübe  werdenden 
Eiweisses  in  die  andere  Form,  was  ihm  dadurch  gelungen  war, 
dass  er  Hühnereier  durch  einige  Zeit  in  Ealilösung  liegen  liess, 
worauf  sich  das  um  den  Dotter  befindliche  Eiereiweiss  in  das 
sogenannte  Tataeiweiss  ^)  umgestaltet. 

Das  Eiweiss  der  Nesthocker  verwendete  ich  als  Nährboden 
für  die  Mikroorganismen.  Vorwiegend  benützte  ich  das  Eiweiss 
der  Kiebitzeier,  da  diese  mir  leicht  zugänglich  waren  und  da  sie 
verhältnissmässig  mit  Rücksicht  auf  ihre  Grösse  auch  ziemlich 
viel  für  unsere  Zwecke  verwendbares  Eiweiss  besitzen. 

Wenn  man  das  frische  Ei  der  Vögel  aufschlägt  und  den 
Inhalt  desselben  in  eine  Schale  mit  einemmale  auswirft,  so  be- 
obachtet man,  dass  das  den  Dotter  umgebende  Eiweiss  dichter 
ist  als  die  Eiweissschichte,  welche  dieses  umgibt  und  der  Schalen- 
haut anliegt.    Die  letzte  ist  geradezu  bei  manchen  Eiern  dünn- 

*)  Tarchanoff,   Pflüger's  Archiv  d.  Physiol.  XXX,  pag.  303. 
*)  So  nennt  Tarchanoff  das  Eiweiss  in  den  Eiern  der  Nesthocker.  T  a t  a 
ist  ein  Diminntivnm  eines  in  Bnssland  gebräuchlichen  Mädchenvomamens. 

(3) 


526  l>ai  Pozzo. 

flüssig,  während  das  dem  Dotter  anliegende  Eiweiss  nicht  leicht 
auseinander  fliesst.  Dieses  verschiedene  Verhalten  ist  nicht 
allein  auf  eine  verschiedene  Concentration  des  Eiweissgehaltes, 
sondern  anch  anf  eine  verschieden  dichte  Anordnung  der  Septa 
in  der  Eiweissmasse  zurückzuführen.  Bei  den  Kiebitzeiern  ist 
diese  äussere  Schichte  ziemlich  stark  flüssig  und  tritt  dadurch 
die  Scheidung  dieser  von  der  den  Dotter  umgebenden  Schichte 
sehr  deutlich  hervor. 

Man  eröfifhe  ein  Kiebitzei  und  lasse  aus  dem  vorher  mit  allen 
Cautelen  äusserlich  gereinigten  und  mit  1  pro  Mille  Sublimatlösung 
äusserlich  desinficirten  Eie  die  flüssige  Eiweissmasse  in  ein  sterl- 
lisirtes  Gefäss  abfliessen.  Die  dichtere  den  Dotter  umgebende 
Eiweissschichte  verwende  man  nicht  zugleich.  Hierauf  wird  dem 
Volumen  vom  flüssigen  Eiweiss  der  vierte  Theil  Wasser  zugeführt, 
welches  gleichfalls  früher  sterilisirt  wurde.  Von  dieser  Lösung 
giesst  man  in  sterilisirte  mit  einem  Wattapfropf  verschlossene 
Proberöhren  und  gewinnt  aus  einem  Ei  ungefähr  für  vier  bis  fünf 
Eprouvetten  zu  vertheilende  flüssige  Lösung.  So  hergerichtete 
Eprouvetten  werden,  in  ähnlicher  Weise  wie  beim  Herstellen  des 
Blutserums  oder  anderer  fester  Nährböden,  passend  schief  gestellt 
und  bei  einer  Temperatur  von  ungefähr  70®  C.  zur  Gerinnung 
gebracht.  Es  wird  zur  Sicherheit  die  discontinuirliche  Sterilisining 
mit  den  so  hergerichteten  Nährböden  durchgeführt,  was  wohl,  wie 
wir  aus  den  folgenden  Mittheilungen  ersehen  werden ,  nicht  un- 
bedingt nöthig  zu  sein  scheint. 

Man  kann  eine  Aenderung  des  Nährbodens  insofeme  noch 
dadurch  bewirken,  dass  mau  zu  der  Eiweisslösung  verschiedene 
im  Wasser  lösliche  Substanzen  hinzufügt,  die  keine  Gerinnung 
der  Lösung  bewirken  und  deren  Zusatz  nur  insofeme  eine  Aenderung 
des  Nährbodens  bewirkt,  als  man  dem  Eiweiss  noch  andere  füi* 
das  Gedeihen  der  Culturen  brauchbare  Körper  beigemengt  hat. 
Von  solchen  Körpern  wählte  ich  bisher  Glycerin,  Dextrin,  Kleister, 
Zuckerlösung,  welche  Lösungen  vor  dem  Zusätze  filtrirt  und  sterilisirt 
wurden.  Das  Glycerin  verwendete  ich  vorzugsweise  im  Gemenge 
mit  der  den  Dotter  umgebenden  dichteren  Eiweissmasse,  die  mit 
Glycerin  und  Wasser  gemengt,  hierauf  filtrirt  in  ähnlicher  Weise 
verwendbar   wird,    wie   die   aus  der   verdünnten   Eiweissmasse 

(4) 


Das  Eiweiss  der  Kiebitzeier  als  Nährboden  für  Mikrooi^anismen.     527 

hergestellten   Nährböden.    Anch    hier   tritt   die   diBContinuirliche 
Sterilisation  in  Anwendung. 

An  derartig  hergestellten  Nährboden  worden  einige  Versuche 
bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  zunächst  mit  Saprophyten 
angestellt  und  auch  einige  parasitäre  Mikroorganismen,  soweit 
mir  Reinculturen  zur  Verfügung  standen,  verwendet 

Im  Allgemeinen  zeigte  sich  das  Verhalten  des  Nährbodens, 
wenn  man  die  Stichcultur  machte,  folgendermassen :  An  der  Stelle 
des  angebrachten  Stiches  trat  eine  Trübung  auf,  welche  sich 
bald  nach  einigen  Tagen  verdickte,  ohne  radiär  auszustrahlen. 
Von  der  Stelle  des  angebrachten  Stiches  trat  zuweilen  eine 
Trübung  auf,  die  nicht  so  wie  im  ersten  Falle  dem  angebrachten 
Stiche  entsprechend  sich  nur  einfach  im  Nährboden  verdickte, 
sondern  von  hier  aus  in  die  Eiweissmasse  eingreift  und  sich  durch 
dieselbe  verbreitet,  so  dass  die  ganze  Masse  getrübt  erscheint  und 
von  dem  Impfstiche  aus  die  Gultur  den  ganzen  Nährboden  durch- 
greift. Hierbei  kann  der  Nährboden  fest  bleiben,  obgleich  er  trübe 
geworden,  oder  er  beginnt  sich  von  der  Oberfläche  aus  zu  ver- 
flüssigen. Die  an  der  Oberfläche  des  Nährbodens  mit  der  Impf- 
nadel angebrachten  Striche  können  ihre  Stichform  beibehalten, 
oder  sich  nach  der  Breite  auf  der  Oberfläche  inselartig  aus« 
dehnen  oder  gleichfalls  in  die  Tiefe  eingreifen  und  den  Nährboden 
trüben  und  verflüssigen. 

Die  verschiedenen  Formen  des  Wachsens  der  Mikroorganismen 
auf  diesem  Nährboden  sind  so  charakteristisch,  dass  sie  je  nach 
der  Art  derselben  unterschieden  werden  können.  Es  mögen  hier 
einige  Erfahrungen  mitgetheilt  werden,  welche  ich  an  einigen 
Mikroorganismen  machte.  Der  Micrococcns  prodigiosus  gedeiht  in 
einem  schönen  rosafarbigen  Tone  besser  und  schöner  auf  einem 
stärkehaltigem  Nährboden.  Er  verflüssigt  nach  und  nach  den 
letzteren,  bis  die  ganze  Masse  von  diesen  Mikrococcen  durchsetzt 
ist.  In  den  Fällen,  wo  das  reine  mit  Wasser  gemengte  Eiweiss 
als  Nährboden  verwendet  wurde,  ist  die  Farbe  bei  Zimmertemperatur 
mit  der  Zeit  mehr  weniger  schmutzigbraun  geworden.  Der  Ba- 
cillus des  grünen  Eiters  verhielt  sich  in  ähnlicher  Weise.  Der 
Nährboden   ward   schön  smaragdgrün,  welche  Farbe  sich  bald 

Med.  Jahrbücher.  1887.  4X      (&) 


528  ^<^l  POBBO. 

gleichmässig  über  den  ganzen  Nährboden  verbreitet  nnd  nach  der 
Verflttssigang  beibehalten  wird. 

Der  Bacillofi  der  blanen  Milch  bräunt  anfangs  den  eiweiss- 
haltigen  Nährboden.  Bei  auffallendem  Lichte  tritt  in  späteren 
Stadien  seines  Wachsens  eine  Andeutung  von  Bläue  auf.  Der  Bacillus 
yiolaceus  fällt  auch  hier  durch  seine  schöne  violette  Farbe  auf.  Die 
Hefe  gedeiht  gleichfalls  schön  und  tritt  bei  farbiger  Hefe  die  Farbe 
derselben  deutlich  hervor,  jedoch  stets  in  helleren  Nuancen  als  auf 
manchen  anderen  verwendeten  Nährböden.  Die  schwarze  Hefe  ver- 
liert theilweise  in  dünnen  Schichten  ihre  Pigmentirung  und  wird 
zuweilen  gelblich.  Die  Rosahefe  ebenso,  die  weisse  und  gelbe  Hefe 
gedeihen  schön  und  behalten  ihre  Farbe  bei.  Der  Erysipel-Mikrococcus 
(Fehleisen)  greift  vom  Impfstiche  bald  durch  den  ganzen  Nähr- 
boden. Es  wird  hierbei  die  Eiweissmasse  derart  difiundirt,  dass 
sie  ziemlich  getrübt  erscheint.  Dieser  Mikroorganismus  ist  ein 
Repräsentant  jener  Mikroorganismen,  welche  bei  ihrem  Wachsthum 
die  Eiweissmasse  als  Nährboden  durchsetzen  und  sich  in  diffuser 
Form  in  denselben  verbreiten,  dabei  den  Impfstich  stets  deutlicher 
hervortreten  lassen. 

Eine  Reihe  anderer  Mikroorganismen  zeigten  bald  das  eine,  bald 
das  andere  Bild  am  Nährboden.  Manche  gedeihen  nur  sehr  langsam. 
Zuweilen  war  gar  kein  Erfolg  der  Impfung  nachzuweisen  oder 
derselbe  war  unsicher. 

Eine  der  ferneren  Aufgaben,  welche  ich  mir  stellte,  war, 
zu  entscheiden,  ob  denn  in  dem  frischen,  dem  Kiebitzei  entnommenen 
Eiweiss  bereits  Keime  enthalten  sind,  aus  denen  sich  Mikro- 
organismen entwickeln.  Zu  diesem  Zwecke  nahm  ich  das  frische 
Eiweiss  aus  dem  Ei  und  trug  es,  ohne  irgend  einen  Zusatz,  auf 
eine  sterilisirte  Glasplatte  auf.  Die  dünne  Schichte  Eiweiss  wurde 
unter  dem  Recipienten  einer  Luftpumpe  über  Schwefelsäure  ge^ 
trocknet  Die  so  getrocknete  Eiweissschichte  ward  in  eine  steri- 
lisirte feuchte  Kammer  gelegt  und  mehrere  Tage,  ja  sogar 
zwei  Wochen,  liegen  gelassen.  Bei  der  näheren  makroskopischen 
und  mikroskopischen  Untersuchung  ergab  es  sich  wiederholt,  dass 
die  frischen  nicht  in  Bebrütung  befindlichen  Eier,  welche  ein 
klares  Eiweiss  besitzen,  frei  von  Mikroorganismen  waren. 

(6) 


Das  Eiweiss  der  KiebitEeier  als  N&hrboden  für  Mikroorganismen.     529 

Wenn  ich  die  Eiweissschichte  auf  den  Glasplatten,  bevor 
sie  getrocknet  wurde,  mit  irgend  einer  Reincnltnr  geimpft  habe, 
so  bekam  ich  nach  einer  Reihe  von  Tagen  die  den  bezüglichen 
Mikroorganismen  entsprechenden  Inseln  in  den  verschiedensten 
Formen  zn  sehen,  ohne  dass  darin  von  anderen  Beimengungen 
enthalten  wäre,  was  der  Provenienz  den  ursprünglich  in  der  Eiweiss- 
lösung  enthaltenen  Keimen  entsprechen  würde.  Auf  diese  Weise 
gelangte  ich  zu  der  Annahme,  dass  im  frischen  Eiweiss  der 
Kiebitzeier  keine  Keime  für  die  Entwicklung  der  Mikroorganismen 
enthalten  sind. 

Ich  versuchte  daher  mit  Hilfe  dieser  Eiweissmasse  Platten- 
culturen  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  in  der  Weise  durch- 
zuführen, dass  ich  auf  der  Platte  mit  der  Platinnadel  impfte 
und  daselbst  die  zur  Impftmg  verwendete  Portion  im  Eiweiss 
fein  vertheilte.  Die  so  hergerichtete  Masse  wurde  über  Schwefel- 
säure unter  dem  Recipienten  auf  der  Platte  getrocknet.  Hierauf 
in  die  feuchte  Kammer  gebracht,  ging  die  Entwicklung  der 
Mikroorganismen  vor  sich  und  man  konnte  von  der  Platte,  die 
stets  feucht  erhalten  war,  auf  bekannte  Weise  weitere  Impf- 
versuche durchftihren. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  zu  erwähnen,  dass  man  die  so  her- 
gerichteten Platten  an  einem  womöglich  dicht  verschlossenen,  vor 
dem  Zutritt  von  Mikroorganismen  geschützten  Orte  trocknen  lassen 
kann  und  auf  diese  Weise  ein  Substrat  für  die  weiteren  Culturen 
im  Vorrathe  behält,  welches  blos  in  den  feuchten  Kammern  einige 
Zeit  gelassen,  wieder  als  zur  Verimpfung  geeignet  benützt  werden 
kann.  Weitere  Erfahrungen,  besonders  über  die  letzte  in  An- 
wendung gezogene  Methode,  werden  später  aus  dem  Institute  des 
Herrn  Prof.  Schenk  ausftlhrlicher  mitgetheilt  werden. 


->I$H* 


41  *     <7> 


xxni. 

lieber  die  Abhängigkeit  der  Speichelsecretion 

Yom  Blatdracke, 

Von 

Dr.  Th.  Zemer  jan. 

(tüs  liin  iRstititi  fir  alli.  u.  nperlni.  Patkolofli  zu  Wim.) 

(Am  30.  Juli  1887  von  der  Redaction  übernommen.) 

Vor  Jahresfrist  habe  ich  die  Mittheilung  gemacht  ^) ,  dass 
daä  indigoschwefelsaure  Natron  durch  die  Olandnla  submaxillaris 
des  Hundes  zur  Ausscheidung  gebracht  werden  könne,  wenn  man 
das  Halsmark  dieses  Thieres  durchschneidet. 

Die  Resultate  der  Arbeit  waren  in  Kürze  folgende :  Beizt  man 
nach  erfolgter  Injection  des  Farbstoffes  die  Chorda,  so  wird  zunächst 
eine  gewisse  Menge  (1 — 2  Ccm.)  ungefärbten  Speichels  secemirt, 
hierauf  erfolgt  eine  intensive  Blautärbung  desselben.  Bei  der  mikro- 
skopischen Untersuchung  der  gereizten  Drüse  findet  man  im  Lumen 
der  AusfÜhrung8gänge  und  Alveolen  blauen  Farbstoff,  insbesondere 
in  den  sogenannten  Speichelröhren.  Auch  in  den  Zellen  selbst 
gelang  es,  den  Farbstoff  zur  Fällung  zu  bringen,  und  zwar  sowohl 
in  den  Schleimzellen,  als  auch  hier  und  da  in  den  Stabchenzellen, 
die  die  Speichelröhren  auskleiden.  ^)  In  den  Alveolen  ist  nur  dort 

')  Medicinische  Jalirbüdier  der  k.  k.  Gesellschaft  d.  Aerzte.  Nene  Folge. 
1806,  Bd.  L 

')  Grfinde,  die  mich  nebst  anderen  bewogen  haben,  die  Vermnthnng  aus- 
zusprechen, dass  die  Speichelröhren  an   der  Secretion  theilnehmen.    Siehe  1.  c. 
pag.  197  n.  ff. 
(1) 


TTeber  die  Abhängigkeit  der  Speidielsecretion  vom  Blutdrncke.        531 

der  Farbstoff  zu  finden,  wo  das  Lmnen  derselben  weit,  der  Zell« 
belag  niedrig  ist.  Zumeist  fand  man  die  Alveolen  mit  weitem 
Lumen  respective  mit  Farbstoff  und  andererseits  wieder  jene  mit 
engen  Lumen  in  Gruppen  beisammenliegend.  In  Bezug  auf  die 
Menge  des  ausgeschiedenen  Farbstoffes  schien  es,  als  wenn  der 
Sympathicus  rascher  und  in  etwas  grösserer  Menge  den  Farbstoff 
zur  Ausscheidung  brächte. 

Vor  Kurzem  erschien  nun  eine  Arbeit  Eckhardts ^),  in 
welcher  er  zu  dem  Schlüsse  gelangt:  ^dass  das  indigoschwefel- 
saure Natron  aus  dem  Bindegewebe  der  Drüse  in  alle  Theile  des 
Systems  des  Ausftihrungsganges  durch  die  Wände  desselben 
diffundire  und  bei  Reizung  der  Drüse  vom  Speichel  blos  mit  fort- 
geführt werde." 

Ohne  vorerst  auf  wesentliche  Differenzen  bei  der  Anordnung 
und  Ausführung  meiner  Versuche  und  jener  Eckhardts  einzu- 
gehen, möchte  ich  darauf  hinweisen,  dass  eine  aufmerksame 
Lecttire  der  von  mir  mitgetheilten  Protokolle  das  Bedenken,  das 
indigoschwefelsaure  Natron  gelange  durch  Difiusion  in  die  Aus- 
führungsgänge, hätte  zerstreuen  müssen.  Die  Versuchsanordnung, 
wie  sie  im  III.  Protokoll  wiedergegeben  ist,  hatte  eben  den 
Zweck,  mir  die  Aufklärung  zu  verschaffen,  ob  eine  solche 
Deutung,  wie  sie  Eckhard  gibt,  zulässig  sei.  Es  ergab  sich 
dabei ,  dass ,  wenn  man  auf  der  einen  Seite  Chorda  und  Sym- 
pathicus durchschneidet,  auf  der  anderen  die  Chorda  reizt,  die 
mikroskopische  Untersuchung  der  nicht  gereizten  Drüse  keinerlei 
Farbstofhiederschlag  weder  in  den  Speichelröhren,  noch  in  den 
Alveolen  erkennen  lässt,  obzwar  die  gereizte  Drfise  denselben  in 
der  oben  (pag.  530)  angegebeneu  Vertheilung  zeigt.  Wenn  also  bei 
der  Ausscheidung  des  Farbstoffes  blosse  Diffusion  im  Spiele  wäre, 
warum  sollte  sich  der  Farbstoff  nicht  auch  in  der  ungereizten 
Drüse  finden  ?  Das  Bindegewebe  ist  auch  in  dieser  Drüse  bläulich 
gefärbt,  ja  wie  es  schien,  noch  intensiver,  als  in  der  anderen- 
Warum  femer  findet  die  Diffusion  immer  nur  in  einer  Gruppe 
von  Alveolen  und  Speichelröhren  statt   und  concentrirt  sich  das 

^)  Ueber  den  Eintritt  des  in  das  Blat  injicirten  indigoschwefelsanren 
Natrons  in  den  Speiohel.  Beiträge  znr  Physiologie  G.  Ludwig  gewidmet  1887, 
pag.  13. 


532  Zernerjnn. 

indigoBchwefelsanre  Natron  in  compacten  Massen  nur  in  einzelnen 
AnsfUhmngsgängen  ?  Wamm  endlich  bevorzugt  die  Difiosion 
gerade  die  Speichelröhren?  Dieser  zuletzt  genannte  Umstand  ist 
auch  Eckhard  aufgefallen  und  zwingt  ihn  zu  der  Aeusserung: 
„Ob  dabei  die  das  Gangsystem  auskleidenden  Zellen  eine  be- 
sondere Anziehung  zum  Farbstoff  haben,  oder  dieser  ohne  eine 
besondere  Thätigkeit  jener  durch  Imbibition  aus  dem  benaqh-  , 
harten  Bindegewebe  eindringt,  darüber  enthalten  die  Versuche 
kein  ausschlaggebendes  Moment.^  Wenn  die  Zellen  „eine  besondere  1 
Anziehungskraft^  haben  sollen,  wie  verträgt  sich  dann  diese  mit 
dem  rein  passiven  Vorgang  der  Diffusion? 

Eckhard  hat  übrigens  das  wichtigste  Moment  meiner 
Versuche  unbeachtet  gelassen.  Auf  pag.  193  (3)  hebe  ich  hervor, 
dass  es  mir  erst  durch  eine  Aenderung  in  der  Versuchsanordnung 
gelungen  ist,  das  negative  Resultat  Heidenhai n's  zu  einem 
positiven  umzugestalten,  und  das  gleich  anschliessende  Protokoll 
zeigt,  dass  dieselbe  in  der  Durchschneidung  des  Halsmarkes 
besteht  Trotzdem  schreibt  Eckhard  (pag.  16)  „Zerner  hat 
bei  seinen  Versuchen  vorher  das  Rückenmark  durchschnitten. 
Einen  Grund  für  dieses  Verfahren  hat  er  nicht  angegeben,  und 
da  ich  nicht  einsehen  kann,  welcher  Vortheil  durch  diese  Yor- 
operation  erzielt  wird,  so  habe  ich  dieselbe  unterlassen.^ 

Betrachten  wir,  um  die  Bedeutung  dieser  Unterlassung  in 
das  rechte  Licht  zu  stellen,  die  Ergebnisse  einzelner  Versuche. 

Um  9  Uhr  34  Min.  hatte  Eckhard  die  Iigection  von 
34  Ccm.  einer  gesättigten  Lösung  von  indigoschwefelsaurem 
Natron  in  die  Venen  eines  8  Kilo  schweren  Hundes  vollendet. 
Trotz  einer  hierauf  durch  26  Min.  andauernden  Reizung  lieferte 
die  Drüse  keinen  irgendme  gefärbten  Speichel.  Erst  nach  einer 
abermaligen  Injection  von  34  Gem.,  im  Ganzen  auf  1  Kilo  über 
8  Ccm.,  erhielt  Eckhard  nach  einigen  ungefärbten  zwei  kaum 
bläulich  und  hierauf  einige  intensiver  gefärbte  Tropfen  Speichels. 
Auch  diese  waren,  wie  sich  aus  den  zusammengefassten  Ergebnissen 
pag.  16  ergibt,  nur  „bläulich"  gefärbt.  Sodann  tropfte  der 
Speichel  wieder  farblos  ab. 

Dem  gegenüber  habe  ich  einem  ungefähr  25  KUo  wiegenden 
Hunde  nur  25  Ccm.  einer  kalt  gesättigten  Lösung  des  Farbstoffes 

(8) 


üeber  die  AbhSngigkeit  der  Speiohelfleoretion  vom  Blnidmcke.        533 

injicirt  —  auf  1  Kilo  circa  1  Ccm.  — .  Nach  2  Min.  langer 
Reizung  war  der  Speichel  bereits  blau,  ja  wie  ich  ausdrücklich 
(pag.  195)  angebe,  intensiv  blau  gefärbt.  Die  ersten  Tropfen 
(ungefähr  2  Ccm.)  waren  stets'  farblos;  eine  weitere  Aeuderung 
der  Farbe  konnte  ich  nicht  wahrnehmen. 

In  welcher  Weise  die  Rückenmarksdurchschneidung  eine 
solche  Verschiedenheit  des  Erfolges  erklärt,  soll  im  Folgenden 
gezeigt  werden. 

Als  die  wesentlichsten  Ausscheidungsorgane  des  indigo- 
schwefelsauren Natrons  sind  die  Niere  und  die  Leber  anzusehen. 
Nach  wenigen  Minuten  ist  der  Harn  bereits  blau  gefärbt.  Durch- 
schneidet man  jedoch  das  Halsmark,  so  wird,  wie  Cl.  Bernard  ^) 
zuerst  angegeben,  die  Secretion  der  Niere  sistirt.  Freilich  wird 
damit  die  Ausscheidung  des  Farbstoffes  durch  die  Nierenzellen  nicht 
hintangehalten  >) ,  aber  derselbe  wird,  da  er  in  den  Canälchen 
sich  anhäuft,  nicht  so  rasch  und  vollkommen  ausgeschieden.  Es 
bleibt  in  Folge  dessen  mehr  Farbstoff  im  Blute  zurück  und  kann 
reichlicher  durch  die  Speicheldrüsen  secemirt  werden.  Dies 
geschieht  umsomehr,  als  durch  die  Rückenmarksdurchschneidung 
auch  die  Lebersecretion  vermindert,  ja  nach  einiger  Zeit  sistirt 
wird. ')  Und  thatsächlich  findet  man  in  der  Leber  bei  mikro- 
skopischer Untersuchung  nur  sehr  geringe  Mengen,  ja  in  manchen 
Fällen  gar  keinen  Farbstoff. 

Ausser  diesen,  gewiss  auch  Eckhard  bekannten  Aende- 
rungen  in  der  Secretion  der  Niere  und  der  Leber  nach  Durch- 
schneidung des  Rückenmarkes  hatte  ich  bei  meinen  vorjährigen 
Versuchen  auch  eine  solche  Aenderung  in  der  Secretion  der 
Speicheldrüse  wahrgenommen,  die  jedenfalls  auch  die  Auffindung 
des  indigo-schwefelsauren  Natrons  in  der  Drüse  erleichterte. 
Diesem  Momente  habe  ich  jetzt  erneute  Aufmerksamkeit  geschenkt 
und  führe  in  Folgendem  an  der  Hand  einiger  Protokolle  zunächst 
die  neu  gewonnenen  Thatsachen  an. 


')  Cl.  Bernard,  Le^ons  snr  les  liquides  de  rorganisme.  1859|  II,  pag.  153. 

*)  Heidenhain,  Max  Schnltze'a  Archiv.  B.  X,  pag.  ]. 

*)  Aap,  Berichte  der  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  1873,  pag.  89. 

(4) 


534  Zernerjvit 


I.  Protokoll 

Ein  über  25  Kgr.  schwerer  Hund  wird  tracheotomirt,  chloro- 
formirt^)  in  den  Ductus  Whartonianus  eine  Canüle  eingebunden, 
die  Chorda  präparirt  und  auf  den  Reizgeber  gelegt. 

In  einem  vorher  geglühten  und  gewogenen  PlatintiegeP) 
werden  ungetähr  5  Ccm.  Speichel,  die  unter  dem  Einflüsse 
der  Ghordareizung  secemirt  wurden ,  aufgefangen  >)  und  sofort 
gewogen.  Hierauf  wurde  der  Sympathicus  freigelegt  und  durch 
eine  gleich  lange  Zeit  gereizt.  Ungefähr  1*5  Gem.  Speichel 
konnten  während  der  Reizung  aufgefangen  und  hierauf  gewogen 
werden. 

Nun  wurde  die  Durchschneidung  des  Halsmarkes  in  der 
Höhe  des  1.  Wirbels  vorgenommen,  künstliche  Athmung  einge- 
leitet, und  die  Chorda  so  lange  gereizt,  bis  abermals  ungefähr 
5  Ccm.  Speichel  secernirt  waren.  Die  nun  folgende  Reizung  des 
Sympathicus  ergab  eine  so  minimale  Menge  von  Speichel,  dass 
derselbe  gar  nicht  aus  der  Canüle  ausfloss.  Ich  musste  daher  bei 
der  chemischen  Untersuchung  den  Sympathicus  ganz  ausser  Be- 
tracht lassen,  und  es  wurden  blos  die  durch  Reizung  der  Chorda 
vor  und  nach  der  Halsmarkdurchschneidung  gewonnenen  Speichel- 
mengen von  meinem  CoUegen  Dr.  A.  Katz  im  Laboratorium  des 
Herrn  Prof.  Ludwig  in  Bezug  auf  ihren  Gehalt  an  Trocken- 
substanz und  speciell  an  organischen  und  anorganischen  Sub- 
stanzen bestimmt. 

Die  folgende  Tabelle  zeigt  das  Ergebniss  der  chemischen 
Untersuchung. 


*)  Ich  mied  bei  allen  meinen  Speicheldrüsenversnchen  das  Cnrare,  weil 
es  einen  nnzweifelliaften  Einflnss  auf  die  Secretion  nnd  bei  längerer  Versnchs- 
daner  anch  anf  die  Speicbelzellen  selbst  hat. 

')  Diese  Procednren  werden  in  der  Folge  nicht  mehr  erwähnt. 

^)  Es  sei  hier  bemerkt,  dass  ich  niemals  die  ersten  10 — 15  Tropfen  auf- 
gefangen habe,  da  ich  dieselben  als  von  der  früheren  Reiznng  znräckgeblieben 
betrachtete. 

(5) 


Ueber  die  Abhängigkeit  der  Speichelsecretion  vom  Blutdrücke.        535 


Quantität  des  1 

aufgefangenen  |l 

Speichel  in    1 

Grammen.     !| 

Anzahl  der    H 

Tropfen  in  dern 

Minute.        1 

Gehalt  an      1 

festen  Bestand-|l 

theilen  in  ^/q.  H 

Gehalt  an  orga-|| 

nischen  Be-    H 

■tandtheilen  a 

in  7o.        II 

I. 
n. 

vor  Halsmark- 
dnrchschneidung 

5-7551 
6-1084 

19 
10 

M2 

0-638 

0-484 

wasserhelle 

faden  ziehende 

Flüssigkeit 

nach  Halsmark- 
dorchschneidung 

1 

1-852 

0-731 

104 

Der  Speichel  ist 

mehr  faden- 
ziehend, dicklicher 
etwas  trüber 

Man  ersieht  ans  diesen  Zahlen,  dass  in  der  Portion  n  die 
Menge  der  organischen  Substanzen  mehr  als  verdoppelt  enthalten 
war.  Zieht  man  in  Betracht,  dass  nach  Becher  und  Ludwig^) 
„mitder  Dauer  der  Absonderung  der  Gehalt  desSecretes  an  festen, 
und  zwar  vorzugsweise  an  organischen  Bestandtheilen  sinkt ^, 
in  unserem  Falle  aber  auch  noch  der  Sympathicus,  der  in  dieser 
Hinsicht  von  weit  grösserem  Einfiuss  ist  durch  über  6  Minuten 
gereizt  worden  war,  so  muss  eine  derartige  Vermehrung  der 
organischen  Bestandtheile  umsomehr  in^s  Gewicht  fallen.  Es  er- 
geben sich  also  aus  diesem  und  anderen  Versuchen  die  folgenden  Sätze : 

I.  Die  Halsmarkdurchschneidung  bewirkt  eine  Verlang- 
samung der  Speichelsecretion. 

II.  Der  Speichel  wird  dabei  insoweit  verändert,  als  er 
dicklicher,  fadenziehender  wird  und  sein  Gehalt  an  organischen 
Substanzen  sich  vermehrt. 

Ich  lasse  die  Frage  offen,  ob  diese  Sätze  auch  für  die 
Sympathicussecretion  gelten.  Erwähnen  will  ich  blos,  dass  C. 
Ludwig  und  später  Heidenhain  zu  der  Erfahrung  gelangt 
sind,  dass  Sympathicus-  und  Ghordaspeichel  nicht  specifisch  ver- 
schieden sind,  dass  beide  ihre  festen  Bestandtheile  aus  denselben 
Drttsenelementen  beziehen. 

Die  nächste  Frage  richtete  sich  nun  darauf,  wodurch  die 
Bückenmarksdurchschneidung    eine   solche   Veränderung    in   der 


^)  Becher  und  Ludwig,    Zeitschrift   f.    rationeUe    Medicin,   N.   F.  I, 
pag.  278»  1851  nnd  Heidenhain  in  den  später  citirten  Arbeiten. 

Med.  Jahrbücher,  isai.  ^         (d) 


536  Zernerjun. 

Speichelsecretion  hervorrufe.  Die  Ursache  konnte  ehenso  in  der 
Durchtrennung  von  Nervenbahnen,  die  etwa  durch  das  Halsmark 
zur  Drüse  fahrten,  liegen  als  auch  in  dem  durch  die  genannte 
Operation  herabgesetzten  Blutdrucke.  Nicht  leicht  konnte  man 
die  verminderte  Sauerstoffzufuhr  zur  Erklärung  heranziehen.  Denn 
einerseits  war  die  Blntznfuhr  eine  ungehinderte  und  andererseits 
fiihrte  eine  sehr  ausgiebige  künstliche  Athmung  keine  Aenderung 
im  Resultate  herbei.  Es  mussten  daher  zunächst  die  beiden  erst- 
genannten Erwägungen  in  Betracht  kommen.  Um  zu  einer  Ent- 
scheidung zu  gelangen,  änderte  ich  die  Versucbsanordnung  in  der 
Weise,  wie  sie  das  folgende  Protokoll  beschreibt. 

2.  Protokoll 

Ein  ungefähr  28  Kilo  schwerer  Hund  wird  unter  Chloroform- 

narcose  denselben  vorbereitenden  Operationen  unterzogen,  wie  in 

dem  erstbeschriebenen  Versuche. 

IQ^  52^—10**  56™  Reizung  der  Chorda  bei  einem  Rollenabstande 

von  53  Mm.  —  In  der  ersten  Minute  fallen 
19  Tropfen,  in  den  folgenden  fliesst  der 
Speichel  continuirlich.  —  Die  in  der  ganzen 
Zeit  aufgefangene  Menge  wiegt  7 '6021  Grm. 

10^  57m  £)iß  Vena  cava  inferior  wird  auf  ein  Compres- 

sorium  gelegt. 

11^    7™  Die  Cava  wird  comprimirt. 

llh    7"»— 11^1  10°^  Reizung  der  Chorda  bei  einem  Rollenabstande 

von  53  Mm. 

Uh  lom—iih  13m  Reizung  der   Chorda  bei   volbtändig  aufge- 
schobener Rolle. 

Im  Ganzen  sind  8  Tropfen  aus  der  Canüle 
gefallen.  Die  Beschaffenheit  derselben  ist  die- 
selbe, wie  des  bei  der  ersten  Reizung  genom- 
menen Speichels.  Sie  entsprechen  eben  der 
von  der  früheren  Reizung  her  in  der  Cantüe 
und  den  Speichelgängen  zurückgebliebenen 
Flüssigkeit. 

11^  13°»  Wiederherstellung    der   Durchgängigkeit    der 

Cava  inferior. 

(7) 


I 


Debsr  die  Ahhängigbpit  der  Speichelsecrefioi: 


1  BlutdruckB.         537 


11h  14m  Reiznng  der  Chorda.  —  Secretionsgeachwindig- 

keit  nnd  Beschaffenheit  des  Speichels  wie  vor 
der  Compression  der  Cava  inferior, 
llh  15m  Dnrchschiieidimg  des  HaUmarkes  in  der  Höhe 

des  1.  Wirbels. 
11h  2V° — lli>  SS"*  Beiznng  der  Chorda  bei  einem  Rollenabstande 

von  53  Mm. 
11h  3()m — iih  32m  Abermalige  Reizung  in  der  gleichen  Weise. 
In  der  ersten  Minute  falten  4  Tropfen,  in 
den  späteren  je  3—4  Tropfen.  Die  Gesanunt- 
menge  beträgt  2*5281  Onn.  Der  Speichel  ist 
bedentend  dicker,  zäher,  mehr  weisalich;  die 
Tropfen  grosser. 
Die  sieb  hier  anschliessende  Tabelle   tbeilt   das  Ergebniss 
der  chemischen  Untersnchong  mit.     Trotz   einer  Torhergehenden 
BeiztiDg  dnrch  11  Minuten  znm  Theile  bei  völlig  anfgeschobeoen 
Rollen  hat  nach  der  Rttckenmarksdnrchschneidnng  der  Gehalt  an 
organischen  Bestandtheilen  nicht  ab,    sondern  nm  beilänfig  zwei 
Drittel  der  in  der  ersten  Forlion  enthaltenen  Menge  zngenommen. 


I 

il 

i 

ill 

m 

Anrabl  der 

Tropfen  in  der 

Minnte, 

ff 

1   f 

Sjl 

Mi 

I. 

vor  Halsmark- 
dnrch- 

SChMitollg 

in  der  IT  Uin 
19  Tropfe», 
spAter  conti- 
anirUcher 

2-667 

0-718 

1-949 

n. 

nach  H»la. 
mukdnrch- 

7 

2-5281 

4 

3782 

0-693 

3-129 

des- Spdekel 
ist  dick«, 
tShta,  die 
Tropfen 
grtwr 

Man  sieht  denmach,  dass  trotz  TöUiger  Intactbeit  des  Cen- 
tralneirensystems  die  Secretion  anf  ein  Minimum  herabgesetzt 
werden  kann,  wenn  der  Blutdruck  gleichzeitig  auf  eine  sehr  ge- 

42«     W 


538     Zerserjait  Ueb. d.  Abhängigkeit d.  SpeiehelBacrvtion y.  Blutdraeke. 

ringe  Höhe  gesetzt  wird.  Damit  entfallt  aber  die  Nothwendigkeit 
der  Annahme,  dass  bei  der  Durchsehneidimg  des  ßäckenmarkes  eine 
etwaige  Verletzung  von  Secretionsneryen  stattfinde.  Wir  müssen 
daher  an  dem  Satze  festhalten,  dass  mit  der  Herabsetzung 
des  Blutdruckes  sich  die  Secretionsgeschwindig- 
keit  des  Speichels  vermindert  und  derselbe  an  or- 
ganischen Bestandtheilen  reicher  wird. 

Die  in  der  Literatur  angeführten  Thatsachen  widersprechen 
keineswegs  den  hier  mitgetheilten  Erfahrungen.  Bereits  die  von 
Gianuzzi^)  ansgeflihrten  Versuche  machten  es  wahrscheinlich, 
dass  die  in  den  Capillaren  eintretende  Erhöhung  des  Druckes 
die  Bildung  der  Lymphe  Tcrmehre.  Je  ergiebiger  aber  diese  in 
den  die  Acini  umgebenden  Räumen  erfolgt,  desto  leichter  und 
reichlicher  können  die  Zellen  Flüssigkeit  aufsaugen,  desto  grösser 
konnte  also  die  Secretionsgeschwindigkeit  sein  und  das  Secret 
selbst  an  festen  Bestandtheilen  yerarmen.  Die  von  Heidenhain ^) 
ausgeführten  Versuche  beziehen  sich  nicht  auf  die  Herabsetzung 
des  Blutdruckes,  sondern  auf  die  Verminderung  der  Blutzufnhr 
und  kommen  daher  bei  unserer  Frage  nicht  in  Betracht. 

Herrn  Assistenten  Dr.  G.  Gärtner,  sowie  meinem  CoUegen 
Dr  A.  Eatz,  der  in  bereitwilligster  Weise  die  chemischen  Ar- 
beiten ausgeführt  hat,  statte  ich  meinen  innigsten  Dank  ab. 


^)  Giannizif  Yersnche  fiber  die  Speichelaecration.  Ber.  der  k.  sächs. 
€^.  d.  Wissensch.  sn  Leipzig,  1865. 

')  Stadien  des  physiologischen  Institates  zu  Breslsn.  1868,  4.  Heft  und 
Pflflger's  Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie.  1878,  Bd.  XYII,  psg.  34. 


•Höh- 


Druek  von  GotUicb  Qiitcl  ä  Comp,  in  Wien. 


WeBFriiiediiiD.JHliitaiciier,J*)irgutf  US' 


Vtrljgion  Alfred  llül(ltr,k.k.Ho[iilltiiversiUs-BuditianillFrin«len. 


ffiriuTmrduiiLJahi^i'lKr.Jahrfsü^  UIH; 


Ycrijg  iton  Alfred  Holder,  UHohllnneralaisBiidiUndlerin  Wien 


XXIV. 

lieber  Jejunostomie  oder  die  Anlage  einer 
Ernährungsfistel  bei  radical  inoperabler 

Pylornsenge. 

Von 

Dr.  Carl  Maydl, 

Privatdocent  far  Chlrargle,  chirnrgiBober  Abtheilongsvorstand  an  der  Poliklinik 

in  Wien. 

(Xo8  der  Bllgemelnen  Poliklinik  in  Wien.) 

(Von  der  Bedaction  am  14.  October  1887  übemommen.) 


Vor  Einftihrnng  der  antiseptischen  WnndbehandluDg  in  die 
Chirurgie  hätte  es  sich  wohl  schwerlich  um  den  folgenden  Gegen- 
stand handeln  können.  Denselben  gegen  etwaige  mit  ihm  con- 
cnrrirende  Eingriffe  abznwägen,  hat  eben  die  letzte  Zeit,  welche 
mannigfache,  dasselbe  Leiden  bekämpfende  Eingriffe  hervorge- 
bracht, ermöglicht. 

Es  handelt  sich  hier  mn  einen  Eingriff,  welcher  die  Be- 
schwerden einer  Pylorusverlegung,  mag  sie  nun  durch  eine  Neu- 
bildung, eine  Narbe  oder  durch  Druck  von  aussen,  von  Seite 
irgend  welcher  Geschwulst  hervorgebracht  sein,  erleichtem  oder 
beseitigen  soll.  Es  ist  auch  gleichzeitig  Gegenstand  folgender  Ab- 
handlung, zu  entscheiden,  ob  zu  dieser  Operation  nicht  in  Fällen 
gegriffen  werden  sollte,  die  unter  die  soeben  erwähnten  Rubriken 
nicht  hineinfallen,  sondern  in  denen  es  wünschenswerth  ist,  dem 

Med.  Jabrbücher.  1887.  43      (i) 


540  MaydL 

erkrankten  Magen  auf  längere  Zeit  mechanische  Rahe  zn  ver- 
schaffen oder  ihn  gleichzeitig  auch  von  seiner  ftmctionellen  Thätig- 
keit  für  kürzere  oder  längere  Zeit  ansznschliessen. 

Der  Eingriff,  nm  den  es  sich  handelt,  ist  wohl  am  besten 
eine  Jejnnostomie  zn  benennen  und  bedeutet  dieser  Name  die 
Anlage  einer  Emähmngsfistel  an  einer  Stelle  des  Dünndarmes, 
welche  technisch  nicht  schwer  erreichbar  ist,  nnd  welche  dnreh 
ihre  hohe  Lage  am  Dünndarm  die  ganze  Länge  dieses  nnd  des 
Dickdarmes  znr  Verdanung  aoszanützen  gestattet. 

Die  Anlage  einer  solchen  Emähmngsfistel  ist  weder  in  ihrer 
Idee,  noch  in  ihrer  AusfÜhmng  eine  Neuheit,  denn  schon  im 
Jahre  1878  erörterte  Sarmay(^)  in  einem  gediegenen  Aufsätze  und 
sozusagen  akademisch,  ob  dieselbe  bei  Pylorusstenose  und  Magen- 
krankheiten, Entzündung,  Ulcus  und  nervösen  Stömngen  nicht 
zweckmässig,  ja  sogar  geboten  wäre. 

Die  theoretische  Erledigung  der  Frage  war  damals  eine  bei 
weitem  einfachere  als  jetzt,  wo  dem  eben  genannten  Eingriffe  im 
Zweck  gleichwerthige,  in  der  endlichen  Beseitigung  des  Leidens 
aber  fallweise  überlegene  Eingriffe  gegenüberstehen.  Kannte  man 
ja  damals  noch  nicht  die  nun  so  häufig  in  den  letzten  5  Jahren 
geübte  Excision  des  Pylorus,  auch  nicht  die  Gastroenterostomie. 
Es  hätte  sich  damals  nur  gehandelt  um  die  Abwägung  des  Ein- 
griffes der  Anlage  einer  Emähmngsfistel  am  Zwölfifinger-  oder 
Dünndarm  einem  Vorgange  gegenüber,  welcher  in  den  letzten 
Jahren  mehrmals  eingeschlagen  wurde,  nämlich  der  Bekämpfung 
der  Pylorusstenose  von  einer  am  Magen,  entweder  für  einen  ein- 
maligen energischen  Eingriff  (Loretta)  oder  für  eine  länger 
dauernde  allmälige  Erweitemng  (Schede)  anzulegenden  Fistel. 

Doch  nicht  einmal  dies  war  in  dem  Surmay'schen  Artikel 
noth wendig,  da  ja  auch  die  Idee  dieser  Eingriffe  bis  dahin 
nicht  aufgetaucht  war  und  die  Gastrostomie  bis  zu  jener  Zeit  aus- 
schliesslich zur  Umgehung  einer  Verengemng  der  Speiseröhre  ge- 
dient hat. 

Anders  steht  die  Angelegenheit  heutzutage,  wo  wir  den  Ein- 
griff einer  Emähmngsfistel  am  Dünndarm  abzuwägen  haben: 
1.  Gegenüber  der  von  Loretta  vorgeschlagenen  und  auch  aus- 
geführten einmaligen  forcirten  Dilatation  des  verengten  Pyloms. 

(2) 


Ueber  Jejxmostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähningsfistel  etc.       541 

2.  Gegenüber  der  Anlage  einer  Magenfistel  nnd  einer  allmäligen 
Erweiterung  der  verengten  Stelle  am  Pförtner,  wie  sie  Schede 
vorgeschlagen  hat.  3.  Der  radicalen  EntfemTing  des  verengenden 
Hindernisses  dnrch  eine  Pylomsexstirpation ,  wie  sie  von  Fäan 
zuerst  vorgenommen  und  von  Billroth  zum  erstenmale  mit 
glücklichem  Erfolge  durchgeführt  wurde.  4.  Der  Anlage  einer 
Fistel  zwischen  Magen  und  Dünndarm,  der  Gastroenterostomie 
Wölfler's.  5.  Der  Längsincision  einer  Narbenstrictur  mit  folgen- 
der querer  Naht,  wie  sie  H  e  i  n  e  k  e  zuerst  und  nach  ihm  Miku- 
licz ausgeführt  haben.  Es  sind  dies  lauter  Eingriffe,  welche  erst 
unter  dem  Schutze  der  antiseptischen  Wundbehandlung  theils  von 
glücklichem  Erfolge  gekrönt  wurden,  theils  überhaupt  erdacht 
werden  konnten. 

Es  ist  auch,  was  in  dem  Surmay'schen  Artikel  nicht  ge- 
nügend geschehen  ist,  die  Berechtigung  dieses  Eingriffes  auf 
Grund  physiologischer  Thatsachen  zu  begründen,  es  ist  die  Zu- 
verlässigkeit dieses  Eingriffes  auch  dnrch  Beobachtungen  zu  be- 
legen, welche  nachweisen,  dass  der  Eingriff  nicht  zwingend  einen 
letalen  Ausgang  herbeiführen  müsse.  Die  Möglichkeit  einer  Er- 
örterung dieser  letzteren  zwei  Fragen  hätten  allerdings  schon  einige 
in  den  letzten  Jahren  am  Menschen  ausgeführte  Eingriffe  dieser 
Art  geliefert,  wenn  sie  nur  nicht,  sämmtlich  in  der  kürzesten 
Zeit  ungünstig  endend,  weiter  nicht  verwendbar  wären. 

Endlich  ist  auch  der  Beweis  zu  fähren,  dass  bei  der  speciellen 
Art  der  carcinomatösen  Pylorusstenose  die  Ernährung  ebenso  gut 
vom  Dünndarm  stattfinden  und  ebenso  genügen,könne,  wie  sie  bei 
Bestand  einer  hohen  Dünndarmfistel,  wie  z.B.  im  Busch^schen 
Falle,  bei  sonst  gesundem  Organismus  genügte. 

Erst  mir  ist  es  gelungen,  durch  einen  erfolgreich  operirten 
Fall  die  Zulässigkeit  dieser  Operation  auch  in  Fällen  nachzu- 
weisen, wo  man  es  nicht  nur  mit  einem  an  einer  bestimmten 
Stelle  durchtrennten,  sonst  aber  in  seinen  beiden  von  einander 
geschiedenen  Strecken  zur  Verdauung  verwendbaren  Digestions- 
tractus  zu  thun  hat,  sondern  wo  die  Verhältnisse  es  gebieten, 
sich  mit  der  Verdauung  der  Strecke  von  unterhalb  des  Pylorus 
bis  an  das  Ende   des  Dickdarmes   zu  begnügen    und  wo  gleich- 

43  ♦     <»> 


542  Maydl. 

zeitig  eine   schwere,    an  und  für  eich   tödtliche  Erkrankung  des 
Organismns  bestand. 

Dieser  Fall  ist  anch  Veranlassung  zu  der  vorliegenden 
Publication. 

Dieselbe  gliedert  sich  in  folgende  Abschnitte:  in 
I.  eine  historische  Einleitung, 

n.  in  einen  physiologischen  Theil, 

m.  in  die  eigenen  Beobachtungen,  und  auf  Grund  der 
letzteren, 

IV.  in  eine  Kritik  des  Eingriffes  anderen,  bei  demselben 
Leiden  in  Frage  kommenden  Eingriffen  gegenüber  und 

V.  in  Besprechung  der  Technik  der  Operation. 

I.  Gapitel. 

Historisohe  Einleitimg. 

In  diesem  Abschnitte  ist  an  erster  Stelle  die  schon  erwähnte 
Publication  von  Surmay  zu  nennen,  welcher,  von  dem  Stand- 
punkte ausgehend,  dass  Rectal-Cljsmen ,  sowie  subcutane  Ein- 
spritzungen von  Nahrungsstoffen  ungenügend  seien,  auf  die  Länge 
das  Leben  zu  erhalten,  und  dass  nach  den  damaligen  Begriffen, 
—  mancitirte  damals  nur  den  Vorschlag  vonMerrem  —  die 
Pylorusexstirpation  zwar  prakticabel,  aber  nicht  praktisch  sei, 
sich  bezüglich  der  Entscheidung  der  Frage,  ob  in  passenden 
Fällen  zur  Jejxmostomie  gegriffen  werden  solle,  folgende  Punkte 
zur  Beantwortung  vorlegte: 

1 .  Ob  die  Darmverdauung  an  und  für  sich  zur  Verarbeitung 
der  Nahrungsmittel  derart  genüge,  dass  sie  assimilirbar  und 
nähriahig  wären,  ohne  dass  es  nothwendig  wäre,  die  Magenver- 
dauung  in  Anspruch  zu  nehmen. 

2.  Ob  es  möglich  ist,  für  die  Anlage  einer  Oeffnung  am 
Dünndarm  einen  passenden  Ort  ausfindig  zu  machen,  durch  welche 
Oeffnung  gewisse,  angepasste  Substanzen  eingeführt  werden  könnten, 
um  im  Dünndarm  jene  Veränderung  zu  erleiden,  deren  sie  zur 
Nähriahigkeit  benöthigen. 

Bezüglich  der  ersteren  Frage  erinnert  er  daran,  dass 
Dr.  L  e  y  e  n  der  Akademie  der  Medicin  in  Paris  die  durch  zahlreiche 
Experimente  erhärtete  Thatsache  berichtet  hat,  dass  die  Function 

(4) 


Ueber  JejimoBtomie  oder  die  Anlage  einer  Emähnmgsfistel  etc.        543 

des  Magens  keine  andere  sei,  als  die  Nahrangsmittel  vermöge 
der  Moskelhant  des  Magens  und  des  Magensaftes  zu  zerreiben 
und  za  zertheilen  nnd  dass,  wenn  der  Magensaft  anch  zur  Peptoni- 
sining  der  Eiweissstoffe  beitrage,  er  es  nicht  früher  thae,  als  bis 
die  Nahmngsmittel  im  Darme  angelangt  sind.  Betreffs  der  Stärke- 
mehlsnbstanzen  erinnert  er,  dass  dieselben  dorch  den  Speichel, 
den  Fancreassaft  nnd  den  Darmsaft  in  Glycose  umgewandelt,  die 
Fettsubstanz  aber  durch  die  Galle,  den  Fancreassaft  und  den 
Darmsaft  emulsionirt  werden. 

Nach  diesen  Thatsachen  würde  sich  daher  bei  weitem 
schwerer  der  Darm  als  der  Magen  entbehren  lassen. 

Bei  dieser  Gelegenheit  citirt  er  den  später  zu  erwähnenden 
Fall  von  Busch. 

Zur  weiteren  Unterstützung  der  Berechtigung  einer  Jejuno- 
stomie  erinnert  er  an  den  Ausspruch  von  Corvisart,  dass  der 
Fancreassaft  erst  nach  einigen  Stunden,  nachdem  man  die  Nah- 
rungsmittel in  den  Magen  eingeführt  hatte,  die  Eigenschaft  er- 
lange, das  Eiweiss  zu  peptonisiren,  was  S  u  r  m  a  y  dahin  umdeutet, 
dass  es  ebensoviel  sei,  als  zu  sagen,  dass  er  diese  Eigenschaft 
erst  dann  erlange,  wenn  die  Nahrungsmittel  im  Darme  angelangt 
sind.  Die  Anwesenheit  derselben  im  Darme  scheint  den  Reiz 
abzugeben  zur  Erlangung  dieser  Eigenschaft.  Dieser  Reiz  würde 
aber  höchst  wahrscheinlich  in  gleicher  Weise  hervorgebracht 
werden,  ob  nun  die  Nahrungsmittel  vom  Magen  aus  oder  von 
einer  im  Darm  angelegten  Emährungsfistel  in  den  letzteren 
gelangen. 

Würde  es  sich  für  die  Verarbeitung  gewisser  Stoffe  als  noth- 
wendig  erweisen,  dass  dieselben  mit  Fepsin  und  Speichel  durch- 
tränkt sind,  so  hätte  man  ja  dieselbe  vor  ihrer  Einftihrung  in 
den  Dünndarm  mit  Fepsin  zu  versetzen  oder  jenen  Vorgang  nach- 
zuahmen, welchen  Schönborn  einschlagen  liess  bei  einem  wegen 
einer  Narbenverengerung  der  Speiseröhre  gastrostomirten  Knaben, 
welcher  angewiesen  wurde,  seine  Nahrungsmittel  zu  kauen  und 
sie  dann  durch  einen  Trichter  und  Schlauch  in  den  Magen  ein- 
zubringen. Schliesslich  als  letzte  Möglichkeit  erwähnt  er,  dass  die 
gekauten  und  geschluckten  Nahrungsmittel   wieder    erbrochen  (!) 

(5) 


544  Uaydl. 

oder  mittelst  einer  Magenpnmpe  heranfgeBchafft  nnd  in  den  Dünn- 
darm eingeflösst  werden  könnten. 

Die  Entbehrlichkeit  des  Magens,  welche  anf  Gmnd  physio- 
logischer Erwägungen  als  wahrscheinlich  hingestellt  werden  mnsste, 
belegte  Snrmay  durch  eine  Beobachtang  von  Dn  Jardin- 
Beanmetz,  welcher  einen  Fall  in  der  medicinischen  Gesell- 
schaft von  Paris  vorstellte,  wo  ein  Mann,  nachdem  er  sich  mit 
Schwefelsäure  eine  Verätzung  des  Magens  beigebracht  hatte,  noch 
14  Tage  lebte,  bei  ziemlich  normaler  Verdauung.  Der  Mann  war 
bei  Milchdiät  gehalten  worden.  Die  Section  wies  nach,  dass  der 
ganze  Magen  bis  auf  einen  geringen  Theil  um  die  Pylomsgegend 
und  mit  ihm  die  anliegenden  Theile  des  Netzes  und  des  Zwerch- 
fells abgestorben  waren. 

Bezüglich  der  zweiten  Frage  schlägt  Surmay  einen  Vor- 
gang vor,  welchen  wir  in  dem  fünften,  den  technischen  Theil  der 
Operation  berührenden  Abschnitt  des  Genaueren  erwähnen  wollen. 

Er  schliesst  seine  Abhandlung  mit  den  Worten  ^^und  so 
wäre  denn  vom  Standpunkte  der  Chirurgie  die  Enterostomie  eine 
vollständig  geregelte  Operation,  vom  Standpunkte  der  Physiologie 
eine  vollständig  veinünftige;  es  fehle  ihr  nur  die  Sanction  der 
Ausführung  am  lebenden  Menschen^.  Diese  Sanction  blieb  aach 
nicht  lange  aus,  denn  nach  einem  allerdings  wenig  detaillirten 
Berichte  in  den  Verhandlungen  des  Gongresses  der  Chirurgie  im 
Jahre  1880  berichtete  bereits  Langenbuch (2)  von  einer  bei 
einem  carcinomatösen  Pylorusverschlusse  ausgeführten  Duodeno- 
stomie,  wo  er  den  Zwölffingerdarm  angenäht  und  in  einer  zweiten 
Sitzung,  und  zwar  am  7.  Tage,  den  Darm  eröffnet  hatte,  wo  aber 
der  Tod  am  10.  Tage  eintrat. 

Nach  diesem  Eingriffe  war  es  einige  Zeit  still  geblieben  bis 
im  Jahre  1884  im  „British  Medical  Journal"  (pag.  1146)  ans  dem 
königlichen  Spital  in  Manchester  von  Southam(')  ein  ähnlicher 
Fall  berichtet  wurde,  welchen  ich  des  Interesses  wegen  hier  im 
Auszuge  mittheilen  will. 

2.  John  H.,  45  Jahre  alt,  trat  ein  am  5.  März  1884  und  litt 
an  den  Symptomen  einer  Verlegung  des  Pylorus.    Einige  Monate 
früher  hatte  er  Magenbeschwerden  gehabt,  welche  in  ihrer  Inten- 
sität beständig  zunahmen. 
(«) 


Ueber  Jejanostomie  oder  die  Anlage  einer  Emälinmgsfistel  etc.       545 

Sie  bestanden  in  localisirtem  Schmerz  an  der  Spitze  des 
Magens  mit  Empfindlichkeit  bei  Druck  und  beständigem  Erbrechen. 
Das  Erbrochene  war  manchmal  mit  Blut  gemischt.  Der  Patient 
war  bei  seinem  Eintritt  hochgradig  abgemagert,  indem  er  nur 
7  St.  5  Lbs.  wog.  Keine  Nahrung  wurde  im  Magen  behalten. 
Selbst  Fltlssigkeiten  wurden  sofort  zurtlckgegeben.  Im  Urin  war 
etwas  Eiweiss.  Der  Kranke  litt  auch  an  einer  chronischen  Bronchitis. 

Die  Untersuchung  des  Unterleibs  liess  in  der  Nabelgegend 
die  Anwesenheit  eines  harten,  gut  begrenzten,  frei  beweglichen 
Knotens  entdecken,  ungefähr  von  der  Grösse  einer  Wallnuss, 
dessen  Lage  von  Zeit  zu  Zeit  sich  veränderte,  entweder  nach 
auf-  oder  nach  abwärts  oder  nach  rechts  oder  links  vom  Nabel. 
Man  diagnosticirte  einen  Scirrhus  des  Fylorus. 

Ungefähr  14  Tage  hindurch  nach  seinem  Eintritte  wurde 
der  Patient  nur  mit  ernährenden  Klystieren,  welche  man  alle 
4  Stunden  applicirte,  genährt,  doch  trotz  dieser  Behandlung  kam 
er  rasch  herab,  so  dass  er  5V4  Lbs.  in  6  Tagen  verlor.  Da  der 
Patient  und  seine  Freunde  etwas  für  denselben  gethan  sehen 
wollten ,  so  entstand  die  Frage ,  ob  ein  operativer  Eingriflf  ge- 
wagt werden  soll.  Die  Beweglichkeit  des  Knotens,  seine  geringe 
Grösse  und  Umschriebenheit  waren  der  Exstirpation  günstig,  aber 
der  äusserst  schwächliche  und  erschöpfte  Zustand  des  Patienten, 
die  Anwesenheit  von  Eiweiss  im  Harn  liess  es  als  unwahrscheinlich 
erscheinen,  dass  er  den  Insult  einer  solchen  Operation  überstehen 
würde.  Man  schlug  vor,  als  eine  Palliativmassregel  eine  explorative 
Incision  zu  machen  mit  der  eventuellen  Absicht,  eine  Duodeno- 
stomie,  d.  h.  eine  Oefihung  am  ZwöfGngerdarm  jenseits  der  Ver- 
engerung anzulegen,  oder  wenn  dies  unmöglich  wäre,  eine  Gastro- 
stomie auszuführen  und  dann  zu  versuchen,  ob  man  durch  die 
verengerte  Stelle  einer  Röhre  nicht  hindurchzudrängen  veiinöchte, 
so  dass  Nahrungsmittel  durch  diese  in  den  Darm  eingespritzt 
werden  könnten.  Bevor  man  hiezu  schritt,  machte  man  den  Ein- 
griff der  Duodenostomie  mehrmals  an  der  Leiche  und  man  fand, 
dass  es  sehr  schwer  halte,  den  ersten  Theil  des  Duodenums  gegen 
die  Oberfläche  zn  bringen  und  es  war  überhaupt  zweifelhaft,  ob 
dies  am  lebenden  Körper  ausführbar  sein  werde.  Am  20.  März 
vmrde  in  der  Narcose  unter  antiseptischen  Cantelen  eine  Incision, 

f7) 


646  Maydl. 

ungefähr  3  Zoll  lang  in  der  Mittellinie,  gemacht,  in  der  Mitte 
zwischen  dem  Schwertfortsatz  des  Brustbeines  nnd  dem  Nabel. 
Nach  Eröffnang  der  Bauchhöhle  in  derselben  Ansdehnong  bekam 
man  den  linken  Leberlappen  zu  Gesicht  und  unter  ihm  scheinbar 
das  Fylorusende  des  Magens,  was  sich  aber  später  als  das 
Anfangsstück  des  Duodenums  erwies.  Mit  dem  Finger  fand  man 
einen  verhärteten  Ring  die  ganze  Peripherie  des  Pylorus  ein- 
nehmend, welcher  ungeföhr  einen  Zoll  nach  links  von  der  Mitte 
der  Incision  lag.  Die  Krankheit  war  auf  den  Pylorus  beschränkt 
und  es  waren  keine  Adhäsionen,  Heranziehungen  der  nachbar- 
lichen Theile  vorhanden.  Das  so  ohne  Schwierigkeiten  in  die 
Bauchwunde  eingestellte  Duodenum  wurde  mit  einer  einfachen 
Reihe  von  11  Seidenknopfnähten  an  die  Bauchwand  angenäht, 
und  zwar  so,  wie  es  bei  der  Gastrostomie  (allerdings  nur  in 
England)  üblich  ist,  nämlich,  dass  einerseits  durch  die  Naht  die 
ganze  Dicke  der  Bauchwand,  andererseits  die  Serosa  und  ein 
Theil  der  Muscularis  des  Eingeweides  mit  gefasst  wurde. 

Der  obere  und  der  untere  Theil  der  Bauchwand  wurde 
verschlossen,  die  Bauchhöhle  drainirt(!)  und  ein  Lister'scher 
Verband  angelegt.  Nach  der  Operation  wurden  abermals  ernäh- 
rende Klystiere  applicirt.  Am  nächsten  Morgen  war  die  Tempe- 
ratur 99^  F.,  Puls  104.  Der  Patient  hatte  eine  gute  Nacht  und 
schien  sich  wohl  zu  befinden.  Am  zweiten  Morgen  war  die  Tem- 
peratur 102®,  der  Puls  138.  Patient  klagt  über  Durst  und  hat 
einen  leichten  Husten.  Die  Emährungsklystiere  wurden  alle  be- 
halten. Am  3.  Morgen  war  eine  entschiedene  Wendung  zum 
Bösen  zu  constatiren.  Die  Gesichtszüge  des  Patienten  waren 
zugespitzt  und  er  erschien  sehr  coUabirt  und  erschöpft;  Tempe- 
ratur 103^  F.,  der  Puls  160  und  so  schwach,  dass  er  kaum  fühl- 
bar war.  Seit  Vormittag  wurde  kein  Kly stier  mehr  behalten.  Indem 
der  Patient  an  Collaps  zu  sterben  drohte,  so  erschien  es  zweck- 
mässig, das  Duodenum  ohne  weiteren  Verzug  zu  eröfi&ien,  um  auf 
diesem  Wege  Nahrung  zuzuführen.  Man  machte  die  Wunde  zu- 
gänglich, öfihete  das  Eingeweide,  welches  fest  au  die  Bauchwand 
adhärent  war  und  flösste  zwei  Unzen  von  peptonisirter  Milch 
durch  einen  elastischen  Catheter  ein,  dies  wurde  alle  2  bis 
3  Stunden  wiederholt,  der  Patient  erholte  sich  aber  nicht,  wurde 

(8) 


Ueber  JejunoBtoxnie  oder  die  Anlage  einer  Emähmngsfistel  etc.       547 

iiDiner  schwächer  und  schwächer  und  starb  am  Ende  des  3.  Tages. 
Bei  der  Section  war  keine  Peritonitis  vorhanden.  Das  Duodenum 
war  fest,  adhärent ,  die  Induration  war  auf  das  Pylorusende  des 
Magens  beschränkt  und  liess  das  Duodenum  vollständig  frei,  dem 
blossen  Äuge  erschien  dieser  Ring  carcinomatös,  doch  ergab  die 
mikroskopische  Untersuchung  nur  die  Anwesenheit  von  Binde- 
gewebe, wahrscheinlich  als  Folge  einer  narbigen  Schrumpfung 
nach  einer  chronischen  Ulceration. 

In  den  Anmerkungen  wird  die  L  an  gen  buc  hasche  Ope* 
ration  erwähnt,  in  welchem  Falle  die  Krankheit  längs  der  kleinen 
Curvatur  des  Magens  sich  weiter  erstreckte,  in  demselben  war 
die  Pylorusresection  beabsichtigt,  erschien  aber  unausführbar. 
Ungefähr  vor  12  Monaten  soll  eine  ähnliche  Operation  von 
Dr.  Robertson  in  Oldham  mit  Unterstützung  Dr.  Thompson 
ausgeflihrt  worden  sein  wegen  einer  einfachen  Strictur  des  Pylorus, 
aber  der  Patient,  welcher  zur  Zeit  der  Operation  bereits  sehr 
erschöpft  war,  starb  ungefähr  12  Stunden  nach  derselben  an  Shock. 

Hieran  werden  folgende  Bemerkungen  geknüpft.  Die  Duo-: 
denostomie  sei  am  lebenden  Menschen  ausführbar  und  unter  allen 
Umständen  an  solchen  Kranken,  welche  durch  Inanition  aus 
irgend  welchen  Ursachen  erschöpft  sind  und  bei  denen  die  Bauch- 
Wandungen  dünn  und  eingezogen  sind.  Unter  solchen  Umständen 
sei  die  Operation  keine  schwere,  sei  rascher  und  leichter  und  von 
weniger  Shock  gefolgt  als  der  „furchtbare"  Eingriff  der  Pylorus- 
ectomie.  In  jenen  Fällen  von  Pyloruskrebs,  in  welchen  die  Pylorus- 
ectomie  ausser  Erwägung  steht,  mag  die  Duodenostomie  nach 
denselben  Grundsätzen  ausgeführt  werden,  wie  die  Gastrostomie 
bei  bösartigen  Stricturen  der  Speiseröhre,  einfach  als  eine  Palliativ- 
massregel in  der  Aussicht,  den  Patienten  vor  Yerhuugerung  zu 
bewahren  und  das  Leben  zu  verlängern.  In  den  Fällen  einer  ein- 
fachen Strictur  des  Pylorus  ist  die  Operation  anstatt  der  Pylorus- 
resection, welche  auch  in  diesen  Fällen  ausgeführt  wurde  oder 
anstatt  der  digitalen  Erweiterung  des  verengerten  Pylorus  zu 
vollziehen.  Der  durch  die  letztere  Operation  geschaffene  Vortheil 
ist  blos  zeitweilig,  indem  die  Strictur  die  Neigung  hat,  sich  wieder 
zusammenzuziehen.  In  jenen  Fällen  einer  einfachen  Ulceration 
des  Magens,  welche  aller  Behandlung  widersteht  und  endlich  mit 

(9) 


548  Maydl. 

dem  Tode  endigt  und  derentwegen  man  sowohl  die  Fjloros- 
resection  als  anch  die  einfache  Excision  des  Geschwüres  jüngst 
ausgeführt  hat,  sei  die  Duodenostomie,  wenn  andere  Massnahmen 
gescheitert  sind,  zuzulassen  als  ein  Mittel,  den  Magen  in  den 
Znstand  physiologischer  Rahe  zn  versetzen,  in  welcher  die  Heilung 
des  Oeschwüres  erfolgen  kann.  Wenn  dies  erreicht  ist,  wäre  kein 
Grund  vorhanden,  die  Fisteleröffhung  des  Darmes  nicht  wieder  zu 
schliessen  und  den  Vorgang  der  Ernährung  wieder  auf  normalem 
Wege  vor  sich  gehen  zu  lassen.  In  dem  gegenwärtigen  Falle 
war  zweifellos  der  tödtliche  Ausgang  dadurch  bedingt,  dass  die 
chirurgische  Hilfe  zu  spät  in  Änspmch  genommen  wurde,  sonst 
sei  kein  Grund  einzusehen,  warum  der  Patient  vor  der  Operation 
nicht  hätte  genesen  und  sein  Leben  für  längere  Zeit  verlängert 
werden  können. 

3.  Die  ebenerwähnte  Operation  von  Robertson (*)  wurde 
bei  einem  47jährigen  Manne  wegen  einer  fibrösen  Strictur  des 
Pylorus  ausgeführt,  man  hatte  eine  Ernährungsfistel  am  Duode- 
num angelegt.  Dasselbe  wurde  eingenäht,  doch  erfolgte  der  Exitus 
letalis  bereits  8  Stunden  darauf. 

Eine  andere  sehr  verwandte  Operation  wurde  in  folgenden 
Fällen  versucht. 

1.  Golding  Bird('^)  hat  einen  Mann  operirt,  der  46  Jahre 
alt  war  und  seit  10  Monaten  an  Verlegung  des  Pylorus  litt.  Man 
tastete  einen  Tumor  in  der  Pylorusgegend,  der  Mensch  war  hoch- 
gradig abgemagert,  weil  er  Alles  erbrach  und  deswegen  auch 
jede  Nahrung  verschmähte.  Golding  Bird  wollte  am  25.  Oc- 
tober  1885  die  Resection  machen.  Doch  erwies  sich  sowohl  der 
Tumor  als  die  Leber  adhärent,  weswegen  sich  der  Operateur  zur 
Jejunostomie  entschloss.  Er  Hess  mit  Zangen  eine  Partie  des 
Dünndarms  emporhalten,  welche  2  Zoll  vom  Duodenum  entfernt 
war  und  vereinigte  die  Bauchwunde  derart,  dass  das  Jejunum  in 
den  unteren  Winkel  der  Wunde  eingenäht  werden  konnte.  Patient 
wurde  durch  das  Rectum  und  durch  den  Mund  ernährt.  Am 
3.  Tage  eröffnete  man  den  Darm  und  ernährte  den  Kranken  von 
hier  aus.  Wenn  die  Nahrung  eine  Pinto  überschritt,  so  bekam  der 
Kranke  Indigestion.  Wenn  sie  nicht  10  Unzen  erreichte,  so  ging 
es  gut.  Am  9.  Tage  wurde  aus  Versehen  die  Nahrung  wahrschein- 

(10) 


üeber  Jejunostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähntngsflatel  etc.       549 

lieh  dnrch  eine  Drainstelle  in  die  Peritonealhöhle  eingespritzt, 
woranf  der  Patient  nach  12  Standen  starb.  Die  Adhäsionen  waren 
fest,  nnr  bestand  eine  ganz  kleine  Lücke.  Bei  dieser  Gelegenheit 
bespricht  Bird  das  Verhältniss  der  Operation  znr  Pylorectomie 
und  Gastroenterostomie  and  betont,  dass  bei  der  letzten  Operation 
ein  grosser  Mangel  darin  bestehe,  dass  der  Magen  nicht  von 
seinen  physiologischen  Aafgaben  dadurch  entlastet  wird,  dass 
man  den  Durchgang  durch  den  Pylorus  nicht  beansprucht.  Die  Je- 
junostomie hätte  denselben  Nachtheil  wie  die  Gastrostomie,  sie 
ist  aber  die  beste  Palliativoperation  bei  P^loruscarcinom,  ohne  die 
Gefahr  der  Gastroenterostomie,  da  sie  die  übrigen  Organe  weniger 
in  Mitleidenschaft  zieht. 

Durch  die  Dünndarmemährung  kann  die  vollständige  Emäh- 
rang  gesichert  werden. 

Die  Regurgitation  der  Nahrung,  wie  sie  bei  der  Gastero- 
enterostomie  möglich  ist,  ist  bei  der  Jejunostomie  ausgeschlossen. 

In  der  darauffolgenden  Discussion  wurde  von  Bryant  die 
Operation  als  einzig  dastehend  in  der  Chirurgie  bezeichnet. 

2.  Pearce  Gould(«)  fährte  bei  einem  Ingenieur,  welcher 
im  August  1885  im  Spitale  aufgenommen  war  und  seit  Juni  1884 
krank  war,  im  Juli  1885  Blut  erbrach  (desgleichen  ging  in  den 
Stühlen  ab),  eine  ähnliche  Operation  aus.  Der  Patient  wurde  seit 
seinem  Bluterbrechen  durch  Rectalklysmen  ernährt ;  jeder  Versuch, 
durch  den  Magen  ihn  zu  ernähren,  war  von  Schmerz  und  kaffee- 
satzartigem Erbrechen  gefolgt.  Im  Magen  wurde  wässerige  Flüssig- 
keit mit  saurer  Reaction  vorgefunden  und  Torulae  cerevisiae, 
ohne  Sarcine.  Magen  aasgedehnt,  kein  Tumor  bestimmt  tastbar. 
Die  Radicaloperation  war  nicht  zu  machen. 

Man  schlug  die  Jejunostomie  vor,  welche  auch  am  8.  Sep- 
tember 1885  ausgeführt  wurde.  Der  Schnitt  wurde  in  der  Mittel- 
linie geflihrt  und  dann  am  Pylorus  eine  Geschwulst  getastet, 
sodann  das  ganze  Netz  nach  oben  gezogen  und  das  obere  Ende 
des  Jejunnm  in  die  Wunde  vorgezogen  und  mit  zwei  Reihen 
Garbolseidenähten  angenäht.  Die  Bauchwunde  ebenfalls  vernäht. 
Nach  66  Stunden  trat  der  Tod  ein  ohne  Peritonitis.  Am  2.  Tage 
hatte  man  den  Darm  eröffnet.  Das  Jejunum  erschien  bei  der 
Section  mit  der  vorderen  Bauchwand  innig  verklebt.     Es  waren 

(11) 


550  Maydl. 

keine  Metastasen  yorhanden.  Man  hatte  in  diesem  Falle  die 
Pylornsresection  verworfen,  weil  der  Zostand  des  Patienten  au 
schlecht  war,  ebenso  die  Gasteroenterostomie,  welche  an  2  Standen 
dauert  nnd  bei  dem  Zustande  des  Patienten  unzulässig  war. 
Ausserdem  soll  die  letztere  Operation  nach  dem  Verfasser  3  Nach- 
theile haben,  nämlich  die  Nothwendigkeit  von  intraperitonealea 
visceralen  Nähten,  Unmöglichkeit  der  Ruhe  und  der  Entlastung 
für  den  in  Unordnung  befindlichen  Magen  und  die  Unmöglichkeit 
den  Riickfluss  von  Galle  und  Pancreassaft  in  den  Magen  zu 
hindern,  was  mit  der  Magenverdauung  in  ernstlichem  Conflict  führt. 
Auf  der  anderen  Seite  erscheint  die  Jejunostomie  als  ein  gering- 
fügiger Eingriff,  indem  sie  in  sich,  wenn  überhaupt,  eine  nur  ge- 
ringe Gefahr  schliesst  und  den  Vortheil  hat,  dem  Magen  so  weit 
als  möglich  Ruhe  zu  verschaffen,  sowie  die  Möglichkeit,  Nahrung 
in  einen  Theil  des  Verdauungscanales  einzuführen,  wo  Verdauung 
und  Resorption  sehr  lebhaft  sind.  Diese  Operation  war  die  erste 
ihrer  Art  und  jene  Golding  Bird's  wurde  2  Monate  später 
gemacht.  Hingegen  wurde  die  Duodenostomie  (wie  wir  es  an- 
fuhren) schon  Smal  ausgeführt,  die  Fälle  verliefen  aber  sämmtlich 
tödtlich. 

Das  Jejunum  hat  ein  langes  Mesenterium  und  kann  leicht 
hervorgezogen  werden,  während  das  Duodenum  für  diesen  Zweck 
sehr  unbrauchbar  ist,  wegen  seiner  anatomischen  Lage.  Die 
Medianincision  war  ausgeführt  worden,  doch  würde  sich  fast  jene 
auf  der  linken  Seite  besser  empfehlen,  da  bei  derselben  das  Netz 
weniger  aus  seiner  Lage  gebracht  wird  und  der  Darm  weniger 
Zug  und  Verlagerung  erleidet.  Man  zieht  den  Darm  vor  und  die 
vom  Mesenterium  abgewendete  Partie  wird  eingenäht.  Die  Er- 
öfi&iung  kann  am  5.  Tage  gemacht  werden,  aber  auch  früher  oder 
später,  wenn  es  der  Zustand  des  Patienten  erfordert  oder  erlaubt. 
Die  Eröffnung  des  Darmes  sollte  man  quer  zur  Längsaxe  des 
Darmes  machen.  Ueber  die  Ernährung  kann  nichts  Bestimmtes 
ausgesagt  werden,  doch  sollte  man  die  Nahrung  nur  in  kleinen 
Quantitäten  eingeben,  besonders  in  der  ersteren  Zeit  eher  nur 
langsam,  damit  sich  dieselben  mit  der  Galle  und  dem  Pancreas- 
saft; mischen  könne.  Man  soll  immer  dickere  Nahrung  reichen; 
sie  sollte  immer  von  saurer  Reaction  sein  und  man  sollte  immer  am 

(12) 


üeber  Jejnnostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernälmmgaflstel  etc«       551 

besten  Obers  oder  peptonisirte  Milch  oder  Beeftea  geben.  Es 
entleert  sich  dann  nichts  von  Darminhalt  oder  Gallensaft,  was 
man  sorgfaltig  vermeiden  sollte. 

Wenn  wir  die  berichteten  Fälle  der  Dnodenostomie  und  Jejn- 
nostomie übersehen,  so  könnten  wir,  trotz  der  optimistischen  Anslegong 
des  Erankheitsverlaofes  seitens  der  Operateure,  in  den  Resultaten 
der  Fälle  in  keiner  Weise  eine  Aufmuntemng  finden,  eine  ähnliche 
Operation  versnchsweise  noch  einmal  zu  unternehmen.  Allerdings 
sind  die  Fälle  darnach  geartet,  dass  in  der  Mehrzahl  nicht  ohne 
Berechtigung  der  tödtliche  Ausgang  derselben  auf  die  Schwäche 
des  Patienten  geschoben  wurde,  doch  lässt  sich  jedenfalls  nicht 
ein  klares  Urtheil  darüber  gewinnen,  ob  es  nicht  besser  gewesen 
wäre,  an  derlei  herabgekommenen  Individuen  überhaupt  jeden 
operativen  Eingriflf  zu  unterlassen,  oder,  ob  der  Eingriff,  so  ein- 
fach er  auch  sein  mag,  nicht  durch  seine  Folgen  die  tödtlichen 
Ausgänge  bedingt  hat.  In  dieser  Beziehung  wäre  also  allerdings 
ein  FaD,  welcher  nachweisen  würde,  dass  auf  die  Ausfuhrung  des 
Eingriffes  nicht  nothwendigerweise  der  Tod  folgen  müsse,  sondern 
dass  er  als  operativer  Insult  ganz  gut  überstanden  werden  könne, 
von  Werth.  Durch  den  von  mir  operirten  Fall  wird  dieser  Nach- 
weis zweifellos  erbracht.  Es  wäre  aber  auch  noch  weiter  die 
Frage  zu  entscheiden  gewesen,  ob  Patienten,  welche  mit  einem 
130  schweren  Leiden,  als  es  ein  Magenkrebs  ist,  behaftet  sind, 
welche  höchst  wahrscheinlich  bis  zur  Vornahme  des  Eingriffes 
hochgradig  geschwächt  worden  sind,  auch  wenn  sie  den  operativen 
Insult  überdauern  würden,  durch  irgend  eine  zweckmässig  ge- 
wählte Nahrung  für  längere  Zeit  am  Leben  erhalten  werden 
können  und  ich  glaube,  dass  nach  dem  Ergebniss  meiner  ersten 
Beobachtung  auch  in  dieser  Beziehung  kein  Zweifel  obwalten 
kann.  Bevor  ich  aber  meine  Eingriffe  unternahm,  handelte  es  sich 
mir  darum,  nachdem  schon  die  concreten  Beobachtungen  am 
Menschen  hierüber  keinen  Aufschluss  gaben,  mich  in  den  physio- 
logischen und  experimental- pathologischen  Publicationen  umzu- 
sehen, ob  überhaupt  ein  thierischer  Organismus,  und  zweitens  bei 
Einführung  was  für  einer  Nahrung  er  am  Leben  erhalten  werden 
kann,  wenn  bei  ausgeschlossener  Magenverdauung  nur  die  ganze 
Darmstrecke  zur  Verfügung  steht.     Und  thatsächlich  fanden  sich 

(18) 


652  May  dl. 

ttber  diesen  Gkigenstand  einige  werthyoDe  Untersachiingen  vor.  Ich 
will  sie  in  dem  folgenden  Capitel,  dem  physiologischen  Theil,  zu- 
sammenfassen.      . 

IL  Capitel. 
Physiologiflolier  Theil. 

Eine  hierher  gehörige  Versuchsreihe  wurde  in  folgender 
Weise  angestellt. 

C  z  e  r  n  y  und  Kaiser  excidirten,  um  die  Zulässigkeit  einer 
mehr  oder  weniger  ausgedehnten  Magenreseetion  nachzuweisen, 
den  Magen  ganz  oder  bis  auf  einen  ganz  geringfügigen  Rest.  In 
dem  Falle  E  a  i  s  e  r's  wurde  dem  Hunde  der  Magen  so  weit  aus- 
geschnitten, dass  sich  der  Zwölffingerdarm  fast  unmittelbar  an 
die  Speiseröhre  anschloss.  Als  der  Hund  nach  Yerheilung  der 
Wunde  wieder  Futter  bekam,  frass  er  anfangs  gierig  und  erbrach 
dann  häufig;  letzteres  offenbar  in  Folge  von  Reizungen  der  au 
der  Cardia  endenden  Yagusäste.  Bald  aber  passte  er  die  Menge 
der  aufgenommenen  Nahrung  dem  verkleinerten  jenseits  der  Speise- 
röhre gelegenen  Hohlräume  an  und  gedieh  dabei,  was  unzweifel- 
haft aus  der  Zunahme  des  Körpergewichtes  hervorging.  Der 
Hand  überlebte  die  Operation  21  Tage. 

In  einem  zweiten  von  Czerny  operirten  Falle  gelang  es, 
einen  Hund  mehrere  (6)  Jahre  hindurch  am  Leben  zu  erhalten. 
Derselbe  wurde  dem  physiologischen  Laboratorium  in  Leipzig 
überlassen  und  Ogata(^)  stellte  an  ihm  eine  Reihe  sehr  inter«- 
essanter  Beobachtungen  an.  Aus  dem  regen  Appetit,  welchen 
dieser  Hund  den  verschiedenartigsten  Stoffen  entgegenbrachte,  aus 
der  normalen  Beschaffenheit  seines  Kothes  und  aus  dem  in  Folge 
reichlicher  Fütterung  anwachsenden  Körpergewicht  konnte  man 
ersehen,  dass  seine  Verdauung  in  keinem  Punkte  der  eines  ge- 
sunden Hundes  nachstand.  Bei  der  Section  des  im  Jahre  1882 
getödteten  Thieres  ergab  sich,  dass  an  der  Gardiaseite  ein  kleiner 
Theil  der  Magenwand  noch  vorhanden  war,  welche  eine  kugel- 
förmige mit  Speise  gefüllte  Höhle  umschloss.  Hiermit  wäre  eigent- 
lich fiir  unsere  Frage  schon  eine  genügende  physiologische  Basis 
gewonnen,  insofern,  als  bei  Thieren,  denen  der  Magen  bis  auf 
einen  geringfügigen  Rest  entfernt  worden  war,   der  Organismus 

(14) 


Ueber  Jejnnostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernälurongsflstel  etc.       553 

Wochen-,  ja  jahrelang  erhalten  werden   konnte   nnd  das  Körper- 
gewicht desselben  hierbei  zunahm. 

Eine  zweite  Versuchsreihe  wurde  im  Laboratorium  von  Karl 
Ludwig  in  Leipzig  angestellt,  und  zwar  in  folgender  Weise:  Man 
legte  in  die  unmittelbare  Nähe  des  Pylorus  eine  Magenfistel  an, 
von  der  man  die  Fförtnermündung  sehen  konnte.  Durch  die  Magen- 
fistel Hess  sich  ein  passend  gebogenes  Glasrohr  in  das  Pylorus- 
lumen  einschieben  und  durch  dasselbe  die  Nahiung  mit  Umgehung 
des  Magens  in  den  Zwölffingerdarm  einbringen.  Wenn  die  Speisung 
des  Dünndarmes  geschehen  und  die  Glasröhre  entfernt  worden 
war,  wurde  nach  den  Vorschriften  von  Tappeiner  und  A n r  e p (®) 
ein  gestielter,  dünnwandiger  Gummiballon  durch  den  Pylorus  ge- 
schoben und  dessen  hohler  Stiel  so  weit  mit  Wasser  geflillt,  bis 
ein  dichter  Ab schluss  des  Pförtnermundes  hergestellt  war;  hierauf 
endlich  wurde  in  die  Canüle  der  Magenfistel  der  steife  Hals  eines 
breiten  Kautschukbeutels  eingesetzt.  Es  ist  ersichtlich,  dass  damit 
dem  Magensafte  der  Zutritt  zur  Darmhöhle  verwehrt  und  zugleich 
die  Ueberflihrung  von  Speiseresten,  die  trotz  der  sorgfältigen  Rei- 
nigung des  Magens  zurückgeblieben  sein  konnten,  in  den  Darm 
unmöglich  war.  Da  aber  beim  Ausziehen  des  Glasrohres,  dem 
Einsetzen  des  gestielten  Gummiballons  und  dessen  Ausdehnung 
durch  Wasser  ein  Antheil  der  eingeführten  Stoffe  wieder  gegen 
den  Magen  zurückfliessen  kann,  so  bediente  man  sich  später  zur 
Vermeidung   dieses  Rückflusses   folgender  Vorrichtung  (Ogata): 

In  die  eine  Oeffnung  eines  an  den  zwei  gegenüber  liegenden 
Polen  durchbohrten  Gummiballons  wurde  ein  kurzer  Ring  einge- 
bunden, dessen  Lichtung  mit  einem  doppelt  durchbohrten  Stopfen 
verschlossen  war. 

Durch  den  Stopfen  liefen  2  Gummicatheter.  Der  eine  der- 
selben endete  in  dem  Hohlräume  des  Ballons,  der  andere  dagegen, 
welcher  weiter  und  länger  war,  durchsetzt  auch  die  Oeffiiung  am 
anderen  Ende  des  Gummibeutels  und  ragt  mit  seinem  freien  Ende 
5  Cm.  über  denselben  hinaus.  An  dem  Orte ,  wo  er  den  Ballon 
verliess,  war  der  Gatheter  in  die  Wand  des  Beutels  dicht  einge- 
bunden. Das  Verschlussstück  wurde  leer  durch  den  Pylorus  ge- 
schoben,   dann  durch  das   in  seine  Höhlung  mündende  Rohr  so 

(15) 


554  MaydL 

weit  mit  Wasser  gefiUlt,   bis  sich  der  Ballon   an  die  Wand  des 
Duodenums  fest  anlegte. 

Dann  wnrde  durch  das  zweite  in  den  Darm  hineinragende 
Rohr  die  Speisemasse  eingebracht ;  der  in  dem  Rohr  verbleibende 
Speiserest  durch  etwas  Wasser  nachgespült  und  hierauf  endlieh 
auch  die  freie  Mündung  des  weiteren  Catheters  verstopft.  Nach 
1 — IVi  Stunden  fliesst  nichts  mehr  ab.  Auch  der  Magensaft  muss 
aus  dem  Magen  während  der  Verdauung  leicht  abfliessen  können, 
so  lange  die  Verdauung  im  Dünndarm  nicht  beendet  ist. 

Hierzu  genügten,  wie  die  Versuche  zeigten,  2 — 3  Stunden. 
Der  Stopf  ballon  im  Dünndarm  darf  nicht  allzu  viel  gespannt  sein, 
da  er  sonst  Erbrechen  hervorruft.  Tappeiner  und  Anrep 
klagten  hierüber  als  über  einen  Uebelstand  der  Methode. 

Aus  den  in  der  vorbeschriebenen  Weise  angestellten  Ver- 
suchen ergab  sich,  was  ftlr  unsere  Angelegenheit  am  wichtigsten 
ist,  dass  nach  der  Ausschaltung  des  Magens  die  Fleischfresser  die 
zur  Erhaltung  des  Körpergewichtes  genügende  Men^e  der  Nah- 
rung auf  ein-  oder  zweimal  täglich  aufnehmen  und  vollkommen 
bis  zur  Bildung  des  normalen  Kothes  ausnützen  können.  Zur  Be- 
friedigung der  Bedürftiisse,  welche  die  Verdauung  zu  erfüllen  hat, 
ist  darum  der  Magen  weder  als  Vorrathskammer ,  noch  als  Er- 
zeuger des  Labsaft;es  unumgänglich  nothwendig.  Durch  den  Hin- 
zutritt des  Magensaftes  empfangen  allerdings  zahlreiche  Nahrungs- 
mittel erst  die  Vorbereitung,  deren  sie  durchaus  bedürfen,  wenn 
sie  vom  Dünndarm  verdaut  werden  sollen.  Dahin  gehört  der  Ein- 
fluss  der  Säure  auf  das  freie  oder  verkalkte  Bindegewebe. 

Weit  grösser  ist  die  Zahl  der  NahrungsstoflTe,  die  durch  ihre 
Veränderung  der  Oberfläche  oder  durch  Zerlegung  in  kleine 
Stückchen  im  Magen  erst  die  Befähigung  erlangen,  im  Darme  so 
lang  als  möglich  zu  haften,  um  dort  vollständig  aufgenommen  zu 
werden.  Aus  diesem  Grunde  gewinnt  der  Fleischfresser  durch  den 
Magen  die  Möglichkeit,  sein  Bedürfniss  nach  Nahrung  auf  einer 
breiteren  Grundlage  zu  befriedigen  und  das  Genossene  weit  voll- 
kommener auszunützen. 

In  ähnlicher  Weise  angestellte  Experimente  beleuchteten  in 
belehrender  Weise  die  Schnelligkeit  der  Peristaltik,  die  Wirkung 
der  Abführmittel  u.  s.  w.  (Hess  (»). 

(16) 


Ueber  JeJTinostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähningsfistel  etc.       555 

Auch  jene  Versuchsreihe  wies  also  nach ,  dass  in  überein- 
stimmender Weise  mit  der  Angabe  von  Leven  an  der  franzö- 
sischen Akademie  der  Magen  zwar  ein  bedeutender  Vortheil,  aber 
kein  unumgänglich  nothwendiges  Bedürihiss  sei.  Er  vertheilt  die 
Nahrungsmittel  so,  dass  eine  grössere  Oberfläche  desselben  dem 
Darmsafte  geboten  wird,  er  macht  gewisse  Sorten  von  Nahrungs- 
mittel für  die  Ernährung  zugänglich,  die  wir  sonst  für  dieselbe 
kaum  verwenden  könnten.  Doch  er  ist  insofeme  nicht  unumgäng- 
lich nothwendig,  als  seine  Wirkung  sowohl  die  der  Zerreibung 
als  die  der  Lösung  des  Bindegewebes  auf  künstlichem  Wege  er- 
setzt werden  kann,  indem  man  die  Nahrungsmittel  zerkleinert 
und  eventuell  mit  einer  salzsäurehaltenden  Fepsinlösung  früher 
versetzt  und  ausserhalb  des  Körpers  die  Umwandlung,  die  sie 
sonst  im  Magen  erlitten  hätten,  durchmachen  lässt  und  sie  erst 
darnach  in  den  Dünndarm  einführt.  Von  Seite  der  thierischen 
Physiologie  wäre  demnach  gegen  einen  Eingriff,  wie  ihn  eine 
Duodenostomie  oder  Jejunostomie  darstellt,    nichts   einzuwenden. 

Der  Zufall,  wie  er  seine  wichtige  Rolle  aach  bei  der  Legi- 
timirung  der  Magenfistel  gespielt  hatte,  kommt  uns  auch  in  der 
Basirung  des  uns  interessirenden  Eingriffes  mit  einer  Beobachtung 
am  Menschen  zu  Hilfe. 

Es  ist  bekannt,  dass  der  berühmte  Fall  von  Beaumont 
(Schuss  in  den  Magen,  Vorfall  desselben,  Entstehung  einer  Magen- 
fistel, durch  deren  Bestand  der  Betroffene  jahrelang  in  seinem 
Wohlbefinden  kaum  gefährdet  wurde)  mit  dazu  beitrug,  der  Praxis 
der  Gastrostomie  Eingang  zu  verschaffen.  Auch  für  unseren  Ein- 
griff, finden  wir,  hat  der  Zufall  für  eine  ähnliche  Beobachtung 
vorgesorgt.  A  priori  wäre  ja  auf  dem  Wege  eines  Traumas  oder 
auf  dem  einer  incarcerirten  Hernie  wohl  ein  Fall  zu  denken,  wo 
von  der  Verletzung  oder  von  der  Einklemmung  eine  der  obersten 
Dünndarmschlingen  betroffen  würde,  wo  die  Person  nach  üb  er- 
standener Lebensgefahr  doch  genesen  wäre  und  wo  sich  an  Stelle 
des  durch  Trauma  oder  Gangrän  perforirten  Darmes  eine  blei- 
bende Darmfistel  etablirt  hätte.  Doch  ist  uns,  wie  wohl  die  Beob- 
achtungen von  Fisteln,  welche  nach  Hernien  zurückgeblieben 
sind,  ziemlich  zahlreich  sind,  kein  Fall  bekannt,  wo  die  Ein- 
klemmung   eine  der  obersten  Dünndarmschlingen   betroffen  hätte 

Med.  Jahrbücher.  1887.  44    (17) 


556  MaydL 

nnd  in  Folge  derselben  auf  dem  Wege  der  Gangrän  der  einge. 
klemmten  Darmschlinge  eine  Dttnndarmfistel  entstanden  wäre. 
Wohl  gibt  es  eine  grosse  Reihe  solcher  Fisteln,  welche  dem 
untersten  Abschnitte  des  Jejannms  oder  dem  Anfangstheil  des  Colon 
angehören.  Bei  dem  sonst  ausgezeichneten  Emährnngszostande  der 
mit  der  Fistel  letzterer  Art  behafteten  Patienten  kann  kein  Zweifel 
obwalten,  dass  der  Bestand  einer  solchen  Fistel  in  keiner  Weise 
den  Organismas  in  seinem  Bestände  bedroht.  Allerdings  ist  auch 
hierbei  wieder  zu  bemerken,  dass  bei  der  tiberwiegenden  Mehr- 
zahl solcher  Fisteln,  insbesondere  solcher,  welche  nach  Incar- 
ceration  und  Gangrän  einer  Darmschlinge,  oder  nach  einer  circa- 
lären  Darmnaht  entstanden  sind,  kein  Hindemiss  besteht,  dass 
auch  die  unterhalb  der  Fistel  gelegenen  Darmpartien  ftir  die  Ver- 
dauung ausgenützt  werden,  da  der  von  oben  kommende  Speise- 
brei oft  nur  zum  allergeringsten  Theil  nach  aussen  fliesst  and  der 
grösste  Theil  davon  die  abwärts  gelegene  Darmstrecke  durch- 
wandert. Nur  ein  verhältnissmässig  geringer  Theil  der  Fistel  ist 
so  beschaffen,  dass  ein  Darmlumen  vollständig  in  der  Bauchwand 
eingewachsen  ist  und  sämmtlicher  Darminhalt  sich  durch  die- 
selbe entleert,  während  das  ebenfaDs  in  der  Bauchwand  einge- 
wachsene, aber  abftihrende  Stück  vollständig  leer  bleibt,  durch 
die  mangelnde  Yorwandung  atrophirt. 

Doch  sind  auch  solche  Fälle  an  grösseren  Anstalten  nicht 
gar  selten.  Eine  solche  beobachtete  ich  an  einem  Kranken,  welcher 
nach  einer  eingeklemmten  gangränösen  Hernie  des  Cöcums  und 
des  zufahrenden  Dünndarmes  einen  Anus  praeter-naturalis  bekam, 
wo  beide  Darmlumina  neben  einander  in  der  Wunde  lagen  und 
der  Kranke  von  dem  schweren  Leiden,  welches  er  durchzumachen 
hatte,  genas  und  trotz  der  Entleerung  sämmtlichen  Darminhaltes 
bei  der  Wunde  heraus  und  ohne  Benutzung  der  aufsaugenden 
Oberfläche  des  ganzen  Dickdarmes  vollständig  gut  gedieh,  wodurch 
ähnlich  wie  ftlr  den  Magen  die  Entbehrlichkeit  dieses  untersten 
Darmabschnittes  zweifellos  erwiesen  ist.  Eine  Beobachtung,  wo 
die  Gangrän  den  obersten  Theil  des  Jejunum  betroffen  hätte  und 
ein  wahrer  Anus  praeter-naturalis  entstanden  wäre,  ist  nicht  zu 
unserer  Kenntniss  gekommen. 

(18) 


üeber  Jejmiostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähnmgsfistel  etc.       557 

Eine  gerade  fttr  unsere  Frage  höchst  wichtige  Beobachtung 
jedoch,  wo  Verletzung  das  veranlassende  Moment  war,  lieferte 
uns  Busch(i<^)  aus  seiner  Bonner  Elinik,  welche  wir  wegen  des 
einschlägigen  Interesses  mittheilen  wollen.  Es  wurde  auf  die  Klinik 
eine  31jährige  Frau  aufgenommen,  welche  von  einem  wtithenden 
Stier  auf  die  Homer  genommen  und  in  die  Luft  geschleudert 
wurde;  durch  das  eine  Hom  wurde  eine  b"  lange  Querwunde 
gerissen,  welche  ungefähr  in  der  Mitte  zwischen  Nabel  und  Sym- 
physis verlief.  Aus  der  Wunde,  welche  die  Bauchwand  durchbohrte, 
fielen  scheinbar  unverletzte  Eingeweide  vor.  Diese  wurden  zurück- 
gebracht und  jene  durch  die  Naht  geschlossen.  In  den  ersten 
3  Tagen  nach  der  Verletzung  befand  sich  die  Patientin  den  Um- 
ständen gemäss  wohl,  auch  erfolgte  in  der  Nacht  ein  Stuhlgang. 
Aber  es  entstanden  heftige  Schmerzen,  die  Wunde  brach  wieder 
auf  und  entleerte  Serum.  Der  Stuhl  stockte  und  unter  Zunahme 
der  Schmerzen  drang  endlich  auch  Darminhalt  und  unverdaute 
Nahrungsmittel  aus  der  Wunde.  Trotzdem,  dass  bald  darauf  die 
Schmerzen  aufhörten  und  sich  ein  gewaltiger  Appetit  einstellte, 
verfiel  die  Patientin  ausserordentlich  schnell,  so  dass  sie  die  An- 
gehörigen in  der  6.  Woche  nach  der  Verletzung  nach  Bonn  trans- 
portirten.  Der  Zustand,  in  welchem  sich  die  Patientin  bei  der 
Aufnahme  befand,  war  ein  äusserst  trauriger.  Sie  hatte  das  Aus- 
sehen einer  50 — 60jährigen  Person;  sie  bot  einen  Grad  der  Ab- 
magerung, wie  man  ihn  selten  zu  beobachten  Gelegenheit  hat. 
Unter  der  schlaffen,  welken  Haut  liess  sich  keine  Spur  von  Fett 
mehr  wahrnehmen,  weiter  ragten  alle  Knochenvorsprtinge  vor,  die 
Muskeln  waren  schlaff  und  welk  und  hatten  geringen  Umfang. 
Die  Schwäche  derselben  war  so  gross,  dass  Patientin  ohne  fremde 
Hilfe  sich  nicht  im  Bette  umzuwenden  vermochte,  sondern  in  ihrer 
zusammengekrümmten  Lage  verharren  musste.  Besonders  auffallend 
war  die  Unthätigkeit  der  Muskeln  in  dem  eingefallenen  abge- 
magerten Gesicht.  Mühsam  und  unvollkommen  bewegten  sich  die 
Lippen  beim  Sprechen.  Der  physiognomische  Ausdruck  blieb  immer 
derselbe,  leidend,  ohne  dass  eine  Veränderung  wegen  des  man- 
gelnden Spieles  der  Gesichtsmuskeln  wahrzunehmen  war.  Dem- 
entsprechend hatte  auch  das  Auge  etwas  Lebloses,  indem  es  tief 
in   der   fettlosen  Orbita  zurückgesunken   und  mit  sichtbarer  An- 

44  ♦      (19) 


658  Maydl 

strengUDg  bewegt  wurde.  Aach  das  Herz  zeigte  eine  geringe 
Thätigkeit,  40—50  Schläge  in  der  Minute,  der  Pols  klein,  faden- 
förmig. Die  Athemzttge  waren  entsprechend  oberflächlich  and 
geschahen  10— 12mal  in  der  Minnte.  Die  Stimme  war  heiser 
nnd  tonlos ,  das  Sprechen  selbst ,  wie  jede  noch  so  geringe  An- 
strengang  mühsam.  Bei  der  äusseren  Untersuchung  des  sonst  tief 
eingefallenen  Leibes  fand  sich  zwischen  dem  Nabel  und  dem 
horizontalen  Schambein  eine  rundliche  längliche  Geschwulst,  welche 
sich  als  ein  Bauchbruch  erwies.  Auf  der  unteren  Hälfte  war  ein 
ungefähr  1  ^/a''  langer,  querlaufender  Hautdefect,  in  welchem  man 
die  durch  ihre  Querspalte  und  wurmförmigen  Darmgänge  leichter 
erkennbare  innere  Oberfläche  des  Darmes  offen  zu  Tage  liegen 
sah.  Links  und  oben  an  diesem  Querspalte  befand  sich  eine  rund- 
liche Oeffnung,  aus  welcher  von  Zeit  zu  Zeit  eine  mit  GaDe  ge- 
färbte und  mit  Nahrungsresten  untermischte  Flüssigkeit  hervor- 
kam. In  diese  Oeffnung  drang  der  Finger  leicht  ein,  ebenso  eine 
elastische  Sonde,  ohne  jedoch  ein  Ende  des  Rohres  zu  erreichen. 
Darunter,  ungefähr  in  der  Mitte  des  Querspaltes,  erschien  ein 
kegelförmig  umgestülptes  Darmstück,  welches  in  seiner  Mitte  eine 
Oeffnung  zeigt,  in  die  man  mit  dem  Finger  ebenfalls  eindringen 
konnte ;  auch  hier  erreichte  der  Finger  kein  blindes  Ende,  dagegen 
quoll  eingespritzte  Flüssigkeit  wieder  vor  und  ein  in  diese  Oeffnung 
eingeführter  elastischer  Catheter  bog  sich  um  und  kam  mit  der 
Spitze  wieder  zur  Oeffnung  heraus.  Diese  Apertur  führte  also  in 
einen  Blindsack,  welcher  vom  Darm  gebildet  und  nicht  in  das 
untere  Ende  des  Yerdauungscanales ,  welches  in  den  Mastdarm 
endet.  Erst  nach  mehreren  Tagen  gelang  es,  an  dem  rechten 
Winkel  des  Querspaltes  eine  dem  Gesichte  durch  eine  Falte  ver- 
deckte Oeffnung  aufzufinden,  welche  durch  die  narbige  Contraction 
der  Darmschleimhaut  auf  den  Durchmesser  eines  starken  Sonden- 
knopfes verengt  war,  sich  aber  bald  so  weit  ausdehnen  liess,  dass 
der  Finger  eindringen  konnte  und  so  in  das  untere  Ende  des 
Yerdauungscanales  gelangte.  Rings  um  den  Querspalt  war  die 
Haut  des  ganzen  Unterleibes  durch  fortwährendes  Berieseln  mit 
Verdauungssaft  und  Speisebrei  excoriirt  und  wund.  Die  bioss- 
liegende innere  Darmwand  erschien  durch  starke  Ii\jection  gleich- 
massig  hochroth.    Aus   der  Lage   dieses  widernatürlichen  Afters 

(80) 


üeber  Jejnnostomie  oder  die  Aolage  einer  Emähnrngsfistel  eto.       559 

unterhalb  des  Nabels  und  dem  Caliber  des  zugänglichen  Darmes 
schloss  man  auf  den  Dünndarm.  Der  Umstand,  dass  an  dem  bloss- 
liegenden  Theile  die  Valvulae  conniventes  Eorkringii  so  dicht 
standen,  dass  ihre  freien  Ränder  sich  berührten,  bewies,  dass  der 
obere  Theil  des  Dünndarmes  frei  lag.  Hierfür  sprach  auch  noch, 
dass  die  Verdauungssäfte  in  reichlicher  Menge  ausströmten,  dass 
der  Speisebrei  bei  gemischter  Nahrung  mehr  flüssige  als  feste 
Bestandtheile,  und  dass  die  in  demselben  enthaltenen  Nahrungs- 
brocken wenig  verändert  zum  Vorschein  kamen.  Ja,  Busch  ver- 
muthete  sogar,  dass  die  Fistel  nicht  sehr  fern  von  der  Einmün- 
dungssteile  des  Gallen-  und  Pancreasganges  sich  befand,  denn 
Morgens  im  nüchternen  Zustand  waren  die  herausfliessenden  Ver- 
dauungssäfte ganz  grasgrün  gefärbt,  welche  Farbe  wir  doch  be- 
kanntlich in  entfernten  Theilen  des  Dünndarmes  nicht  mehr  an- 
trefien  und  erst  bei  längerem  Zusehen,  wenn  frisch  secernirte 
Galle  zuströmte,  nahmen  sie  die  goldgelbe  Farbe  an.  Die  hohe 
Lage  der  widernatürlichen  Oeffiiung  erklärt  den  rapiden  Verfall 
der  Patientin  trotz  der  reichlich  eingeführten  Nahrung  genügend, 
denn  aus  den  eingeführten  Nahrungsmitteln  wurde  nur  wenig  auf 
dem  kurzen  Wege,  welchen  sie  durchlaufen  haben,  aufgenommen 
und  der  Körper  verlor  eine  ganze  Menge  abgesonderter  Verdauungs- 
flüssigkeit, welche  hier  frei  abströmte,  weil  sie  im  normalen  Zu- 
stande grösstentheils  im  Darme  wieder  aufgesogen  wird,  ein  be- 
trächtliches Quantum. 

Leider  wurden  zur  Zeit  der  Abmagerung  keine  Wägungen 
vorgenommen. 

Nachdem  ein  UeberfÜhren  des  durch  die  obere  Oe£Fhung 
abfliessenden  Speisebreies  in  die  untere  misslang,  war  man  ge- 
zwungen, die  Kräfte  der  Patientin  auf  andere  Weise  zu  heben. 
Man  brachte  in  das  untere  Darmende,  zu  welchem  weder  der 
Magensaft,  noch  Galle  und  Pancreassaft  gelangen  konnten,  sondern 
welches  nur  von  Darmsecreten  befeuchtet  wurde,  Nahrungsmittel- 
hinein,  und  zwar  melr  proteinhaltige  als  vegetabilische  Stoffe; 
damit  dieselben  leichter  verdaut  werden  könnten,  wählte  man 
vorzüglich  die  flüssige  Form,  kräftige  Fleischsuppe,  in  welcher 
Eier  gerührt  waren,  zuweilen  wurde  auch  Mehlsuppe  in  reich- 
licher Menge  eingespritzt ;  aber  auch  Stücke  von  gekochten  Eiern 


560  HaydL 

und  Fleisch  worden  mit  4em  Finger  hineingestopft,  und  zwar  in 
ziemlich  hedentonder  Quantität.  Der  Erfolg  war  ein  überraschender. 
Denn  während  man  vorher,  als  man  zu  dieser  Emährong  ge- 
schritten war,  bei  der  reichlichsten  Kost  keine  Eräfteznnahme 
bemerken  konnte,  war  die  Besserung  schon  einige  Tage,  nachdem 
auch  das  untere  Darmende  gefallt  worden  war,  augenscheinlich 
und  ein  Jeder  konnte  sich  überzeugen,  dass  von  Tag  zu  Tag  die 
Kräfte  zunahmen.  Zwar  war  das  noch  nicht  am  Eörpervolumen 
zu  beobachten,  aber  die  Muskeln  gewannen  an  Energie,  das 
Gesicht  verlor  seinen  verzerrten,  todtenahnlichen  Ausdruck,  das 
Auge  wurde  wieder  glänzend,  die  Sprache  erhielt  ihren  Klang 
die  Patientin  konnte  sich  wieder  aufrichten  u.  s.  w. 

Nach  achtwöchentlichem  Aufenthalte  im  Spitale  hat  sich 
schon  wieder  etwas  Fett  angesammelt  und  die  Patientin  war  so 
weit  gestärkt,  dass  sie  ohne  Hilfe  durch  die  Stube  gehen  konnte. 
Zu  dieser  Zeit  betrug  das  Gewicht  das  einer  mittelgrossen  Frao, 
68  Pfund  4  Loth.  5  Wochen  später,  also  13  Wochen  nach  der 
Aufnahme  wog  sie  75  und  noch  8  Wochen  später  85  Pfund.  Er- 
wähnenswerth  ist  noch ,  dass,  als  die  Kräfte  auf  einen  gewissen 
Punkt  wieder  gehoben  waren,  reichliche  Ernährung  vom  Monde 
allein  genügte,  um  allmälig  den  Körperzustand  der  Patientin  zu 
verbessern.  Busch  studirte  an  derselben  verschiedene  Erschei- 
nungen. So  vor  AUem  den  Hunger.  Es  ergab  sich,  dass  man  bei 
demselben  zweierlei  Empfindungen  unterscheiden  müsse:  1.  Ein 
Allgemeingefilhl,  welches  der  Zustand  des  Nervensystemes  ist  und 
in  welchem  wir  uns  bewusst  werden,  dass  ein  Verbrauch  statt- 
gefunden hat,  welcher  Ersatz  fordert.  2.  Die  zweite  Art  des 
Hungergefühles,  welche  in  einer  Affection  der  Nerven  der  Ver- 
dauungsorgane besteht  und  sich  uns  durch  eine  unangenehme 
Empfindung  im  Magen  durch  Speichelfluss  im  Munde  bemerkbar 
macht.  Weiter  studirte  er  die  Peristaltik.  Auch  wenn  kein  Speise- 
brei mehr  im  Darm  war,  wenn  aber  die  peristaltische  Bewegung 
dabei  fortdauerte,  wurde  von  Zeit  zu  Zeit  aus  dem  widernatür- 
lichen After  wenigstens  gallige  Flüssigkeit  hervorgestossen. 

Das  Lager  der  Patientin  war  stets  durchnässt.  Als  sie  sich 
schon  helfen  konnte,  fing  sie  alles  den  Tag  über  Ausfliessende 
in  Schüsseln  auf.  Während  der  Nacht  jedoch,  wo  sie  diese  Vor- 

(aa) 


üeber  Jejmiostoiiiie  oder  die  Anlage  einer  EnuUmingsflstel  etc.       561 

sieht  nicht  gebrauchen  konnte,  blieb  ihr  Lager  dennoch  trocken; 
von  10  Uhr  Abends  bis  5  Uhr  Morgens  floss  nichts  ans,  selbst 
Theile  der  am  Abend  genossenen  Mahlzeit  wurden  zurückbehalten ; 
auch  wenn  sie  schlief,  floss  zu  jener  Zeit  nichts  ab. 

Die  Angaben  Lndwig^s  und  Schwarzenberg^s,  dass 
alle  Körper  nur  in  der  Richtung  gegen  den  After  fortbewegt 
würden,  konnte  Busch  nicht  bestätigen,  denn  im  unteren  Darm- 
ende spürte  man  recht  unangenehm  die  antiperistaltische  Bewegung. 

Bezüglich  des  Darmsaftes  fand  Frerichs  in  einer  abge- 
bundenen Dünndarmschlinge  (ohne  Galle  und  Fancreassaft)  den- 
selben alkalisch.  Die  Secretion  des  oberen  Theiles  des  Dünn- 
darmes ist  keine  massenhafte.  Auch  Busch  fand,  dass,  wenn  viel 
herausfiiesst,  es  Magensaft,  Galle  und  Fancreassaft  ist.  Die  Flüssig- 
keit reagirt  stets  alkalisch.  Frerichs  fand  weiters,  dass  der  Dünn- 
darmsaft Stärke  in  Zucker  umwandle,  leugnete  hingegen  die  Wirkung 
auf  Eiweisskörper.  B  idder  und  Schmidt  fanden,  dass  der  Darmsaft 
auch  Eiweisskörper  zerlege.  Diese  Differenz  zu  klären  unternahm 
Busch  einige  Versuche.  Er  brachte  protemhaltige  Nahrungsmittel 
in  die  untere  Fartie  des  Darmcanales,  worauf  jeden  Tag  ein  Stuhl 
erfolgte.  Später  wurde  derselbe  wieder  träger,  so  dass  man  nach- 
helfen musste.  Die  ausgeschiedenen  Massen  waren  von  solchem 
Ansehen,  wie  sonst,  nur  selbstverständlich  nicht  mit  Galle  ge- 
färbt und  von  furchtbar  aashaftem  Gerüche.  Unverdaute  Stücke 
Hessen  sich  darin  nicht  entdecken.  Da  die  Patientin  sich  hierbei 
erholte,  so  musste  ProteYb  verdaut  worden  sein.  Allerdings  gibt 
Busch  auch  zu,  dass  dieser  Beobachtung  in  der  Literatur  auch 
widersprechende  Beobachtungen  entgegenstehen,  wo  in  eine  Darm- 
fistel eingebrachte  Nahrungsstoffe  unverdaut  abgingen.  Aber  in 
B  u  s  c  h's  Falle  musste  eben  die  grösste  Strecke  des  Darmes  durch- 
laufen werden,  und  da  wurde  auch  Alles  verdaut.  Busch  unter- 
nahm auch  Versuche  mit  Stärke,  Bohrzucker  und  Fett  und  es  er- 
gaben sich  aus  diesen  Versuchsreihen  folgende  ftir  unseren  Zweck 
vdchtige  Schlussfolgernngen.  Der  Darmsaft  kann  stärkemehlh altige 
und  proteKnhaltige  Körper  zersetzen.  Der  Darmsaft  verwandelt 
Stärke  in  Traubenzucker.  Der  Darmsaft  löst  ProteYnkörper  unter 
der  Erscheinung  der  Fäulniss.  Der  Darmsaft  verwandelt  Bohr- 
zucker nicht  in  Traubenzucker,   der  Bohrzucker   wird   aber   als 

(28) 


662  Maydl. 

solcher  resorbirt  und  erscheint  im  Urin  wieder.  Fett  wird,  wenn 
es  nicht  mit  der  Galle  und  mit  dem  Pancreas  in  Berührang 
kommt,  entweder  gar  nicht  oder  nur  in  geringer  Menge  vom 
Darme  aus  resorbirt. 

Fett  wird  von  den  in  den  Dünndarm  gelangenden  Flüssigkeiten 
emulgirt,  wenn  diese  Flüssigkeiten,  wie  es  ja  gewöhnlich  der  Fall 
ist,  alkalisch  sind,  hingegen  nur  theilweise,  wenn  sie  sauer  sind. 
Das  im  Dünndarm  befindliche  Gemisch  von  Verdauungssaften 
wirkt  verdauend  auf  ProteYnkörper. 

Bezüglich  der  Zeit,  in  welcher  durch  den  Mund  genossene 
Nahrungsmittel  bei  der  oberen  Darmöffnung  erschienen,  werden 
folgende  Angaben  gemacht.  Die  ersten  Nahrungsmittel  erschienen 
15 — 20  Minuten  nach  dem  Genüsse. 

Diesen  Angaben  von  Busch  stehen  einige,  wie  schon 
erwähnt,  widersprechende  entgegen,  und  zwar  bezieht  sich  der 
Widerspruch  auf  Folgendes : 

Nach  den  Untersuchungen  von  Bernhard  Demant("), 
welcher  dieselben  an  einer  Fistel  anstellte,  durch  welche  2  Darm- 
lumina, vollständig  von  einander  isolirt,  hervortraten,  und  welche 
von  einer  gangränösen,  inguinalen  Hernie  herstammte,  welche 
aber  höchst  wahrscheinlich,  sowie  in  den  meisten  Fisteln  die 
Partie  des  Darmes  unweit  des  Blinddarmes  betraf,  ergaben  sieb 
folgende  Resultate :  Dieser  Patient,  welcher  einen  Theil  des  Dünn- 
darmes und  das  ganze  Colon  für  seine  Verdauung  nicht  verwenden 
konnte,  hat  während  einer  ITtägigen  Untersuchungsdauer  mehrere 
Pfunde  an  Körpergewicht  gewonnen,  übereinstimmend  also  mit 
unserem  höher  oben  bereits  angeführten  Fall.  Bezüglich  der 
Secretion  des  Darmes  scheidet  sich  angeblich  des  Morgens  nur 
sehr  wenig  Saft  ab,  ja  oft  kommt  kein  einziger  Tropfen  heraus^ 
aber  Nachmittags,  da  Patient  eine  reichliche  Mahlzeit  genossen 
hat,  rinnt  viel  mehr  Saft  aus;  gewöhnlich  begann  die  Secretion 
um  3  Uhr  und  dauerte  bis  TVa  Uhr.  Dann  wird  die  Menge  des 
Saftes  immer  geringer;  während  der  Nacht  ist  keine  Aus- 
scheidung von  Saft  vorhanden.  Wenn  Patient  zu  Bette  ging,  legte 
er  immer  einen  frischen  Verband  an,  des  Morgens  fand  man  auf 
diesem  Verbände  keine  Flecken.  Ich  erwähne  diesen  Umstand 
d  eswegen,  weil  er  bezüglich  der  Versorgung  der  Kranken,  welche 

(24) 


Ueber  Jejanostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernfthningsfistel  etc.       563 

eine  Jejanostomie  durchgemacht  haben,  dieser  Umstand  darauf 
hinweist,  den  Verbandwechsel  Abends  vorzunehmen,  damit  die 
zur  Fistel  herausfliessenden  Flüssigkeiten  beseitigt  und  mit  ihnen 
der  ziemlich  bedeutende  Reiz  der  Hautdecken  entfernt  werde« 
Dieser  Verband  hält  dann  über  Nacht  und  über  den  nächst- 
folgenden Tag  bis  ein  paar  Stunden  nach  der  Hauptmahlzeit  vor. 
Demant  äussert  sich  in  Bezug  auf  die  Verdauung  der  ProteYn- 
körper,  dasszwar  Thiry,  Loebl,  Quincke,  Schiff  angaben, 
dass  rohes  Fibrin  im  Darmsaft  verdaut  werde,  wobei  Peptone 
entstehen;  dass  nach  seinen  Versuchen  jedoch,  die,  wie  ich  be- 
merken will,  stets  ausserhalb  des  Körpers  in  einem  Verdaunngs- 
ofen  des  Laboratoriums  der  medicinischen  Klinik  zu  Erlangen 
angestellt  wurden,  er  kein  einzigesmal  im  Stande  war,  Peptone 
nachzuweisen.  Gekochtes  Fibrin  und  Hühnereiweiss ,  Pflanzen- 
fibrin und  Legumin  blieben  vollständig  unverändert.  GaseYn  wurde 
ohne  Entstehung  von  Peptonen  gelöst,  was  aber  nur  von  der 
alkalischen  Reaction  des  Darmsaftes  herrührt.  Er  kommt  daher 
zu  dem  Schlüsse,  dass  der  menschliche  Darmsaft  kein  peptoni- 
sirendes,  Eiweiss  verdauendes  Ferment  besitze  und  sich  ganz 
indifferent  zu  den  verschiedenartigsten  ProteYnkörpem  verhält.  Be- 
züglich der  stärkemehlhaltigen  Substanzen  herrschen  auch  ver- 
schiedene Ansichten.  Thirj,  Loebl  und  Quincke  konnten 
bei  ihren  Versuchen  mit  thierischem  Darmsaft  eine  Umwandlung 
des  Amylums  der  stärkemehlhaltigen  Substanzen  in  Traubenzucker 
nicht  feststellen,  dagegen  geben  Frerichs,  Paschutin  und 
Eichhorst  an,  dass  der  Darmsaft  ein  diastatisches  Ferment 
enthalte,  welches  Amylum  in  Traubenzucker  umwandelt. 

Demant  konnte  die  Angaben  der  letzteren  Autoren  be- 
stätigen in  Uebereinstimmnng  auch  mit  Busch.  In  Bezug  auf 
Rohrzucker  geben  Kühne,  Loebl  und  Paschutin  an,  dass 
der  Darmsaft  den  Rohrzucker  in  Traubenzucker  umwandle,  was 
Busch  in  seinem  Falle  nicht  constatiren  konnte. 

Mit  der  grösstmöglichsten  Sorgfalt  ausgeführte,  vor  Gährungs- 
organismen  geschützte  Versuche  Demant's  lehrten,  dass  der 
menschliche  Darmsaft  Rohrzucker  in  Traubenzucker  umzuwandeln 
vermag.  Bezüglich  der  Wirkung  des  Darmsaffces  auf  Fett  behaupten 
die  meisten  Autoren,  dass  Fett  vom  Darmsaft  gar  nicht  angegriffen 

(26) 


564  MaydL 

werde,  auch  Busch  konnte  es  zugeben.  Nor  Frer ic  hs  und  S  ch  i  f  f 
sprechen  sich  darüber  positiv  ans.  Die  Untersuchungen  De  man  fs 
ergaben,  dass  Fette,  die,  wenn  auch  geringe  Quantitäten  freier 
Fettsäuren  enthalten',  Yom  Darmsaft  emulgirt  werden,  dagegen 
neutrale  Fette  durch  denselben  nicht  angegriffen  werden. 

Nach  diesen  Untersuchungen  würde  die  Kost  der  Patienten 
einzurichten  sein,  wobei  man  noch  im  Auge  behalten  muss,  dass 
abweichend  von  der  Untersuchung  B  u  s  c  h^s  und  D  e  m  a  n  t's  Galle 
und  Pancreaseaft  bei  dem  operirten  Kranken  zur  Disposition 
stehen,  demnach  die  Verhältnisse  ungefähr  so  liegen,  wie  in  den 
Versuchen  0  g  a  t  a's,  wo  nur  die  Magenverdaunng  und  das  Magen- 
secret  ausgeschlossen  wurde.  Die  Kost  würde  demnach  keine  be- 
sondere Zubereitung  erfordern,  es  würde  genügen,  stärkemehlhaltige 
Substanzen,  Traubenzucker  und  Rohrzucker  einzufahren,  proteYn- 
haltige  Substanzen  vor  ihrem  Einführen  künstlich  zu  peptonisiren 
oder  eines  der  zahlreichen  im  Handel  befindlichen  Peptone,  wo- 
durch sich  allerdings  die  Ernährung  etwas  theuer  gestaltet,  zu 
verwenden.  Bezüglich  der  Fette  konnte  man,  um  den  Versuche 
Dem  an  t's  Rechnung  zu  tragen,  darauf  sehen,  dass  dieselben 
etwas  freie  Fettsäure  enthalten,  was  aber  gar  keiner  besonderen 
Zubereitung  erfordert,  da  das  gewöhnliche  Fett,  z.  B.  Mandel-  oder 
Olivenöl,  immer  etwas  freie  Fettsäure  enthalten,  blaues  Lackmus- 
papier roth  färben  und  nur  chemisch  reines  Fett  eine  neutrale  Re- 
action  gibt. 

Wir  sind  im  Verlaufe  dieses  Capitels  demnach  belehrt 
worden,  dass  ein  sonst  gesunder  Organismus ,  dessen  Verdauung, 
dessen  Secretion  und  Resorption,  also  die  Thätigkeit  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Darmstrecke  normal  ist,  der  von  keiner  sonstigen 
Krankheit  heimgesucht  ist,  zweifellos  von  einer  hoch  gelegenen 
Darmfistel  ernährt  werden  könne  (Busch)  —  eine  Angabe,  welche 
auch  durch  die  Thierexperimente,  wie  sie  von  Czerny,  Kaiser 
und  0  g  a  t  a  angestellt  wurden,  vollständig  bestätigt  wird. 

Fraglich  erscheint  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes,  und  was 
zu  entscheiden  eben  die  Aufgabe  der  eigenen  sofort  zu  berichtenden 
Beobachtungen  ist,  ob  ein  Organismus,  dessen  Darmverdauung 
wegen  eines  am  Pylorus  bestehenden  Hindernisses  durch  Wochen 
und  Monate  hindurch  auf  das  geringste  Maass  reducirt  war,  ein 

(86) 


Ueber  Jejanostomie  oder  die  Anlage  einer  Emährongsfifitel  etc.       565 

Organismus,  welcher  ausserdem,  wie  es  z.  B.  bei  den  Carcinomen 
der  Fall  ist,  eine  ihn  tief  schädigende  tödtliche  Erkrankung  in 
sich  birgt,  von  einer  hohen  Dünndarmfistel  aus  für  längere  Zeit 
am  Leben  erhalten  werden  können.  Die  Beantwortung  dieser  Frage 
sei  der  Gegenstand  des  nächstfolgenden  Capitels. 

m.  Capitel. 

Eigene  Beobaohtungen. 

Mathias  Lenz,  53jähriger  Taglöhner,  wurde  am  22.  April 
des  Jahres  1887  auf  die  Spitalabtheilung  der  Poliklinik  auf- 
genommen. Derselbe  gibt  an,  zeitlebens  schwächlich  gebaut  gewesen 
zu  sein.  Im  Jahre  1870  machte  er  eine  Smonatliche  Erkrankung 
(Lungenentzündung)  durch.  Im  Anfange  der  1870er  Jahre  begannen 
die  Achsellymphdriisen  zu  schwellen,  brachen  zeitweilig  auf,  heilten 
wieder  für  einige  Zeit  zu.  In  letzterer  Zeit  schwollen  auch  die 
Leistendrüsen  an,  ohne  bisher  aufgebrochen  zu  sein.  Husten  und' 
Blutauswurf  waren  nie  vorhanden.  Magenbeschwerden  datiren  seit 
Ende  1886.  Anfangs  ging  das  Essen  noch  ganz  gut  vor  sich, 
doch  stellten  sich  nach  ungefähr  2  Stunden  Beschwerden  ein, 
Druck  in  der  Magengegend,  Auftreibung  derselben.  Der  Schmerz 
dauerte  mit  Remissionen  bis  gegen  Abend  und  wurde  während 
des  Gehens  angeblich  erträglicher.  Abends  ass  der  Patient,  um 
alle  Beschwerden  bei  Nacht  zu  vermeiden,  bereits  durch  Wochen 
hindurch,  nichts  Anderes  als  Erdäpfelpur^e  und  Milch.  Erbrochen 
hat  Patient  nie.  Der  Stuhl  ist  in  letzter  Zeit  hart,  erfolgt  alle 
3^-4  Tage  ohne  Nachhilfe,  ohne  Blutspuren.  Die  Bildung  eines 
Tumors  hat  Patient  nicht  bemerkt,  bis  er  Mitte  März  sich  im 
Rudolphinerhause  anfrug,  wo  ihm  das  Vorhandensein  eines  solchen 
mitgetheilt  wurde.  Doch  als  ihm  eröffiiet  wurde,  dass  eine  Ope- 
ration, u.  z.  eine  auf  Leben  und  Tod,  nothwendig  sei,  schreckte  er 
zurück  und  blieb  während  der  letzten  4  Wochen  zu  Hause  und 
arbeitete  nichts  mehr.  Appetit  war  zwar  noch  vorhanden,  doch 
vertrug  der  Patient  nur  Suppe,  Milch  und  Erdäpfelpuröe,  Fleisch 
und  Brod  machten  ihm  unerträgliche  Schmerzen.  Als  sich  Patient 
am  23.  April  vorstellte,  war  er  bereits  hochgradig  abgemagert  und 
anämisch.  In  der  rechten  und  linken  Achselhöhle,  aus  mehreren 
harten  Drüsen  bestehende  Tumoren   von  Hühnereigrösse ,   gegen 

(«7) 


566  Maydl. 

welche  eiternde  Fisteln  binftihrten,  ebenso  in  den  beiden  Ingoinal- 
gegenden    grosse  DrUsentnmoren ,    aber  ohne  Aufbrach.     In   der 
Mittellinie  des  Banches,  in  der  Mitte  zwischen  Nabel  and  Schwert- 
fortsatz tastete  man  einen  fanstgrossen  nnregelmässig  gestalteten 
höckerigen  Tamor,   welcher   über   der  Unterlage    beweglich   ist, 
aber  in  nicht  sonderlich  ausgiebiger  Weise,    da   derselbe  an  die 
vordere  Bauchwand  angewachsen  ist,  was  sich  aus  der  Fixirong 
beim  Aufsitzen,  hauptsäehlich  aber  daraus  erkennen  lässt,  dass  beim 
Anfassen  der  Nabelnarbe  der  Tumor   alle  Bewegungen,    die  man 
mit  ihr  ausfuhrt,  genau  mitmacht,   hauptsächlich  sich  aber  auch 
bei    demselben  Manöver    in   verticaler  Richtung  beträchtlich  em- 
porheben   lässt.    Der  Tumor   reicht   ziemlich   weit   in    die  Tiefe 
und  sendet  einen   nicht  weiter   verfolgbaren  Fortsatz  gegen  den 
rechten  Rippenbogen,    hinter  welchem    sich  dieser   verliert.    Man 
deutete  den  Tumor  als  ein  an  die  vordere  Bauchwand  fixirtes  Pyloms- 
carcinom  und  den  Fortsatz  als  infiltrirte  Lymphgefassstränge,  die 
gegen  den  I^eberhilns  hinziehen.   Von  allen  diesen  Verhältnissen 
tiberzeugte  man'sich  auch  in  einer  längeren  Lustgas-Sauerstoffharcose. 
Man  dilatirte   den  Magen   mit  Kohlensäure  und   überzeugte  sich, 
dass  der  Tumor   in   der  Magenwand  sitze  und  angewachsen  sei, 
da  die  tympanitische  Magenpercussionszone   wohl   nach  abwärts, 
aber  nicht  nach  rechts  über   die  Mittellinie   vorrückte    und    sich 
gegen  den  Tumor  hin  zu  schärfte ;  eine  hohe  Infusion  mit  kohlen- 
sänrehältigem  Wasser  per  rectum   demonstrirte  ad    oculos  durch 
die  abgemagerte  Bauchwand  die  Füllung  des  queren  Colons,  welches 
weit  ab  vom  Tumor  verlief,  V-förmig  gegen  die  Symphyse  herab- 
sinkend.   Die   prompte  Füllung  des  Colon  ascendens  bei   dieser 
Infusion  erwies  auch  noch  zum  Ueberflnss  die  Abwesenheit  einer 
jeden  Strictur  des  Colon  transversum,    an   welche   man    bei   der 
Seltenheit  des  Stuhls  und  dem  vollständigen  Mangel  an  Erbrechen 
hätte  denken  können.    Die  genaue  Palpation  in  der  Narcose  er- 
gab gleichzeitig  die  Unmöglichkeit  eines  radicalen  Exstirpations- 
Versuches  und  man  erwog  nun  die  zwei  möglichen  Palliativeingriffe, 
nämlich  die  Gastroenterostomie  und  die  Jejunostomie.    Die  erste 
war  wegen  der  Anwachsung  des  Magens  in  der  Mittellinie  in  der 
vorderen  Bauchwand,  daher  wegen   der  Unmöglichkeit  der  Ver- 
schiebung und  Vorlagerung  behufs  der  Wolf le raschen  oder  auch 

(28) 


üeber  Jejanostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernährongsfistel  etc.        567 

der  Herabdrängang  behafs  der  y.  Hacke  raschen  Operation  in 
der  typischen  Weise  onaasfdhrbar.  Ich  dachte  nun  daran,  entweder 
die  Gastroenterostomie  von  einem  unter  dem  linken  Rippenbogen 
angelegten  Schnitt  auszufahren,  indem  ich  eine  oberste  Jej  unoschlinge 
gegen  den  linken  Magenrand  emporheben  und  sie  hier  mit  dem 
Magen  vertaähen  würde,  oder  die  Jejunostomie  auszuführen,  indem 
ich  die  oberste  Jejunumschlinge  behufs  Anlegung  einer  Emährungs. 
fistel  in  die  vordere  Bauchwand  einnähte.  Zu  diesem  Zwecke 
machte  ich  am  24.  April  1887  eine  horizontale  Incision  links  vom 
Nabel  bis  gegen  den  linken  Rippenbogen,  eröffiiete  nach  Durch- 
trennung  der  Muskelschichte  der  Obliqui  und  des  äusseren  Randes 
des  linken  Rectus  die  Bauchhöhle.  Nun  überzeugte  ich  mich,  dass 
der  tastbare  Tumor  thatsächlich,  u.  zw.  mit  ziemlich  breiter  Fläche 
an  die  vordere  Bauchwand  fixirt  war;  dass  diese  Verwachsung 
die  Vorlagerung  des  Magens  so  weit  behindere,  dass  ich  die 
Nähte  bei  einer  Gastroenterostomie  nur  äusserst  mühsam  in  der 
Tiefe  hätte  anlegen  müssen.  Ich  entschloss  mich  daher  zur  Jeju- 
nostomie. Nach  Emporheben  der  Flexura  lienalis  coli  kam  die 
Austrittsstelle  des  Duodenums  hinter  dem  peritonealen  Ueberzug 
der  hinteren  Bauchwand  zum  Vorschein.  Ich  wählte  jetzt  eine 
Stelle  des  Jejunums,  die  von  diesem  Platze  circa  20  Cm.  weit 
entfernt  war,  um  die  Inhaltscirculation  im  Colon,  an  der  Stelle,  wo 
der  mobile  Theil  des  Colon  transv.  in  den  retroperitonealen  des 
Colon  descendens  übergeht,  auch  bei  bedeutender  Ausdehnung 
desselben  nicht  zu  beengen.  Denn  die  Flexura  lienalis  coli  musste 
ja  der  eingenähten  Dünndarmpartie  gewissermassen  reitend  auf- 
lagern. In  einer  emporgehobenen  iPalte  des  Dünndarmes  liess  ich 
zwischen  zwei  Fingern  die  Schleimhaut  entgleiten  und  legte  durch 
die  zwischen  den  Fingerspitzen  verbleibende  Muscularis  und  Serosa 
zwei  dickere  Seidennähte,  behufs  Markirung  jener  Partie,  an,  welche 
später  mit  dem  Paquelin  eröffiiet  werden  sollte.  Nun  vereinigte 
ich  die  Serosa  parietalis  mit  der  Serosa  und  einem  Theil  der 
Muscularis  des  Dünndarmes  mittelst  18  feiner  Seidenknopfnähte, 
wie  es  bei  der  Magenfistel  üblich  ist.  Die  übrige  Bauchwunde 
vereinigte  ich  durch  tiefe  und  oberflächliche  Nähte,  selbstverständlich 
ohne  die  Bauchhöhle  zu  drainiren.  Im  Bauche  war  keine  ascitische 

Plüssigkeit,  auch  nirgends  eine  knötchenartige  Dissemination  des 

im 


568  Mtydl. 

Leidens  an  den  DannmeBenterien  and  dem  Netz  vorhanden.  Ueber 
die  Wunde  worde  ein  Snblimatbolz-Charpieverband  gelegt     Der 
Verlauf  der  Operation  war  ein  vollständig  fieberloser,  der  äasserst 
mhige  Patient  hielt  sich  streng  an  die  Weisungen,  wurde  tätlich 
durch  2  Rectalclystiere  ernährt,  welche  aus  Kemmerich'schem 
Pepton,  je  2  rohen  Eiern ,   einem  halben  Liter  Milch  und  einem 
viertel  Liter  Wein  bestanden.  Die  Clystiere  wurden  ziemlich  hoch 
infundirt  xmd   ausgezeichnet  behalten.    Zum  Stillen   des  Darstes 
gestattete  man  dem  Kranken  löffelweise  gewässerten  Wein   oder 
Milch  zu  trinken.  Am  30.  April  wurde  der  Darm  eröffnet  mittelst 
des  spitzen  Brenners  des  Paquelin'schen  Thermocauters,  in  die 
enge  Oeffnung  ein  dünnes  Drainrohr  eingeführt  und  durch  dasselbe 
dieselben    Quantitäten    vne   beim   Rectalclystiere   und   statt    der 
letzteren  eingespritzt.  Die  Fistelöffhung  am  Darme  erweiterte  sich 
allmälig,   so   dass   man,    um  das  Ausfliessen  des  Darmsaftes  zu 
verhindern,   zu   stärkeren  Drainröhren   übergehen  musste.    Trotz 
der  letzteren  floss  so    viel   einer   galligen  Flüssigkeit,   die   nach 
wiederholten  Prüftingen  schwach  alkalisch  reagirte,  aus,  dass  in 
2 — 3  Tagen  die   ganze  nach  links   liegende  Partie  des  Bauches 
bis  zur  Wirbelsäule  oberflächlich  excoriirt  war. 

Wir  mussten,  um  dies  zu  verhüten,  das  Drainrohr  weglassen 
und  die  Fistel  mit  einem  aufgelegten  Wattatampon  verschlossen 
halten.  Diese  Entleerung  der  Verdauungssäfte  dauerte  auch  that- 
sächlich  nur  etwa  5  Stunden  nach  der  gemachten  Einspritzung, 
deren  zweite  wo  möglich  auf  die  Mittagsstunde  verlegt  wurde. 
Gegen  Abend  wurde  der  Verband  frisch  gewechselt,  welcher  auch 
bis  zur  nächsten  Einspritzung  gewöhnlich  trocken  blieb.  Wegen 
Reinigung  der  Localitäten  wurde  der  Kranke  mit  geformter 
Dünndarmfistel  nach  Hause  entlassen,  worauf  wir  uns,  meine 
Hilfsärzte  und  ich,  der  Aufgabe  unterziehen  mussten,  jeder  alle 
4  Tage  zweimal  des  Tages  in  die  ausserhalb  der  Stadt  ge- 
legene Wohnung  des  Patienten  behufs  Fütterung  desselben  zu 
begeben.  Sobald  die  Fistel  etwas  formirt  war,  und  man  durch 
Einführang  der  Nahrungsstoffe  nicht  eine  Ablösung  des  Darmes 
von  der  Bauchwand  befUrchten  musste,  wurde  auch  geschabtes 
Fleisch  und  Mehl,  in  Fleischnudeln  geformt,  und  solche,  die  einem 
Gewichte  von  30  Dg.  Fleisch  entsprachen,   täglich  einmal  nebst 

(80) 


üeber  Jejnnostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernlhningsflstel  etc.       569 

seiner  sonstigen  Kost  eingefiihrt.  Patient  befand  sich  seit  dem 
14.  Mai  in  seiner  Behausung,  hatte  ziemlich  guten  Appetit,  wurde 
nur  Yon  Durst  geplagt,  welchen  aber  mit  den  geringsten  Quan- 
titäten Flüssigkeit  zu  stillen  ihm  aufgetragen  wurde,  da  sonst  die 
Durchnässung  des  Verbandes  eine  ziemlich  bedeutende  war  und 
in  Folge  dessen  die  Haut  gleich  excoriirt  wurde  und  ziemlich 
schmerzte.  Zu  Hause  wurde  die  Kost  variirt,  indem  Wochen  hin- 
durch statt  des  rohen  Fleisches  Rostocker  Pepton  verabreicht  wurde, 
u.  zw.  ungefähr  30  Gr.,  zweimal  am  Tage,  oder  Milch  in  grösseren 
Quantitäten,  natürlich  mit  Eiern  und  Wein  gemischt.  Im  Allgemeinen 
zog  der  Patient  die  flüssige  Nahrung  vor,  da  ihm  das  Durchführen 
der  Fleischnudeln  durch  die  Fistel  leicht  schmerzhaft  war,  die 
Füllung  des  Darmes  auch  durch  die  ziemlich  trockene  Nährsubstanz 
unangenehm  empfunden  wurde. 

So  wurde  er  täglich  zweimal  gefüttert,  immer  um  7  Uhr 
Abends  verbunden,  schlief  ziemlich  gut,  hielt  sich  die  erste  Zeit 
auf  seinem  Eintrittskörpergewicht  von  56  Eg.,  fing  dann  aber 
sichtlich  an  abzumagern,  u.  zw.  am  Schlüsse  der  6.  Woche  nach 
der  Operation.  Die  Eörpergewichtsabnahme  jedoch  in  Ziffern 
auszudrücken,  ist  mir  leider  unmöglich,  da  ich  im  Hause  des 
Kranken  keine  Wage  zur  Verfügung  hatte.  Der  Stuhl  erfolgte, 
ohne  Nachhilfe,  regelmässig,  entweder  alle  Tage  oder  jeden 
2.  Tag.  Der  Kranke  empfand  sonst  keine  Schmerzen,  nur  tastete 
man  durch  die  Bauchdecke  eine  ziemliche  Zunahme  des  ursprüng- 
lichen Magentumors,  welcher  durch  die  abgemagerte  Bauchwand 
flach-kugelig,  nahezu  kindskopfgross  prominirte,  aber  keine  Passage- 
störungen im  Darme  machte.  Seit  dem  5.  Juni  stellte  sich  beim 
Patienten  ein  trockener  Husten,  sowie  kleinblasiges  Rasseln  auf 
der  linken  Seite  ein.  Die  Zunge  trocken.  Patient  ziemlich  matt. 
Der  Stuhl  etwas  angehalten,  erfolgt  am  7.,  ist  von  ziemlich  fester 
Consistenz. 

Am  8.  fühlt  sich  Patient  sehr  schwach.  Bei  der  Eröffnung 
des  Verbandes  quillt  eine  ziemlich  grosse  Menge  schwach  alkalisch 
reagirende  Flüssigkeit  hervor.  Patient  hochgradig  abgemagert, 
stirbt  in  der  Nacht,  9.  Juni,  um  *U  4  Uhr  des  Morgens,  demnach 
7  Wochen  nach  der  Operation. 

Section  konnte  nicht  gemacht  werden. 

(81) 


570  MaydL 

W.  S.y  40  Jahre  alt,  eingetreten  aaf  die  Spitalsabtheilung  der 
Poliklinik  am  12.  Mai  1887,  gibt  an,  zeitlebens  ziemlich  gesund 
gewesen  zu  sein ;  keine  auf  die  Krankheit  bezüglichen  anamnesti- 
schen Daten  sind  eruirbar.    Er  datirt  seine  Krankheit,   seitdem 
er  in  Serbien   als  Gärtner  bei    einem   der  dortigen  Gesandten 
Dienst  genommen  ^  nämlich  seit  Herbst   1885,   und  während  der 
Abwesenheit  seiner  Herrschaft  nach  seiner  Aussage  gezwungen 
war,    um  mit   dem   zugemessenen  Kostgelde  auszukommen,    als 
Getränk  einen  im  Hause  fabricirten  sehr  scharfen  Pflaumengeist 
(Slivowitz)  zu  trinken,  was  er  auch  nach  eigenem  Zugeständniss 
öfters    über  das  Maass    that.     Seit   der  Zeit   datiren   sich    seine 
Magenbeschwerden.  Auch  nachdem  er  wieder  auf  geordnete  Kost 
.  kam,  war  er  nicht  mehr  im  Stande,  sie  zu  ertragen  und  mnsste, 
um  sich  dieselbe  selber  auswählen  zu  können,  seinen  Posten  in 
Belgrad   aufgeben  und   als  Gärtnergehilfe  in  Wien  einen  Dienst 
antreten.     Nach  mannigfachem  Zu-  und  Abnehmen   des  Leidens 
verschlimmerte  sich  sein  Zustand  in  der  letzten  Zeit  so,  dass  er 
nicht  im  Stande  war,  von  gewöhnlicher  Kost  sich  zu  nähren,  und 
nur  flüssige  Speisen ^  Milch,    l^uppe  zu  sich  nahm.    Seit  Herbst 
1885  leide  er  an  Aufstossen  einer  wasserklaren  Flüssigkeit.     Im 
Jahre  1886  (Frühjahr)  trat  häufiges  Erbrechen  auf  ohne  Gallen- 
beimengung.   September  1886  trat  „Blutspucken^  auf,  das  Blut 
war   hellroth;    im  Sophienspital    wurde    das   Blatauswerfen    mit 
Pulvern  gestillt  und  trat  niemals  mehr  auf.    Seit  Februar  1887 
muss  er  auf  künstliche  Stuhlentleerung  bedacht  sein.  Als  er  sich 
vorstellte,   fand  man  einen  bedeutend  abgemagerten  Mann  von 
40  Jahren  von  ziemlich  gesunder,  gebräunter  Gesichtsfarbe,  seine 
Musculatur   schlaff,    das  Unterhautzellgewebe   vollständig   fettlos. 
Brustorgane  normal,  Bauch  eingezogen,  in  der  Gegend  zwischen 
dem  Nabel  und  dem  Schwertfortsatz  ein  querer,  höckeriger  Tumor 
tastbar,  welcher  etwas  nach  links  von  der  Mittellinie  begann  und 
wurstförmig  bis  an  die  Lebergrenze  nach  rechts  hinüber  reichte. 
Dieser  Tumor  allseitig  beweglich,  nicht  schmerzhaft;  nach  abwärts 
von  ihm   ein  zeitweise  tastbarer,    zu  anderen  Zeiten  undeutlich 
tastbarer  Tumor  von  der  Ausdehnung  von  ungefähr  8  Centimeter 
in  der  Quere,    an   demselben  beim  Kneten   des  Bauches  Gurren 
nachweisbar.  Man  deutete  den  Tumor  als  einen  Krebs  der  grossen 

(82) 


lieber  JeJTinostoinie  oder  die  Anlage  einer  Emähningsflstel  etc.       571 

Curvatnr  des  Magens  und  des  Pylonis  mit  Uebergreifen  desselben 
anf  das  Colon  transversnm,  eventuell  das  Netz.  Im  Bauche  ausser- 
dem eine  massige  Menge  aseitischer  Flüssigkeit  nachweisbar.  Bei 
Eingiessen  von  kohlensäurehältigem  Wasser  in  den  Magen  und 
desgleichen  in^s  Rectum  lässt  sich  nachweisen,  dass  der  erste 
Tumor  unzweifelhaft  dem  Magen  angehört,  der  zweite  wird  aber 
bei  der  Füllung  des  Colon  transversum  vom  Mastdarm  aus  etwas 
undeutlicher.  Im  Magen  keine  Salzsäure  während  der  Verdauung 
nachweisbar.  Da  der  Kranke,  abgerechnet  seine  Abmagerung, 
sonst  eine  gute  Constitution  zeigt,  entschloss  man  sich,  den  für 
diesen  Fall  zu  wählenden  Eingriff  von  einem  Probeeinschnitt 
abhängig  zu  machen  und  je  nach  dem  Befunde  entweder  die 
Radicalexstirpation  des  Krebses,  u.  z.  eventuell  in  der  Weise 
vorzunehmen,  dass  beide  nach  der  Exstirpation  zurückbleibenden 
Lumina  des  Magens  und  des'  Duodenums  zugenäht,  versenkt 
würden  und  eine  Gastroenterostomie  ausgeführt  würde,  oder  beide 
Lumina  in  die  vordere  Bauchwand  einzunähen,  oder  im  schlimm- 
sten Falle  eine  Emährungsfistel  im  Dünndarm  anzulegen.  Bei  der 
Operation  am  15.  Juni  1887  wurde  ein  querer  Einschnitt  durch 
die  Bauchdecke  von  ungefähr  10  Cm.  Länge  über  dem  Magen- 
tumor gemacht,  wobei  man  sich  überzeugen  konnte,  dass  der 
Magen  bedeutend  (bis  auf  das  Dünndarmcaliber)  geschrumpft  war, 
der  Tumor  die  ganze  grosse  Curvatur  befallen  hatte,  dass  die 
Neubildung  auch  bereits  vom  Mesocolon  auf  das  Colon  trans- 
versum anfing  zu  übergreifen,  beides  knapp  an  die  grosse  Cur- 
vatur heranziehend,  den  grössten  Theil  der  Peripherie  des  Colon 
jedoch  noch  freilassend.  Bei  der  Incision  entleert  sich  aus  dem 
Bauche  eine  ziemliche  Quantität  einer  leicht  blutig  gefärbten, 
dünnen  Flüssigkeit. 

Da  man  sich  überzeugte,  dass  der  Radicaleingriff  in  Hinweg- 
nahme der  erkrankten  Theile  des  Magens,  des  qaeren  Grimm- 
darmes, des  grossen  Netzes  bestehen  müsste,  mau  aber  einen 
solchen  Eingriff  für  zwecklos  hielt,  so  begnügte  man  sich,  mit 
Rücksicht  auf  die  Prognose  derartig  complicirter  Fälle ,  mit  der 
Anlegung  einer  Dünndarmfistel.  In  der  Höhe  des  Nabels  wurde 
von  der  Linea  mamillaris  bis  zum  Rippenbogen  ein  zweiter  querer 
Einschnitt  in  die  Bauchhöhle  gemacht.  Nach  Eröffiiung  derselben 

Med.  Jahrbücher.  1887.  ^g     (38) 


572  May  dl. 

stellte  sich  sofort  das  linke  Ende  des  s'chrumpfendea  Netztamors 
in  die  Wunde  ein,  welches  aber  mit  der  Banchwand  nicht  ver- 
wachsen,  nach   oben  gedrängt  nnd  die  Milzflexnr  des  Grinun- 
darmes  zar  Ansicht  gebracht  wurde.    Die  nun  sich   einstellende 
nächste  Diinndarmschlinge   wurde  gefasst  und  man  probirte,  an 
den  Schenkeln  anziehend,   ob  man  nicht  zu  einer  Stelle  kommt, 
welche  fixirt  und  nicht  mehr  gegen  die  Oberfläche  gezogen  wer- 
-  den  kann.  Dies  gelang  thatsächlich  nach  dem  Abtasten  des  oberen 
linken  Schlingenschenkels ,  welchen  man  also  nach  dem  Rathe 
Surmay^s  für  eine  oberste  Jejunenschlinge  hielt.     Eine  directe 
Ueberzengung  von  der  Richtigkeit  der  Annahme    unterliess  man 
in   diesem  Falle.    Da   man  nun  glaubte,   eine   oberste  jejunale 
Schlinge  vor  sich  zu  haben,  so  nähte  man  sie,  wie  in  dem  vorigen 
Falle ,  in  die  Wunde  ein ,  und  versorgte  die  Wunde  mit  einem 
Sublimatverband.     Der  Verlauf  war   ein  fieberloser,   die  Wunde 
granulirte   in  4  Tagen  lebhaft,  jene  des  Probeeinschnittes  war 
per  primam  geheilt.     Der  Patient   wurde  indessen  mit  Rectal- 
clystieren  genährt.     Am  4.  Tage  wurde   der  Darm  eröffnet  mit 
dem  spitzen  Brenner  vonPaquelin,  ein  Drainrohr  in  die  Fistel 
eingeführt  und  die  Fütterung  von   da   vorgenommen.     Trotz  des 
Eingiessens  von  zweimal  täglich  Vj^  Liter  Milch,  2  Eiern,  ^U  Liter 
weissen  Wein  und  20  Grm.  Pepton   hob  sich  die  Ernährung  des 
Patienten   durchaus    nicht.     Er   vertrug  auch  nichts,   besonders 
in  den  ersten  Tagen  per  os  zu  nehmen.  Insbesondere  widerstand 
ihm  der  Genuss  von  Milch,  der  ihm  in   kleinen  Quantitäten  ge- 
stattet wurde.    In  der  Nacht  vom  8.  auf  den  9.  Tag  nach  der 
Operation   starb  der  Kranke  unter  zunehmenden  Zeichen  einer 
mangelhaften  Ernährung.    Die  Tags  darauf  vorgenommene  par- 
tielle Section  wies  nach,   dass  keine  Peritonitis  vorhanden  war, 
dass   die   Wunde  des  Probeeinschnittes  vollständig  geheilt   war 
und  jene  der  Jejunostomie  ebenfalls  eine  feste  Anlegung  des  Dai^ 
mes  an  die  vordere  Bauchwand  zeigte.    Letztere  wurde  excidirt 
behufs  mikroskopischer  Untersuchung.    Bei  dem  Sectionsbefhnde 
stellte  sich  weiter  heraus,  dass  die  Omentaldrüsen  zu  Haselnuss- 
grösse  geschwellt  waren  und  die  Dünndarmfistel  an  einer 
Stelle  des  Darmes  angelegt  worden  war,  welche  ungefähr 
in  der  Mitte  zwischen  Anfang  des  Jejunums  und  Ende  des  Ileums 

(34) 


üeber  Jejnnostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähnmgsflstel  etc.       573 

lag.  Abgesehen  also  von  dem  ursprünglichen  Leiden  des  Patienten 
wäre  mnthmasslicher  Weise  diese  Emähnmgsfistel  insofern  als 
unzulänglich  zu  betrachten,  als  durch  sie  den  eingeführten  Nahrungs- 
mitteln nicht  der  ganze,  sondern  nur  die  Hälfte  des  Dilnndarmes 
zugänglich  gemacht  worden  wäre.  Es  würde  sich  demnach  in 
den  künftigen  Fällen  empfehlen,  die  Stelle,  wo  die  Fistel  anzu- 
legen sei,  nicht  nach  der  obigen  von  Surmay  empfohlenen  Weise, 
sondern,  wie  in  dem  ersten  Falle,  durch  directe  Inspection  fest- 
zustellen. 

Durch  diese  eben  berichteten  Beobachtungen  ist  der  un- 
zweifelhafte Beweis  für  etwas  erbracht  worden,  was  früher  auch 
bei  der  besten  thierexperimentellen  Fundirung  des  in  Frage 
stehenden  Eingriffes  und  nach  den  bisherigen  Beobachtungen  am 
Menschen  noch  immer  sehr  fraglich  war,  nämlich: 

1.  Dass  der  Eingriff  ein  derartiger  ist,  dass  er  in  sich  keine 
dringende  Todesgefahr  involvirt. 

2.  Dass  derselbe  auch  von  Menschen,  welche  von  einem 
sonst  tödtlichen  Leiden,  wie  die  Carcinose  ist,  behaftet  sind,  gut 
vertragen  wird. 

3.  Dass  daher  Menschen,  welche  mit  einer  anderen,  als 
von  einer  malignen  Neubildung  herrührenden,  Pylorusstenose 
behaftet  sind,  um  so  bessere  Chancen  haben,  den  an  und  flir 
sich  recht  eiufachen  Eingriff  zu  überleben. 

Nach  einer  anderen  Richtung  ergibt  sich  aus  den  her- 
gebrachten Beobachtungen: 

1.  Dass  von  einer  hoch  angelegten  Jejunalfistel  ganz  gut 
die  Ernährung  eines  Organismus  stattfinden  k((nne,  denmach  die 
Uebertragung  der  thierexperimentellen  Erfahrungen  auf  den  Men- 
schen statthaft  ist. 

2.  Dass  eine  solche  Ernährung  auch  bei  Individuen  genüge, 
welche  von  einem  tiefen  Allgemeinleiden,  wie  es  die  Carcinose 
ist,  heimgesucht  sind ;  diese  Erfahrung  ist  um  so  werthvoUer,  als 
die  Angaben  von  van  derVelden,  wiewohl  von  mancher  Seite 
angezweifelt,  mit  einigem  Rechte  vermuthen  lassen,  dass  bei  der 
eben  genannten  Erkrankung  auch  die  Zusammensetzung  der  Ver- 
dauungsflttssigkeiten  eine  tiefgreifende  Aenderung  erleiden  kann. 
Unsere  Beobachtung  zeigt  aber,  dass,  wenn  eine  solche  auch 

45*    C»6) 


574  Maydl. 

vorhanden  wäre,  sie  jedenfalls  nicht  so  schwer  ist,  am  die  Er- 
nähniDg  von  einer  Jejunostomie  aus  nnmöglich,  weil  angenügend, 
zn  machen. 

Ans  Allem  ergibt  sich  daher 

ä.  dass  Menschen,  deren  Pylorusstenose  mehr  eine  locale 
Erkrankung  (von  Narben  oder  äusserer  Compressiou  herrührend) 
darstellt,  um  so  gerechtfertigtere  Anwartschaft  haben,  von  dem 
abgehandelten  operativen  Eingriffe  eine  weitgehende  palliative 
ja  nahezu  radicale  Hilfe  zu  erwarten,  ohne  sich  in  nennenswertbe 
Gefahren  zu  begeben. 

IV.  Capitel. 

Indicaüonen  zur  Jejonostoniie. 

Eine  wie  immer  geartete  Stenose  des  Verdauungstractus  bis 
zur  AusmUndung  des  Duodenums  in^s  Jejunum  kann  eine  Indication 
zur  Jejunostomie  abgeben,  sofern  sie  nicht  anders  beseitigt  werden 
kann.  Eigentliche  strenge  Indication  sind  zwar  die  Stenosen 
zwischen  Magen  und  Jegunum,  da  bei  höher  gelegenen  Stenosen 
meist  eine  Magenfistel  genügende  Abhilfe  schaffen  kann,  aber 
e^  gibt  Fälle,  wo  trotz  hoch  gelegenen  Hindeiiiisses  eine  Gastro- 
stomie nicht  ausführbar  erscheint,  oder  wo  sich  mit  einem  höber 
gelegenen  Hinderniss  ein  solches  am  Pylorus  combinirt.  Einen 
solchen  Fall  berichte  ich  in  meiner  Publication  über  Gastrostomie. 
(Wiener  med.  Blätter,  1882,  Nr.  15—19  und  21—23),  anlässlicb 
der  Section  von  Fall  12.  Da  heisst  es :  Cardia  durch  eine  Narbe,  an 
der  die  Magenschleimhaut  absetzt,  auf  unter  Gansfederdicke  verengt, 
der  Magen  so  klein,  dass  er  kaum  ein  Hühnerei  zu  fassen  im 
Stande  ist,  am  Pylorusring  die  Schleimhaut  vollständig  fehlend, 
derselbe  in  der  Länge  von  über  1  Cm.  fast  in  der  ganzen  Dicke, 
seiner  Wand  in  ein  bei  Va  Cm.  dickes  Narbengewebe  umgewandelt 
und  so  verengt,  dass  höchstens  eine  dünne  Sonde  denselben  passiren 
kann.  Der  Magen  zeigt  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  so  zahb*eicbe 
verzweigte  Narbenstränge,  dass  die  gewulstete  und  oberflächlich 
leicht  geröthete  Schleimhaut  ein  fast  mamellonirtes  Ausseben 
gewonnen  hat,  die  Submucosa  des  Magens  schwielig  verdichtet, 
allenthalben  in  Form  weisser  Stränge  in  die  blasse  atrophische 
Musculatur  greifend. 

(S6) 


üeber  Jejunostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernährnngsflstel  etc.       575 

Einen  nahezu  gleichen  Fall  berichte  ich  in  meiner  zweiten 
Pnblicaiion  über  Gastrostomie  (Wiener  med.  Presse,  1883,  Nr.  47 
nnd  48),  siehe  Fall  2:  Eine  Strictar,  kaum  für  die  feinste  Sonde 
durchgängig ,  lag  3  Cm.  unter  dem  Ringknorpel ,  eine  2.  Strictur 
an  der  Cardia ;  der  Pylorustheil  des  Magens  verödet,  geschrumpft, 
stark  verdickt,  von  Narben  ttberkleidet,  die  in  Form  von  Streifen 
sich  gegen  die  Gardia  fortsetzen. 

Beide  Patientinnen  haben  in  selbstmörderischer  Absicht, 
also  energisch,  Schwefelsäure  getrunken,  bei  beiden  war  auch  die 
Gastrostomie  wegen  Retraction  des  Magens  gegen  die  Cardia  ver- 
sucht und  unausführbar  befunden  worden. 

In  meiner  Publication  über  die  Magenchirurgie  der  letzten 
5  Jahre  (Internat,  klin.  Rundschau,  1887)  führe  ich  bei  dem 
Capitel  Gastrostomie  3  Fälle,  bei  dem  Capitel  Magenresection 
2  Fälle  an,  wo  von  der  beabsichtigten  Operation  und  auch  jeder 
anderen  abgestanden  werden  musste  wegen  carcinomatöser  Infil- 
tration der  ganzen  vorderen  Magenwand. 

Ist  es  nicht  ohne  Möglichkeit  eines  Widerspruchs  klar, 
dass  eine  Jejunostomie  bei  den  erst  angefahrten  2  Fällen  lebens- 
rettend, bei  den  letzt  citirten  wenigstens  lebensverlängernd  hätte 
wirken  müssen,  während  der  Chirurg  den  Fällen  damals  ohnmächtig 
gegenüberstand  ? 

Abgesehen  von  diesen  Fällen,  liegt  die  Hauptaufgabe  der 
Jejunostomie  doch  vor  Allem  in  der  Umgehung  eines  auf  der 
Strecke  zwischen  Magen  und  Jejunum  gelegenen  Hindernisses; 
dieses  kann  in  der  Entwicklung  eines  Carcinoms,  einer  Narbe, 
einer  Compressionsstenose  oder  Verstopfung  der  Lichtung  durch 
Fremdkörper  von  aussen  entweder  am  Pylorus  oder  im  Verlaufe 
des  Duodenums  bestehen. 

Allerdings  gibt  es  heutzutage  zur  Bekämpfung  dieser 
Zustände  auch  andere  und  gründlichere  Eingriffe  und  diese  mögen 
auch  angewendet  werden,  insoweit  ihre  Ausführung  für  möglich 
gehalten  wird ;  es  sind  damit,  ausser  der  Dorchtrennung  von  ein- 
schnürenden Strängen,  wie  ein  von  v.  Hacker  am  17.  November 
1887  in  der  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien  vorgestellter  Fall 
ein  solches  Beispiel  repräsentirt,  die  radicalen  theilweisen  wand- 
ständigen und  circulären  Resectionen  des  Magens  gemeint. 

(87) 


676  Maydl. 

Diese  unterliegen  einer  verschiedenen  Beortheilang  je  nach- 
dem sie  wegen  Narbe  oder  Carcinom  ansgeflihrt  werden  soUen. 
Ist  Narbenstrictor  Veranlassung  za  denselben,  dann  möge,  wenn 
irgend  möglich,  die  Radicaloperation  versucht  werden.  Bei  hierzu 
ungeeigneten  Fällen  greife  man  zur  Gastroenterostomie,  da  vom 
Vorhandensein  derselben  bisher  keine  irgendwie  beunruhigend^i 
Nachtheile  gemeldet  werden,  es  auch  wünschenswerth  erscheint, 
einen  Patienten,  der  bei  gelungener  Operation  eine  normale  Existenz- 
dauer zu  erwarten  hat,  nicht  mit  einem  irreparablen,  wenn  auch 
nicht  gar  schweren  Defect  zu  behaften;  man  hat  gleichsKeitig 
dadurch  auch  der  Ernährung  des  Kranken  einen  abwechslnnga- 
reichen  Spielraum  geschaffen.  Geht  auch  dies  nicht  an,  wegen 
irgendwelcher  Umstände,  dann  wäre  immer  noch  der  Vorschlag 
8  c  h  e  d  e^s,  eine  Gastrostomie  anzulegen  und  von  da  die  allmälige 
Dilatation  der  Narbenstenose  zn  versuchen,  oder  der  Vorgang 
Heineke^s,  die  Strictur  der  Länge  nach  einzuschneiden  und  den 
Schnitt  in  querer  Richtung  zu  nähen,  zu  berücksichtigen.  Erst 
wenn  alle  diese  Eingriffe  nicht  ausführbar  sind,  greife  man  zur 
Jejunostomie ,  wie  z.  B.  in  den  Eingangs  dieses  Capitels  citirten 
2  Beobachtungen. 

Anders  beim  Carcinom: 

Es  sind  allerdings  die  meisten  Beobachtungen  von  Pyloms- 
excision  wegen  Carcinom  ganz  darnach  angethan,  uns  von  unserer 
Leistungsfähigkeit  dieser  Krankheit  gegenüber  keine  besondere 
Meinung  beizubringen,  denn  wenn  auch,  vne  jüngst  am  XVI.  Cour 
gross  der  deutschen  Gesellschaft  für  Chirurgie,  einige  wenige  Fälle 
gemeldet  wurden,  wo  das  Recidiv  bis  nach  3j  ähriger  Beobachtung 
nicht  eintrat,  so  beweisen  Fälle  wie  jener  Wölfler's  und 
Rydygier^s,  dass  ein  solches  auch  nach  Jahren  trotzdem  ent- 
stehen könne.  Doch  wenn  auch  der  Werth  der  Operation  als 
Radicaleingriff  bestritten  werden  kann,  so  muss  derselben  angesichts 
der  mehrfach  gemeldeten  jahrelangen  Pausen  in  der  localen  Ent- 
wicklung des  Leidens,  ja  des  gänzlichen  Ausbleibens  derselben 
an  der  früheren  Stelle  eine  bedeutende  Leistungsfähigkeit  zum 
Mindesten  als  Palliativeingriff  zugesprochen  werden,  insofern  die 
einfacheren  Fälle  für  die  Operation  ausgesucht  werden.  Denn  da 
die   hohe  Mortalität  unmittelbar  nach   dem  Eingriff  aller  Wahr- 

(88) 


Ueber  JejanoBtoinie  oder  die  Anlage  einer  Emähnmgsfistel  etc.       577 

scheinlichkeit  nach  auf  Rechnung  der  complicirten  Fälle  zu  schrei- 
ben ist,  so  würden  ganz  gewiss  die  temporären,  länger  dauernden 
Heilungen  und  vielleicht  einmal  auch  eine  Dauerheilung  in  der 
Kategorie  der  sogenannten  uncomplicirten  Fälle  zu  suchen  sein. 
Für  diese  reservire  man  daher  die  radicalen  Heilversuche.  Anderer- 
seits ist  es  durch  die  bisherigen  Erfahrungen  geboten,  dass  man 
die  complicirten  Fälle  angesichts  der  eben  angefahrten  Umstände 
—  hohe  Moiialität,  Unwahrscheinlichkeit  selbst  einer  längeren 
Pause,  sowie  die  Wahrscheinlichkeit  eines  abermals  stenosirenden 
Localrecidivs  —  überhaupt  nicht  mehr  einem  operativen  Versuche 
eine  Radicalheilung  durch  Excision  unterziehe. 

Es  würde  sich  nun  darum  handeln,  da  andere  Eingriffe  in 
solchen  Fällen  nicht  in  Frage  kommen,  ob  solche  Fälle  eher  der 
Gastroenterostomie  oder  der  Jejunostomie  zugewiesen  werden  sollen. 

Im  Allgemeinen  dürfte  sich  der  Patient,  dem  man  die  Wahl 
zwischen  beiden  Eingriffen  überlassen  würde,  nach  Schilderung 
derselben,  zweifelsohne  ftir  die  einfache,  nahezu  gefahrlose  der 
Jejunostomie  entscheiden.  Die  „wissende"  Umgebung,  besonders 
die  medicinischen  Rathgeber  ausser  dem  Hospital,  dürften  auch 
der  einfachen  Fistelanlegung  den  Vorzug  geben.  Die  kleine,  fiir 
höchstens  Monate  berechnete  Erleichterung,  die  Gewährung  der 
psychischen  Beruhigung  für  den  Patienten^  der  die  Gefahr  des 
Verhangems  von  sich  abgewendet  erblicken  soll,  dies  Alles  wird 
durch  die  einfache  Anlage  einer  Jejunostomie  erreicht.  Endlich 
ist  dieser  ein  geringes  Instrumentarium  und  eine  geringere 
technische  Fertigkeit,  sowie  die  weniger  zahlreiche,  kaum 
besonders  geschulte  Assistenz  erforderliche  Eingriff  auch  den 
weitesten  Kreisen  zugänglich.  Eine  einmalige  Einübung  in  cadavere 
macht  alle  wissenswerthen  Details  gewiss  vollständig  geläufig. 
Demgemäss  dürfte  zur  Anlegung  der  Jejunostomie  eine  genügend 
wiederkehrende  Gelegenheit  geboten  werden,  die  man  auch  eher 
dem  Patienten  wird  empfehlen  können  trotz  seines  meist  gewiss 
herabgekommenen  Emährungs-  und  Kräftezustandes  als  die  fiir 
ebensolche  Fälle  sicherlich  höchst  bedenkliche  Gastroenterostomie. 
Diese  Operation  birgt  in  ihrer  langen  Dauer,  dem  complicirten 
Verfahren,  der  Nothwendigkeit  einer  protrahirten  Narcose  und 
der  Möglichkeit  einer  Störung  der  Darmcirculation ,  wie  sie  dem 

(N) 


W  ö  1  f I  e  r'flchen    Verfahren   innewohnt ,    ebensoviele    das     Leben 
bedrohende  Umstände. 

Dem  entgegen  scheint  der  Einwand  einiger  englischer  Antoren, 
der  offene  RUckflnes  des  gallehältigen  DanDiDhaltea  könne  für  die 
Hagenfnnctionen  nicht  gleichgiltig  sein,  nicbt  bcHODderä  Mticbhältig 
zn  sein.  ErstenB  stutzen  denselben  keine  hierauf  zn  beziehenden 
nnangenebmen  Symptome  während  des  Lebens  der  gastroentero- 
stomirten  Patienten,  zweitens  sprechen  dagegen  Experimente, 
die  direet  zar  Eotecheidung  dieser  Frage  angestellt  wurden.  — 
Nach  früheren  Ansichten  soll  die  Galle  der  pepti.schen  Vcrdanaog 
abträglich  sein,  and  zwar  entweder  deshalb,  weil  ^ie  nach  Lussana 
die  Aeidität  des  Magensaftes  nentralisirt,  oder  weil  sie  nach  B  o  k- 
hart  das  Pepsin  ausfällt,  oder  weil  sie  nach  Uammcrsten  das 
Eiweiss  schwerer  angreifbar  macht.  Oddi  in  Perugia  injicirle 
nun  einem  Hunde  Ochsengalle  in  verycliietlenen  Quantitäten 
während  oder  in  verschiedener  Zeit  nach  der  Verdauung  (bis  zu 
272  Com.  durch  mehrere  Tage  hindurch).  Das  Thier  hatte  keine 
Verdaunngsbeschwerden ,  nabm  im  Gegeutlieil  au  Kürpergewicht 
zn.  Oddi  legte  nnn  eine  Fistel  zwischen  Gallenblase  und  Magen 
an ;  die  Thiere  wurden  ungemein  gefrässig  und  nahmen  an  Gewicht 
zu.  Der  mit  der  Magensonde  herausgeholte  Magensaft  war  stets 
sauer.  Die  VerdannngsprodBcte  des  Magens  enthielteu  sehr  grosse 
Mengen  von  Peptonen. 

Nach  Anlage  einer  Jejunostomie  trätet  der  Patient  allerdin^ 
einen  Defect  an  sich,  der  jedoch  dem  Zwecke  gegeutilier,  der  die 
Operation  erreichen  soll ,  hanm  in  die  Wagschale  fallen  dürfte, 
der  auch  ziemlich  leicht  zn  beherrschen  ist.  lieber  den  Werth 
des  Schede'schen  Vorschlages  (Gastrostomie  mit  Dilatation  der 
Stenose  von  der  Magenüstel  ans)  kann  nicht  gcurtheilt  werden, 
da  ansser  einem  Fall,  in  dem  der  Patient  an  der  Operation  starb, 
keine  weiteren  Erfahrungen  vorliegen.  Treadclenbnrg  bestätigte 
die  Ausführbarkeit  dieser  Operation  an  einem  wegen  anderweitiger 
Ursache  gastrostomirten  Patienten. 

Ebenso  kann  Über  Loretta's  Operation  keine  endgiltige 
Schätzung  vorgenommen  werden,  da  Über  seine  Methode  [eintnalige 
Dilatation  der  Stenose  von  einer  Gastrotomiewunde)  nur  längere 


Ueber  Jejanostomie  oder  die  Anlage  einer  Emähnmgsfistel  etc.       579 

Beobachtang  entscheiden  kann,  durch  welche  das  Nichteintreten 
einer  Recidive  constatirt  würde. 

Die  Qnersntur  einer  der  Länge  nach  incidirten  Stenose  nach 
Heineke  ist  zweifelsohne  flir  geeignet«  Fälle  ein  leistungs- 
fähiger Eingriff  und  würde  selbstverständlich  alle  anderen 
Operationen,  daher  auch  die  Jejunostomie,  überflüssig  machen. 
Wir  sehen  daher  mit  grossem  Interesse  der  Publication  einschlägiger 
Fälle  entgegen.  Ein  in  gleicher  Weise  von  Mikulicz  operirter 
Fall  (Bericht  über  den  XVI.  Congress  der  deutschen  Gesellschaft 
für  Chirurgie,  1887)  starb  am  3.  Tage  an  CoUaps;  der  momentane 
functionelle  Erfolg  war  aber  eclatant. 

Nach  Allem  im  Vorhergehenden  Gesagten  wird  demnach  eine 
Jejunostomie  im  Ganzen  eine  ziemlich  seltene  Operation  sein ;  sie 
wird  selten  sein  als  Eingriff,  zu  dem  man  nach  Ausschluss  anderer 
radicaler  Operationen  sich  endlich  wird  gedrängt  sehen ;  sie  kann 
häufiger  als  Ersatz  geübt  werden  für  Eingriffe,  welche  zwar 
gründlicher  das  ursächliche  Leiden  beseitigen  würden,  welche 
aber  wegen  ihrer  Schwere,  sie  vorzunehmen,  der  herabgekommene 
Zustand  der  Patienten,  die  unsere  Hilfe  suchen,  verbietet. 

Dass  sich  je  ein  Internist  entschliessen  wird,  bei  lang- 
dauernden catarrhalischen,  ulcerösen  oder  sonstigen,  z.  B.  nervösen 
Störungen,  eine  Jejunostomie  zu  empfehlen,  behufs  mechanischer 
oder  functioneller  Ruhigstellung  des  Magens,  dies  würde  ich 
beinahe  bezweifeln;  es  hängt  Alles  von  der  Meinung  ab,  die  er 
von  der  Leistungsfähigkeit  seiner  sonstigen  Therapie  hegt.  Im 
Allgemeinen  sind  ja  auch  thatsächlich  viele  der  im  Obigen 
berührten  Affectionen  einer  unblutigen  Behandlung  mit  rascherem 
oder  zögenidem  Erfolge  zugänglich. 

V.  Capitel. 
Die  Teohnik  der  Operation  der  Jejanostomie. 

Wir  haben  in  den  aus  der  Literatur  gesammelten  Fällen  von 
Duodenostomie  die  hierbei  beobachtete  Technik  des  Genaueren 
beschrieben.  Wenn  es  auch,  wie  aus  einem  Falle  hervorgeht, 
ab  und  zu  ausführbar  erscheint,  bei  einer  Pylorusstenose  ein 
Stück  des  Duodenums  von  vom  noch  zu  erreichen,  bevor  das- 
selbe gegen  die  hintere  Bauchwand  in  die  Tiefe  verschwindet, 

(41) 


680  Maydl. 

80  dürfte  diese  Operation  kanm  als  Typns  einer  Emährungsfistel 
unterhalb  des  Pylorus  angesehen  werden.  Für  Carcinome  ist  es 
Überhaupt  nicht  gerathen,  in  der  unmittelbarsten  Nachbarschaft 
die  Fistel  anzulegen,  da  ein  Fortwuchern  der  Neubildung  die 
Fistel  wieder,  und  zwar  ehestens,  verlegen  könnte.  Bei  Narben 
aber  würde  das  Vorhandensein  einer,  den  Pylorus  gegen  die 
Nachbarorgane  fixirenden  Adhäsion  —  die  ja  einen  radicalen 
Eingriff  contraindiciren  muss  —  die  Anlegung  einer  Duodenostomie 
ebenso  vereiteln,  wie  narbige  Schrumpfung  des  Magens  die  Anlegung 
einer  Magenfistel  nahezu  unmöglich  macht.  Ueberdies  werden  die 
Fälle,  in  denen  das  Anfangsstück  des  oberen  horizontalen  Duo- 
denumstückes  zugänglich  bleibt,  zu  den  Ausnahmen  gehören. 

Den  übrigen  Verlauf  des  Duodenums  zur  Anlage  einer  Er- 
nährungsfistel  zu  wählen,  wird  Niemandem  einfallen,  der  die 
Zugänglichkeit  desselben  mit  jenen  des  Anfangsstttcks  des  Jejunnms 
vergleicht. 

Wir  verdanken  W.  Braune(^*)  eine  in  dieser  Beziehung 
werthvoUe  Arbeit  über  die  operative  Erreichbarkeit  des  Duodenums. 
Nach  demselben  ist  der  obere  Theil  des  Duodenums  so  beweg- 
lich an  seinem  Mesenterium  aufgehängt,  dass  er  (von  rückwärts) 
ohne  Verletzung  des  Bauchfells  nicht  erreichbar  ist.  Der  hori- 
zontale liegt  vollständig  hinter  dem  Bauchfellsack  und  wird  von 
Wirbelsäule,  Aorta,  V.  cava  gekreuzt  und  gedeckt.  Wollte  man 
dem  Duodenum  beikommen,  so  müsste  man  sich  an  die  Pars 
verticalis  halten.  Diese  steigt  neben  der  V.  cava,  M.  psoas  herab, 
begrenzt  nach  aussen  von  der  Flexura  coli  dextra,  und  die  rechte 
Niere,  welche  mit  ihren  6efassen  so  gelegen  ist,  dass  sie  die 
obere  Krümmung  des  Duodenums,  sowie  ein  Stück  des  verticalen 
Theiles  bedeckt  (von  rückwärts).  Um  zu  dem  verticalen  Theile 
des  Duodenums  zu  kommen,  muss  man  bei  Bauchlage  des  Ca- 
davers auf  der  rechten  Seite  des  Rückens  einen  Längsschnitt  von 
der  Gegend  des  hinteren  oberen  Darmbeinstachels  bis  über  die 
12.  Rippe  hinauf  machen,  etwa  5  Cm.  nach  aussen  von  der 
Mittellinie ;  man  durchschneidet  dann  den  Latissimus  dorsi,  Serratus 
post.  inf.  und  legt  nach  Durchschneidung  der  Fascie  das  Muskel- 
fleisch des  Sacro  lumbalis  in  der  ganzen  Länge  der  Wunde  bloss. 
Bei  nicht  zu  stark  entwickelter  Musculatur  kann- dieser  Muskel 

(42) 


lieber  Jejimostoiiiie  oder  die  Anlage  einer  Emährangsfistel  etc.       581 

vollständig  geschont  werden.  Man  drängt  ihn  nach  der  Mittel- 
linie nnd  schneidet  das  sehnige  Blatt  in  der  ganzen  Länge  der 
Wnnde  ein,  welches  sich  unter  diesem  Mnskel  an  die  Proc.  trans- 
yersi  ansetzt,  nnd  ihn  von  dem  damnter  liegenden  Qaadrat. 
Inmbomm  trennt ;  dieser,  welcher  den  Sacro  Inmbalis  seitlich  über- 
ragt, wird  der  ganzen  Länge  nach  eingeschnitten.  Dann  macht 
man  nnter  Annähemng  an  die  Wirbelsäule  den  unteren  Rand 
der  rechten  Niere  frei  und  arbeitet  nun  mit  stumpfen  Instrumenten 
durch  die  Fascia  transversa  hindurch  nach  dem  Aussenrande  des 
Psoas.  Der  12.  Intercostalnerv  mit  der  entsprechenden  Arterie, 
sowie  der  Iliohypogastricus  werden  quer  durchschnitten,  die  Gte- 
fasse  müssen  sorgßlltig  unterbunden  werden,  um  eine  reine  Wunde 
zu  erhalten;  nach  innen  erscheint  nun  der  Ureter,  mitunter  die 
Vena  cava  inf. ,  welche  beide  nach  innen  zu  gedrängt  werden; 
die  Niere  wird  scharf  nach  innen  gedrückt,  so  dass  man  nicht 
in  das  Gebiet  der  Nierengefässe  gelangt.  Jetzt  treibt  sich  bei 
starker  Erfüllung  der  Bauchhöhle  oder  bei  starkem  Druck  gegen 
die  Abdominaldecke  das  Peritoneum  als  ein  Längswulst  an  der 
Aussenseite  des  senkrechten  Duodenalstückes  vor  und  lässt  auf 
der  medialen  Seite  das  Duodenum  um  so  deutlicher  erkennen,  je 
sorgfaltiger  die  Bindegewebsschicht  mittels  zwei  Pincetten  von 
demselben  abgezogen  wird,  so  dass  man  endlich  einen  etwa  2" 
langen  Längsschnitt  in  die  hintere  Wand  des  Duodenums  aus- 
führen kann. 

Wohl  entspringt  dieser  Vorschlag,  wie  jener,  der  lumbalen 
Colotomie  Amussat's  der  Furcht  vor  der  Eröffnung  des  Peri- 
toneums, wie  man  sie  in  der  vorantiseptischen  Zeit  gehegt  hat, 
und  es  wäre  zweifellos,  möglich,  das  Duodenum  von  vorne  auf 
kürzerem  Wege  zu  erreichen.  Immerhin  wäre  aber  bei  der  retro- 
peritonealen  Lage  des  grössten  Theiles  des  Duodenums,  sowie 
bei  der  Verborgenheit  desselben  hinter  der  Leber,  dem  Colon 
transvers.  und  den  an  dasselbe  gehefteten  Peritonealblättem  des 
Mesocolon  und  Netzes  die  Erreichung  des  Zwölffingerdarmes,  aber 
besonders  die  Anlage  einer  Duodenalbauchwandfistel,  unverhältniss- 
mässig  complicirt  gegen  das  Verfahren,  welches  bei  der  Anlage 
einer  Jejunostomie  eingehalten  werden  muss. 

(48) 


582  May  dl. 

Schon  von  Snrmay  (1.  c.)  ist  ein  Operationsvorschlag  ge- 
macht worden  mit  folgenden  Worten:  „Der  Operateur  steht  aof 
der  rechten  oder  linken  Seite  des  Patienten.  Einen  Centimeter 
nach  innen  von  dem  vorderen  Ende  der  4.  falschen  Rippe  (von 
unten  gezählt)  macht  man  eine  Incision  von  5 — 6  Cm. ,  so  dass 
die  Mitte  des  Schnittes  dem  vorderen  Ende  der  4.  falschen  Rippe 
entspricht.  Es  wird  dnrchtrennt:  Haut,  subcutanes  Zellgewebe, 
Fascia  superficialis,  Obliquus  maj.,  Aponeurosis,  die  2.  Muskel- 
schichte des  Transversus ;  dann  kommt  man  auf  die  Fascia  trans- 
versa, eröffnet  das  Peritoneum  und  findet  darunter  meist  das  Netz, 
dieses  fUhrt  man  nach  aussen  und  breitet  es  aus.  Unter  den 
entblössten  Därmen  erkennt  man  leicht  das  Colon  transvers.  (an 
der  Richtung;  weisser  Farbe,  Taenien,  Haustris  und  seinem  Zu- 
sammenhang mit  dem  grossen  Netz).  Darunter  liegen  die  Win- 
dungen des  Dünndarmes.  Man  führt  nun  zwischen  Colon  und  Dünn- 
darm einen  Finger  perpenticulär  bis  auf  die  Wirbelsäule ,  fühlt 
das  Pancreas,  dessen  linkes  Ende  und  genau  nach  links  davon, 
als  ob  es  eine  Fortsetzung  wäre,  einen  Darm,  der  quer  vorläuft» 
Diesen  Darm  zieht  man  mit  gekrümmtem  Finger  nach  aussen; 
wenn  es  eine  Schlinge  ist,  welche  sich  an  einem  Ende  anziehen 
lässt,  mit  dem  anderen  aber  fixirt  bleibt,  so  ist  es  das  Jejunum 
an  seinem  Ursprung.  Lässt  es  sich  aber  an  beiden  Enden  an- 
ziehen, so  ist  es  eine  weiter  entfernte  Portion,  und  man  muss 
von  Neuem  suchen ;  hat  man  endlich  die  Schlinge,  so  führt  man 
sie  zwischen  die  Haut  und  fixirt  sie  daselbst  mit  einer  genügen- 
den Anzahl  von  Knopfnähten,  eröffnet  den  Darm  und  fUhrt  die 
Nahrungsmittel  ein." 

Nahezu  mit  denselben  Worten  beschreibt  Hahn(")  den 
Vorgang,  den  er  sich  nach  seinen  zahlreichen  Versuchen  an 
Leichen  für  die  Auffindung  des  Anfangs  des  Jejunums  zurecht- 
gelegt hat:  „Nach  ausgeführter  Incision  schlägt  man  das  Netz 
und  Colon  in  die  Höhe  und  nun  sucht  man  mit  Zeigefinger  und 
Daumen  der  rechten  Hand  den  auf  der  Wirbelsäule  liegenden 
Theil  des  Pancreas  auf,  ergreift  die  Schlinge,  die  dicht  unter 
dem  Pancreas  von  rechts  nach  links  herübergeht  und  zieht  die- 
selbe an.     Merkt  man   nun,    dass  die  Schlinge  dem  Zuge  nicht 

(44) 


Ueber  Jejimostomie  oder  die  Anlage  einer  Ernähmngsfistel  etc.       583 

folgt,   SO  kann  man  mit  positiver  Bestimmtheit  annehmen,   dass 
man  den  Anfangstheil  des  Jejnnmns  vor  sich  hat.^ 

Ich  führte  die  Operation  stets  so  aus :  Vom  lateralen  Rande 
des  linken  Rectos  abdominis  führte  ich  im  Nabelnivean  eine  hori- 
zontale Incision  nach  aussen,  bis  sie  den  linken  Rippenbogen 
traf;  nach  Durch trennung  einer  doppelten  Muskelschichte  wurde 
Fascia  transv.  und  Peritoneum  gespalten,  das  Netz  vorgezogen 
und  die  lienale  Flexur  des  Colon  nach  oben  aussen  abgehalten, 
das  Convolut  der  Dünndärme  wurde  in  gleicher  Weise  nach  innen 
unten  mit  in  eine  aseptische  Compresse  gehüllter  Hand  abgezogen ; 
dann  sieht  man  aus  dem  Peritonealüberzng  der  hinteren  Bauch- 
wand einen  Darm  emportauchen,  der  natürlich  beim  Anziehen 
nicht  folgt.  Dies  ist  das  Anfangsstück  des  Jejunums;  ich  rathe 
stets,  sich  durch  Augenschein  von  den  anatomischen  Verhältnissen 
zu  überzeugen,  und  nicht  behufs  Entscheidung,  ob  es  der  Anfang 
des  Jejunums  ist,  blos  auf  das  „ Zugmanoeuvre ^  zu  recurriren, 
da  hierbei  Täuschungen  vorkommen  könnten.  Das  erkannte 
Jejunum  wird  vorgezogen  und  eine  etwa  20  Cm.  vom  Ursprung 
entfernte  Stelle  zum  Einnähen  bestimmt.  Vorher  aber  reponire 
man  das  Netz,  damit  Theile  davon  auf  der  eingenähten  Schlinge 
nicht  „reiten"^.  Das  Lnplantiren  der  Schlinge  nach  aussen  vom 
linken  Netzrand,  und  zwar  in  eine  im  Nabelniveau  liegende  In- 
cision, verhindert  auch,  dass  das  am  Mesocolon  transversum  auf- 
gehängte Colon  transv.  auf  der  implantirten  Schlinge  lastet  und 
sowohl  die  feste  Anwachsung  am  oberen  Rande  hindert,  als  durch 
die  eingenähte  Schlinge  geknickt  wird,  wie  es  bei  Gastroentero- 
stomien ab  und  zu  beobachtet  oder  vermuthet  wurde.  Das  Im- 
plantiren  in  eine  höher  gelegene  Incision  halte  ich  also  nicht  für 
angezeigt.  Eine  kreuzerstückgrosse  Stelle  des  Jejunums  wird  mit 
feinsten  (etwa  16 — 18)  Seidenknopfnähten  an  die  Serosa  parie- 
talis  fixirt,  in  die  Nähte  kann  man  behufs  besserer  Stütze  der 
Nähte  den  Rand  der  Fascia  transversa  mitfassen,  da  manchmal 
das  atrophirte  Peritoneum  durch  die  feinen  Nähte  leicht  einge- 
schnitten wird.  Die  übrige  Wunde  in  der  vorderen  Bauchwand 
wird  genäht,  ohne  ein  Drainrohr  in  die  Bauchhöhle  einzufuhren, 
durch  dessen  Canal  leicht  eine  Infection  der  Abdominalhöhle 
durch  den   Darminhalt  geschehen  könnte;    in   einem  der  beob- 

(45) 


584  Maydl. 

achteten  Fälle  war  der  tödtliche  AuBgang  dadurch  bedingt,  dass 
man  die  Nahrungsmittel  in  die  freie  Bauchhöhle  einspritzte;  die 
nach  Entfernung  des  Drains  zurückbleibende  Fistel  kann  sehr 
leicht  mit  der  Darmfistel  verwechselt  werden,  und  die  Einflössimg 
der  Nahrungsmittel  an  unrechter  Stelle  geschehen. 

Wenn  der  Zustand  des  Patienten  nicht  bedrohlich  erscheint, 
so  lasse  man  die  Wunde  granuliren  und  eröfihe  den  Darm  am 
4. — 5.  Tage  mit  dem  Paquelin.  Hierzu  sind  aber  einige  Vor- 
bereitungen noth wendig.  1.  Muss  die  Stelle,  wo  man  die  Eröffiinng 
vornehmen  will,  bei  der  Operation  genauer,  durch  2  oder  3  Seiden- 
nähte, markirt  werden  und  2.  muss  die  Stelle  zugänglich  erhalten 
werden.  Zwischen  die,  die  zukünftige  Eröffiiungsstelle  mar- 
kirenden  Seidennähte  legt  man  zu  diesem  Zwecke  ein  Röllchen 
antiseptischer  Gaze  und  knüpft  jene  leicht  über  dieser;  dieser 
Raum  wird  demnach  von  den  manchmal  in  4 — 5  Tagen  üppig 
aufschiessenden  Granulationen  nicht  ausgefüllt  und  bleibt  leicht 
erreichbar. 

Ist  der  Zustand  des  Patienten  besorgnisserregend,  so  eröfinet 
man,  nach  gehörigem  Abschluss  der  Bauchhöhle,  den  Darm  sofort. 
Damit  keine  Infection  geschehe,  so  pinsle  man  die  Wunde  zuvor 
mit  JodoformcoUodium  aus,  welches  dann  eine  schützende  Decke 
gegen  die  sich  entleerenden  Verdauungsflüssigkeiten  abgibt. 

Zur  Eröffnung  verwende  man  den  spitzen  Brenner  des 
Paqueli naschen  Thermocauters  und  mache  die  Oeffhung  nur 
eben  so  gross,  dass  ein  ganz  dünnes  Drainrohr  in  den  Darm 
eingeführt  werden  könne,  da  aus  grösseren  Oeflhungen  neben 
dem  verstopfenden  Rohre  Verdauungsflüssigkeiten  abfliessen  und 
die  Schleimhaut  leicht  prolabirt  und  das  Ueberfliessen  der  Yer- 
dauungsflüssigkeit  (Galle,  Pancreassaft)  in  den  unteren  Darm- 
abschnitt verhindert.  Die  Verdauungsflüssigkeiten  ätzen  leicht 
die  Haut  auf,  welche  demnach  mit  einem  schützenden  Fettüber- 
zug gedeckt  werden  soll. 

Nach  der  Operation  stelle  man  die  Darmperistaltik  durch 
Opium  ruhig,  damit  die  Anwachsung  rasch  und  lückenlos  erfolge. 
Bis  zur  Eröfliiung  lasse  man  strenge  Diät  halten ;  per  os  gestatte 
man  nur  so  viel  Flüssigkeitsgenuss ,  dass  der  Durst  gelöscht 
werde.     Sonst   helfe    man    der    einstweiligen   Ernährung   durch 

(46) 


lieber  Jejanostomie  oder  diB  Anlage  einer  Emährungefistel  etc.       585 

Mastdarmclystiere  nach,  die  man  2 — 3  täglich  appliciren  lässt. 
Nach  der  Eröffnung  gestatte  man  den,  wenn  auch  geringen 
Genass  flüesiger  Nahmngsmittel  per  os,  wenn  sie  vertragen 
werden,  da  der,  wenn  selbst  in  geringen  Quantitäten  iiberfliessende 
Magensaft  sehr  gute  Verwendung  iSndet.  Macht  der  Speisengenuss 
aber  Beschwerden,  dann  lasse  man  ihn  aus.  Irgendwie  grössere 
Flüfisigkeitsmengen «  per  os  genossen,  machen  sich  sehr  unange- 
nehm fühlbar,  da  sie  die  Menge  der  zurückzuhaltenden  Ver- 
danungsflüssigkeiten  ungebührlich  vermehren.  Entsprechend  dem 
Wegfall  der  mechanischen  und  chemischen  Magenarbeit  muss 
man  die  Speisen  selbstverständlich  in  gründlich  verkleinertem 
Zustande  einführen  und  bezüglich  des  Eiweisses  peptonisiren.  Wir 
haben  mit  gutem  Erfolg  das  Kemmerich'sche  und  Rostocker 
Pepton  verwendet. 

Die  Mahlzeiten  sind  so  einzurichten,  dass  eine  reichlichere 
Früh,  eine  ebensolche  gegen  1 — 2  Uhr  verabreicht  wird,  damit 
die  die  Verdauung  begleitende  Peristaltik,  welche  Darminhalt  an 
die  Fistelöffnung  zurückbringen  könnte,  bis  Abend  abgelaufen  sei, 
und  der  am  Abend  erneuerte  Verband  nicht  beschmutzt  werde, 
in  dem  dann  der  Kranke  bis  weni^tens  Morgens  verbleiben 
müsste.  Die  Möglichkeit  des  Ausfliessens  von  Inhalt  aus  dem 
abführenden  Darmstück  vermindert  man,  wenn  man  die  Nahrungs- 
mittel auf  15 — 20  Cm.  tief  mittelst  eines  Drainrohres  einführt. 

Während  der  Nacht  bleibt  der  Verband  trocken,  wenn  man 
die  Vorsicht  gebraucht,  auf  die  Nacht  nur  trockene  Nahrungs- 
mittel in  den  Darm  einzufuhren,  doch  auch  ohne  diese  Vorsicht 
bleibt  der  Verband  undurchfeuchtet ,  da  die  Peristaltik  in  der 
Nacht  sistirt  (im  Schlafe)  und  selbst  bei  offen  gelassenen  Fist^hi 
nichts  ausffiesst.  Uebrigens  kann  man  sich  behufs  Hintanhaltung 
eines  doch  sich  einstellenden  Ausflusses  von  Verdauungsflüssig- 
keiten aus  dem  zufahrenden,  oder  von  flüssigem  Darminhalt  aus 
dem  abführenden  Stück  eines  Verschlussapparates  bedienen.  Zu 
diesem  Zwecke  und  gleichzeitig  zu  jenem,  die  Entwicklung  eines 
Spornes,  der  das  Ueberfliessen  der  Verdauungsflüssigkeiten  ans 
dem  zuführenden  in  den  abführenden  Schenkel  vollständig  hin- 
dern könnte,  endlich  behufs  Verhinderung  eines  Schleimhaut- 
vorfalles   kann    man    sich    eines    folgendermassen    construirten 

(47) 


iSb6 


Maydl. 


Apparates  bedienen.  Eb  wird  ein  der  Fistelweite  entsprechendes 
Drainrobr  a  mit  einem  seiner  Enden  in  ein  anderes  (bj  gekittet, 
so  dass  ein  T-fbrmiges  Drainsystem  entsteht.    Das  Rohr   &,   un- 
gefähr 10 — 12  Cm.  lang,   trägt   an   seinen  beiden  Enden   dünne 
Kautschukballons,    von  ungefähr  5  Cm.   Durchmesser  (im  auf- 
geblasenen Zustande),  wie  ich  sie  auch  nach  Analogie  des  Magen- 
fistelverschlusses  zum  Verschlasse  der  Colotomiefisteln  mehrfach 
verwendet  habe.  Diese  Ballons  können  vom  Drainrohr  a,  welches 
in  der  Fistel  liegt,  mittelst  eines  grösseren  Ballons  (wie  er  za 
Ohrluftdouchen  verwendet  wird)  aufgeblasen  werden  und  obturiren 
das  zu-  und  abführende  Darmstück.    Das  Rohr  a   geht  mitten 
durch  eine  gepolsterte  und  mit  einem  impermeablen  Stoff  (B  i  1 1- 
roth's  Batist,  Kautschuk,  Wachsleinwand)   überzogene   Pelotte, 
welche   um   den  Körper   mittels    2   elastischer  Bänder   befestigt 
wird.    Eine  in  der  Pelottenöffnung  angebrachte  Federvorrichtong 
klemmt  das  Drainrohr  a  ab,  damit  die  Ballons  nicht  zusammen- 
fallen  können   und  fixirt  den  Verschlussapparat  gegen  die   am 
Körper  festsitzende  Pelotte. 


^1. 


Der  Apparat  wird  sehr  leicht,  die  coUabirten  Ballons  je 
einer  in's  zuführende  und  abführende  Darmstück  eingeschoben, 
die  parallel  gestellten  Eohrarme  bb  nachgeschoben,  die  Ballons 
aufgeblasen  und  nun  die  Pelotte  c  über  das  Rohr  a  knapp  an 
den  Körper  herangeschoben  und  das  Rohr  a  etwas  gespannt  ein- 
geklemmt, dann  endlich  die  Pelotte  fixijt.  Zeitweise  muss  man 
den  Apparat  coUabiren  lassen,  damit  sich  die  hinter  den  im  zu- 
führenden Stück  steckenden  Ballon  ansammelnden  Verdauungs- 
flüssigkeiten  in  das  abführende  Stück  überleeren  können.  Aller- 
dings könnte,  damit  dies  fortwährend  geschehen  könne,  durch  das 

(48) 


Ueber  Jejanostoinie  oder  die  Anlage  einer  Emähnrngsfistel  etc.       587 

Robr  bb  und  die  Ballons  ein  Rohr  führen,  welches  das  Ueber- 
fliessen  der  Secrete  ermöglichen  würde.  Dieses  Rohr  müsste 
natürlich  in  den  Darm  beiderseits  offen  münden. 

In  meinem  Falle  genügte  allerdings  schon  eine  Pelotte  mit 
einem  soliden  Zapfen,  der  einen  Wattetampon  gegen  die  Fistel  presste. 

Im  Vorstehenden  habe  ich  alles  Wissenswerthe  über  die 
Jejnnostomie  zusammengefasst  und  will  alles  dies  der  Nachprüfdng 
durch  FachcoUegen  unterbreiten.  Ein  einziger  Erfolg  bürgert 
allerdings  einen  seltenen  Eingriff  noch  nicht  ein,  und  so  will  ich 
der  Meldung  von  gleichen  Eingriffen  entgegensehen,  um  auf 
breiterer  Basis  ein  günstiges,  sollte  es  aber  die  unbefangene 
Beobachtung  erheischen,  auch  ein  absprechendes  Urtheil  über  die 
im  Vorstehenden  besprochene  Operation  zu  fällen.  Ich  wäre  den 
betreffenden  Herren  Collegen  zu  Dank  verpflichtet,  wenn  sie  mir 
etwa  vorkommende  Beobachtungen  mittheilen  wollten ;  ich  würde, 
wenn  eine  grössere  Zahl  solcher  vorläge,  hierüber  einen  Bericht 
erscheinen  lassen,  der  das  endgiltige  Urtheil  ermöglichen  würde* 


Literaturverzeichniss. 

1.  Sarmay,  De  rentörostomie.   Bull.  g^n.  de  th6rap.  m6d.  et  chimrg.   Paris 

1878,  pag.  445. 

2.  Langenbncli,  Bericht  über  d.  Congress  d.  dentscli.  G^esellsch.  f.  CMr.  1880. 

3.  Sontham,  British  med.  Jonmal.  1884,  pag.  1146. 

4.  Robertson,  British  med.  Jonmal.  1885,  Febr.  21. 

5.  Golding  Bird,  Clinical  sodety  of  London,  Lancet,  Dec.  5.  1885.  Daselbst 

anch 

6.  Pearce  Gonld,  Lancet  1885,  pag.  1092. 

7.  Ogata,   üeber  die  Yerdanang  nach  Ausschaltung  des  Magens.   Archiv  für 

Physiol.  (Dn  Bois-Beymond.)  1883,  pag.  89. 

8.  Tappeiner  nnd  Anrep,  Arch.  f.  Anat.  und  Physiol.  1881,  pag.  504. 

9.  Hess,  Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Med.  40.  Bd.,  I.Heft.,  pag.  93,  1886. 

10.  Bnsch,  Beitrag  znr  Physiologie  der  Yerdannngsorgane.  Yirchow's  Arch. 

14.  Bd.,  pag.  140. 

11.  Demant,  Yirchow's  Arch.  Bd.  75,  pag.  419. 

12.  Oddi,   üeber  die  Wirkung  der  Galle  auf  die  Magenverdauung  etc.  (ital.). 

Peragia  Y.  Santucd  1887. 

13.  Braune,  Archiv  der  HeUk.  17.  Jahrg.,  1876,  pag.  315. 

14.  Hahn,  Bericht  über  den  XYT.  Congress  der  deutj^ch.   Ges.   für  Chimrgie. 


.*  '' 


•s»^ 


Med.  Jahrbücher.  1887,  4Q     (49) 


XXV. 

Notiz  zur  Neryenfärbung. 

Von 

Dr.  J.  Pal. 

(Aus  dem  Institute  (llr  elliem.  u.  experlm.  Patlioloile  der  Wiener  UnivereltiL) 

(Von  der  Redaction  am  14.  October  1887  übernommen.) 


Im  letzten  Hefte  des  Jahrganges  1886  dieser  Jahrbücher^) 
habe  ich  über  eine  Modification  der  Weigert'schen  Nerven- 
färbung berichtet,  als  deren  Vorzüge  ich  die  Schärfe  der  Bilder, 
die  Möglichkeit  der  isolirten  Zell-  und  Kemfärbnng  und  die  Kürze 
des  Verfahrens  hervorgehoben  habe.  Als  einen  nicht  geringen 
Vortheil  meiner  Methode  mnss  ich  noch  die  vollständige  Um- 
gehung der  Kupferimprägnation  nennen. 

Im  Laufe  des  heurigen  Jahres  habe  ich  weitere  Erfahrungen 
über  diese  Färbung  gesammelt  und  einzelne  Details  zum  Vortheile 
der  Methode  abgeändert. 

Ich  habe  zwar  angegeben,  dass  in  beliebigen  Chrom- 
lösungen gehärtete  Stücke  zur  Verwendung  gelangen  können, 
doch  ziehe  ich  gegenwärtig  die  aus  Mülle  r'scher  Flüssigkeit  vor. 

Ein  Haupterfordemiss  ist,  dass  die  Stücke  in  eben  schnitt- 
fähigem Zustande  zur  Präparation  gelangen. 


')  Beitrag  zur  Nervenf&rbetechnik.  Diese  Jahrb.  1886,  pag.  619,  (Heft  IX). 

46*     0) 


690  I^al. 

Die  Stücke  werden  ans  Mttller'Bcber  Fltissigkeit  direet  in 
Wachs  eingebettet  und  dann  in  Alkohol  geschnitten,  von  wo  sie 
alsbald  in  die  J^arbstofflösnng  gebracht  werden.  Ich  verwende 
jetzt  eine  Vi^/o  wässerige  Hämatoxylinlösang ,  die  heiss  bereitet, 
und  der  nach  der  Abkühlung  etwas  Alkohol  zugesetzt  wird.  Diese 
Lösung  soll  nicht  alt,  auch  nicht  im  Sonnenlichte  gestanden  sein. 
Ich  setze  das  Lithion  carbonicum  nunmehr  der  Lösung,  nicht  wie 
früher,  unmittelbar  nach  ihrer  Bereitung  zu,  weil  sie  in  letzterem  Falle 
rascher  verdirbt  und  dann  braun  wird.  Eine  solche  braune  Lösung 
liefert  wenig  haltbare  Präparate,  in  welchen  überdies  die  mark- 
haltigen  Fasern  einen  graulichen  Ton  zeigen.  Der  Zusatz  erfolgt 
deshalb  erst  unmittelbar  bevor  die  Schnitte  in  den  Farbstoff  ge- 
bracht werden.  Durch  das  Lithion  carb.  wird  die  Lösung  tief 
violettroth.  Ich  nehme  für  100  Ccm.  2  Ccm.  einer  gesättigten 
Lithionlösung  oder  circa  3 — 4  Tropfen  auf  10  Ccm.  Hämatoxylin- 
lösung. 

Es  genügt,  wenn  man  die  einem  eben  schnittfähigen  Stücke 
entstammenden  dünnen  Schnitte  nur  5 — 6  Stunden  (nicht  24  bis 
48  wie  früher  angegeben)  in  einer  solchen  frischen  Lösung  be- 
lässt.  Die  Schnitte  werden  dann  in  Wasser  gewaschen,  dem  einige 
Tropfen  einer  ges.  Lithionlösung  zugesetzt  wurden.  Dieser  Zusatz 
ist  insbesondere  für  Schnitte  erforderlich,  die  länger  als  sechs 
Stunden  im  Hämatoxylin  belassen  wurden.  Das  Entfarbungsver- 
fahren  ist  unverändert  geblieben.  Es  wird  das  Präparat  für  15  bis 
20  Secunden  in  eine  1/4^/0  Lösung  von  Kalium  hypermanganicum ') 
gebracht  und  von  hier  in  die  Säuremischung  (l'O  Acid.  oxalic. 
+  1-0  Kai.  sulftirosum  (KaSOs) :  200  Aqu.  dest.  kalt  zu  bereiten 
und  in  wohlverschlossener  Flasche  aufzubewahren)  bis  zur  voll- 
ständigen Entfärbung  des  Zwischengewebes;  eventuell  ist  diese 
Procedur    zu  wiederholen.    Die  Schnitte  werden  nun  gewaschen. 


0  Lösungen  des  Kai.  hypermang^  wnrden  nach  dem  Bekanntwerden  der 
Carmintinction  zur  Färbung  versucht.  In  solcher  Eigenschaft  fuhrt  Stephany 
das  Kali  hyp.  an  (Beitr.  z.  Histologie  der  Rinde  d.  gr.  Gehirnes.  Inaug.-Diss. 
Dorpat  1860,  pag.  13).  Zur  Entfärbung  (von  Bacillenpräparaten)  wurde  es  von 
Lustgarten  (d.  Jahrb.  18S5)  eingeführt. 


(2) 


Notiz  zur  Nervenfärbnng.  591 

Zar  Nacbfarbung  sei  besonders  Alarmcarmin  ^)  empfohlen. 
Im  Alanncarmin  werden  die  markhaltigen  Fasern  hellblaa  und 
heben  sich  sehr  seharf  von  den  Zellen  und  den  rothgefärbten  Kernen 
ab,  überdies  haben  sieb  diese  Präparate  als  ausserordentlich  dauer- 
haft erwiesen.  Will  man  die  Zellen  hervortreten  lassen,  so  empfiehlt 
sich  eine  kurze  Färbung  in  Picrocarmin,  der  nur  wenig  ammonia- 
kaiisch  sein  darf  und  nach  Waschung  Nachfärbung  in  Alauncarmin. 

In  jüngster  Zeit  ist  von  Paneth')  die  Verwendung  des 
Blauholzextractes  (in  l<>/o  Lösung)  als  Surrogat  für  das  theuere 
Hämato^lin  empfohlen  worden  und  soll  dasselbe  nach  Freud 
auch  für  mein  Färbungsverfahren  geeignet  sein. 


^)  2*0  Carmin  in  500  Ccm.  einer  57o  Alamüösnng   dnrcli   20—30  Hin. 
gekocht  und  kalt  filtrirt  Biese  L5snng  färbt  rascii  nnd  intensiv  nach. 
*)  Zeitschr.  f.  wiss.  Mikr.  1887.  Bd.  lY,  pag.  213. 


•Hi)H- 


(3) 


XXVI. 

lieber  zwei  gesonderte  Neryenbündel   in  dei 
grauen  Aie  des  menschlichen  Rückenmarkes. 

Dr.  i.  Pü. 

(im  in  luUlBl  llr  illEen.  ii-  tm\a.  PiHbIieIi  der  WInir  ililisnltll) 

(Ton  der  BedKctian  am  14.  OcUilwr  1887  flb«moiiimaii.J 

Im  letzten  Frühjahre  bio  ich  in  den  Besitz  einiger  StlU^e 
des  Rückenmarkes  eines  in  Wien  gehenkten  Raabmßrders  gtÜAogi. 
welche  schon  circa  drei  Standen  post  mortem  in  Müller'Bctw 
Flüssigkeit  gebracht  werden  konnten.  j 

Znr  Präparation  benutzte  ich  meine  vor  Jahresfrist  mit-  ] 
getheilte  Methode  ^) ,  die  sich  auch  seither  vorzüglich  bewährt  i 
hat  Ich  habe  im  Lanfe  dieses  Jahres  weitere  Erfahrungen  Eiber  1 
die  Färbung  gemacht  und  bin  durch  diese  in  der  Lage,  die  Fro- 
cedni  abermals  abznkUrzen  and  die  noch  bestandenen  Mangel  in  / 
beheben.  Ueber  diese  Angelegenheit  wird  an  anderer  Stelle*}  j' 
berichtet,  hier  sei  nnr  bemerkt,  dass  sich  die  so  angefertigten 
Präparate  durch  Schärfe  der  Zeichnang  und  Schönheit  auszeichnen. 

Bei  der  Untersucbang  der  Schnitte  bin  iüh  auf  zwei  beson-     \ 
dere,  bisher  nicht  beschriebene  Bündel  gestoesen,  die  ich  hier  be- 
sprechen will. 

Das  eine  dieser  Bündel  habe  ich  im  Uebergangstheile  vom 
Brust-  in  das  Lendenmark  gefanden.  Es  länfl  aus  dem  Hinterhom 
dem  Vorderstrang  zu,  in  welchen  es  sich  einsenkt  (a,  Fig.  1)- 

Dass  Bündel  aus  dem  Hinterhoroe  direct  in  die  vorderen 
grauen  Sänlen  gelangen,  ist  bekannt.  Diese  Bündel  geben  Fasern 
an  die  Tordere  Commissur  ab,  ein  Theil  der  Fasern  zieht  m 
den  Ganglienzellen   der   Vorderhümer,    ein    Tbeil,  soll    in  äes      i 

')  TidB  pag.  619  d.  J»hre.  1836  d.  Jahrb.  | 

■)  Hotis  aar  Ifer?enfArbiiiig,  pag.  688  d.  Jahib. 


üeber  zwei  gesonderte  Nervenbündel  etc. 


593 


Torderen  Abschnitt  des  Seitenstranges  gelangen  und  schliesslich 
ist  von  einem  Theile  behauptet  worden,  dass  er  sich  direct  den 
vorderen  Warzeb  anschmiege  nnd  mit  diesen  das  Bückenmark 
verlasse.  Das  sind  Fasern  des  sogenannten  ReflQxbogens  (S 1 1 1 1  i  n  g^). 
Ueber  eine  Verbindung  von  Hinterwnrzelfasem  mit  dem 
Yorderstrange  fand  ich  nur  bei  Kölliker^)  eine  Beziehung  auf 
Glarke  und  bei  Henle')  auf  Schiefferdecker.  Clarke*) 

Fig.  1. 


gibt  an,  eine  solche  Verbindung  nur  über  der  Halsanschwellung 
bei  der  Katze  beobachtet  zu  haben  und  bildet  einen  Längsschnitt 
ab,  den  ich  hier  schematisch  wiedergebe  (Fig.  2). 

Angesichts  der  primitiven  Hilfsmittel,  deren  sich  Clarke 
bediente  (Härtung  in  Alkohol,  Behandlung  mit  essigsaurem  AI- 

')  Vergl.  Stilling,  Nenere  üntersnchnngen  über  den  Ban  des  Bücken- 
markes. Cassel  1857,  pag.  308  etc. 

>)  Gewebelehre  1867,  pag.  263. 

')  Anatomie,  Bd.  3,  pag.  82. 

*)  By  certain  fimctions  of  the  spinal  chord  wilh  fartber  invesügations 
into  the  stnicture.  Phil.  Transact.  1853,  pag.  348  n.  349;  hierzn  Tafel  XXm. 


594 


Pal. 


kohol),  angesiehts  des  Umstandes  dass  ein  so  eomplicirter  Faseirerlanf 
im  Längsschnitt  selbst  bei  unseren  Hilfsmitteln  schwer  zu  eroiren  ist, 
kann  man  die  eben  genannte  Aussage  Clarke's  noch  nicht  als 
den  Yollgiltigen  Beweis  flir  die  Existenz  solcher  Fasern  ansehen. 
S  c  h  i  e  f  f  e  r  d  e  c k  e  r  ^),  der  sich  schon  des  Goldchlorids  bediente, 
spricht  wohl  vorübergehend  von  einer  theils  directen,  theils  durch 
ein  Netz  unterbrochenen  Verbindung  zwischen  den  aus  sensiblen 
Wurzeln  entstammenden  Fasern  der  Hinterstränge  und  den  Vorder- 
strängen.  Allein  er  bildet  nur  eine  durch  ein  Netz  unt^brocbene 

Fi«.  S. 
Vord,  Str.  H.  Ar. 


Ä.  Wurzd 


Vard.  Würzet 


Verbindung  der  Hinterstränge  mit  den  vorderen  Wurzeln  auf  einem 
Längsschnitte  aus  dem  Bttckenmarke  des  Hundes  ab.  Auch  in 
diesem  Falle  handelt  es  sich  fik)mit  nicht  um  Fasern,  welche  mit 
den  von  mir  beschriebenen  identisch  wären. 

Ich  habe  denmach  aus  der  Literatur  erfahren,  dass  eine 
Verbindung  der  hinteren  Wurzeln  mit  den  Vorderstrilngen  in  dem 
Sinne,  wie  dies  in  meinem  hier  abgebildeten  Präparate  der  Fall 
ist,  bis  jetzt  nicht  beschrieben  worden  ist. 

Ueber  das  zweite  Bündel  (Fig.  3)  vermag  ich  nur  das  Fol- 
gende zu  sagen.  Ich  fand  es  ungefähr  auf  der  Höhe  der  Halsan- 
schwellung in  mehreren  Schnitten.    Das  Bündel   entsteht  in  der 

^)  Beiträge   cor  Kenntniss  des  Fasenrerlanfes  im    Backenmarke.  Arch.  1 
mikr.  Anat.  1874,  pag.  486. 
(8) 


lieber  swei  gesonderte  Nervenbündel  etc. 


595 


änsserBten  Spitze  des  Seitenhornes  (a,  Fig.  3),  durchschreitet  die 
seitliche  GanglienzeUengruppe  und  gelangt  gradlinig  verlaufend, 
ohne  nachweislich  Fasern  an  die  vordere  oder  hintere  Commissur 
abzugeben,  bis  auf  das  Niveau  der  letzteren,  wo  es  dann  abzu- 
biegen scheint  (b,  Fig.  3).  Es  besteht  aus  Fasern  mittlerer  Stärke 
und  ist  durch  die  Dichtigkeit  derselben  auffällig. 

Fig.  8. 


Die  Dicke  dieses  Bündels  dürfte  sich  auf  mindestens  einen 
halben  Millimeter  belaufen.  Ich  glaube  auf  dasselbe  durch  Schief- 
stellung des  Messers  gelangt  zu  sein,  und  dürfte  ich  wahrschein- 
lich nicht  fehlgehen,  wenn  ich  behaupte,  dass  das  Bündel  von 
vorne  und  lateral  nach  hinten  und  medialwärts  etwas  aufsteigt. 
Parallel  zu  diesem  Bündel  und  vor  demselben  verläuft  in  der 
grauen  Yorder^ule  ein  aus  gleichstarken  Fasern  bestehendes 
Bündel,  das  sich  in  der  abgebildeten  Schnittebene  als  bedeutend 
kürzer  erwies. 

^«K 


(4) 


xxYn. 
Ein  Beitrag  zur  Lehre  yon  der  Kernvermehrang. 

Von 

Cand.  med.  Josef  Emil  Berggrfln. 

(Aus  dem  Institute  (Or  alliemelne  und  experimentelle  PatholOEle  der  Wiener  Unlversltit.) 

(Hierzu  Tafel  XXVI.) 
(Am  31-  October  1887  von  der  Redaction  übernommen.) 


Da  ich  in  der  yorliegenden  Schrift  über  einige  Beobachtungen 
berichte,  welche  der  heute  verbreiteten  Lehre  von  den  Eernfiguren 
nicht  in  allen  Stücken  günstig  sind,  will  ich  von  vorneherein 
bemerken,  dass  ich  die  Existenz  solcher  Figuren,  sowie  die 
Wandlungen,  welche  sie  bei  der  als  Earyokinese  bezeichneten 
Eemtheilung  eingehen,  gar  nicht  mehr  als  Gegenstand  einer 
Discussion  ansehe. 

Für  discutirbar  halte  ich  aber  die  Fragen: 
L  Ob  und  unter  welchen  Umständen  sich  die  Kerne 

ohne  jene  Figurenbildung  theilen. 
n.  Ob  das  Vorkommen  von  Kernfiguren  mit  Sicher- 
heit auf  eine  Zelltheilung  schliessen  lasse. 
Bevor  ich  auf  die  Schilderung  der  thatsächlichen  Befunde 

eingehe,   möchte   ich   die   historische   Darstellung,   welche   vor 

(1) 


598  Berggrün. 

Enrzem  von  Waldeyer^)  veröflfentlicht  wurde,  noch  durch  folgende 
Bemerkung  ergänzen.  L e y d i g äusserte  sich inGanstatt's  Jahres- 
berichten (1856)  über  eine  einschlägige  Mittheilung  Joh.  Müller^s 
mit  folgenden  Worten:  „Johannes  M tiller  hat  bei  Paramaeciom 
aurelia  den  ganzen  Inhalt  des  yergrösserten  Kernes  in  einem 
Bausch  von  zu  Locken  gekräuselten  Fäden  fonnirt  gesehen.  Als 
er  diese  Beobachtung  den  Herren  Lachmann  und  Glapar6de 
mittheilte,  erfuhr  er,  dass  sie  die  Erscheinungen  von  Fäden  im 
Kern  auch  bei  Chilodon  cucnllulus  kannten.  Es  hatte  sich  nämlich 
das  Organ  viel  mehr  yergrössert  und  war  in  zwei  grosse 
Massen  getheilt.  Im  Innern  dieser  Massen  war  eine  grössere 
Menge  discreter  Fäden,  welche  aber  nicht  mehr  wie  im  vorher- 
gehenden Falle  in  Locken  geordnet  und  dicht  gezackt  waren^ 
sondern  innerhalb  der  Grenzen  des  Organs  locker  zerstreut  lagen.  ^ 

Auf  meine  eigene,  hier  vorliegende  Arbeit  nun  übergehend, 
erwähne  ich,  dass  ich  die  erste  Anregung  zu  der  methodischen 
Behandlung  des  Larvenschwanzes  in  einem  Aufsatze')  von 
H.  Eundrat  und  E.  Klein,  „Ueber  das  Verhalten  der  fixen 
Zellen  des  Froschlarvenschwanzes  ^,  erhielt,  in  welchem  die  beiden 
Autoren  zeigten,  dass  die  subepithelialen,  verästigten  Zellen  nach 
mechanischen  Beizen  ihre  Fortsätze  einziehen  und  ihre  Gestalt 
verändern. 

Ich  benutzte,  ebenso  wie  Eundrat  und  E 1  e  i  n ,  zu  meinen 
Untersuchungen  grössere  und  stärkere  Froschlarven,  welche 
ich  dadurch  unbeweglich  machte ,  dass  ich  sie  auf  Fliesspapier 
legte.  Zeitweilig  benetzte  ich  das  Thier  mit  etwas  frischem 
Wasser,  um  es  vor  Austrocknung  zu  bewahren.  Die  Reizung 
nahm  ich  mit  Hilfe  eines  Haarpiusels  vor ,  indem  ich  mehrmals 
hintereinander  in  kürzeren  Intervallen  das  äosserste  Schwanz- 
ende des  Thieres  mit  den  Spitzen  des  Pinsels  bestrich.  Nach 
einer,  eine  halbe  bis  eine  Stunde,  fortgesetzten  Reizung,  wobei 
ich  also  während  dieser  Zeit  den  bezeichneten  Theil  des  Thieres 
einer  förmlichen  Massage  aussetzte,  wui'de  die  Froschlarve  sofort 
in   die    von   Flemming    angegebene    Osmium-Chrom-Eisessig* 

^)  Archiv  fttr  mikrosk.  Anatomie.  1887. 

*)  Stricker,  Stadien  ans  dem  Institute  fOr  experim.  Pathologie.  Wien 
1869,  firanmüller. 

(2) 


Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Eemvermehning.  599 

mischnng  geworfen  und  verblieb  daselbst  ein  bis  zwei  Tage.  Ich 
färbte  hierauf  entweder  in  Safranin  mit  nachfolgender  Aus- 
waschung in  salzsaurem  Alkohol  und  längerer  Aufhellung  in 
Nelkenöl,  oder  ich  verfuhr  nach  R  a  b  l's  Modification  (Hämatoxylin- 
Safraninfarbung).  In  beiden  Fällen  gelangte  ich  zu  analogen 
Bildern.  Von  dem  gefärbten  Larvenschwanze  wurden  nun  mit  der 
Pincette  oberflächliche  Platten  abgeschält. 

Untersucht  man  eine  solche  Platte  mit  schwachen  Linsen 
(H  a  r  t  n  a  c  k  4),  so  fällt  uns  eine  der  Längenaxe  des  Tbieres  parallel 
geordnete  Reihe  von  Inseln  auf,  in  welchen  viel  intensiver  gefärbte 
Formelemente  zu  sehen  sind,  als  in  der  Umgebung  (vide  a^a^a^ 
Fig.  1).  Stellenweise  findet  sich  in  einiger  Distanz  von  dieser  Reihe 
noch  eine  zweite,  die  sich  gleichfalls  durch  stärkere  Tinction 
auszeichnet.  Die  tiefer  gefärbten  Formelemente  sind  zweierlei 
Art :  1.  Sind  es  Pigmentzellen,  die  hier  dichter  aneinander  liegen, 
als  in  der  Nachbarschaft  und  2.  sind  es  durch  die  künstliche 
Färbung  markirte  Gebilde,  die  sich  schon  bei  der  schwachen 
Vergrösserung  als  rundliche  oder  unregelmässig  begrenzte  Häufchen 
von  Formelementen  erkennen  lassen.  Untersuchen  wir  eine  solche 
Stelle  mit  einer  etwas  stärkeren  Linse  (H  a  r  t  n  a  c  k  8),  so  unter- 
scheiden wir  an  ihr  Folgendes:  Die  Pigmentzellen  sind  relativ 
grosse  vielstrahlige  Gebilde,  die  gleichsam  wie  einer  Strasse  ent- 
lang in  zwei  Reihen  angeordnet  sind,  welche  zwischen  sich  jene 
früher  genannten  stark  tingirten  Häufchen  von  Formelementen 
fassen.  Ausser  diesen  Pigmentzellen  unterscheidet  man  übrigens 
zahlreiche  andere  Pigmentzellen  mit  je  einem  roth  gefärbten  Kerne, 
mit  spärlichem  Protoplasma  rings  um  denselben  und  deutlich 
pigmentirten  zierlich  verzweigten  Ausläufern.  Diese  Ausläufer 
scheinen  zwischen  den  Epithelien  zu  liegen,  von  welchen  sofort 
die  Rede  sein  wird. 

Betrachten  wir  das  Object  bei  noch  stärkerer  Vergrösse- 
rung (Inmiers.  Hartn.  12),  so  bekommen  wir  noch  weitere 
Details  zu  Gesichte.  Wir  erkennen  im  Präparate  ein  oberflächliches 
Lager  von  Epithelien.  Unter  dem  Epithellager  sehen  wir  ein 
Lager  von  homogener  Grundsubstanz,  welches  sich  durch  zahlreiche 
feine  Fibrillen  und  durch  eingelagerte  Kerne,  wahrscheinlich  Kerne 
der   Biudegewebskörperchen ,   auszeichnet.    In   derselben   Ebene 

(3) 


600  Berggrün. 

erkennt  man  auch  scharfgezeichnete  Capillaren  mit  ebenso  scharf 
gezeichneten  und  gut  tingirten  Kernen.  Stellt  man  nun  die  obere 
Schichte  des  Präparates  ein,  so  ergibt  sich  mit  aller  Bestimmt- 
heit, dass  die  früher  erwähnten  zierlich  verzweigten  Pigmentzellen 
(videFig.  2)  mitten  zwischen  dem  Epithel  ausgebreitet  sind.  Ich 
hebe  diesen  Umstand  hervor  mit  Rücksicht  auf  die  von  A  e  b  7  ^) 
behauptete  Thatsache,  dass  im  Epithel  kein  Pigment  gebildet, 
dasselbe  vielmehr  durch  Wanderzellen  aus  dem  benachbarten 
Bindegewebe  eingeführt  werde,  eine  Beobachtung,  welche  neuestens 
von  Ehrmann,  Biehl,  Karg  und  endlich  Kölliker^) 
geprüft  und  bestätigt  wurde.  Die  zuerst  erwähnte  Form  der 
Pigmentzellen,  das  sind  die  grossen  strahlenartig  angeordneten 
Pigmentzellen,  liegen  unter  den  Epithelzellen,  respective  in  einer 
Zone  zwischen  Epithel  und  Bindesubstanz. 

Man  kann  sich  mit  der  Stellschraube  deutlich  davon  tiber- 
zeugen, dass  die  zierlich  verzweigten  Pigmentzellen  in  einer 
anderen  Ebene  liegen,  als  die  andere  mit  strahlenartigen  Aus- 
läufern versehene  Form.  Hie  und  da  findet  man  neben  den  Zellen 
der  letztgenannten  Form  verschiedene  in  derselben  Ebene  neben- 
einander gelagerte  Stücke  solcher  Zellen,  das  heisst  Stücke  von 
demselben  Aussehen,  von  derselben  Farbe  und  derselben  feinen 
Granulation,  die  jene  charakterisirt,  Stücke,  die  den  Eindruck 
machen,  als  ob  sie  isolirt  nebeneinander  lägen,  und  gleichsam 
aus  einer  Zerreissung  jener  Pigmentzellen  hervorgegangen  wären. 

Ausser  den  bisher  genannten  Geweben  findet  man  unter 
dem  Epithel  sehr  schön  angeordnete  quergestreifte  Muskelfasern 
mit  ihren  Kernen  und,  hie  und  da,  wohl  auch  Fasern,  die  als 
Nerven  gedeutet  werden  können ;  ich  muss  aber  allerdings  hinzu- 
fügen, dass  die  eingangs  erwähnte  Präparirmethode ,  so  zweck- 
mässig sie  auch  sonst  sein  mag,  zur  Darstellung  von  Nerven 
nicht  geeignet  ist. 

Kehren  wir  jetzt  zur  Hauptsache,  zu  den  Epithelzellen  zurück. 
Stellt  man  mit  der  früher  genannten  Linse  für  eine  oberste  Ebene 
des  Präparates  ein,  so  erblickt  man  an  den  helleren  Stellen,  in 
der  Umgebung  der  Häufchen,  die  massig  tingirten,  aber  relativ 

')  Med.  Centralblatt  Kr.  16.  1885. 

')  Kölliker,  Sitznngsber.  d.  Wärzbnrger  Phys.  med.  Gresellschaft.  1887. 
(4) 


Ein  Beitrag  zur  hebie  von  der  Eernvermehnuig.  gOl 

grossen  Kerne,  von  schmalen,  aber  hellen  Säumen  umgeben.  Die 
hellen  Säume  erscheinen  vielfach  durch  etwas  dunklere  Streifen 
abgegrenzt,  so  dass  man,  etwa  der  älteren  Nomenclatur  folgend, 
sagen  könnte:  der  schmale  dunkle  Saum  sei  die  Zellenmembran, 
die  helle  Zone  rings  um  den  Kern  der  Zellinhalt  (yide  die  rechts- 
seitige Grenze  der  Fig.  2  und  3).  Wir  ziehen  es  aber  natürlich 
vor,  die  helle  Zone  sammt  dem  schmalen  Saume  nach  der  von 
Brücke  eingeführten  Nomenclatur  Zellleib  zu  nennen. 

Wir  haben  es  also  mit  fast  ungefärbten  Zellleibern  zu  thun, 
in  deren  Innerem  gefärbte  Zellkerne  liegen.  Untersuchen  wir 
diese  Epithelzone  mit  noch  stärkerer  Vergrösserung  (Seibert9 
in  Gombination  mit  Zeiss'  apochromat.  4  Ocular),  so  zeigte  es 
sich  deutlich,  dass  die  Bänder  der  Zellen,  ich  meine  jene  Zonen, 
die  man  als  Hüllen  bezeichnen  könnte,  nicht  selten  von  den  Hüllen 
der  Nachbarzellen  abstehen,  d.  h.  es  bleibt  zwischen  je  zwei 
Nachbarzellen  noch  eine  schmale  ungefärbte  Zone  übrig,  die  wir 
vorläufig,  der  gebräuchlichen  Annahme  entsprechend,  als  Zwischen- 
substanz bezeichnen  wollen.  Ich  werde  auf  die  theoretische  Be- 
trachtung der  Zwischensubstanzen  zwar  nicht  eingehen,  aber  ich 
muss  mich  später  des  Ausdruckes  bedienen,  um  die  Schilderung 
der  wichtigeren  Stellen  verständlich  zu  machen.  Die  stärkere 
Vergrösserung  habe  ich  übrigens  hauptsächlich  deshalb  gewählt, 
um  einen  besseren  Einblick  in  die  Kerne  zu  erlangen. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  Betrachtung  jener  Häufchen  von 
Formelementen,  die  sich  tiefer  als  die  Umgebung  tingiren. 
Vor  mir  liegt  ein  solches  Häufchen  (a,  Fig.  2),  in  welchem  ich  in 
einer  Ebene  der  Quere  nach  fünf,  senkrecht  darauf  sechs  Kerne 
zähle,  es  werden  also,  da  das  Häufchen  keine  regelmässige 
Begrenzung  hat,  annäherungsweise  etwa  30  Kerne  nebeneinander 
liegen ;  überdies  taucht  bei  einer  tieferen  Einstellung  eine  zweite 
Reihe  von  Kernen  auf,  von  denen  man  allerdings  nicht  sicher 
wissen  kann,  ob  sie  nicht  mit  den  oberen  Kernen  im  Zusammenhang 
stehen.  Von  einigen  derselben  ist  ihrer  Lagerung  nach  wenigstens 
wahrscheinlich,  dass  sie  abgegrenzt  sind.  Stellenweise  erkennt  man 
noch  ganz  deutlich  die  Grenzen,  respective  die  Hüllen  der  alten 
Zellen  und  mit  Bücksicht  darauf,  sowie  auf  die  Grössenverhältnisse 
darf  wohl  vermuthet  werden ,  dass  mehrere  Zellen  zur  Entstehung 

(6) 


602  Berggrün. 

des  EemhanfeDS  beigetragen  haben.  Stellenweise,  sagte  ich,  sind 
die  Beste  der  früher  vorhanden  gewesenen  Zellen  noch  nachweis- 
bar, an  anderen  Stellen  ist  dies  aber  nicht  der  Fall  und  wir 
können  das  ganze  Conglomerat  eben  nicht  anders  als  ein  Con- 
glomerat  von  Kernen  mit  etwas  Zwischensnbstanz  betrachten. 
Ob  man  diese  Zwischensnbstanz  hier  als  Zellleib  auffassen  and 
das  Conglomerat  von  Kernen  als  zu  einer  Biesenzelle  gehörig 
betrachten  soll,  lasse  ich  nnerörtert.  Uns  interessirt  hier  haupt- 
sächlich die  Thatsache,  dass  wir  es  unzweifelhaft  mit  einer  Ver- 
mehrung von  Kernen  in  circumscripten  Begionen  zu  thun  haben. 
Von  besonderem  Belange  scheint  auch  der  Umstand  zu  sein,  dass 
auf  dem  Areale  der  neugebildeten  Kerne  jedenfalls  eine  geringere 
Quantität  Protoplasma  oder  Zellleib,  respective  Zellleiber  vorhanden 
sind,  als  in  den  benachbarten  normalen  Begionen.  Die  Kerne 
haben  sich  also  vermehrt,  die  Masse  der  Zellleiber  ist 
vermindert  worden. 

Die  einzelnen  Kerne  eines  solchen  Gonglomerates  lassen 
in  der  Begel  je  eine  scharf  gezeichnete  periphere  Zone,  also  eine 
KernhtiUe  erkennen.  Diese  Hülle  hat  selbstverständlich  zwei  Gon- 
teuren,  eine  äussere  gegen  die  Zwischensubstanz,  und  eine  innere 
gegen  die  Kernsubstanz  hin.  Diese  Kemhülle  erscheint  dunkler 
gefärbt  als  die  übrige  Substanz  des  Kernes.  Innerhalb  der  Kem- 
hülle erkennt  man  eine  dunkler  gefärbte  Zeichnung  auf  einem 
helleren  Grunde.  Die  dunklere  Zeichnung  entspricht  in  der  Begel 
einer  zusammenhängenden  Figur.  An  einzelnen  Kernen  bildet  diese 
Figur  ein  deutliches  Gerüste,  ein  Maschenwerk,  an  anderen  wieder 
ist  das  Gerüst  nicht  ausgesprochen,  es  sind  einzelne  grössere 
dunkle  Körper,  über  deren  Zusammenhang  die  Einstellung  in  einer 
Ebene  keinen  sicheren  Aufschluss  gibt,  die  aber  bei  Verstellung 
der  Schraube  dennoch  durch  dünnere  Fäden  zusammenzuhängen 
scheinen.  Insofeme  also  hier  thatsächlich  Figuren  vorhanden  sind, 
die  sich  stärker  tingiren  als  die  Umgebung,  werde  ich  vielleicht 
nicht  fehlgehen,  wenn  ich  sie  als  chromatische  Figur,  im  Sinne 
der  neueren  Nomenclatur,  bezeichne. 

Die  hellere  Zwischensubstanz,  welche  in  den  Maschenräumen 
des  Gerüstes,  respective  zwischen  den  Balken  und  Fäden  der 
Figur  sichtbar  ist,  erscheint  aber  gleichfalls  dunkler  gefärbt,  als 

(6) 


Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Eemvermelirang.  603 

die  entsprecheüden  Bestandtheile  der  Kerne  an  normalen  Stellen 
des  Larvenschwanzes.  Es  hat  also  die  Färbbarkeit  des  gesammten 
Kernes  der  Norm  gegenüber  zagenommen.  Neben  diesen  Kernen 
finde  ich  in  einem  der  Häufchen  (i,  Fig.  3)  eine  einzelne  Kern- 
theilungsfignr  im  Sinne  der  neuen  Lehre.  Diese  einzelne  Figur  scheint 
für  die  Beurtheilung  des  Ganzen  nicht  ohne  Belang  zu  sein,  denn  einer- 
seits schützt  dieselbe  uns  vor  dem  Vorwurfe,  dass  die  Kemtheilungs- 
figuren  überhaupt  nicht  sichtbar  geworden  seien,  weil  die  Technik 
eine  mangelhafte  gewesen  sei  (denn  wo  eine  Figur  sichtbar  wurde, 
konnten,  soweit  es  von  der  Technik  abhing,  auch  die  anderen 
in  Erscheinung  treten,  wenn  sie  überhaupt  vorhanden  gewesen 
wären) ;  andererseits  lehrt  aber  diese  Kemtheilungsfigur,  dass  auch 
hier  wie  in  den  Nachbarkemen  ohne  typische  Figur,  die  Fäden 
oder  Balken  dunkler  gefärbt  sind  als  die  Zwischensubstanz  der- 
selben Figur,  dass  aber  andererseits  die  letztere  immer  noch  viel 
dunkler  ist  als  die  Zwischensubstanz  in  den  benachbarten  schein- 
bar wenigstens  normalen  Kernen.  Endlich  ist  hier  bemerkenswerth, 
dass  die  Kemfigur  von  einer  Seite  her  von  einem  grösseren  un- 
gefärbten Areale  umgeben  ist  und  dass,  wie  die  Zeichnung 
andeutet,  es  den  Eindruck  macht,  als  ob  die  Figur  in  einer 
grösseren  Zelle  oder  in  einem  vergrösserten  Kerne  läge,  welche 
sich  an  der  regen  Kemwucherung  nicht  in  dem  Grade  betheiligt 
hat,  wie  die  nächsten  Nachbarkeme  desselben  Gonglomerates. 

Aus  diesen  Beobachtungen  geht  nun  Folgendes  hervor :  Die 
Kemtheilung  im  Sinne  der  Kaiyokinese  ist  bei  der  regeren  Ver- 
mehrung in  Folge  von  mechanischen  Eingriffen  sicherlich  nicht 
als  die  Regel.,  sondern  nur  als  die  Ausnahme  an- 
zusehen. 

Diese  Schlussfolgerung  wird  femer  noch  unterstützt  durch 
die  Befunde  in  einem  anderen  Präparate,  welches  in  gleicher 
Weise  aus  dem  Larvenschwanze  genommen  wurde  und  in  welchem 
die  Kemtheilungen  etwas  reichlicher  vorhanden  sind,  aber  merk- 
würdigerweise nicht  an  den  Stellen,  wo  sich  die  Kemhäufchen 
finden  (wo  also  die  Vermehrung  der  Kerne  offenkundig  eine  regere 
war),  sondern  zerstreut  im  Gewebe,  an  Orten,  an  welchen  keinerlei 
sonstige  Zeichen  einer  Gewcbsneubildung  zu  erkennen  sind.  Wohl 
aber  liegen  diese  Kemtheilungen  hie  und  da  in  Zellen,  an  welchen 

Med.  Jahrbücher.  1887.  ^     (7) 


604  Berggrttn. 

Merkmale  einer  vor  sieh  gehenden  Theilang  zu  finden  sind.  Diese 
Gebilde  wollen  wir  nun  näher  beschreiben. 

Wir  sehen  hie  und  da  Zellen,  die  schon  bei  massiger  Ver- 
grOsserung  ganz  deutlich  das  Bild  der  Einschnürung  bieten.  In 
Fig.  4  ist  eine  dieser  Formen  abgebildet,  und  sie  entspricht 
wohl  auch  einem  der  Theilungsbilder ,  welche  Flemming^)  im 
Jahre  1879  beschrieben  und  abgebildet  hat.  Wir  haben  Stellen  vor 
uns,  welche  etwas  in  die  Länge  gezogen,  mittlere  £inschntirungen, 
also  gleichsam  Biscuitformen  zeigen  und  in  je  einem  Kopfe  des 
Biscuits  eine  ziemlich  tief  gefärbte  Eerntheilungsfigur  enthalten. 
Wenn  man  so  ein  Bild  mit  stärkerer  Vergrösserung  unter- 
sucht, so  ergibt  es  sich  bald  mit  grösserer,  bald  mit  geringerer 
Deutlichkeit,  dass  die  Einschnürungsbuchten  durch  Vacuolen  zu 
Stande  kommen,  d.  h.  das  Bild  macht  den  Eindruck,  als  ob  die 
Bucht  eben  nur  einen  Theil  der  Gircumferenz  einer  Vacuole  bilden 
würde,  welche  in  der  Flanke  der  gestreckten  Zelle  entstanden 
ist.  Solcher  Vacuolen  können  vielleicht  mehrere  existiren,  oder  es 
kann  eine  einzige  sich  rings  um  den  eingeschnürten  Stiel  erstrecken. 
Ich  betone  nur  das,  was  ich  gesehen  habe  und  stütze  mich 
besonders  darauf,  dass  man  an  einzelnen  Stellen  noch  die  äussere 
Grenze  der  Vacuole  gleichsam  als  eine  über  die  Bucht  gespannte 
Brücke  (Best  der  Zellhülle  ?)  erkennt.  Indem  ich  diesen  Eindruck 
schildere,  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dass  sich*  diese  Zellen  nicht 
in  Wirklichkeit  zum  Theilen  anschicken. 

Ich  beschreibe  eben  nur  das  Gesehene,  um  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  dass  diese  Theilungsbilder  nicht  nothwendig  durch 
eine  Einschnürung,  durch  eine  Bewegung  des  Zellleibes  entstanden 
sein  müssen.  Die  Bilder  können  möglicherweise  durch  Vacuolen- 
bildung  hervorgerufen ,  und  die  endliche  Zerklüftung  der  Zelle 
in  zwei  Stücke  durch  Vergrösserung  der  Vacuole  verwirklicht 
werden.  Die  Betrachtung  eines  solchen  Falles  wird  uns  um  so  näher 
gelegt,  als  ja  durch  eine  Einschnürung  der  Epithelzellen  in  solcher 
Weise,  wie  es  uns  die  Abbildungen  zeigen,  nothwendig  sich  inter- 
stitielle Räume  bilden  müssen,  in  welche  entweder  Flüssigkeiten 
oder  Fortsätze  von  Nachbarzellen  eindringen.    So  lange,  als  man 


^)  Flemming,  Arcliiy  f.  mikrosk.  Anat.  1879« 
(8) 


Ein  Beitrag  znr  Lehre  von  der  Eemvermeliraiig.  605 

die  anscheinend  in  Theilang  begriffenen  Zellen  sich  gleichsam 
so  isolirt  denkt,  wie  man  sie  abbildet,  fällt  dieser  Umstand  wohl 
nicht  in's  Gewicht;  diese  Zellen  sind  aber  eben  nicht  isolirt, 
sie  bilden  einen  Theil  des  Epithelgefuges ,  and  in  den  Bäumen, 
welche  durch  die  Einschnürung  gebildet  werden,  findet  man  eben 
keine  Formelemente,  keine  Zellbestandtheile.  Wir  müssen  daher 
yermnthen,  dass  diese  Bäume,  falls  dieselben  in  yivo  vorhanden, 
von  Flüssigkeit  erfüllt  waren.  Ob  diese  Formen  der  Zelltheilung 
thatsächlich  diejenigen  sind,  durch  welche  sich  die  Epithelien 
des  Larvenschwanzes  in  der  Begel  vermehren,  ist  mit  der  Er- 
kenntniss  des  genannten  Theilungsbildes  noch  nicht  erwiesen. 

Im  Epithel  solcher  Larvenschwänze,  die  ich  vor  der  Prä- 
parirung  nicht  künstlich  gereizt  habe,  kommen  gleichfalls  Kem- 
hanfen  vor,  ähnlich  denen,  die  ich  an  den  künstlich  gereizten  be- 
schrieben habe,  nur  ist  die  Zahl  der  Kerne  in  je  einem  Häufchen 
geringer  und  die  Häufchen  selbst  seltener,  nur  hie  und  da 
anzutreffen.  Ich  zähle  in  einem  solchen  Häufchen,  in  einem 
mir  vorliegenden  Falle  fünf  Kerne,  deren  drei  so  enge  aneinander 
liegen,  dass  ihre  Selbstständigkeit,  Isolirtheit  mit  dem  Mikroskope 
kaum  zu  erweisen  ist.  Es  scheint,  als  ob  sie  an  den  Gontact- 
stellen  noch  zusammenhängen.  Offenbar  muss  hier  entweder  eine 
Kerntheilung  oder  irgend  eine  andere  Form  der  Kernvermehrung 
stattgefunden  haben.  Keiner  aber  von  den  fünf  Kernen  zeigt 
eine  Kemfigur,  sie  verhalten  sich  so,  wie  ich  es  früher  an  der 
künstlich  gereizten  Larve  beschrieben  habe,  nur  ist  ihre  Fär- 
bung nicht  so  dunkel  wie  jene  an  den  gereizten  Stellen.  Bings  um 
den  aus  fünf  Kernen  bestehenden  Häufchen  liegt  aber  eine  Zone 
von  kernhaltigen  Epithelien,  die  auch  nicht  mehr  das  Aussehen 
der  übrigen,  ich  möchte  am  liebsten  sagen,  Normalepithelien 
besitzen,  die  vielmehr  einen  Uebergang  zu  dem  Kemhaufen  zu 
bilden  scheinen.  In  einer  solchen  Zelle  erblicke  ich  nun  wieder 
eine  Kemfigur  neben  einem  zweiten  Kerne,  der  keine  Figur  auf- 
weist, sondern  nur  eine  KemhüUe  und  im  Innern  einige  feine 
Granula  zeigt.  Ob  diese  Kemhäufchen  wirklich  der  Norm  ent- 
sprechen oder  ob  sie  etwa  die  Folge  einer  mechanischen  Beizung 
sind,  welche  auf  die  Larve  ohne  mein  Zuthun  gewirkt  hat ,  bleibt 

selbstverständlich  unentschieden. 

47»     (9) 


606  BerggrüB. 

Eine  dritte  Reihe  von  Objecten  habe  ich  mir  durch  die 
Präparation  der  Froschcomea  verschafft,  a.  zw.  im  entzündeten 
Znstande,  in  welchem  ja,  wie  heute  allgemein  anerkannt  wird, 
eine  lebhafte  Zelltheilung  stattfindet.  Die  Entzündung  habe  ich 
durch  Einführung  eines  Bindfadens,  in  der  den  Pathologen  be- 
kannten Weise,  gesetzt.  Die  Untersuchung  wnrde  in  den  Monaten 
Mai-Juni  ausgeführt,  welche  Angabe  darum  von  Belang  ist,  weil 
die  Frösche  um  diese  Jahreszeit  bekanntermassen  sehr  lebhaft 
sind  und  sehr  gut  reagiren.  Der  Entzündungserreger,  resp.  der 
geknüpfte  Bindfaden  ist  einmal  24  Stunden,  ein  andermal  48  Standen 
liegen  geblieben.  Dann  wurde  die  Cornea  ausgeschnitten  und  sofort 
in  die  Chromosmiumsäure-Eisessigmischung  gebracht.  Nachdem 
die  Färbungsproceduren  nach  Vorschrift  zu  Ende  waren,  machte  ich 
den  Versuch,  die  Cornea  zu  lamelliren.  Die  Spaltung  der  Cornea 
in  Lamellen  gelingt  aber  an  derart  behandelten  Präparaten  nur 
sehr  schwer,  es  können  nur  Bisspräparate  angefertigt  werden. 
Indessen  reichen  ja  die  Bisspräparate  vollkommen  aus,  um  sich 
über  die  Eemformation  in  den  Zellen  zu  unterrichten.  In  einem 
solchen  Präparate  nun  sieht  man  die  Grundsubstanz  ziemlich  hell 
durchscheinend  und  nur  wenig  gefärbt.  Es  ist  gleichsam  nur  ein 
lichtröthlicher  Ton  vorhanden. 

Das  Gleiche  gilt  von  den  ZelUeibem.  Zwar  lässt  es  sich 
an  solchen  Präparaten  nicht  entscheiden,  ob  man,  strenge 
genommen,  noch  von  ZelUeibem  sprechen  darf.  Man  sieht  von  den 
Zellen  nur  die  äussere  scharfe  Begrenzung  eines  hellen  Territoriums, 
in  welchem  Territorium  die  tiefer  gerärbten  und  scharf  abge- 
grenzten Kerne  liegen.  Ob  die  Territorien  wirklich  Zell- 
leiber sind,  oder  ob  wir  in  dem  veränderten  Präparate  nur  mehr 
Hülsen  von  Leibern  vor  uns  haben,  vermöchte  ich  nicht  zu  unter- 
scheiden. Diese  Frage  kommt  aber  für  uns  gar  nicht  in  Betracht, 
denn  dass  die  äusseren  Grenzen  wirklich  Zellgrenzen  sind,  und 
dass  die,  dunkel  tingirten ,  überaus  charakteristischen  und  scharf 
gezeichneten  Körper  Kerne  sind ,  daran  ist  kein  Zweifel.  Dass 
die  Kerne  der  weitaus  grossen  Mehrzahl  nach  nicht  mehr  den 
Kernen  der  normalen  Hornhaut  entsprechen,  ergibt  sich  auf  den 
ersten  Blick.  Die  Kerne  der  normalen  Cornea  sind,  wie  das  schon 

m 


! 

I  Ein  Beitrag  zur  Lehre  toh  der  Kemvermehrnng.  g07 

I  aus  den  Abbildungen  von  Stricker  u.  Norrigi)  hervorgeht,  eigen- 

thiimliche  platte  Gebilde,  und  zwar  liegt  in  je  einem  Hornhaut- 
körperchen  nur  je  ein  Kern.  An  diesen  Objecten  aber ,  die  mir 
vorliegen  (Fig.  5),  sind  erstens  die  Formationen  der  Kerne  andere, 
und  dann  entscheidet  auch  ihre  Zahl  über  die  Frage,  ob  normal 
oder  nicht.  Man  findet  in  je  einer  Zelle  zwei  oder  drei  und  selbst 
vier  Kerne;  diese  Kerne  sind  selbstverständlich  kleiner  als  die- 
jenigen der  normalen  Cornea  und  bieten  uns  übrigens  alle  möglichen 
Uebergänge  der  Abschnürung.  Die  einzelnen  Kerne  in  einer  Zelle 
sind  zuweilen  ganz  isolirt,  oder  sie  hängen  noch  durch  Brücken 
zusanmien,  und  so  erblickt  man  alle  möglichen  Phasen  der  Ab- 
schnürung. Es  kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  wir  haben 
es  hier  mit  einer  lebhaften  Kemtheilung  zu  thun.  Dass  aber 
dieser  Kerntheilung  eine  Zelltheilung  folgt,  —  resp.  unter  den  ge- 
eigneten Bedingungen  folgt,  —  das  ist  ja,  wie  ich  schon  erwähnt 
habe,  allgemein  anerkannt.  In  Fig.  5  habe  ich  übrigens  das  Bild 
von  mehreren  an  einander  gelagerten  Zellen  dargestellt,  welches 
mit  Rücksicht  auf  das,  was  an  der  lebenden  Cornea  und  an  den^ 
lebenden  Zellen  beobachtet  worden  ist,  mit  Wahrscheinlichkeit 
als  eine  fixirte  Phase  der  Zelltheilung  zu  betrachten  ist.  Doch 
kommt  ja  die  Frage  nach  dem  thatsächlichen  Vollzüge  der  Zell- 
theilung hier  nur  ganz  secundär  in  Betracht.  Wichtig  ist,  dass  sich 
die  Kerne  theilen  und  dass  hier,  soweit  ich  in  diesen  Präparaten 
Umschau  halten  kann,  innerhalb  des  Parenchjms  der  Cornea 
jene  typischen  Kemfiguren,  welche  der  Kaiyokinesis  entsprechen, 
nicht  auffindbar  sind.  Die  Kerne  sind,  wie  schon  hervorgehoben 
wurde,  scharf  gezeichnet ,  sie  besitzen  eine  tief  tingirte  Aussen- 
zone,  und  innerhalb  derselben  Rudimente  von  Oerüsten  oder  isolirte 
Körperchen  innerhalb  einer  helleren  Masse.  Anschliessend  an  diese 
Beschreibung  muss  ich  bemerken,  dass  die  in  Gold  gefärbte 
Cornea  die  Kemtheilungsbilder  genau  in  der  Weise  darstellt,  wie 
die  Flemming^sche  Tinction. 

Zum  Schlüsse  habe  ich  zu  bemerken,  dass  ich  in  der  Cornea 
allerdings  auch  Kemfiguren  gesehen  habe,  und  zwar  Figuren,  die 
auf  eine  Kemtheilung  im  Sinne  der  Karyokinese  hindeuten,  aber 


*)  Stricker,  Studien,  1869. 

(11) 


608       Barggrttn.  Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Kemvermelinmg. 

diese  Kernfigaren  liegeu  in  oberflächlichen  Epithelzellen  and  in 
Regionen,  in  welchen  das  Epithel  kein  Zeichen  einer  lebhaften 
Zellvermehmng  aufweist. 


Erklärung  der  Tafel 

Flg.  1.  Uebersichisbild  (Objectiv  Hartnack  4.  Ocular  II).  Abgeschälte  Platte 
eines  Froschlarvenschwanzes.  Die  mit  a  beseichneten  Stellen  zeigen  die 
durch  den  Entzttndungsreiz  scharf  von  der  ümgebnng  sich  abhebenden, 
dunkler  tingirten  Partien  an.  Zahlreiche  yielstrahlige  Pigmentzellen  dorcli- 
ziehen  das  Epitbelgefilge. 

Flg.  2.  Yielstrahlige  Pigmentzelle  mitten  in  dem  Epithel  sich  aasbreitend.  Bei 
a  allmftliger  Uebergang  von  dem  normalen  in  das  durch  mechanische 
Reizung  pathologisch  veränderte  Gewebe.  (Yergrössernng  etwa  lOOOfach, 
ebenso  die  folgenden  Figuren.) 

Fi|^.  8.  Vereinzelte  Kemtleilungsfigur  (bei  6,  Tonnenform}  in  einem  durch  sehr 
rege  Kemtheilung  und  -Vermehrung  sich  auszeichnenden  Gonglomerate. 

Fig.  4.  ZeUe  mit  mittlerer  Einschnürung,  in  je  einem  Kopfe  eine  Kemtheilunga- 
flgur  enthaltend. 

Flg.  6.  Entzündete  Cornea.  Einzelne  ZeUen  enthalten  eine  grössere  Anzahl  von 
Kernen  als  denorma.  Im  unteren  Abschnitte  des  Bildes  finden  sich  mehrere 
an-  und  nebeneinander  gelagerte  Zellen,  welche  als  eine  fixirte  Phase  der 
Zelltheilung  zu  betrachten  sind. 


•HOK* 


(IS) 


xxvin. 

Das  Verhalten  des  Yeratrins  gegen  Schimmel 

pilzwachsthom. 

Von 

Dr.  Arnold  Paltanf^ 

Aasistent  am  ger.-med.  Inatitate  sn  Wien. 
(Am  10.  November  1887  von  der  Bedaction  ül)ernommen.) 


Die  nachfolgende  kleine  Untersuchung  wurde  über  Anregung 
des  Herrn  Prof.  Ludwig  in  dessen  Laboratorium  vorgenommen. 
Derselbe  hatte  einen  angeblich  mit  Veratrin  versetzten  ver- 
schimmelten Schmam^)  zur  gerichtlich-chemischen  Untersuchung 
erhalten,  in  dem  ein  anderer  Chemiker  vorher  die  Anwesenheit 
von  Veratrin  constatirt  hatte.  Herr  Professor  Ludwig  konnte  es 
dagegen  nicht  nachweisen,  worauf  ersterer  dieses  negative  £r- 
gebniss  dadurch  erklärte,  dass  das  Veratrin  durch  den  Einfluss  der 
unterdessen  auf  dem  Schmam  zur  Entwicklung  gelangten  Schimmel- 
pilze zerstört  worden  sei.  Gerichtlicherseits  wurde  die  Verfolgung 
auf  Professor  Ludwig's  Gutachten  hin  eingestellt 

Das  Verhalten  der  Alkaloide  gegen  Verschimmelung  und 
Fäulniss  u.  dergl.  ist,  soviel  ist  bekannt,  ein  sehr  verschiedenes ; 
nur  wenige  Alkaloide  sind  diesbezüglich  Gegenstand  der  Unter- 
suchung gewesen ;  *  das  Veratrin  bis  nun  nicht.  Sohin  konnte 
obige  Frage  auch  nicht  exact  entschieden  werden.  Um  diese,  wie 

')  Schmam  ist  eine  Mehlspeise,  die  durch  Eintragen  eines  ans  Mehl,  Ei 
nnd  Wasser  bestehenden  Teiges  in  heisses  Fett  hergestellt  wird. 

(1) 


610  Paltanf. 

dies  Vorkommniss  ergibt,  dem  gerichtlichen  Chemiker  wichtige 
Frage  zu  beantworten,  habe  ich  einige  entsprechende  Versnche 
unternommen. 

Ich  versetzte  eine  Reihe  von  Portionen  von  in  gewöhnlicher 
Weise  bereiteten  „Schmams'',  soviel  als  ein  kleiner  Speiseteller 
eben  fasste,  mit  Veratrin  und  bestrente  sie  mit  einem  Gemisch 
von  Zncker  nnd  Veratrin.  Die  eine  Hälfte  enthielt  je  an  12,  die 
andere  je  an  25  Milligramm  des  reinen  Alkaloids.  Je  eine  Probe 
wurde  sofort  nach  der  Mischung,  die  anderen  in  längeren  Zeit- 
räumen untersucht,  nachdem  sie  in  einen  feuchten  Keller  dem 
Verschimmeln  waren  überlassen  worden.  Ausserdem  stellte  ich  mir 
Nährlösungen  her,  wie  man  sie  sonst  zur  Cnltur  von  Schimmelpilzen 
verwendet,  versetzte  sie  mit  je  5  Milligramm  Veratrin,  inficirte  sie 
mit  Piben  und  überliess   auch   sie  monatelang  dem  Wachsthum. 

Der  Weg  der  Untersuchung  des  Schmams  war  der  beim 
Alkaloidnachweis  gewöhnlich  angewendete :  Ausziehen  mit  saurem 
Alkohol.  Der  mit  Wasser  aufgenommene  Rückstand  sauer,  sodann 
alkalisch  mit  Aether  ausgeschüttet,  diesen  Rückstand  in  essig- 
saures Salz  übergeführt,  damit  reagirt.  Dem  Nachweis  des  Alkaloids 
hielt  ich  ausser  durch  die  allgemeinen  Alkaloidreactionen  noch 
durch  die  dem  Veratrin  eigenthümlichen  mit  Schwefelsäure  (Brom- 
wasser), mit  Salzsäure,  mit  Schwefelsäure  und  Zucker  für  erbracht. 
Das  essigsaure  Salz  stellte  stets  eine  kaum  gefärbte,  sehr  spröde, 
hornartige,  amorphe  Masse  dar. 

Beide  frisch  untersuchten  Schmamproben  ergaben  ein  positives 
Ergebniss. 

Nach  8  Wochen  und  nach  10^/s  Monaten  untersuchte  ich  wieder 
je  eine  Probe  der  beiden  Mischungen;  alle  vier  Schüsseln  zeigten 
Schimmelbildung,  besondera  reichliche  die  länger  gestanden 
habenden.  Das  Ergebniss  beidenfalls  wie  vorher. 

Die  Nährlösungen  wurden  in  kleinen  Bechergläsern  und  Eprou- 
vetten aufbewahrt.  DasWachsthum  der  Pilze  wurde  erst  ein  reichliches, 
als  ich  auch  stickstofiFhaltige  organische  Salze  (weinsaures  Ammon) 
zusetzte.  Zuckerlösung  allein  förderte  nicht  wesentlich.  Auch  in 
diesen  Lösungen  constatirte  ich  zunächst  die  Nachweisbarkeit  des 
Giftes  in  der  frischen  Probe,  sodann  aber  auch  in  sämmtlicben 
mit   reichlichen   Pilzcolonien   bedeckten    bis    fünf  Monate   alten 

(8) 


Das  Verhalten  des  Yeratrins  gegen  Schimmelpilz wachsthnm.  gH 

Flüssigkeiten.  Sie  warden  nur  filtrirt,  alkaliseh  gemacht  n.  s.  w. 
Da  ich  bemerkt  hatte,  dass  Nährlüsungen  darch  Schimmelpilz- 
wachsthum  gelblich  und  bräunlich  gefärbt  wurden,  so  nahm  ich 
mit  solchen,  doch  nicht  mit  Veratrin  versetzten  ,  durch  Monate 
gestandenen  Lösungen  dieselbe  Procedur  des  Nachweises  vor, 
der  einen  kaum  gefärbten  amorphen  Rückstand  ergab,  der  mit 
Phosphorwolframsäure  und  Jodwismuthkalium  einen  dünnen 
Niederschlag,  mit  Schwefelsäure  eine  lichte  Lösung  gab,  die  durch 
Stehen  an  der  Luft  oder  Erwärmen  braunroth  wurde,  nach 
42  Stunden  entfärbt  war,  in  concentrirter  Schwefelsäure  nicht 
flaorescirte,  mit  Salzsäure  durch  längere  Zeit  gekocht,  farblos  oder 
kaum  merklich  gelb  wurde.  Eine  Verwechslung  mit  Veratrin 
wäre  nur  durch  oberflächliche  Beachtung  ersterer  Beaction 
möglich,  die  durch  das  Ausbleiben  der  zweiten  aber  sofort 
geklärt  würde.  Dieses  Product  dürfte  wohl  je  nach  der  Nährlösung 
und  vielleicht  auch  der  Art  der  Pilze  ein  ganz  verschiedenes  sein. 

Das  Präparat,  auf  seine  Reinheit  geprüft ,  zeigte  in  seiner 
Reaction  die  von  Dragendorff  angegebenen  Empfindlichkeits- 
grenzen. 

Es  steht  somit  fest,  dass  Veratrin,  auch  in  einer  die  tägliche 
Maximaldosis  nicht  erreichenden,  nicht  letalen  Menge  im  Laufe 
von  lOVa  Monaten  durch  Schimmelpilzvegetation  nicht  zerstört 
wird,  ausserdem^  dass  fünf  Milligramm  des  Giftes  in  Lösung  durch 
fünf  Monate  langes  Schimmeln  nicht  zersetzt  werden.  Es  gehört 
somit  nicht  zu  den  leicht  zerstörbaren  Alkalien,  die  oben  ange- 
zogene Behauptung  ist  daher  falsch. 

Es  darf  aber  trotzdem  nicht  bähauptet  werden,  am  wenigsten 
von  gerichtlichen  Sachverständigen,  dass  Veratrin,  nachdem  es 
durch  Monate  unter  seiner  Zersetzung  günstigen  Bedingungen  sich 
befunden,  nicht  zersetzt  werden  könne.  Es  ist  ja  bekannt,  dass 
Atropin  noch  nach  einem  Jahre  aus  faulen  Leichentheilen  nach- 
gewiesen werden  konnte,  dasStrychnin  noch  nach  längerer  Zeit; 
und  doch  zeigte  Soyka,  dass  diese  Alkaloide  unter  gewissen 
Bedingungen  schon  nach  wenigen  Monaten  bis  zur  Hälfte  der  in 
Verwendung  gebrachten  Substanz  zersetzt  werden  konnten. 

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Med.  Jahrbücher.  1887.  48       CB) 


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Bergen,  Ktrntrtnttiruig. 


Verlag  von  Alfred  Holder,  k.k.Hi 


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lUniversiläts-BuchhaniJler  In  Wien, 


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TJekr  die  Tuberculose  der  Brustdrftse. 

Von 

Dn  Ludwig  Piskaöek^ 

gew.  Operateur  an  Prof.  Albert's,  z.  Z.  Assistent  an  Hofr.  Breiaky's  Klinik  in  Wien. 

(Aus  der  chirurgischen  Universitits-Klliilk  des  Herrn  Prof.  E.  llbert  In  Wien.) 

(Hierzn  Taf.  XZYn--XXX.) 
(Am  24.  November  1887  von  der  Bedaction  übernommen.) 


Einleitung. 

Am  22.  Februar  1884  warde  mir  die  Ehre  zatheil,  in  der 
k.  k.  Gesellschaft  der  Aerzte  ein  Präparat  von  wahrer  Tuber- 
culose der  Brustdrüse  zu  demonstriren,  welche  Tags  zuvor,  nach 
richtig  gestellter  Diagnose,  an  der  Klinik  des  He  rm  Prof.  Albert 
amputirt  wurde. 

Es  war  dies  damals  der  vierte  Fall,  der  innerhalb  eines 
Jahres  an  obiger  Klinik  zur  Beobachtung  kam,  der  erste  jedoch, 
für  den  eine  Indication  zur  Amputation  der  erkrankten  Brust* 
drtise  vorlag. 

Herr  Prof.  Albert  hatte  die  Güte,  mich  mit  der  Aufgabe 
zu  betrauen,  diesen  Fall  genau  zu  untersuchen,  die  früher  vor- 
gekommenen und  noch  nachkommenden  zusammenzufassen  und 
mit  den  bereits  anderwärts  bekannten  einer  Betrachtung  zu  unter- 
ziehen. 

Med.  Jahrbücher.  1887.  49      (i) 


614 


PiakaCek. 


Bii^  Ende  October  1886  wurdeo  denn  ancb  drei  weitere 
Fälle  T011  wahrer  Tabercalose  der  Bmetdrfise  an  genannter  Klinik 
beobachtet,  während  ich  noch  einen  weiteren  Fall  bei  einer 
Gravida  im  Gebärbaaee  zn  sehen  Gelegenheit  hatte. 

Von  diesen  8  Fällen  wnrde  nur  bei  zweien  die  Amputation 
der  erkrankten  BrastdrUee  TOrgenommen,  weshalb  nur  von  diesen 
der  bist'. logische  Nachweis  der  Tubercnlose  geliefert  werden 
konnte. 

Bei  den  übrigen  6  Fällen  kam  es  zn  keinem  radicalen 
Eingriff,  da  theils  keine  Indication  zu  einem  solchen  vorlag, 
theils  wegen  des  sonstigen  somatischen  Wohlbefindens  der  Kranken, 
von  letzteren  die  Abtragung  der  Brnstdrüse  nicht  zugegeben 
wurde. 

Eine  Patientin  insbesondere  war  durch  die  jahrelang  dauernde 
EiteniDg  so  stark  herabgekommea ,  dass  &  priori  ein  radicaler 
operativer  Eingriflf  ausgeschloBsen  erschien. 

I.  Literatur. 

Die  Anzahl  der  bis  jetzt  mit  Sicherheit  diagnosticirten  und 
publicirtcii  Fälle  der  Tubercnlose  der  Brnstdrüse  ist  eine  sehr 
spärliche;  die  Literatur  deshalb  nicht  umfangreich. 

Zw.ir  wnrde  schon  von  Velpean'}  im  Jahre  1854  die 
Ansicht  .luagesprochen,  „dass  die  Brustdrüse,  wenn  ancb  selten, 
doch  der  Sitz  von  Abseessen  werden  kann,  welche  man  sowohl 
wegen  ihres  Verhaltens,  als  auch  besonders  wegen  der  E^igen- 
thümlicLkeit  des  dabei  vorhandenen  Eiters  als  tuberculÖB  be- 
zeichnen kann",  doch  blieb  es  damals  blos  bei  dieser  Ver- 
muthmig. 

Sir  Astley  Cooper')  sagt,  dass  er  bei  Frauen,  welche 
Anschwellungen  der  Halsdriisen  haben,  Geschwülste  von  scrophu- 
löser  Natur  in  ihren  Brüsten  beobachtet  habe,  welche  sich 
meistens  aaf  eine  Geschwulst  in  der  einen  Brust  beschränkten, 
deren  er  aber  in  einem  Falle  auch  zwei  in  der  einen  Brost  und 
eine  in  der  anderen  sah. 


')  Telpean,  TraiU  des  nwladiee  dn  sein.  P&ris  185i. 
')  Emafcheiteii  der  Brostdrfisei  ans  dem  Engl.  Weimar  1 


üeber  die  Tubercnlose  der  Brustdrüse.  615 

Johannet^)  beschreibt  einen  Fall,  der  eine  40jährige 
Frau  betraf,  die  bis  dahin  gesund  war  und  durch  Schmerzen  auf 
eine  Geschwulst  in  der  Axilla  aufmerksam  gemacht  wurde. 
Gleichzeitig  Husten  und  Hämoptoe.  Nach  einiger  Zeit  Schwellung 
der   rechten    Brustdrüse    ohne   Schmerzempfindung.    Vereiterung  '^ 

der  Axillardrüsen  und  Fistelbildnng.  7  Monate  später  stellten 
sich  in  der  rechten  Brustdrüse,  unter  gleichzeitiger  Zunahme  der 
Schwellung,  Schmerzen  ein.  —  Incision  und  Entleerung  grosser 
Mengen  Eiters.  —  Nach  weiteren  4  Wochen  Tod. 

Die  Section  ergab  Tuberculose  mit  Phthise  der  Lungen, 
ausserdem  einen  subpleuralen  Knoten,  der  durch  den  3.  Inter- 
costalranm  gegen  die  Mamma  durchgebrochen  war  und  diese 
inficirte.  Dieser  Fall  betrifft;  also  eine  Perforation  in  die  Mamma. 

Die  pathologischen  Anatomen  haben  sich,  bis  vor  einigen 
Jahren,  dahin  ausgesprochen,  dass  nach  ihren  Erfahrungen 
Tuberkeln  in  der  Brustdrüse  nicht  vorkommen. 

Herr  Hofr.  Billroth*)  berichtet  über  einen  Fall,  der 
seinerzeit  an  der  y.  Langenbec k'schen  Klinik  beobachtet  und 
für  Tuberculose  der  Brustdrüse  gehalten  wurde.  Er  betraf  ein 
junges,  blondes,  gut  genährtes  Mädchen,  von  entschieden  scrophu- 
lösem  Habitus,  welches  an  einer  Brust  mehrere  hasel-  bis  wall- 
nussgi'osse  Knoten  hatte,  die  einen  gelben  käsigen  Eiter  ent- 
hielten. Durch  Incision  der  einzelnen  Herde  und  Gauterisation 
derselben  mit  Arg.  nitr.  kam  es  zur  Ausheilung. 

Ein  zweiter  Fall,  der  in  demselben  Werke  beschrieben 
wird,  bezieht  sich  auf  eine  wegen  Tuberculose  der  Lungen  am 
22.  August  1877  auf  die  LöbeTsche  Abtheilung  in's  allgemeine 
Krankenhaus  aufgenommene  Frau,  die  hier  3  Tage  nach  der 
Aufnahme  starb.  Im  Sectionsprotokolle  (1.  c.)  heisst  es:  „Chronische 
Tuberculose  der  Lungen  mit  Phthisis  beider  Oberlappen.  Ulcera 
tuberculosa  im  Dickdarm.  Tuberculose  der  rechten  Milch- 
drüse.    Beide  Mammae   sehr  welk,  klein,  ihre  Haut  runzelig. 


')  Johannet,  Tnmeiir  tnbercnlense  du  sein  avec  tabercTilefl  pnlmonaires. 
Revue  m6d.-chirarg.  de  Malgaigne.  1853.  (Aus  Ohnacker,  Arch.  f.  klin. 
Chir.  T.  28.)  • 

*)  Billroth,  Die  Krankh.  d.  weibl.  Brnstdrase.  Handbuch  der  Frauen- 
krankheiten. 

49  ♦     <8) 


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616 


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nirgends  excoriirt  oder  ulcerirend.  Warzen  nnd  Warzenhöfe 
dunkel  pigmentirt.  Die  rechte  Mamma  etwas  grösser  als  die  linke, 
einen  scheibenförmigen  Körper  von  circa  10  Cm.  Durchmesser 
und  2  Cm.  Dicke  bildend,  von  aussen  knotig  anzufühlen, 
während  die  linke  gleichmässig  weich  und  locker  ist.  Beim 
Durchschnitt  zeigt  sich  die  rechte  Mamma  durchsetzt  von  buchtigen, 
mit  käsigen,  bröckligen  Massen  erfüllten  Herden,  welche  hie 
und  da  ein  tuberkelartiges  Fluidum  im  Centrum  enthalten,  ausser- 
dem kleine,  hanfkomgrosse,  käsige  Herde.*" 

Dieser  Fall  wurde  vom  Docenten  Dr.  C.  Breus,  der  die 
Obduction  der  Leiche  vornahm,  als  Tuberculose  der  Brustdrüse 
diagnosticirt.  Billroth  hält  den  Fall  entschieden  für  wahre 
Tuberculose  der  Brustdrüse. 

Nachdem  im  Jahre  1872  Horteloup^)  über  einen  Fall 
von  Tuberculose  der  Brustdrüse  bei  einem  Manne  berichtet,  der 
auch  Tuberculose  der  Lungen  und  des  Hodens  hatte  und  Riebet*) 
von  tuberculösen  Brustdrüsengeschwülsten  spricht,  können  als 
zwei  weitere  verbürgte  Fälle  die  von  Dubar«)  im  Jahre  1881 
beschriebenen  angesehen  werden. 

1.  Fall  Dubar's. 

21jährige,  ledige  Person.  Hat  nie  geboren.  Affection  der 
Lungenspitzen.  Vor  1  Jahre  Hämoptoö.  Zufallige  Anschwellung 
der  Brustdrüse.  Bald  darauf  Schmerzen  und  spontaner  Durch- 
bruch. Entstehung  von  Fisteln  mit  violetten  Hanträndern.  Incision 
eines  Abscesses.  Langwierige  Eiterung.  Amputation  der  Mamma. 
Glatter  Wundverlauf.  Innenfläche  der  Abscesshöhle  mit  pyogener 
Membran  ausgekleidet.  Der  Inhalt  gelblicher,  mit  käsigen  Bröckeln 
untermischter  Eiter.  Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab 
Tuberculose. 

2.  Fall  Dubar's. 

23jährige  Patientin.  In  der  Kindheit  scrophulös.  Im  12.  Lebens- 
jahre  in  der   linken  Axilla    ein   faustgrosser  Tumor.   Spontaner 


^)  Hortelonp,  Des  tumeurs  dn  sein  chez  rhomme.  Paris  1872. 

^)  B  i  c  h  e  t ,  Tnmenrs  tabercnlevses  de  la  glande  mammaire.  Graz.  d.  Hdp.  188  0. 

')  L.  E.  Dnbar,  Des  tnbercules  de  la  mameUe.  Paris  1881. 


(4) 


üeber  die  Tüberculose  der  Bmatdrüse.  617 

Durchbruch.  Zwei  Jahre  Fisteln.  Im  21.  Lebensjahre  neben  dem 
ersten  Tnmor  ein  zweiter  entstanden.  Ebenfalls  spontaner  Dureh- 
bmch.  Fistel,  die  sich  nach  4  Monaten  sehloss.  Kurz  darauf  gebar 
Patientin  und  säugte  das  Kind  durch  3  Wochen.  Zehn  Monate 
nach  ihrer  Entbindung  kam  sie  wegen  eines  hühnereigrossen 
schmerzhaften  Tumors  in's  Spital.  Der  Tumor  wird  während  der 
Menses  grösser  und  schmerzhafter.  Bald  darauf  Fluctuation  in  der 
Tiefe,  Incision  und  Heilung.  Neuerdings  Schwangerschaft  und  Ent- 
bindung, worauf  neue  Fisteln  entstehen  und  langwierige  Eiterung 
verursachen.  Endlich  wird  die  Mamma  amputirt.  Am  Durchschnitt 
zahlreiche  erbsen-  bis  bohnengrosse  Abscesse,  deren  Wände  mit 
fungösen  Massen  ausgekleidet  sind.  Der  Inhalt  rahmiger  Eiter.  Die 
mikroskopische  Untersuchung  ergab  für  Tuberculose  positive  Befunde. 

An  diese  beiden  Fälle  schliessen  sich  zwei 
weitere  von  Duret^)  an. 

„Der  eine  wurde  bei  einem  27jährigen,  früher  scrophulösen 
Mädchen,  der  andere  bei  einer  32jährigen  Frau  beobachtet,  die 
dreimal  geboren,  ihre  Kinder  aber  nie  selbst  genährt  hatte.  Bei 
beiden  sind  alte  verkäste  Drüsen  am  Halse,  aus  der  Achselhöhle 
und  unter  der  Clavicula  exstirpirt  worden.  —  Auftreten  von 
Drüsenabscessen  mit  VerkäBung.  Die  tuberculose  Natur  der 
Mammaabscesse  ist  auf  Grund  der  histologischen  Untersuchung 
angenommen  worden." 

Ohnacker^)  machte  Mittheilung  über  2  Fälle 
von  Tuberculose  der  Brustdrüse,  wovon  der  erste 
durch  einen  positiven  mikroskopischen  Befund,  der 
2.  durch  positiven  Impfversuch  verbürgt  ist. 

Der  erste  Fall  betraf  eine  44jährige  Frau,  deren  Eltern 
ein  hohes  Alter  erreichten  und  deren  Geschwister  immer  gesund 
waren.  Sie  selbst  soll  früher  nie  krank  gewesen  sein.  Gegenwärtig 
ist  nur  über  der  linken  Lungenspitze  der  Percussionsschall  etwa  s 
gedämpfter  als  über  der  rechten.  Patientin  gebar  5  Kinder,  das 
letzte  1871    und    stillte  alle,    ohne   irgendwelche    Beschwerden 


^)  H.  Dur  et,  Tabercolose  mammaire  et  ad^nite  axUlaire.  Le  Progrös 
med.  Pari8  1882,  Nr. 9.  —  Eeterat  ans  Virchow-Hirsch,  1882,  I,  pag.  289. 

*)  C.  Ohnacker,  Die  Tuberculose  der  wcibliclieii  Brastdräse.  Langen- 
beck's  Archiv  für  Hin.  Chir.  1882. 


(5) 


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618 


Piskaöek. 


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seitens  der  Brustdrüsen.  Erst  10  Jahre  nach  der  Geburt  des 
letzten  Kindes  entdeckte  Patientin  in  der  rechten  Brustdrüse 
einen  wallnussgrossen  Knoten,  der  ohne  bekannte  Veranlassung 
entstanden  war,  alhnälig  unter  Schmerzen  grösser  und  weicher 
wurde  und  im  Herbste  desselben  Jahres  nach  Anwendung  von 
Cataplasmen  durchbrach.  Entleerung  geringer  Mengen  Eiters. 
Da  hierauf  eine  Fistel  entstand,  die  nicht  zur  Ausheilung  kommen 
konnte,  überdies  eine  die  ganze  Brustdrüse  umfassende  Induration 
sich  entwickelt  hatte,  entschloss  man  sich,  in  Anbetracht  der  lang- 
dauernden ,  die  Frau  beträchtlich  schwächenden  Eiterung  und  da 
das  Leiden  nicht  im  Anschlnss  an  ein  Wochenbett,  sondern 
spontan  entstanden  war,  die  erkrankte  Brustdrüse  zu  amputiren. 
Dies  geschah  auch ;  gleichzeitig  wurden  auch  die  verkästen  Axillar- 
drüsen entfernt. 

Schon  die  makroskopische  Betrachtung  der  Abscesshöhle 
ergab  einen  Befund,  der  der  Tuberculose  entsprach :  „Die  Innen- 
fläche mit  fungösen  Granulationen  von  grauröthlicher  bis  grau- 
gelblicher Farbe  ausgekleidet,  in  welchen  sich  bereits  zahlreiche, 
durchscheinende,  graue  Knötchen  erkennen  Hessen."  —  Von  ähn- 
licher BeschaflFenheit  war  eine  zweite  Abscesshöhle.  —  Auch  an 
Durchschnitten  des  infiltrirten  Parenchyms  waren  Knötchen  zu 
sehen. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  ergab:  „Infiltration  des 
Brustdrüsenparenchyms  und  der  Wand  der  Ausfuhrungsgänge  mit 
Bildung  von  ausgesprochenen  Miliartuberkeln.  Das  eigenthüm- 
liche  mit  epitheloiden  und  Riesenzellen  durchsetzte  Granulations- 
gewebe, welches  sowohl  die  degenerirten  Gänge,  als  auch  die 
grossen  Höhlen  auskleidete,  die  Gefässarmuth  und  die  damit 
im  Zusammenhange  stehende  Neigung  zum  Zerfall,  endlich  die 
tuberculös-käsige    Erkrankung   der    benachbarten   Achseldrüsen.  ^ 

Der  2.  Fall  Ohnacker's  betraf  eine  33jährige  kachektisch 
aussehende  Frau,  deren  Mutter  im  65.  Lebensjahre  an  einer 
Lungenkrankheit,  der  Vater  hingegen  im  66.  Jahre  an  Wasser- 
sucht (?)  starb.  Fat.  überstand  vor  drei  Jahren  angeblich  eina 
Lungenentzündung.  Seit  ihrem  24.  Lebensjahre  hat  sie  vier 
Kinder  geboren,  das  letzte  im  Februar  1881.  Sie  stillte  es  selbst. 
Im  Mai  entdeckte  sie  einen  Knoten  in  der  rechten  Brustdrüse, 
(«) 


Ueber  die  Tuberculose  der  Brustdrüse.  glQ 

der  unter  Schmerzen  entstand,   nach  einigen  Tagen  jedoch  ver- 
schwunden war. 

Den  Sommer  hindurch  hatte  Fat.  ihr  Kind  an  der  Brust, 
musste  es  aber,  da  die  Milchsecretion  aufhörte,  im  Herbst  ab- 
setzen, während  gleichzeitig  die  Brustdrüse  unter  Schmerzen  an 
Umfang  zunahm. 

An  der  chirurgischen  Klinik  des  Herrn  Prof.  Böse,  woselbst 
Fat.  Hilfe  suchte,  wurde  zunächst  eine  Incision  gemacht,  nach- 
dem ein  grösserer  Abscess  constatirt  worden  war.  —  Da  die 
Beschaffenheit  der  Innenfläche  der  Abscesshöhle  mit  Sicherheit 
auf  den  tuberculösen  Charakter  der  Erkrankung  schliessen  Hess, 
wurde  die  Amp.  mammae  vorgenommen. 

Mit  dem  bei  der  Frobeincision  abgegangenen  Granulations- 
massen wurde  an  einem  Kaninchen  in  der  vorderen  Augenkammer 
jeine  Impfung  vorgenommen  und  nach  6  Wochen  sowohl  in  den 
käsigen  Knoten  der  Lungen  und  der  Augen  Koch'sche  Bacillen 
nachgewiesen. 

Obzwar  der  mikroskopische  Befund  nicht  mit  positiver 
Sicherheit  einen  Schluss  auf  Tuberculose  gestattete ,  so  wurde 
doch  durch  den  positiven  Impfversuch  der  Beweis  für  die  Tuber- 
culose geliefert.  Der  erste  Fall  dieser  Art. 

Der  nächste  Fall  betraf  einen  Mann  und  ist 
von  Foirifer^)  beschrieben  worden.  Es  ist  dies  der 
zweite  bekannt  gewordene  Fall  von  Tuberculose 
der  Brustdrüse  beim  Manne.  (Den  ersten  Fall  beschreibt 
Horteloup.  (Siehe  oben.) 

Fatient  46  Jahre.  Seit  drei  Monaten  bemerkte  er  in  der 
rechten  Brustdrüse  einen  querverlaufenden,  sich  gegen  die  Axilla 
erstreckenden,  über  dem  Fectoralis  verschieblichen,  druckempfind- 
lichen Tumor. 

Wegen  Verdacht  auf  Syphilis  wurde  zunächst  eine  ent- 
sprechende Cur  eingeleitet,  da  jedoch  der  Tumor  rasch  zunahm, 
schritt  man  zur  Exstirpation.  Der  Tumor  bestand  aus  einem 
Hauptknoten,  der  käsigen,  bröckligen  Eiter  enthielt.    Die  Wan- 


^)  Paul  Poiriör,  Des  tnmenrs  du  sein  chez  Thomme.  Thtoe.  Paris  1883. 
(Centralblatt  filr  Chir.  1884.) 

(7) 


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620 


Piskaöek. 


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düngen  der  Höhle  waren  von  fungösen  Membranen  aasgekleidet. 
Rings  um  diesen  Knoten  waren  kleinere  Infiltrate.  Die  mikro- 
skopische Untersuchung  ergab  den  Nachweis  von  epitheloiden 
Zellen  und  Riesenzellen.  Die  Gefässe  waren  meist  obliterirt,  ihre 
Wandungen  verdickt. 

Einen  weiteren  von  Verneuil  beobachteten  Fall 
beschreibt  Verchfere.^) 

Orthmann  theilt  darüber  mit,  „dass  der  mikroskopische 
Nachweis  von  niederen  Organismen  in  der  Mamma  geliefert  wurde  ^. 

Nach  Verneuil  waren  die  Milch^nge  und  Drüsencanälchen 
die  Einbruchspforte  für  die  Organismen. 

Nepveu  fand  die  Acini  mit  Mikroben  angefüllt,  die  Koch- 
sehen  Bacillen  glichen. 

Die  letzten  zwei  mir  bekannt  gewordenen  Fälle 
wurden  von  Orthmann^)  beschrieben  und  sind  im 
Folgenden  kurz  wiedergegeben. 

1.  Fall.  42jähr.  Frau,  die  vor  16  Jahren  ein  Kind  geboren 
hat.  Im  Jahre  1883  bemerkte  Fat.  ein  Knötchen  in  der  linken 
Brustdrüse,  das  sie  selbst  eröffiiete  und  etwas  Eiter  entleerte. 
Da  die  Geschwulst  zunahm,  consultirte  sie  einen  Arzt,  der  eine 
ausgiebige  Incision  machte  und  viel  Eiter  entleerte.  Wegen  Offen- 
bleiben der  Wunde  und  verzögerter  Heilung,  Aufiaahme  auf  einer 
chirurgischen  Klinik.  Amputation.  Zwischen  dem  Pectoralis  und 
der  linken  Brustdrüse  eine  grosse  Abscesshöhle.  Der  mikro- 
skopische Befund  lehrte ,  dass  von  hier '  aus  sich  die  Infiltration 
in  das  Innere  der  Brustdrüse  erstreckte  und  auf  die  Drüsenläppchen 
und  Ausftihrungscanälchen  übergriff.  Nachweis  von  einzeln  und 
in  Gruppen  stehenden  Riesenzellen.  Tnberkelbacillen  wurden  im 
Brustdrüsengewebe  nicht  nachgewiesen,  wohl  aber  in  den  ver- 
kästen Axillardrüsen.  Letztere  zeigen  mikroskopisch  ausserdem 
RundzeUeninfiltration  und  Riesenzellen. 


^)  F.  Verchöre,  Des  portes  d'entr^e  de  la  tnberculose.  Th^se  pour  le 
doctorat  en  m^decin.  Paris  1884.  Ans  Orthmann's  Pnblication  über  Taber- 
cQlose  der  Brustdrüse.  (Virch.  Arcb.  Bd.  100.) 

*)  Dr.  E.  G.  Orthmann,  Ueber  Tubercnlose  der  weiblichen  Brnstdrüse 
mit  besonderer  Berücksichtigung   der  RiesenzeUenbildung.    Yirchov's  Archiv. 
1886,  Bd.  100. 
(8) 


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Ueber  die  Tubercnlose  der  Brustdrüse.  621 


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2.  Fall.  44  J.  alte  Frau.  Sie  litt  seit  Herbst  1883  an  Kurz-  1 

athmigkeit  und  musste  wegen  dieser  Beschwerden  im  März  1884 
das  Spital  aufsuchen.  lü  der  rechten  Brustdrüse  war  ein  Tumor 
fühlbar,  welcher  den  Verdacht  beginnenden  Carcinoms  erregte 
und  nach  der  nachträglichen  Erkundigung  bei  dem  Ehemanne 
seit  1^4  Jahren  bestanden  haben  soll.  Die  Frau  starb  im  Juni  1884. 

Sectionsbefund:  „Tuberculöse  Pericarditis.  Verkäsung 
der  Bronchial-  und  Mediastinaldrüsen.  Disseminirte  Tuberculose 
der  Lungen.  Tuberkeln  in  der  Leber  und  Milz.  Stauungsleber. 
Tuberculose  des  Peritoneums,  besonders  im  Douglas^schen  Kaume. 
Brustdrüsen  atrophisch,  von  zahlreichen  Strängen,  welche  ver- 
änderte Ausführungsgänge  darstellen,  durchsetzt.  Dieselben  sind 
von  ziemlich  derber  Beschaffenheit  und  dicker  Wandung.  Im 
Inneren  finden  -sich  eingedickte  käsige  Massen.  Die  in  der  Nähe 
der  Warze  gelegenen  grösseren  Ausführungsgänge  sind  zum 
grössten  Theile  vollkommen  frei,  mit  weit  offen  stehendem  Lumen 
und  ganz  glatten  Wandungen.' 

Die  mikroskopische  Untersuchung  lehrt,  dass  man  es  hier 
vorzugsweise  mit  einer  Tuberculose  der  Ausflihrungsgänge  zu 
thun  hat.  Das  spärlich  vorhandene  Drüsengewebe  zeigt  ver- 
schiedene Grade  der  Infiltration  mit  Rundzellen,  epitheloiden  und 
Biesenzellen.  In  den  Biesenzellen  wurden  nach  langem 
vergeblichen  Suchen  Tuberkelbacillen  gefunden. 
Grösse  und  Gestalt  derselben  wechselten  mannig- 
faltig. 

n.  Eigene  Castiistik. 

Dienun  folgenden  8Fällebildeneinen  weiteren 
Beitrag  zur  Gasuistik  der  Mammatuberculose. 

1.  Fall  (hierzu  Taf.  XX VH— XXIX):  M.  S.,  38  Jahre  alt, 
aus  Sieghardtskirchen  in  N.-Oe.  —  Pat.  wurde  am  16.  Februar  1884 
auf  die  Klinik  des  Herrn  Prof.  Albert  aufgenommen. 

Die  Kranke  ist  unverheiratet  und  hat  niemals  geboren. 
Ueber  die  Todesursache  des  Vaters  weiss  Pat.  nichts  anzugeben. 
Die  Mutter  starb  an  keinem  Lungenleiden.  Geschwister  hat  sie 
keine.  Vom  7.  bis  zum  32.  Lebensjahre  litt  sie  an  Drüsenschwellungen, 
die  im  Winter  an  verschiedenen  Körperstellen  auftraten.  Es  kam 

(9) 


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622  Piskadek. 


ZU  spontanem  Durchbrach  und  gegen  Ende  des  Frühjahrs  stets 
zur  Ausheilung.  Vom  32.  bis  37.  Lehensjahre  hlieh  die  Kranke 
von  Drüseneiterungen  verschont.  Im  Frühjahre  1883  kam  es  neuer- 
lich zu  Drüsenschwellungen,  und  zwar  in  der  rechten  Achselhöhle 
und  bald  darauf  zu  spontanem  Auibruch.  Die  Fistel  heilte  zwar 
bald,  doch  entstand  vor  sechs  Monaten  abermals  eine  Schwellung 
neben  der  zugeheilten  Fistel,  es  kam  zu  spontanem  Durch  brache 
und  besteht  an  dieser  Stelle  noch  jetzt  Entleerang  molkigen,  mit 
käsigen  Flocken  untermischten  Eiters.  Vor  3  Monaten  bemerkte 
die  Kranke  einen  über  haselnussgrossen  Knoten  in  der  rechten 
Brastdrüse.  Dieser  Knoten  nahm  langsam  zu ,  ohne  erhebliche 
Schmerzen  zu  verursachen.  Nach  Anwendung  von  Gataplasmen 
erweichte  derselbe  und  in  diesem  Znstande  kam  die  Kranke  auf 
die  Klinik. 

Status  praes.  Schwächliche,  lymphatisch  aussehende, 
hysterische  Person.  Haare  braun,  Pupillen  gleichweit,  reagiren  gut. 
Schleimhäute  des  Gesichtes  blassroth.  Hautdecken  blass,  welk, 
trocken.  Fliegende  Röthe  im  Gesichte.  Hauttemperatur  nicht 
erhöht.  Von  früheren  Drüseneiterungen  herstammend:  6  Narben 
im  Gesicht,  3  unter  dem  Kinn,  8  am  Hals,  2  über  derClavicula 
dextra. 

Supraclaviculargruben  massig  markirt,  Thorax  schmal,  kurz, 
ziemlich  flach.  Respiration  costo-abdominal,  gleichzeitig. 

In  den  Supraclaviculargruben  voller,  lauter  Schall;  ebenso 
auf  den  Clavikeln.  Unter  der  rechten  Glavicula  lauter  normaler 
Schall ;  links  etwas  kürzer.   Sonst  überall  normaler  lauter  Schall. 

Ueber  der  linken  Lungenspitze  vorn  lautes  Vesiculärathmen, 
rechts  abgeschwächtes  Athmen. 

R.  h.  0.  etwas  kürzerer  (Musculatur  stärker  entwickelt), 
1.  h.  0.  voller  Percussionsschall. 

L.  h.  0.  über  den  Spitzen  verlängertes  Exspirium. 

Am  Herzen  nichts  Abnormes.  Das  ganze  Befinden  ohne  sub- 
jective  Beschwerden.  Im  Sputum  keine  Bacillen. 

In  der  rechten  Achselgrube  eine  über  wallnussgrosse  derbe 
Schwellung.  In  der  Kuppe  der  Achselgrabe  zwei  Fisteln,  durch 
welche  man  einige  Gentimeter  weit  nach  vorne  oben  gelangen 
kann.    Die    rechte  Brastdrüse   etwas  vergrössert  und  vorstehend. 


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üeber  die  Tnbercalose  der  Bmstdrüse.  623 

Die  Haut  über  derselben  im  äusseren  oberen  Viertel  neben 
der  Areola,  an  einer  über  kreuzergrossen  Stelle  bläulich  verfärbt. 
An  dieser  Stelle  lässt  sich  auch,  insbesondere  bei  seitlicher 
Compression  der  Brustdrüse,  deutliche  Fluctuation  nachweisen. 

Beim  Betasten  lässt  sich  durch  die  Haut  ein  kindsfaustgrosser, 
derber,  mit  dem  Pectoralis  nicht  verwachsener  Tumor  constatiren. 
Nachdem  die  Diagnose  auf  Tuberculose  der  Brustdrüse  durch 
Herrn  Prof.  Albert  gemacht  wurde  und  die  Frau  durch  die 
langdauemde  Eiterung  aus  den  Fistelgängen  bereits  stark  von 
Kräften  gekommen  war,  willigte  sie  in  den  Vorschlag  einer 
Amputation  der  erkrankten  Brustdrüse  ein. 

Am  21.  Februar  1884  Ablatio  mammae  und  Exstirpation 
der  Achseldrüsen.  In  der  Achselhöhle  wurden  dann  die  Hautränder 
mit  mehreren  Enopfnähten  vereinigt  und  hierauf  ein  antiseptischer 
Verband  angelegt. 

An  der  in  der  Richtung  der  Abscesshöhle  durchschnittenen 
Brustdrüse  (Taf.  XXVU  in  der  Richtung  ab)  liess  sich  nun  eine 
bohnengrosse ,  peripheriewärts  gelegene  (A)  und  eine  wallnuss- 
grosse  (Ay)  das  Drüsenparenchym  und  das  interacinäse  Bindegewebe 
betreffende  Abscesshöhle  nachweisen.  Letztere  entsprach  der  aussen 
sichtbaren,  bläulich  verfärbten  Stelle,  an  welcher  die  Fluctuation 
deutlich  nachweisbar  war. 

Der  Inhalt  der  Abscesshöhlen  war  dicker,  schmutzig-röthlicher 
Eiter.  Ihre  Innenwände  waren  von  einer  violett-grauen,  opaken, 
leicht  abstreifbaren  Membran  ausgekleidet,  die  von  einer  Unzahl 
gelblicher,  miliarer  Knötchen  durchsetzt  war.  Aehnliche,  bis  hanf- 
komgrosse,  Eiter  enthaltende  Knötchen  waren  in  grosser  Menge, 
und  zwar  herdweise  am  Durchschnitt  des  Präparates  sichtbar. 
Die  erbsen-  bis  bohnengrossen  Achseldrüsen  zeigten  scharf  um- 
schriebene käsige  Einlagerungen,  die  sich  mit  dem  Schaft  des 
Scalpelles  aus  dem  übrigen  Drüsenparenchym  herausheben  Hessen. 
Die  Untersuchung  des  Eiters  auf  Tuberkelbacillen  ergab,  trotz 
vieler,  theils  von  mir,  theils  von  CoUegen,  unter  genauester  Be- 
obachtung der  vorgeschriebenen  Regeln  angefertigter  Präparate, 
negative  Resultate. 

H  is tologisch-bacteriologisch  er  Befund.  Derhisto- 
logische  Befund  ist  unter  allen  Umständen  als  ein  positiver  anzu- 

(11) 


624  PiskiCak. 

gehen.  Es  wurden  gegen  400  Schnitte  geoan  nntersocLt,  die  von 
den  verschiedenatenPartien  der  amputirten  Brustdrüse  herstammten. 
Die  Uni|:ebnng  der  Abscessböhlen ,  sowie  das  Stratam  zwischen 
beiden  zeigten  eine  ununterbrochene  tubercalüae  Infiltration, 
während  weiter  entfernt  einzelne  grössere  und  kleinere  tnber- 
cnlSse  Herde  wahrnehmbar  waren.  Nach  innen  ron  der  Mamille 
war  der  grösste  Theil  normal  beschafifenes  Drüsengewebe,  sowie 
ein  compactes  bindegewebiges  inliltrationsfreies  interacinöses 
Stroma.  Die  grösseren  Gänge  der  normal  erhaltenen  Tbeile  der 
Drttse  sind  mit  geschichtetem  Pfiasterepithel  ausgekleidet,  während 
die  feineren  Aestchen,  sowie  die  Acini  ein  cnbisches  Epithel  be- 
sitzen. Die  aus  der  Umgebung  der  Abscesshöhlen  angefertigten 
Präparate  zeigen,  doss  das  Drüsengewebe,  sammt  dem  dazu 
gehörigen  bindegewebigen  Stroma  durch  knötchenförmige  klein- 
zellige gefässlose  Herde  (Tuberkel),  die  durch  eine  dichte  Za- 
sammenlageruDg  der  an  der  Peripherie  gelegenen  scharf  gegen 
die  Umgebung  abgegrenzt  sind,  verdrängt  wird.  Die  kleinzelligen 
lymphoiden  Tuberkel  sind  Torwiegend.  Einzelne  Gruppen  von 
Tnberkelknötchen  imponiren  durch  ihre  doldenartigen  Anordnungen, 
als  wären  sie  dlrect  ans  einem  DrUsenlappen  in  der  Weise  ent- 
standen, dass  an  Stelle  eines  jeden  Acinus  ein  Tnberkelknötchen 
getreten  wäre.  An  vielen  Stellen  sieht  man  noch  Uebergangs- 
formen,  indem  mitten  in  einem  Infiltrationsherd  ein  oder  mehrere 
mit  desquamirten  Epithelzellen  erfüllte  Acini  liegen ,  wovon  ein- 
zelne die  Uebergangsform  zeigen ,  indem  ausser  einigen  des- 
quamirten Epithelzellen  das  übrige  Lumen  des  Acinus  mit  einer 
Rundzellenmasse  erAlllt  ist.  Dass  der  Proce^  in  unserem  Falle 
ein  seit  längerer  Zeit  bestehender  sein  moss,  erhellt  daraus,  dass 
die  kleinzellige  Infiltration  die  vorherrschende  ist  und  dass,  ins- 
besondere an  der  Peripherie  des  DrUsengewebes,  bereits  eine 
regressive  Metamorphose  platzgegriffen  hat.  Sie  gibt  sich  kund 
durch  die  hyaline  Beschaffenheit  der  Knölchenmitten ,  durch  das 
verschwommene  Aussehen  der  dicht  aneinander  gereihten  Körnchen, 
durch  spärliches  Vorhandensein  des  Beticulnms  und  durch  Zerfall 
und  Verkäsung  der  Rnötchenmitten.  In  den  meisten  Tuberkelknötcben 
haben  die  hyalinen,  verschwommenen  mittleren  Partien  die  Farbe 
nicht  aufgenommen,  so  dass  die  pcripheriewärts  gelegenen  Zellen 


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Üeber  die  Tnberc alose  der  Brustdrüse.  625 

tief  gefärbt  erscheinen,  während  die  gegen  das  Centrum  gelegenen 
immer  blässer  werden,  und  die  Mitte  des  Knötchens  eine  lichte 
Scheibe  darstellt,  mag  man  mit  welcher  Farbe  immer  gefärbt  haben, 
Riesenzellen  sind  in  einer  überaus  grossen  Menge  zu  sehen.  Sie 
haben  eine  runde  oder  ovale  Form  und  sind  mit  und  ohne  Fortsätze. 
Von  Schnitten,  die  aus  der  Umgebung  der  Abscesshöhle  oder 
aus  dem  Gewebsraum  zwischen  beiden  stammten,  ist  selten  einer 
gewesen,  der  nicht  mehrere  Riesenzellen  enthalten  hätte.  An 
vielen  Schnitten  sind  bei  schwacher  Vergrösserung  (Reichert, 
Oc.  4,  Obj.  4)  in  einem  Sehfelde  bis  zu  zehn  Riesenzellen  zu 
sehen.  Ihr  Sitz  entweder  in  der  im  Gewebe  zerstreuten  Infiltration, 
was  der  häufigere  Fall  ist,  oder  in  Tuberkelknötchen.  Weniger 
ergiebig  war  das  Suchen  nach  Tuberkelbacillen.  Trotz  peinlichster 
Beobachtung  aller  Vorschriften  bei  der  Anfertigung  von  Bacillen- 
Präparaten  ist  es  mir  unter  circa  SOO  Schnitten  nur  in  zwei 
Riesenzellen,  hie  und  da  im  infiltrirten  Glewebe  und  einmal  in 
einem  käsigen  Knoten  gelungen,  Bacillen  zu  finden,  welche  alle 
jedoch  verblasst  sind,  daher  zur  Anfertigung  von  Zeichnungen 
nicht  geeignet  erscheinen,  Herr  Regimentsarzt  Dr.  Kowalski, 
sowie  Herr  Dr.  A  m  r  u  s  hatten  die  Güte,  eine  grosse  Anzahl  von 
Präparaten  ebenfalls  auf  ein  etwaiges  Vorhandensein  von  Tuberkel- 
bacillen zu  färben.  Von  circa  80  Schnitten,  die  Herr  Regiments- 
arzt Kowalski  untersucht  hat,  ist  es  ihm  nur  in  einem  Schnitte 
gelungen,  in  einem  Tuberkelknötchen  eine  Gruppe  von  Bacillen 
nachzuweisen,  die  ich  vor  ihrem  Verblassen  noch  zu  sehen  Gelegen« 
heit  hatte.  Es  waren  Bacillen,  an  welchen  Sporen  und  eine 
deutliche  Hülle  zu  sehen  war,  die  jedoch,  wie  Herr  Regiments- 
arzt Dr.  Kowalski  selbst  betont  hat,  breiter  und  länger  waren 
als  die  K  0  c  haschen  Bacillen  aus  tuberculösen  Sputis.  Bei  abermals 
vorgenommener  Färbung  dieser  Schnitte  konnte  man  keine  Bacillen 
mehr  nachweisen. 

Herr  Dr.  Amrus  war  ebenfalls  so  freundlich,  eine  Anzahl 
von  Präparaten  zu  untersuchen  ^nd  hat  in  zwei  Präparaten 
Bacillen  nachgewiesen.  Eines  davon  wurde  in  Canadabalsam  ein- 
gebettet und  eine  Zeichnung  (Taf.  XXIX,  Fig.  1)  angefertigt.  Im 
infiltrirten  Gewebe  in  der  Nähe  einer  epitheloiden  Zelle  befindet 
sich  eine  Gruppe  von  sechs  Bacillen,  wovon  drei  die  Grösse  und 

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das  Aussehen  von  Bacillen  besitzen,  wie  sie  sich  in  Auswürfen 
von  Tuberculosen  zeigen,  während  die  drei  anderen,  die  knapp 
neben  den  ersten  sich  befinden,  länger  und  breiter  sind  als  diese. 
Alle  haben  Sporen  und  eine  deutlich  wahrnehmbare  Hülle. 

Nach  einer  mir  von  der  Patientin  mitgetheilten  Nachricht 
ist  seit  Frühjahr  1886  die  zweite  Brustdrüse  ebenfalls  erkrankt, 
ihr  Allgemeinbefinden  ein  schlechtes. 

2.  Fall.  M.  Z.,  52  Jahre  alt,  Tischlersgattin  aus  Losenstein 
bei  Steyr,  wurde  am  6.  Mai  1886  auf  die  Klinik  des  Herrn 
Prof.  Albert  aufgenommen.  Pat.  hat  6  Kinder  geboren,  das 
letzte  vor  15  Jahren.  Die  Kinder  sind  alle  am  Leben,  nur  leidet 
das  letzte  an  Conjunctivitis  lymphatica.  Bis  zum  42.  Jahre  soll 
Pat.  immer  gesund  gewesen  sein.  Im  42.  Jahre  erkrankte  sie 
angeblich  an  Scharlach  und  bekam  im  Anschlüsse  daran  Nephritis. 
Sie  war  damals  10  Wochen  bettlägerig.  Pat.  säugte  ihre  Kinder 
selbst  und  hatte  immer  gesunde  Brüste.  Ende  des  J.  1885  be- 
merkte Pat.  unter  der  rechten  Papille  einen  haselnussgrossen 
Knoten,  dessen  Entstehung  sie  mit  einem,  vor  drei  Wochen  er- 
folgten Trauma  der  rechten  Brustdrüse  in  Zusammenhang  brachte. 
Der  Knoten  wurde  immer  grösser  und  ist  nach  Application  ron 
Cataplasmen  aufgegangen.  Es  entstanden  zwei  Fisteln,  während 
gleichzeitig  die  Geschwulst  bis  zur  Gänseeigrösse  anwuchs.  In 
letzterer  Zeit  ist  Pat.  trotz  guten  Appetits  stark  abgemagert.  Pat. 
hatte  7  Geschwister,  die  alle  in  der  Kindheit  starben,  eines  davon 
sicher  an  Tuberculose  der  Lungen.  Ihr  Vater  starb  im  38,  Lebens- 
jahre gleichfalls  an  Tuberculose.  Pat.  hustet  seit  10  Jahren,  hat 
aber  dabei  keinen  Auswurf. 

Stat.  praes.  Pat.  gross,  mager,  blass.  Massig  vergrösserte 
Schilddrüse.  Herzdämpfung  vergrössert.  Systolisches  Geräusch 
an  der  Herzspitze.  Lunge:  Beiderseits  Spitzendämpftmg ,  links 
rauhes  In-  und  Exspirium,  rechts  bronchiales  Exspirium.  Vorne 
links  sehr  rauhes  In-  und  Exspirium,  rechts  bronchiales  In-  und 
rauhes  Exspirium.  Keine  Rasselgeräusche. 

Bauch  etwas  aufgetrieben  (bei  täglichem  Stuhlgang).  Füsse 
ödematös.  Der  Harn,  bis  auf  etwas  vermehrte  Phosphate,  normal. 

Rechte  Brustdrüse  vergrössert  und  prominenter.  Die  untere 
Hälfte  der  Drttse  ersetzt  durch  eine  circa  5  Cm.  breite,  8  Cm. 

(14) 


1 


üeber  die  TuberctQose  der  Brustdrüse. 


627 


lange,  querliegende,  massig  derbe,  bei  Druck  etwas  schmerzhafte, 
nach  allen  Richtungen  auf  der  Unterlage  leicht  verschiebliche, 
allmälig  in's  gesunde  Parenchym  übergehende  Masse,  von  gleich- 
massiger  Oberfläche.  Rechts  unten  von  der  Papille  ein  3  Cm. 
langes,  fast  lineares,  von  violetten  unterminirten  Rändern  um- 
gebenes Geschwür.  Auf  Druck  lässt  sich  aus  einer  Fistel  seröser, 
mit  käsigen  Bröckeln  untermischter  Eiter  entleeren.  Ein  ähnliches 
Geschwür  nach  innen  unten  von  der  Papille.  Zwei  haselnuss- 
grosse  Drüsen  hinter  dem  Pectoralisrand  in  der  rechten  Axilla 
verschieblich,  derb,  nicht  schmerzhaft. 

Am  12.  Mai  wurde  die  erkrankte  Mamma  amputirt.  Die 
früher  tastbar  gewesenen  Axillardrtisen  konnten  nicht  gefunden 
werden.  Sublimatverband.  Schon  die  makroskopische  Betrachtung 
der  amputirten  und  in  der  Richtung  des  Abscesses  aufgeschnittenen 
Brustdrüse  Hess  keinen  Zweifel  zu,  dass  es  sich  um  einen  Fall 
von  w^ahrer  Tuberculose  der  Brustdrüse  handle.  Der  eben  er- 
wähnte seröse  Eiter  bildete  mit  grösseren  und  kleineren  käsigen 
Massen  den  Inhalt  der  Abscesshöhle.  Die  Wandungen  derselben 
waren  mit  einer  grau-röthlichen,  leicht  abstreifbaren,  von  miliaren 
Knötchen  durchsetzten  Membran  ausgekleidet.  Kleinere  Abscesse 
waren  am  Durchschnitt  im  Bereiche  des  infiltrirten  Gewebes  zu 
sehen. 

Von  dem  nach  aussen  von  der  Papille  gelegenen  Geschwür 
konnte  man  mit  einer  Sonde  in  die  Abscesshöhle  gelangen. 

Die  Untersuchung  des  Eiters  und  der  käsigen  Massen 
auf  Tuberkelbacillen  ergab  ein  negatives  Resultat.  Hingegen 
zeigte  die  histologische  Untersuchimg  alle  Eigenschaften  der 
Tuberculose.  Kleinzellige  Infiltration  im  ganzen  Umkreis  der 
Abscesshöhle,  sowohl  im  interacinösen  Bindegewebe,  als  auch  in 
der  etwas  atrophischen  Drüsensubstanz  selbst.  In  diesen  infiltrirten 
Geweben  finden  sich  zahlreiche,  zum  grossen  Theil  in  der  Mitte 
käsig  zerfallene  Tuberkelknötchen.  Riesenzellen  findet  man  sowohl 
in  den  Tuberkelknötchen,  als  auch  zerstreut  in  der  kleinzelligen 
Infiltration.  Sie  sind  theils  einzeln,  theils  in  Gruppen  bis  zu  5, 
letztere  meist  in  den  Knötchen  zu  sehen.  Die  meisten  Drüsen- 
läppchen sind  in  der  Umgebung  der  Abscesshöhle  durch  die 
Infiltrationsmassen  verdrängt,  so  dass  von  der  Stmctur  der  Acini 

(15) 


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628  PiskaCek. 

und  der  Ansführnngsgänge  nichts  zu  erkennen  ist  Weiter  peri- 
pberiewärts  wird  die  kleinzellige  Infiltration  diffuser  und  sind 
meist  die  grossen  AusfbhruDgsgänge  sowohl  mit  Pfropfen  zelliger 
Massen  erfüllt,  als  auch  in  dieselben  eingeschlossen.  Aehnlich 
verhalten  sich  hier  auch  die  Acini,  indem  auch  in  denselben 
Pfropfe  zu  sehen  sind,  die  vom  gequollenen  Epithel  abgehoben 
erscheinen,  zum  Theil  dasselbe  vollständig  ersetzen,  so  dass  hier 
[^;  die  Infiltration  sich  in's  interacinöse  Bindegewebe  erstreckt.   Die 

Gefasse  sind  nur  spärlich  vorhanden  und  da,  wo  sie  vor- 
handen sind,  in  ihren  Wandungen  verdickt.  Die  kleinzellige 
Infiltration  erstreckt  sich  weiter  peripherwärts  bis  zwischen  die 
Fettläppchen.  Bacillen  konnten  auch  im  Gewebe  nicht  nach- 
gewiesen werden. 

In  den  übrigen  6  Fällen,  wobei  kein  operativer 
Eingriff  vorgenommen  wurde,  will  ich  mich  kürzer 
fassen  und  nur  die   zur  Feststellung  der  Diagnose^ 
nöthigen  Momente  hervorheben. 

3.  Fall.  M.  G.,  43  J.  alt,  Beamtensgattin  aus  Wien,  stellte  sich 
am  1.  Juli  1883  in  der  Ambulanz  der  Prof.  A 1  b  e  r  tischen  Klinik 
vor.  Pat.  soll  von  gesunden  Eltern  stammen.  Vor  15  Jahren  über- 
stand sie  einen  Typhus.  Vor  13  Jahren  kurz  nach  der  Hochzeit 
Hämoptoe,  die  sich  dann  öfter  wiederholte.  Ein  Jahr  benöthigte 
sie,  bevor  sie  sich  halbwegs  erholte.  Sie  gebar  dann  in  12  Jahren 
8  Kinder  und  säugte  alle  allein.  Das  6.  und  8.  Kind  starben 
nach  einigen  Monaten  an  Meningitis  tuberculosa.  Vi  J^hre  nach 
der  Geburt  des  letzten  Kindes  (1880)  bemerkte  Pat.  angeblich 
nach  einem  Trauma  eine  Anschwellung  in  der  linken  Axilla,  die 
mit  einer  gleichzeitigen  Anschwellung  des  linken  Schultergelenkes 
einherging.  Einige  Wochen  darauf  traten  Schmerzen  im  äusseren 
oberen  Viertel  der  linken  Mamma  auf.  Die  linke  Brustdrüse 
soll  bis  über  2  mannsfaustgross  angeschwollen  gewesen  sein.  Dabei 
grosse  Schmerzen.  An  einzelnen  Stellen  kam  es  zur  Röthung  der 
Haut  und  zu  spontanem  Durchbruche.  Ausserdem  eröffnete  ein 
Arzt  einen  Abscess,  aus  dem  sich  eine  grosse  Quantität  angeblich 
dicken  Eiters  entleei*te.  Die  Eiterung  besteht  seit  dieser  Zeit 
v^  (2  Jahre)  fort,   nur  dass  etwa   seit  einem  Jahre  der  Eiter  eine 

(Iß) 


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üeber  die  Tabercnlose  der  Brustdrüse.  g^Q 


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seröse  Beschaffenheit  angenommen  hat  und  mit  käsigen  Bröckeln 
untermischt  ist. 

Stat.  praes.  Schwächlich,  anämisch,  in  der  Ernährung  im 
höchsten  Grade  herabgekommen,  lieber  den  Lungenspitzeti  Däm- 
pAing.  Rechts  h.  o.  bronchiales  In-  und  Exspirium,  links  h.  o.  ver- 
schärftes In-  und  bronchiales  Exspirium.  Im  Sputum  Koch'sche  i 
Bacillen.  Am  Herzen  nichts  Abnormes.  Rechte  Mamma  massig 
entwickelt  und  schlaff  herabhängend.  Die  linke  Mamma  in 
ihrer  Substanz  gänzlich  atrophisch.  Nur  lateralwärts  sind  noch 
einzelne  Reste  der  Drüsensubstanz  durch  die  Haut  durchzufühlen. 
An  der  Oberfläche  der  die  Mamma  bedeckenden  Haut  mehrere 
eingezogene  violette  Narben,  in  deren  Mitte  Fisteln  mit  violetten, 
unterminirten  Rändern.  Nach  innen  von  der  Papille  ein  10  Gm. 
langes,    3  Cm.  breites,   durch   eine   violette   HautbrUcke   in 

2  Theile  getheiltes  Geschwür,  an  dessen  oberem  Rande  die  Sonde 

3  Cm.  weit  in  die  Tiefe  vorgeschoben  werden  kann,  ohne  auf 
einen  Knochen  zu  stossen.  Aus  den  Fisteln  sickert  continuirlich 
molkiger,  mit  feinen  käsigen  Bröckeln  untermischter  Eiter.  Die 
Papille  in  einer  eingezogenen  narbigen  Hautfalte  fast  ganz  ver- 
steckt. Hier  war  ebenfalls  eine  Fistel,  die  vor  einem  Jahre  zur 
Ausheilung  kam.  Die  Untersuchung  des  Eiters  auf  Bacillen  ergab 
ein  negatives  Resultat. 

An  der  Frau  wird  wegen  ihres  hochgradigen  Marasmus  kein 
operativer  Eingriff  vorgenommen.  Es  werden  nur  in  die  Fisteln 
Jodoformstifte  eingeführt,  im  Uebrigen  von  Zeit  zu  Zeit  Jodoform- 
verbände gewechselt. 

4.  F  a  1 1.  F.  St.,  32  J.  alt,  aus  Adas-Tevel  in  Ungarn,  stellte  sich 
an  der  Klinik  am  6.  Juni  1884  vor.  Pat.  hat  7mal  geboren.  Drei 
Kinder  sind  gestorben,  davon  eines  im  3.  Jahre  an  Lungentuberculose. 
Pat.  hat  einmal  Zwillinge  geboren.  Im  5.  Monate  dieser  Schwanger- 
schaft Blutung.  Die  Geburt  verlief  spontan,  im  Wochenbett  Para- 
metritis,  welche  die  Kranke  ein  ganzes  Jahr  an's  Bett  fesselte. 
Im  August  1884  eine  Molenschwangerschaft.  Während  dieser  Eczem 
des  linken  Warzenhofes.  Nachdem  die  Mole  auf  operativem  Wege 
entfernt  war,  bekam  Pat.  eine  eitrige  Entzündung  der  rechten 
Brustdrüse.  Spontaner  Durchbruch  oberhalb  der  Papille.  Nach 
3  Wochen  musste  wegen  eines  unterhalb  der  Papille  entstandenen 

Med.  Jahrbücher.  1887.  50    (i?) 


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630 


Piakaöek. 


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Abscesses  eine  tiefe  Incision  gemacht  werden.  Durch  die  hierauf 
zurückgebliebene  Fistel  entleerte  sich  der  Eiter  mangelhaft,  so 
dass  es  wie  heute  zu  Eiterverhaltungen  kam. 

Fat.  hat  nie  Bluthusten  gehabt. 

Stat.  praes.  Fat.  massig  gut  genährt,  blass.  lieber  den 
Lungenspitzen  hinten  gedämpfter  Fercussionsschall,  sowie  beider- 
seits bronchiales  Exspirium.  Im  Sputum  Bacillen.  Am  Herzen 
nichts  Abnormes.  An  der  sonst  gut  entwickelten  linken  Brust 
Eczem.  Die  rechte  Mamma  prominenter,  in  ihrer  Substanz  sich 
härter  anfUhlend,  über  dem  Fectoralis  verschieblich,  von  mehreren 
Geschwüren  bedeckt.  Die  Ränder  der  Geschwüre  sind  dünn,  violett 
verfärbt,  unterminirt.  Den  Geschwüren  entsprechen  indurirte  Par- 
tien der  Mamma,  in  deren  Substanz  man  auch  durch  Fisteln  mit 
Sonden  mehrere  Gentimeter  tief  gelangen  kann.  Oberhalb  der  Fapille 
ein  12  Cm.  langer  Fistelgang.  An  anderen  Stellen  sind  eingezogene 
Narben  (so  um  die  Fapille)  vorhanden,  denen  auch  Verhärtungen 
entsprechen.  Aus  den  Fisteln  lässt  sich  seröser,  mit  käsigen  Massen 
untermischter  Eiter  in  grösserer  Quantität  entleeren.  Keine  Drüsen- 
schwellungen in  der  Axilla. 

Im  Eiter  keine  Bacillen  nachgewiesen. 

Da  Fatientin  nicht  an  der  Klinik  verbleiben  will,  wird  ein 
allgemeines  Regimen  angeordnet. 

5.  Fall.  A.  Gz.,  30  Jahre  alt,  verheiratet,  in  Oberdöbling 
wohnhaft,  Gärtnersgattin,  kam  in  die  Ambulanz  der  Frof.  Alb  e  r  t- 
schen  Klinik  im  Juni  1884.  Sie  gab  an,  dass  sie  immer  gesund 
gewesen  sei.  Die  Eltern  sind  noch  am  Leben ;  der  Vater  67,  die 
Mutter  63  Jahre  und  gesund.  Sechs  Geschwister  der  Fatientin 
sind  gleichfalls  inmier  gesund  gewesen.  Fat.  hat  zweimal  geboren, 
das  erstemal  vor  4,  das  ander emal  vor  P/a  Jahren.  Die  Kinder 
sind  gesund.  Beide  wurden  von  der  Mutter  selbst  gestillt;  das 
erste  Kind  durch  1 1  Monate  mit  beiden  Brüsten  ohne  irgendwelche 
Beschwerden  seitens  derselben. 

Das  zweite  Kind  stillte  Patientin  nur  mit  der  rechten  Brust, 
weil  das  Kind  die  flache  Warze  der  linken  Brust  nicht  fassen 
konnte.  Wegen  starker  Spannung  in  dieser  Brustdrüse  drückte 
Fatientin  täglich  eine  Quantität  Milch  heraus.  Nach  3  Wochen 
schwoll  jedoch   die   linke   Brustdrüse   unter  Schmerzen  an   und 

(18) 


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üeber  die  Tubercnlose  der  Brastdrfise.  631 

fählte  sich  dabei  sehr  prall  nnd  hart  an.  Die  Resistenz  war  ins- 
besondere im  äusseren  unteren  Viertel.  Patientin  machte  sich 
feuchtwarme  Ueberschläge  und  als  die  Schmerzen  nicht  aufhörten, 
Hess  sie  einen  Arzt  holen,  der  links  unten  von  der  Areola  eine 
Incision  machte.  Statt  des  erwarteten  Eiters,  entleerte  sich  jedoch 
Blut  und  eine  reichliche  Menge  Milch,  die  fortan  durch  8  Tage 
rein  heraussickerte,  vom  9.  Tage  angefangen  mit  Eiter  unter- 
nuscht  war  und  durch  10  Monate  in  dieser  Weise  bis  zu  der 
Zeit,  wo  die  Frau  das  Kind  absetzte,  herausfloss.  Hierauf  hörte 
die  Milchsecretion  auf  und  es  kam  von  nun  an  aus  der  Fistel- 
öffnung Eiter,  der  anfan^  eine  dickliche,  später  seröse  Beschaffen- 
heit hatte.  Hie  und  da  entleerte  sich  auch  Blut  mit  dem  Eiter. 
Bald  nach  der  vorhin  erwähnten  Incision  in  die  Brustdrüse  ent- 
stand in  der  rechten  Fossa  supraclavicularis  eine  aus  3  Höckern 
bestehende  Anschwellung,  die  keine  Schmerzen  verursachte.  Die 
Geschwulst  war  anfangs  hart,  nach  2  Monaten  erweichte  sie  auf 
Application  von  warmen  Umschlägen,  es  bildeten  sich  Eiterpunkte, 
schliesslich  kam  es  zum  Durchbruche.  Die  entleerten  Massen  be- 
standen aus  serösem,  mit  bröckligen  Massen  untermischtem  Eiter. 
Etwa  4  Monate  nach  der  Entstehung  der  Geschwulst  war  die 
Stelle  übemarbt.  Status  praesens :  Kräftig  gebaute,  gut  genährte, 
an  den  Wangen  leicht  geröthete  Frau.  An  der  Lunge  und  dem 
Herzen  nichts  Abnormes  nachweisbar.  In  den  Sputis  keine  Bacillen. 

Die  rechte  Mamma  schlaff  herabhängend.  Das  Drüsengewebe 
derselben  reichlich  entwickelt.  Die  linke  Mamma  fast  ebenso 
gross.  Im  äusseren  unteren  Viertel  ein  etwa  wallnnssgrosser 
derb  elastischer  Knoten,  der  von  normaler  Haut  bedeckt  ist. 
Links  unten  von  der  Areola  ein  circa  erbsengrosses  Geschwür 
mit  unterminirten,  blauvioletten  Rändern,  auf  dessen  Grunde  eine 
feine  Oeffiiung  durch  die  eine  Knopfsonde  3  Cm.  tief  n^ch  oben 
innen  sich  vorschieben  lässt.  Aus  dieser  Oeffnung  ^iol^ert  conti- 
nuirlich  seröser  Eiter.  In  der  Fossa  supraclavicularis, :  i;echtei|8eits 
eine  über  kreuzergrosse  violette ,  strahlige  Narbe^  D^aa :  Peripst 
der  rechten  Glavicula  unter  dieser  Narbe  etwas  verdickt. 

Die  Untersuchung  des  Eiters  auf  Tuberkelbaci^enjergab  ßin 
negatives  Resultat.  Da  der  Process  keine  weiterei^  Dimensionen 
angenommen  hat ,  die  Frau  im  Uebrigen  sich  wohl  befindet  UQd 

50*    <^®^ 


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632  PiBksöek. 

ans  der  Anaheilong  der  Sapraclavicnlardrüsen  rechterseits  ein 
guter  Heilnngstrieb  vorhanden  za  sein  scheint,  wnrde  die  Ftstel- 
öffanng  mit  dem  F  a  q  n  e  1  i  n'Bchea  Brenner  canterisirt  und  hierauf 
von  Zeit  zn  Zeit  Jodoformverbände  angelegt.  Nach  einem  Viertel- 
jahre hörte  die  Secretion  anf,  die  Fistel  schloss  sich  und  es  blieb 
eine  violette  Narbe  znrlick. 

6.  F  aj  1.  (Hiezn  Taf.  XXX.)  C.  T.,  34  Jahre  alt,  aus  Kremsier. 
Patientin  ist  verheiratet,  Mutter  von  3  Kindern,  die  alle  am  Leben 
sind ,  das  letztemal  vor  3  Jahren  geboren.  Ein  Mädchen  hat 
Maculae  corneae.  FatientiQ  hat  bis  zum  12.  Lebensjahre  gekränkelt, 
soll  sehr  schwach  gewesen  sein  und  viel  gehastet  haben.  Vor 
12  Jahren  ttherstand  sie  Variola.  Vor  einem  Jahre  bekam  sie 
Schmerzen  im  inneren  oberen  Viertel  der  linken  Brust ,  welche 
mit  einer  Anscbwellnng  dieses  Theiles  der  Brustdrüse  einher- 
gingen. Es  wurden  allerlei  Salben  äpplicirt ,  bis  es  schliesslich 
an  dieser  Stelle  zum  Durchbmche  kam.  Derselbe  erfolgte  an 
2  Stellen,  wovon  eine  an  der  Peripherie  der  Brustdrüse  bereits 
nach  einigen  Wochen  zuheilte,  während  sich  aus  einer  2.  Durch- 
bruchsöfifhung  neben  der  Mamilla  (Mai  1884)  molkiger  Eiter  in 
grösserer  Quantität  entleert.  Vor  etwa  3  Monaten  kam  es  zu 
einer  circnmscripteD,  wallnnssgrossen  Verliärtnng,  etwa  8  Cm. 
ober  der  Mamilla.  Die  Hant  verfärbte  sich  an  dieser  Stelle 
bläulich,  und  nach  etwa  sechs  Wochen  kam  es  auch  an  dieser 
Stelle  zum  Durchbruche  molkigen  Eiters.  Seit  einigen  Wochen 
nächtliche  Schweisse.  Im  Sputum  BaciUen. 

Status  praesens:  Mittelgrosse,  anämische,  kränklich  aus- 
sehende Frau.  Ueber  den  Lungenspitzen  gedämpfter  Percussious- 
schall.  Linkerseits  bronchiales  In-  und  Exspirium,  rechterseits 
verschärftes  In-  und  bronchiales  Exspirium,  Herz  gesund.  Rechte 
Mamma  atrophisch,  schlaff  herabhängend.  An  der  linken  Brust- 
driise  findet  man  nach  aussen  unten  von  der  Areola  eine  strahlige 
'  Viislette,  die  Haut  nach  innen  einziehende  Narbe,  in  deren  Tiefe 
"eich  eiri'^rbsCngrosses,  von  violetten  Rändern  umgebenes  Geschwür 
befindet,'  an  dessen  Grunde  eine  Fistelöffnung  ist ,  durch  welche 
'  die  Sonde  6  Cm.  nach  innen  gegen  die  Drusensubstanz  vordringen 
'kann.j  üGin  .ähnlicher,  seit  einem  Jahre  bestehender  6  Cm.  langer 
Jilstelga'ng  befindet  sich  nach  innen  oben    von  der  Areola.    Aus 


1 


üeber  die  Tnbercnlose  der  Brnstdr&se. 


633 


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dieser  Fistel  entleert  sich  seröser  Eiter  in  reichlicher  Menge  seit 
einem  Jahre. 

Direct  oberhalb  der  Mamille  ein  längliches  von  blau-violetten 
Rändern  umgebenes  Geschwür ,  dessen  Grund  serösen  Eiter  ab- 
sondert. In  der  Axiila  eine  etwa  haselnussgrosse  Drüse.  Fat.  wird 
an  der  Klinik  aufgenommen,  hier  die  Fisteln  und  Geschwüre  mit 
scharfen  Löffeln  ausgekratzt,  mit  dem  Paquelin  kauterisirt,  im 
Uebrigen  mit  Jodoform  behandelt.  Nach  6  Wochen  konnte  Fat. 
geheilt  entlassen  werden. 

Am  23.  April  1885  stellte  sich  Fat.  wegen  Schmerzen  in  der 
Gegend  der  6.  linken  Kippe  abermals  an  der  Klinik  vor.  Die 
Brustdrüse  war  wie  zur  Zeit  der  Entlassung  im  vorigen  Jahre. 
Da,  wo  die  Durchbrüche  erfolgten,  waren  tiberall  violette  Narben 
zu  sehen.  An  der  schmerzhaften  Rippe  nichts  Fathologisches 
nachweisbar. 

7,  Fall.  Marie  W.,  27  J.,  Taglöhnerin  aus  Wildungsmauer 
bei  Brück  a*  d.  L.,  kam  in  die  Ambulanz  der  Frof.  A 1  b  e  r  t'schen 
Klinik  am  23.  Juli  1884. 

Fat.  hat  V  Male  geboren.  5  Kinder  sind  am  Leben  und 
angeblich  alle  gesund.  Zwei  davon  sind  gestorben,  eines  davon 
an  Gonvulsionen  (Meningitis  tuberculos<a ?)  im  3.  Jahre,  das  zweite 
mit  1^/a  Jahren  an  Phthise.  Dieses  Kind  war  ausserdem  hydro- 
cephalisch  und  rhachitisch.  In  der  Reihenfolge  waren  die  ver- 
storbenen Kinder  das  dritte  und  vierte.  Nach  dem  ersten  Kinde 
Mastitis  links,  die  in  Eiterung  überging.  Nur  das  fünfte  Kind  an 
der  Brust  gehabt. 

Die  Eltern  der  Fat.  sind  gestorben.  Fat.  hat  sie  nicht  ge- 
kannt, weiss  auch  nicht  die  Todesursache  anzugeben. 

Vor  8  Wochen  hat  Fat.  zuletzt  geboren.  Acht  Tage  nach  der 
Entbindung  ist  die  rechte  Brust  unter  Schmerzen  und  Röthung 
angeschwollen.  Nach  Anwendung  von  erregenden  Umschlägen 
ist  die  geröthete  Stelle  vor  4  Wochen  oberhalb  der  Areola  auf- 
gegangen. Vor  8  Tagen  kam  es  zum  Durchbruche  einer  gerötheten 
Hautstelle  im  unteren  inneren  Viertel  und  zur  Entleerung  einer 
grossen  Menge  dicklichen  Eiters. 

Stat.  praes.  Anämisches,  schlecht  genährtes  Individuum* 
Seit  einem  Vierteljahr  nächtliche  Schweisse.  Im  Sputum  Bacillen. 

/  (21) 


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634  Piskadek. 

Rechts  Spitzencatarrh.  Herz  normal.  Linke  Mamma  hängt  welk 
herab  und  zeigt  die  Eigenschaften  einer  Plurigravida.  Die  rechte 
Brustdrüse  etwas  yergrössert  und  hängt  ebenfalls  in  Form  eines 
Rachens  herab.  Sie  hat  die  Grösse  von  etwa  zwei  Mannsfäusten, 
ist  von  derber  Consistenz,  etwas  Odematös,  die  Hautdecken  um 
die  Areola  bläulich  verfärbt.  3  Cm.  in  gerader  Richtung  über 
der  rechten  Warze  ein  über  linsengrosses ,  weisslich  belegtes, 
von  violetten,  unterminirten  Rändern  umgebenes  Geschwür.  Die 
unterminirte  Partie  beträgt  2  Cm.  Im  unteren  inneren  Viertel 
ein  nierenförmiges,  etwa  bohnengrosses,  eine  milchige  Flüssigkeit 
secemirendes,  nach  oben  3  Cm.  weit  uüterminirtes  Geschwür  mit 
ebenfalls  unterminirten  Rändern.  Nach  unten  innen  von  der 
Areola  eine  Fistel,  aus  der  sich  seröser,  mit  käsigen  Stückchen 
untermischter  Eiter  entleert.  In  der  Axilla  zwei  über  erbsengrosse 
Drüsen.    Im  Eiter  konnten  keine  Bacillen  nachgewiesen  werden. 

Jodoformsalbe.  Für  8  Tage  zum  Verbandwechsel  bestellt. 
Fat.  ist  nicht  mehr  gekommen,  konnte  also  nicht  mehr  weiter 
beobachtet  werden.  Auf  die  Klinik  wollte  sie  sich  nicht  auf- 
nehmen lassen. 

8.  Fall.  Anna  R.,  16  Jahre  alt,  aus  Neu-Lerchenfeld,  kam 
am  26.  October  1884  gebärend  an  die  Klinik  des  Herrn  Prof. 
Späth.  Sie  gab  an,  dass  ihr  Vater  im  33.  Lebensjahre  (wahr- 
scheinlich an  acuter  Sepsis  nach  einer  compl.  Oberschenkelfractur) 
gestorben  sei.  Die  Mutter  lebt  und  ist  gesund.  Von  sechs  Ge- 
schwistern sind  fünf  gestorben.  Zwei  an  Diphtheritis ,  eines  an 
Pneumonie,  eines  an  Pleuritis  und  eines  an  Variola.  Der  jetzt 
noch  lebende  24jährige  Bruder  ist  gesund.  Bis  auf  Blattern,  die 
Pat.  im  dritten  Jahre  überstanden  hat,  soll  sie  immer  gesund 
gewesen  sein.  Mit  14  Jahren  die  ersten  Menses.  Anfangs  Februar 
1884  wurde  sie  gravid.  In  der  Gravidität  befand  sich  Pat.  bis 
Ende  August  ganz  wohl.  Um  diese  Zeit  bemerkte  sie,  dass  die 
rechte  Brustdrüse  sich  härter  anfahle,  als  die  linke,  ohne  dass 
sie  irgend  welche  Schmerzen  dabei  wahrgenommen  hätte.  Im 
Verlauf  von  etwa  zwei  Wochen  schwoll  die  rechte  Brustdrüse 
bedeutend  an,  unter  gleichzeitiger  bläulicher  Verfärbung  der  Haut 
über  derselben.  Pat.  legte  Leinsamenumschläge  auf,  worauf  es 
vor  fünf  Wochen  zum  Durchbruche  und  zur  Entleerung  grösserer 

(22) 


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Ueber  die  Taberculose  der  Brustdrüse. 


635 


Quantitäten  Eiters  kam.  Der  Eiter  ist  an  sechs  Stellen  durch- 
gebrochen und  besteht  noch  immer  aus  mehreren  Fisteln  molken- 
artige Secretion.  Am  24.  October  wurde  Pat.  von  einem  2350  Grm. 
schweren  und  45  Cm.  langen  lebenden  Mädchen  entbunden 
(Steisslage). 

Stat.  praes.  Mittelgross,  schwächlich,  massig  gut  genährt, 
blond.  Lunge  und  Herz  normal.  In  der  rechten  Axilla  zwei  über 
bohnengrosse  Drüsen.  Linke  Brustdrüse  gut  entwickelt,  die 
Acini  milchstrotzend.  (Pat.  befindet  sich  im  Beginne  des  Wochen- 
bettes.) Die  rechte  Brustdrüse  von  ungefähr  derselben  Grösse  und 
Gonsistenz,  nur  im  äusseren  unteren  Viertel  fühlt  man  einen 
etwa  walhiussgrossen,  härteren  Knoten.  Am  Hautüberzuge  der 
Brustdrüse  theils  violette  Narben,  theils  Geschwüre  mit  unter- 
minirten,  violett  verfärbten  Rändern  zu  sehen.  An  zwei  Stellen, 
zwischen  zwei  nebeneinander  sitzenden  Geschwüren  eine  bläuliche 
Hautbrücke.  Von  zwei  Geschwüren  gelangt  man  mehrere  Centi- 
meter  tief  durch  Fistelgänge  gegen  die  Drüsensubstanz  und  kann 
durch  einen  concentrischen  Druck  auf  die  Brustdrüse  aus  der 
Papille  spärliche  Quantitäten  Milch  und  aus  den  Fisteln  serösen 
mit  käsigen  Massen  vermischten  Eiter  entleeren.  Weder  im  Eiter, 
noch  im  Sputum  Bacillen  nachzuweisen  gewesen. 

Nachdem  an  2  Durchbruchstellen  spontane  Schliessung  er- 
folgte, wird  nur  allgemeines  Regimen  beobachtet  und  alle  4  Tage 
ein  Jodoformverband  angelegt.  Die  Fistelgänge  wurden  mit  Lapis 
in  Substanz  geätzt  und  hierauf  Jodoformstifte  eingeschoben.  Im 
Verlauf  von  8  Wochen  waren  sämmtliche  Geschwüre  geheilt. 

Wenn  auch  nur  in  einem  Falle  Bacillen  im  Ge- 
webeder  Mamma  nachgewiesen  wurden  und  blos  bei 
2  Kranken  durch  die  histologische  Untersuchung 
der  Nachweis  der  Tuberculose  geliefert  werden 
konnte,  so  ist  es  auf  Grund  des  klinischen  Bildes 
ausser  Zweifel,  dass  wir  es  auch  in  den  übrigen 
6  Fällen  mit  wahrer  Tuberculose  der  Brustdrüse  zu 
thun  haben. 

Bei  2  Kranken  hat  das  Leiden  ohne  bekannte 
Veranlassungangefangen,  eine  Kranke  führt  es  auf 
ein  Trauma  zurück,  zweimal  ist  es  im  Wochenbett, 

(28) 


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636 


Piskaiek. 


iv ,         zweimal  bald  nach  dem  Wochenbett  and  einmal  in 
der  Gravidität  entstanden. 


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m.  Entstehungsformen. 

Nach  den  beigebrachten  Beobachtungen  tritt  die  Frage  an 
ans  heran,  nach  welchem  Gesichtspunkte  die  Formen  der  Mamma- 
tuberculose  einzutheilen  sind. 

Die  Brustdrüse  kann  durch  continuirliche  Ausbreitung  der 
Keime  von  den  umgebenden  Organen  oder  Geweben  her  erkranken 
— Perforationstuberculose — es  kann  femer  bei  einem  ander- 
weitig tuberculösen  Individuum  von  einem  entfernteren  Herde  auf 
dem  Wege  der  Lymph-  oder  Blutgefässe  der  Infectionsstoff  zur 
Brustdrüse  gelangen,  secundäre  Tuberculose,  endlich  ist 
der  Fall  möglich,  dass  die  Brustdrüse  prim  är  tuberculös  erkrankt, 
ohne  dass  irgendwo  im  Organismus  ein  ähnlicher  Herd  etablirt  wäre. 

Während  die  erste  Art  der  Entstehung  wegen  der  relativen 
Häufigkeit  von  Stemal-  und  Rippenaffectionen  tuberculöser  Natur 
nicht  gerade  zu  den  allergrössten  Seltenheiten  gehören  dürfte, 
muss  man  nach  den  vorliegenden  Erfahrungen  eine  in  der  Brust- 
drüse selbstständig  auftretende  Tuberculose  zu  den  seltensten 
Ereignissen  zählen.  Es  ist  überhaupt  fraglich,  ob  man  die  auf 
die  Mamima  von  der  Nachbarschaft  herübergreifende  Affection 
dieses  Organs  mit  der  selbststandig  in  der  Mamma  auftretenden 
Form  zusammenwerfen  solle ,  da  es  ja  gewiss  einer  ganzen  An- 
zahl von  Beobachtern  nicht  beifällt,  bei  einem  tuberculösen  Herd 
der  von  den  Bippen  oder  Sternum  herstammt,  in  die  Gegend  der 
Mamma  oder  in  diese  selbst  durchbricht  und  mit  der  Zeit  das 
Gewebe  der  letzteren  in  tieferer  oder  leichterer  Weise  mit  afficirt, 
als  Tuberculose  der  Mamma  zu  bezeichnen.  Eher  wird  das  Auf- 
treten der  Tuberculose  in  diesem  Organ  nur  als  zuftlllige  Com- 
plication  einer  nach  ihrem  Ausgangspunkt  zu  benennenden  Erank- 
heitslocalisation  angesehen. 

Ich  speciell  habe  von  der  Einbeziehung  solcher  Fälle  in 
diese  Arbeit  Umgang  genommen  und  mich  nur  auf  die  Anftihrung 
der  Fälle  beschränkt,  in  denen  die  Tuberculose  der  Mamma  ohne 
Affection  der  unmittelbaren  Nachbarschaft  auftrat. 

(24) 


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üeber  die  Tabercnlose  der  Brustdrüse.  637 

BetrefiB  der  primären,  solitären  Abart  der  Mammatuberculose 
wäre  es  wohl  sebr  erwünscht,  dnrch  eine  Antopsie  einen  Fall 
constatirt  zn  sehen  ,  in  dem  die  Tubercolose  der  Mamma  der 
selbstständige  and  einzige  oder  znm  mindesten  der  primäre  Herd 
im  Organismus  sei.  Die  Mehrzahl  der  Beobachtungen  lehrt,  dass 
ein  solches  Ereigniss  bisher  nicht  angenommen  werden  konnte. 
Meist  war  die  Erkrankung  der  BrustdrUse  die  Theilerscheinung 
einer  den  Organismus  zur  Zeit  der  Beobachtung  an  mehreren 
Stellen  gleichzeitig  und  so  auch  in  der  Mamma  betreffenden 
Tuberculose. 

Dass  die  Diagnose  einer,  wenn  auch  nicht  primären  und 
einzigen,  so  doch  selbstständig  ohne  Uebergreifen  von  der  Nach- 
barschaft, auftretenden  Tuberculose  der  Mamma  einen  Fortschritt 
in  der  Erkenntnis  s  der  Krankheiten  der  Brustdrüse  bedeute,  geht 
daraus  hervor,  dass  die  Tuberculose  der  Mamma  von  den  Eorj- 
phäen  der  pathologischen  Anatomie  nicht  beobachtet  wurde,  und 
dass  die  Constatirung  derselben  durch  histologisch-bacteriologischen 
Beftmd  in  der  Mamma  zu  den  Errungenschaften  der  letzten  Jahre 
gehört. 

Es  würde  sich,  wie  schon  zu  Anfang  dieses  Capitels  erwäh  nt, 
nach  dem  eben  Gesagten  empfehlen,  eine  selbstständige  Tuber- 
culose der  Mamma  mit  2  Unterabtheilungen  zu  unterscheiden, 
deren  eine,  die  primäre,  in  der  Weise  bestünde,  dass  ausser  der 
Mamma  der  ganze  Organismus  frei  von  Tuberculose  oder  zum 
mindesten  die  Erkrankung  des  übrigen  Körpers  zeitlich  der  der 
Mamma  gefolgt  wäre,  während  die  zweite  Unterabtheilung  (die 
secundäre  Tuberculose)  jene  Formen  der  Mammatuberculose  in 
sich  fassen  würde,  welche  als  Simultanlocalisation  mit  anderen 
am  Körper  sich  findenden  tuberculösen  Herden  oder  als  eine 
von  bereits  vorhandenen  Tuberkeln  ausgehende,  jedoch  discon- 
tinuirliche  Infection  der  Mamma  anzusehen  wäre. 

Zu  dieser  Unterabtheilnng  würde  die  Ueberzahl  der  bisher 
beobachteten  Fälle  gehören,  mit  Ausnahme  der  in  der  folgenden 
Classe  zu  erwähnenden.  Diese  2.  Classe  würde  Fälle  von  conti- 
nuirlicher  tubercnlöser  Infection  der  Mamma  in  sich  begreifen, 
entstanden  durch  Fortleitung  der  Keime  von  Seite  der  nach- 
barlichen Organe  oder  Gewebe.  Dies  wäre  der  Fall  bei  Lymph- 


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638 


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drüseneiterimgeD,  Sternal-  und  Rippencaries,  bei  retromammären 
kalten  AbscesBen,  oder  sogar,  wie  der  Horteloup'sche  Fall 
illnstrirt,  bei  sabplenralen  tabercolösen  Herden,  die  durch  die 
Intercostalräome  gegen  die  Bmstdriise  dorchgebrochen  sind 
(Perforationstaberculose) . 

IV.  Diagnose  und  Verlauf. 

Wenn  wir  die  Erscheinungsweise  der  Krankheit  nach  Aus- 
schluss der  von  der  Nachbarschaft  übergreifenden  Tuberculose 
betrachten  wollen ,  so  macht  sich  in  dem  Ej'ankheitsbilde  eine 
Lücke  bemerkbar,  nämlich  unser  Nichtvertraatsein  mit  dem 
Anfangsbilde  der  Brustdrüsentaberculose. 

In  allen  den  beschriebenen  Fällen  wurde  die  Diagnose  ent- 
weder an  bereits  sehr  weit  vorgeschrittenen  Stadien  der  Krankheit 
oder  sogar  erst  bei  der  Obdaction  gemacht. 

Es  ist  wohl  anzunehmen,  dass  die  Mammatuberculose  in 
früheren  Zeiten  ebenso  häufig  vorgekommen  ist  wie  heutzutage,  und 
doch  besitzen  wir  aus  den  früheren  Zeiten  nur  sehr  dürftige  und 
vermuthungsweise  Beschreibungen  des  Processes.  Es  wird  eben 
dasselbe  wie  bei  der  Tuberculose  der  Zunge  vorgekommen  sein, 
welche  auch  erst  in  der  letzten  Zeit  bewusst  intra  vitam  als 
solche  erkannt  worden  ist,  während  sie  früher,  wie  aus  den  in 
den  Protokollen  fehlenden  Diagnosen  zu  schliessen  ist,  höchst 
wahrscheinlich  unter  die  Rubrik  Garcinom  subsumirt  wurde. 

Ebenso  dürfte  bei  der  Mammatuberculose  der  Process  zumeist 
mit  einem  schrumpfenden  Scirrhus  verwechselt  worden  sein, 
welcher  bei  oberflächlicher  Betrachtung  der  tuberculösen  Affection 
der  Brustdrüse  mit  ersterem  Leiden  eine  Aehnlichkeit  hat.  Es 
ist  auch  aus  dem  eben  Gesagten  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit 
anzunehmen,  dass  ein  grosser  Theil  der  operativ  dauernd  geheilten 
Fälle  von  Mammacarcinom  auf  Rechnung  der  Tuberculose  zu 
stellen  ist. 

Wir  müssen  uns  in  Anbetracht  des  Mangels  an  einschlägigen 
Fällen  der  Beschreibung  der  Anfangsstadien  der  Mammatuber- 
culose ftlr  enthoben  betrachten  und  können  nur  eine  solche  von 
zumeist  nur  vorgeschrittenen  Fällen  liefern,  wie  sie  uns  und 
anderen  Beobachtern  vorgekommen  sind. 

(26) 


I 


üeber  die  Taberculose  der  Brustdrüse. 


639 


Im  Allgemeinen  würde  nach  denselben  die  Erscheinungs- 
weise der  Tuberculose  eine  zweifache  sein,  entweder  dnrch  Er- 
griffensein nur  eines  T heiles  der  Brustdrüse  oder  durch  das 
gleichzeitige  Vorkommen  von  mehreren  isolirten 
H  e  r  d  e  n  an  den  verschiedenen  Stellen  des  Organes. 

Für  das  Vorkommen  der  ersteren  Art  ist  schon  der  Anblick 
ein  ungemein  charakteristischer.  Das  in  seiner  Lage,  in  seiner 
totalen  Form  und  Grösse  von  der  anderen  Mamma  kaum  wesent- 
lich differente  Organ  zeigt  um  die  Mamilla  herum  zerstreut  mehrere 
Geschwüre",  welche  kurzweg  gesagt  alle  Charaktere  der  tuber- 
culdsen  Ulcera  an  sich  tragen,  nämlich :  Geschwüre  mit  bläulich- 
violetten verdünnten,  unterminirten  Rändern,  oft  ebenso  beschaffene 
Hautstreifen,  die  brückenartig  das  Geschwür  überspannen.  Die 
Umgebung  des  Geschwüres  pflegt  im  grösseren  Umkreis  gleich- 
falls bläulich  verfärbt  zu  sein. 

Der  Greschwürsgrund  ist  von  wässerigen,  blassen,  schlaffen 
Granulationen  bedeckt  und  secemirt  einen  molkigen  oder  dünnen 
serösen  Eiter.  Dieses  Geschwür  documentirt  sich  als  eine  Per- 
forationsstelle eines  tuberculösen  Herdes,  um  welchen  dem  Ge- 
schwüre entsprechend,  ein  wenn  auch  nicht  umfängliches  Infiltrat 
oder  knollige  Verdichtung  eingelagert  ist.  Solche  Herde  können 
mehrere  in  der  Drüse  bestehen. 

Es  ist  zu  vermuthen,  dass  die  Anfänge  der  Krankheit  derben 
knolligen  Verdichtungen  der  Mamma  mit  oder  ohne  Verwachsung 
der  Haut,  mit  oder  ohne  Fluctuation  in  den  Knoten,  ähnlich  sein 
werden. 

Diese  Einlagerungen  in  den  Geweben  sind  um  so  deutlicher 
zu  tasten,  als  die  Haut  bei  Individuen,  die  von  einer  solchen 
Consumptionskrankheit  befallen  sind,  ziemlich  wenig  fettunter- 
polstert  erscheint  und  auch  das  Organ  selbst  der  Atrophie  ver- 
fallen ist. 

Die  vorgeschritteneren  Formen,  mögen  sie  aus  einem  oder 
mehreren  Herden  bestehen,  lassen  eine  centrale  Zerfallshöhle  wahr- 
nehmen, um  welche  sich  eine  den  Höhendurchmesser  auch  2  bis 
3mal  überragende  Bindegewebskapsel  angebildet  hat.  Selbstver- 
ständlich —  so  wenigstens  war  es  in  unseren  Fällen  —  erleichterte 
die  Diagnose  einer  selbstständigen  Mammatubercalose  der  Umstand, 

(27) 


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640  Piskaiek. 

da88  die  Knoten  weder  der  Fascie,  noch  dem  von  ihr  umschlossenen 
Pectoralis  adhärirten,  wiewohl  die  Möglichkeit  des  Fortschreiteins 
des  Leidens  gegen  die  letzteren  Gebilde  ebenso  wie  gegen  die 
Haut  zugegeben  werden  mnss. 

Sind  derlei  Adhäsionen  vorhanden,  so  ist  selbstverständlich 
schon  das  zweifellose  primäre  Aaftreten  des  Processes  in  der 
Drüse  selbst  nicht  mehr  so  feststehend,  als  wenn  die  von  der 
Tnbercnlose  befallene  Mamma  über  der  Fascie  noch  mobil  ist. 

Geradezu  verdächtig  auf  das  Uebergreifen  des  Processes  von 
der  Nachbarschaft  her  sind  jene  Fälle,  wo  die  Drüse  an  irgend,- 
welche  dem  Thorax  anhaftende  Infiltrate  fixirt  erscheint,  da  ja 
der  Ausgangspunkt  in  den  Hippen  oder  dem  Stemnm  und  Per- 
foration in  die  Drüse  gesucht  werden  kann. 

Sowie  bei  allen  tuberculösen  Processen  participiren  an  der 
Tuberculose  der  Mamma  sehr  bald  die  regionären  Lymphdrüsen. 

Bezüglich  der  Diiferentialdiagnose  dürften  die  Anfangsstadien 
des  Processes  ziemlich  bedeutende  Schwierigkeiten  darbieten,  in- 
sofern, als  ein  resistenter,  derber,  isolirter  Ejioten  in  der  Manmia 
insbesondere  im  climacterischen  Alter  beobachtet,  leicht  für  ein 
Carcinom,  in  den  früheren  Jahren  filr  eine  adenomatöse  Wucherung 
des  Drüsenparenchyms  gehalten  werden  könnte. 

Bezüglich  der  die  Affection  vielleicht  einleitenden  Symptome, 
als  Schmerzen,  Druckempfindlichkeit,  wie  sie  bei  vielen  tuberculösen 
Afiectionen  beobachtet  werden,  lässt  sich  nichts  Bestimmtes  aus- 
sagen, da  in  unseren  Fällen  solche  theils  vorhanden  waren,  theils 
fehlten. 

Kam  es  zur  Erweichung  des  Herdes,  so  wird  allerdings  die 
Diagnose  gegen  das  Carcinom  und  Adenom  immer  leichter,  gegen 
andere  Geschwülste  der  Mamma,  wie  das  Cystosarcom,  sowie  gegen 
seröse  und  Milchcysten  immer  schwieriger.  Das  Alter,  welches  bei 
der  Tuberculose  der  Mamma  auf  Grund  unserer  Fälle  zwischen 
15  und  45  Jahren  schwankt,  ist  in  den  extremen  Fällen  für  das 
Carcinom,  schwer  aber  für  die  letztgenannten  Geschwülste  ein 
günstiger  differential-diagnostischer  Behelf. 

Nach  einem  von  uns  beobachteten  und  genau  histologisch 
und  bacteriologisch  untersuchten  Falle  ist  eine  Verwechslung  mit 
einer  chronischen,  eitrigen,  nicht  puerperalen,  in  unserem  Falle 

(«8) 


lieber  die  Tnbercnlose  der  Brustdrüse.  641         ^ 


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ätiologisch  nicht  aufgeklärten  Mastitis  denkbar.  In  diesem  Falle  ^ 
befand  sich  in  der  Mamma  ein  nahezu  faustgrosser,  chronischer 
Abscess.  Das  Drlisenparenchym  war  geschwunden  bis  aaf  geringe 
Reste.  Die  Achseldrtisen  waren  nicht  geschwollen.  Die  Mamma 
wurde  amputirt,  in  der  Meinung,  es  handle  sich  hier  um  eine 
tuberculöse  Mastitis ;  jedoch  lehrte  die  histologisch-bacteriologische 
Untersuchung,  dass  von  einer  Tuberculöse  keine  Merkmale  vor- 
handen seien.  Die  Annahme  der  Mammatuberculose  war  in  diesem 
Falle  noch  durch  den  Umstand  unterstützt,  dass  seit  11  Jahren 
keine  Geburt  erfolgt  ist  und  vor  einem  Jahre  Bluthusten  bestand. 

Soweit  unsere  Erfahrungen  reichen,  lässt  sich  auch  an  der 
Charakteristik  der  Axillar-  und  Retropectoraldrüsen  oft  die  zum 
Mindesten  nicht  carcinomatöse  Natur  des  Leidens  erkennen,  da 
den  Drüsen  die  kugelige  harte  Gestalt  fehlt  und  die  bei  Carcinom 
typischen  lancinirenden  Arm-  und  Halsschmerzen  nicht  vorhanden 
sind.  Das  gleichzeitige  Auftreten  anderer  tuberculöser  Affectionen, 
meist  in  den  Lungen,  oder  das  Vorhandensein  scrophulöser  Narben 
an  anderen  Eörperstellen  kann  mit  Nutzen  zur  Sicherung  der 
Diagnose  herangezogen  werden. 

Von  grosser  diagnostischer  Wichtigkeit  ist  die  BeschaflTenheit 
des  Eiters.  Sowohl  bei  den  abscedirenden  tuberculösen  Lymph- 
drüsen, als  auch  bei  den  tuberculösen  Abscessen  der  Brustdrüse 
hat  der  Eiter  immer  eine  seröse  und  molkige  Beschaffenheit.  Der 
Eiter  ist  stets  mit  käsigen  Bröckeln  untermischt.  Oft  enthält  die 
ganze  Abscesshöhle  einen  käsigen  Klumpen,  der  sozusagen  einen 
Abguss  der  ganzen  Höhle  darstellt.  Sowohl  der  seröse  Eiter,  als 
auch  die  käsigen  Massen  können  Tuberkelbacillen  enthalten,  ob- 
zwar  der  Umstand,  dass  keine  Bacillen  gefunden  werden  konnten, 
keineswegs  die  Diagnose  der  Tuberculöse  strittig  macht.  Sowohl 
bei  den  meisten  von  unseren  Fällen ,  als  auch  bei  jenen  anderer 
Beobachter  war  oft  der  Nachweis  von  Bacillen,  trotz  peinlichster 
Beobachtung  der  vorgeschriebenen  Methoden,  unmöglich.  Es  hängt 
dies  damit  zusammen,  dass  die  Fälle  durchwegs  in  weit  vorge- 
schrittenen Stadien  d^  Processes  sich  befanden. 

Auch  durch  Ueberimpfung  lässt  sich,  wie  in  Ohnacker's 
zweitem  Falle,  die  tuberculöse  Beschaffenheit  des  Eiters  fest- 
stellen. 

(29) 


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642  Piikaeeb. 

Ganz  sieber  kann  die  Diagnose  gestellt  werden,  wenn  dnrcb 
eine  ausgiebige  Ineision  das  Innere  der  Abacesshtihle  blossgelegt 
wird.  Entfernt  man  den  oben  beschriebenen  Inhalt  der  Höhle, 
so  sieht  man  die  Innenwand  ansgekleidet  mit  einer  opaken, 
röthlich-brannen  Membran  —  der  pyogenen  Hembran  —  in  wel- 
cher dicht  aneinander  miliare,  graulich- weisse ,  circa  hirsckom- 
grosse  Knötchen  eingebettet  sind.  Diese  Membran  hat  gewöhnlich 
eine  Dicke  von  3 — 4  Mm.  Sie  lässt  sich  meist  leicht  mit  einer 
Fincette  abstreifen. 

Erstreckt  sich  die  tnbercnlöse  Infiltration  anf  die  Umgebung 
der  Äbscesshühle ,  so  sieht  man  in  dem  anscheinend  normalen 
Gewebe  zerstreut  stehende  miliare  TnherkelknOtchen. 

Dieses  Bild  entspricht  jenen  Formen  der  Tuberculose.  wo 
in  der  BrnstdrUse  ein  Herd  etablirt  ist,  wo,  wie  Diibar  sich 
ausdrückt,  die  conglobirte  Form  der  Tnbercnlöse  besteht. 

Bei  der  disseminirten  Form  hat  man  das  eben  beschriebene 
Bild  an  mehreren  Stelleu  der  Brustdrüse. 

So  viel  Über  die  Feststellung  der  Diagnose  dnrch  den  makro- 
skopischen Befund. 

Der  mikroskopische  Befand  erstreckt  sich  anf  den  histo- 
logischen Nachweis  der  tnbercalösen  Infiltration  nnd  auf  den 
Nachweis  von  Tnberkelbacillen.  Da  aber  das  Aufßnden  der  letz- 
teren,  aus  dem  früher  erwähnten  Grunde  —  anch  an  Schnitten 
—  äusserst  schwierig,  oft  sogar  raimöglich  wurde,  muss  die 
histologische  Untersuchung  als  ausschlaggebend  betrachtet  werden. 

Hier  gilt  ausser  der  diffusen  kleinzelligen  Infiltration  des 
Drtlsenstromas  der  Nachweis  von  Tuberkelknötchen  in  der  Drüsen- 
Substanz  sowohl  als  anch  im  interacinSsen  Bindegewebe. 

Die  Knötchen'  können  aus  kleinzelliger  Infiltration  allein 
bestehen,  oder  es  können  ausserdem  Riesenzellen  darin  eingebettet 
sein.  Es  finden  sich  auch  letztere,  mitten  in  einer  diffusen  klein- 
zelligen Infiltration ,  einzeln  oder  in  Gruppen  stehend ,  im  inter- 
acinösen  Bindegewebe. 

Der  Umstand,  dass  die  Biesenzellen  im  interacinüsen  Binde- 
gewebe alleinstehend  nachgewiesen  werden  können,  ohne  dass 
irgendwo  in  der  Nabe  auch  nur  eine  Spur  von  Drüsensuhstanz 
zu  bemerken  wäre,  spricht  für  die  Annahme  Orthmann's,  dass 


üeber  die  Tubercülose  der  Bnutdrüse.  643 

* 

die  Bildung  der  Riesenzelien  aus  den  epitheloiden  Zellen  durch 
allmälige  Yergrösserung  sich  vollzogen  habe,  während  Dubar 
der  Ansicht  ist,  dass  die  Riesenzellen  aus  Drüsenschläuchen  ent- 
standen seien. 

Der  Nachweis  von  Bacillen  kann  gelingen  sowohl  in  den 
Riesenzellen,  den  epitheloiden  Zellen,  in  den  Tuberkelknötchen 
und  im  diffus  infiltrirten  Gewebe. 

Im  letzteren  Falle  haften  die  Bacillen  meist  in  der.  Nähe 
der  Riesen-  und  epitheloiden  Zellen. 

Wie  meist  bei  Tubercülose,  ist  der  Verlauf  des  Leidens  ein 
langwieriger. 

Von  den  durch  directes  Uebergreifen  des  Processes  von  der 
Nachbarschaft  bedingten  Fällen  abgesehen,  kann  von  langer  Zeit 
her  der  Infectionskeim  in  der  Brustdrüse  latent  vorhanden  sein, 
ohne  welche  Beschwerden  zu  verursachen  und  ohne  sich  durch 
irgendwelche  Symptome  zu  äussern. 

Die  Keime  sind  bei  irgend  einer  Gelegenheit  auf  dem  Wege 
der  Blut-  und  Lymphgefässe  von  irgend  einem  primären  Herde 
in  die  Brustdrüse  gelangt  und,  ohne  von  ihrer  Lebensfähigkeit 
zu  verlieren,  daselbst  verblieben. 

Wenn  nun  durch  congestive  Zustände  in  der  Mamma  das 
Gewebe  aufgelockert  vnirde  und  für  die  Entwicklung  der  infec- 
tiösen  Keime  ein  günstiger.  Nährboden  entstanden  ist ,  bemerkt 
Patientin  einen  Knoten  in  der  Brustdrüse,  der  nach  ihrer  Aus- 
legung „ohne  bekannte  Veranlassung^  entstanden  sei. 

In  der  Pubertät  ist  es  zumeist  die  Zeit  der  Menses,  wäh- 
rend welcher  stets  Congestivzustände  in  der  Brustdrüse  bestehen. 
In  einem  viel  höheren  Grade  ist  dies  der  Fall  während  der 
Gravidität.  Den  günstigsten  Nährboden  ftlr  die  Entwicklung 
infectiöser  Keime  bildet  die  Brustdrüse  im  Puerperium  und  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  der  Lactation.  Es  erklärt  sich  auch  daraus 
der  Umstand,  dass  die  meisten  Fälle  von  Tubercülose  der  Brust- 
drüse nach  dem  Puerperium  beobachtet  wurden. 

Congestivzustände  in  der  Brustdrüse  werden  auch  durch 
Traumen  hervorgerufen.  In  diesen  Fällen  ftlhren  die  Ej*anken 
den  Anfang  des  Leidens  auf  das  Trauma  zurück. 

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644  PiskaSek. 

Wie  in  der  Diagnose  echon  erwähnt,  wird  die  Erkennung 
der  AnfangBStadien  sehr  schwierig  and  auch  dies  hängt  mit  der 
langsamen  Entwicktang  des  ProceBses  zusammen. 

Die  Kranken  stellen  sieb  erst  dann  dem  Arzte  vor,  wenn 
sie  dnrch  ein  spannendes  Gefühl  oder  Schmerzen  in  der  Brust- 
drüse anf  das  Vorhandensein  eines  Leidens  aufmerksam  gemacht 
werden.  Da  die  Schmerzen  bei  Entwicklang  eines  tubcrciilüsen 
Processes  nicht  bedentend,  oft  gar  nicht  YOrhanden  sind,  bekommt 
man  den  Fall  erst  dann  zu  Gesicht,  wenn  an  irgend  einer  Stelle 
der  Mamma  bereits  ein  Knoten  entstanden  ist.  Der  Knoten  hat 
anfangs  eine  derb-elastische  Beschaffenheit  und  nimmt  langsam 
an  Umfang  zu.  Die  Axillardrttsen  der  erkrankten  Seite  schwellen 
an  und  kennen  oft  za  fanstgrossen  Paketen  anwachsen.  Die 
früher  schlaff  herabhängende  Brustdrüse  wird  Totumiuüser.  Ist 
das  Infiltrat  grösser  und  verursacht  es  eine  Spannung  der  Haut, 
so  wird  diese  glänzend.  AUmälig  erweicht  der  Knoten  nnd  mau 
kann  deutliche  Fluctuation  nachweisen.  Ist  die  Schmelzung  bis 
zur  Haut  vorgerückt,  so  wird  an  der  dünnsten  Stelle  ein  violetter 
Fleck  bemerkbar,  gerade  so,  als  wäre  vor  kurzer  Zeit  durch  ein 
Tranma  eine  Soffusion  entstanden.  Schliesslich  schmilzt  auch  die 
Haut  an  dieser  Stelle  ein  nnd  die  meist  langwierige  Eiterung 
nimmt  ihren  Anfang. 

Einen  ähnlichen  Verlauf  beobachtet  man  bei  den  geschwell- 
ten Axillardrüsen. 

Einige  Zeit  nach  dem  erfolgten  Durchbrnch  ist  die  Eiterung 
eine  stärkere ;  bald  aber  wird  diese  spärlicher  und  pereistirt  dann 
fhr  lange  Zeit  als  Eiterung  aus  einer  Fistel.  Es  kann,  nachdem 
eine  solche  Fisteleitemng  einige  Monate,  in  manchen  Fällen  auch 
Jahre  lang  bestanden  hat,  die  Abscesshöble  sich  verkleinern  und 
ihre  Umgebung  bindegewebig  Bchrumpfen,  woranf  sich  dann  die 
Fistel  schÜesst  und  eine  Heilung  durch  Auseiterung  erfolgt. 

Lässt  die  Eiterung  nicht  nach,  greift  der  Proeess  im  Gegen- 
theil  weiter  um  sich,  so  wird  der  ganze  Organismus  in  Mitleiden- 
Hchaft  gezogen  und  das  Individuum  geht,  wie  bei  jeder  lang- 
dauernden  Eiterung,  namentlich  bei  gleichzeitigem  Afficirtsein  der 
Langen,  bald  zu  Grunde. 


Uüber  die  Tnberculose  der  Brustdrüse. 


645 


Ab  und  zu  lässt  sich  wenigstens  die  Schwäcliuug  des 
Organismus  von  Seite  der  Brustdrüse  dadurch  beheben,  dass  das 
ganze  ergriflFene  Organ  sammt  den  angehörigen  Lymphdrüsen 
entfernt  wird* 

Wohl  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  das  Wohlbefinden, 
ja  oft  ein  förmliches  Aufblühen  nach  einem  solchen  Eingriff  nur 
ein  vorübergehendes,  durch  Entfernung  des  Eiterherdes  hervor- 
gerufenes sein,  indem  nach  einiger  Zeit  in  dem  einmal  inficirten 
Organismus  neue  Herde  auftauchen. 

Es  kann  auch,  wie  bei  den  tuberculösen  Processen  so  häufig, 
der  Verlauf  ein  solcher  sein,  dass ,  nachdem  in  der  Brustdrüse  ein 
deutlich  nachweisbarer  Infiltrationsknoten  von  derb-elastischer  Be- 
schaffenheit vorhanden  war  und  auch  die  Schwellung  der  Axillar- 
drüsen constatirt  werden  konnte,  der  Zustand  einige  Zeit  stationär 
bleibt.  Nach  längerem  Bestände  schwinden  die  Axillardrüsen,  der 
Knoten  wird  kleiner  und  persistirt  schliesslich  als  eine  schwielige 
Verdickung  an  Stelle  der  früheren  Infiltration.  Es  kommt  zu  einer 
Heilung  durch  Abkapselung,  indem  das  den  Knoten  umgebende 
bindegewebige  Stroma  eine  schützende  Hülle  bildet  und  sozusagen 
die  infectiösen  Keime  absperrt.  Dass  in  einem  solchen  Falle  der 
Process  damit  nicht  abgethan  sein  muss  und  in  einem  günstigen 
Momente  zu  neuerlichen  Exacerbationen  fahren  kann,  liegt  im 
Bereiche  der  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit.  Günstige  äussere 
Einflüsse  können  jedoch  einen  dauernden  Stillstand  zur  Folge  haben. 

Wir  haben  bei  unserer  bisherigen  Betrachtung  des  Verlaufes 
insbesondere  jene  Fälle  vor  Augen  gehabt ,  wo  die  Infiltration 
einen  Theil  der  Brustdrüse  betraf,  während  ein  grosser  Theil  der 
Brustdrüse  vom  tuberculösen  Infiltrat  verschont  blieb.  Es  kann 
jedoch  gleichzeitig  an  mehreren  Stellen  eine  knotige  Verdickung 
auftreten.  Die  Knoten  können  durch  allmäliges  Anwachsen  bis 
zur  Berührung  kommen  und  nun  die  ganze  Bn^tdrüse  einnehmen. 
Der  Durchbrach  erfolgt  dann  an  mehreren  Stellen  und  die  sich 
daran  schliessende  Fisteleiterung  absorbirt  die  Kräfte  der  Kranken 
in  einem  viel  höheren  Grade.  Wir  haben  dann  vor  uns  jene  Form, 
dieOhnackerdie  confluirende  bezeichnet.  Während  D u b a r 
von  einer  conglobirten  und  disseminirten  Form  der  Tuberculose 
spricht,  ist  Ohnacker  der  Ansicht,  „dass  jedesmal  zuerst  eine 

Med.  Jakrbücher.  1887.  gi     (33) 


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y.  Therapie  mid  Prognose. 

Wenn  auch  das  rationellste  Verfahren  bei  sicher  constatirter 
^i  Mammatabercnlose  in   der  Amputation  der  Brustdrüse  und  Aus- 

räumung der  Achselhöhle  besteht,  so  fragt  es  sich  doch ,  ob  man 
nicht  bei  gewissen  Formen  und  in  gewissen  Stadien  des  Leidens 
auf  einem  anderen  Wege  Heilung  erzielen  könnte. 

Es  spricht  daftir  wenigstens  der  Umstand,  dass  bei  vielen 
tuberculösen  Processen  auch  Heilung  nach  conseryativer  Behandlung 
eintritt 

D  u  b  a  r  schlug  vor  Amputation  der  Brustdrüse  bei  conglobirter 
Form  der  Tuberculose,  während  er  der  Ansicht  war,  dass  man 
bei  der  disseminirten  Form  palliativ  vorgehen  soll. 

Auf  Grund  der  klinischen  Beobachtungen  wäre  gerade  in 
jenen  Fällen,  wo  in  der  Brustdruse  an  mehreren  Stellen  tuber- 
culose Herde  vorhanden  sind,  die  Amputation  vorzunehmen,  vor- 

(34) 


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conglobirte,  nach  längerem  Bestände  eine  disseminirte  und  schliess- 
lich die  confluirende  Form  entsteht".  Die  klinischen  Beobachtungen 
sprechen  dafUr,  dass  die  conglobirte  Form  als  solche  ihren  Verlanf 
nehmen  kann,  währen  d  die  disseminirte  meist  in  die  confluirende 
Form  übergeht. 

Was  das  Alter  betrifift,  welches  zur  Entstehung  der  Mamma- 
tuberculose  disponirt,  müssen  wir  der  Ansicht  Ohnacker's,  auf 
Grund  der  klinischen  Beobachtungen,  beistimmen,  dass  die  Zeit  i 

vom  Eintritte   der  Pubertät   bis    zum   beginnenden   Climax   die 

^  günstigsten  Bedingungen  für  die  Infection  der  Brustdrüse  und  Ent- 

wicklung des  tuberculösen  Processes  in  derselben  schafft.  Es 
wird  dies  also,  wie  schon  erwähnt,  die  Zeit  vom  15.  bis  zum 
45.  Lebensjahre  sein.  Dass  ausserhalb  dieses  Alters  die  Brustdrüse 

^;  auch  tuberculös  erkranken  kann,  liegt  im  Bereiche  der  Möglichkeit 

^r'  und  auch  wir  haben  einen  Fall  zu  veraeichnen,   wo  der  Process 

nach  einem  Trauma  im  52.  Lebensjahre  seinen  Anfang  nahm.  Es 
wurde  eben   durch  das  Trauma  ein  Congestivzustand  geschaffen, 

p: :  durch  welchen  die    in   die  Brustdrüse  gelangten  Keime  ftlr  ihre 

Entwicklung  einen  günstigen  Nährboden  bekamen.  Die  jüngste 
von  uns  beobachtete  Patientin  acquirirte  die  Tuberculose  im 
16.  Lebensjahre  in  der  Gravidität. 


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Ueber  die  Tuberculose  der  Brustdrüse. 


647 


ausgesetzt,  dasa  der  allgemeine  Kräfteziistaud  diese  eiiaabt.  Es 
ist  bei  palliativer  Behandiang  der  disseminirten  Form  der  Tuber- 
culose ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  gleichzeitig  alle  Herde  in 
Angriff  zu  nehmen,  während  nur  auf  diese  Weise  die  conservative 
Therapie  eingeleitet  werden  kann. 

Bei  der  conglobirten  Form  ist  es  leichter,  eine  radicale 
Heilung  bei  conservativem  Verfahren  zu  erzielen,  weil  bei  Inangriflf- 
nahme  des  einzigen  Herdes  eher  alle  Keime  vernichtet  werden  können. 

Das  palliative  Verfahren  besteht  darin,  dass  man  ausgiebige 
Incisionen  macht,  die  pyogene  Membran  mit  einem  scharfen  Löffel 
aus  der  Abscesshöhle  entfernt,  das  Gewebe  unter  der  Membran 
mitnimmt  und  auf  ähnliche  Weise  auch  mit  den  Fistelgängen  ver- 
fährt. Hierauf  kann  die  Höhle  mit  Jodtinctur  ausgepinselt  und  mit 
Jodoformgaze  ausgestopft  werden.  Die  weitere  Behandlung  unter- 
liegt dann  den  üblichen  chirurgischen  Regeln. 

Weit  besser  ist  es,  nach  Excochleation  der  Abscesshöhle 
die  Verschorfung  mit  dem  Thermocauter  zu  besorgen. 

Ist  keine  Abscesshöhle  vorhanden,  sondern  nur  Fistelgänge, 
so  wird  nach  erfolgter  Excochleation  und  Cauterisation  der 
Wundcanal  durch  eingeführte  Jodoformstäbchen  aseptisch  gehalten. 

Wurde  eine  Amputation  der  Mamma  und  Ausräumung  der 
Achseldrüsen  vorgenommen  an  einem  Individuum,  wo  der  tuber- 
culose Herd  primär  in  der  Brustdrüsse  entstanden  war,  ohne  dass 
das  somatische  Befinden  eine  Störung  erlitten  hätte,  so  kann  die 
Prognose  günstig  lauten. 

Bei  Individuen,  wo  gleichzeitig  andere  Theile  des  Organismus 
erkrankt  sind,  hängt  die  Prognose  auch  vom  Grade  dieser  Leiden  ab. 

Aeussere  günstige  Verhältnisse ,  wie  der  Aufenthalt  in  guter 
Luft,  gute  Emährungsverhältnisse  fallen  sehr  in  die  Waagschale. 


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VI.  Stattstik. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  das  Procentverhältniss  der  Mamma- 
tuberculose  zu  den  übrigen  Mammatumoren  berücksichtigen  und 
wählen  hierzu  den  Zeitraum,  aus  welchem  die  von  uns  beschrie- 
benen Fälle  datiren. 

Es  ist  dies,  wie  schon  eingangs  erwähnt,  die  Zeit  vom 
1.  October  1881  bis  Ende  September  1886. 

51  •    (85) 


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Piskaöek.  üeber  die  Tubercalose  der  Brnstdröse. 


In  diesem  Zeiträume  stellten  sich  an  der  Klinik  des  Herrn 
Prof.  Albert  in  der  Ambulanz    (Poliklinik)  21471  Kranke  vor. 

Von  diesen  waren  359,  wovon  352  Frauen  und  7  Männer, 
an  der  Brustdrüse  erkrankt. 

Es  entfallen  also  an  obiger  Klinik  für  den  genannten  Zeitraum 
unter  den  Brustdrllsentumoren  222%  auf  die  Manmiatuberculose. 

Gleichzeitig  wurden  in  die  klinische  Behandlung  aufge- 
nommen 5161  Kranke,  wovon  2215  Weiber  und  2946  Männer. 
Die  meisten  stellten  sich  vorher  in  der  Ambulanz  vor. 

Da  nun  unter  den  an  der  Klinik  behandelten  Kranken  4  mit 
Tuberculose  der  Brustdrüse  behaftet  waren,  so  kommen  auf 
sämmtliche  klinischen  Patienten: 

007 o/o  auf  Tuberculose  der  Mamma.  Von  den  kranken 
Frauen  waren  0*18 o/o  an  Mammatuberculose  erkrankt. 

Unter  den  2215  kranken  Frauen  hatten  242  Brustdrüsen- 
tumoren. Es  entfallen  somit  unter  den  letzteren  an  genannter 
Klinik  l'6ö^fo  auf  die  Tuberculose  der  Brustdrüse. 


Meinem  hochverehrten  Lehrer,  Herrn  Prof.  E.  Albert, 
bin  ich  für  die  gütige  Zutheilung  dieser  Arbeit,  sowie  die  freund- 
liche Fördening  derselben  zu  tiefgefühltem  Danke  verpflichtet. 

Wien,  im  Juli  1887. 


Erklärung  der  Tafeln.^) 

(XXVII,  XXVIII  nnd  XXIX  zum  ersten  FaU  gehörig.) 

Taf.  XXVII.  Die  in  der  Kiclitnng  ab  durchschnittene  Brustdrüse.  A  uod  A, 
Abscesshöhlen. 

Taf.  XXVI II.  XJebersichtsbild  nach  einem  mikroskopischen  Schnitt  gezeichnet 
(Beichert,  Ocul.  3,  Obj.  4).  Quergetroffener  grösserer  Milchgang,  zum 
Theil  infiltrirt.  Eechts  oben  zwei,  links  unten  ein  TuberkeUtnötchen. 
In  den  ersteren  Riesenzellen.  Das  interacinöse  Bindegewebe  von  klein- 
zelliger  Infiltration  durchsetzt. 

Taf.  XXIX,  Fig.  1.  In  der  Mitte  des  Sehfeldes  6  Bacillen  in  der  Nähe  einer 
epitheloiden  Zelle  (Beichert  mit  Oelimmenion). 

Taf.  XXIX,  Fig.  2.  RiesenzeUen  mitten  in  kleinzelliger  Infiltration  des  Binde- 
gewebes (Beichert,  Ocul.  4,  Obj.  7). 

Taf.  XXX.  Sechster  Fall  unserer  Casuistik. 


>)  Tafel  XXVIII  und  XXIX  sind  vom  Cand.  med.  Herrn  C.  Henning 
angefertigt. 

(36)  Druck  von  GotUieb  Gittel  *  Comp,  in  Wien. 


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llrtig  IM  Alfred  Hölü«t,li.li.Hiif-uDiii*Br)irir(-BBchMnillir  in  lien. 


Vorlaj  «Ol  Alfred  Holdir,k.li.Hi)r-u.Uii«griiräri-BKhk)iiilltr In  Vieo. 


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ViriBgion  Alfred  Hlilil«r,k.t 


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